Lorzentobel - Monika Mansour - E-Book

Lorzentobel E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Ein gesellschaftskritischer Krimi, der unter die Haut geht. Der rebellische Teenager ET ist sechzehn, trägt bunte Haare und spielt in einer Rockband. Als seine Mutter von einem angesehenen Zahnarzt gestalkt wird, sucht er die Zuger Detektei Trust Investigation auf. Sara, Natalie und Tom beginnen zu ermitteln, doch kurz darauf wird ETs Mutter erhängt aufgefunden. Der Fall wird zu einem undurchschaubaren psychologischen Terrorspiel, bei dem ET selbst ins Kreuzfeuer gerät. Mehr und mehr stellt sich die Frage, wer hier der eigentliche Stalker ist – und wer im Stillen nach Hilfe ruft.

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar und war Tätowiererin. 2014 erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: arcangel.com/Robin Vandenabeele

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-036-5

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Ich kämpf mich durch die Mächte

Hinter dieser Tür

Werde sie besiegen und dann führen sie mich zu dir

Dann wird alles gut

Tokio Hotel, aus «Durch den Monsun»

’n ganz normaler Tag

Die Strasse wird zum Grab

Die Spuren sind verwischt

’ne Suche gab es nicht

Kalt ist die Nacht

Tokio Hotel, aus «Vergessene Kinder»

Komm und rette mich

Ich verbrenne innerlich

Komm und rette mich

Ich schaff’s nich ohne dich

Komm und rette mich

Rette mich

Rette mich

PROLOG

Sie verliess die Bar nach Mitternacht.

Nüchtern.

Er war nicht gekommen.

Es war ein Wunschtraum gewesen.

Ihr war kalt. Es war Mitte Dezember und schneite.

Sie hätte losheulen können, als sie die Zeughausgasse in Zug Richtung Bahnhof entlangging. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Sie zog ihr neues «Sony Ericsson Walkman»-Handy, das sie letzten Monat von ihrer Mutter zu ihrem zwanzigsten Geburtstag erhalten hatte, aus der Tasche ihrer Daunenjacke, schloss das Kabel der Kopfhörer an und steckte sich diese in die Ohren. Sie musste ihren Frust in die Welt hinausschreien. Tokio Hotel war ihr Rettungsanker. Ihre absolute Lieblingsband. Sie drehte die Musik auf. «Schrei» war in den Charts und genau der Song, den sie brauchte. Klassische Musik konnte ihr gestohlen bleiben. Sie steckte ihre Hände in die Jackentaschen und wippte mit dem Kopf im Takt der Rockmusik. Sie wollte nicht länger schweigen und stimmte in den Refrain mit ein:

«Schrei! Bis do do selbst bist.

Schrei! Und wenn es das Letzte ist.

Schrei! Auch wenn es wehtut.

Schrei so laut do kannst!»

Sie wollte schreien. Das Leben war bis vor ein paar Tagen perfekt. Die neue Stelle nach der Lehre war gut. Mutter ging es nach der Chemotherapie endlich besser. Und dann traf sie ihn … Vater würde toben. Gift für sein schwaches Herz.

«Schrei! Auch wenn es wehtut.

Schrei so laut do kannst. Schrei!

Pass auf, Rattenfänger lauern überall.

Verfolgen dich und greifen nach dir ausm Hinterhalt.

Versprechen dir alles, wovon do nie geträumt hast.»

Sie kickte einen Stein vom Trottoir weg. Die Nacht war dunkel. In den Schaufenstern leuchteten die Weihnachtsdekorationen, spendeten aber nur spärlich Licht. Der Neuschnee begann sich am Asphalt festzusetzen, und weiter vorne flackerte eine Strassenlaterne.

Schwankte die?

Sie fasste sich an die Stirn. Woher kam der plötzliche Schwindel? Sie stolperte auf die Laterne zu und hielt sich daran fest.

Sie kam nicht mehr dazu, den Refrain mitzusingen.

Eine Hand verhinderte es.

Eine starke Hand.

Eine grosse Hand.

Eine Hand, eiskalt, die sich über ihren Mund legte und ihren Schrei erstickte.

Ein Arm umklammerte ihre Brust.

Die Strassenlaterne flackerte ein letztes Mal auf, warf ihr Licht auf den goldfarbenen Ring an der Hand über ihrem Mund.

Sie wurde nach hinten gezogen, weg vom Trottoir, hinein in einen parkierten Wagen.

Es wurde dunkel um sie herum. Ruhig. Leer.

Als ihr Bewusstsein zurückkam, war sie nicht mehr in der Stadt. Ihr Kopf schmerzte. Sie sass auf dem Beifahrersitz eines ihr fremden Autos. Es roch nach Desinfektionsmittel. Niemand war bei ihr. Panisch schaute sie sich um. Sie war umgeben von Bäumen, deren Schatten, vom kalten Mondlicht geworfen, um sie herumtanzten. Wie war sie hergekommen? Sie hatte die Bar verlassen, in der sie allein gesessen hatte. Sie erinnerte sich an die Musik, an die Strassenlaterne.

Mein Gott! Sie suchte nach ihrer Handtasche, nach dem Handy. Alles war weg.

Das Abblendlicht zündete in den Wald hinein. Vorsichtig stieg sie aus. In der Ferne sah sie die Schatten von zwei hohen Brücken und die Lichter eines Fahrzeuges, das durch die Winternacht fuhr. Das Lorzentobel.

Ihr war übel vor Angst. Der Wagen war an einer dreifachen Weggabelung abgestellt. Vor ihr führte die steile, gefrorene Strasse hinunter ins Tobel, der Weg gegenüber war wegen Bauarbeiten gesperrt. Sie wollte den dritten Pfad nehmen, der zur Landstrasse führte.

Eine Gestalt löste sich aus den Büschen und stellte sich ihr in den Weg. Es war unmöglich, ihr Gesicht zu erkennen.

«Hallo?», rief sie vorsichtig.

Eine Männerstimme lachte derb. «Hier geht es nicht weiter. Du gehörst heute Nacht mir.»

Wie ein Blitz schlug die Panik ein. Sie schrie und wandte sich von dem Fremden ab, stolperte davon in die entgegengesetzte Richtung. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie stolperte halb benebelt hinunter ins Tobel, nur weg von ihm.

Er folgte ihr mit langen, ruhigen Schritten.

Beobachtete sie.

Sie fühlte seinen Blick auf ihrem Rücken.

Er pfiff ein ihr unbekanntes Lied, es klang unbeschwert, jagte ihr aber eine Heidenangst ein. Er kam näher.

Immer schneller schlitterte sie den kurvigen, gefrorenen Weg hinunter, fiel hin, rappelte sich wieder auf. Der vereiste Boden riss ihr die Knie auf.

Sie schaffte es bis nach unten, wo die Lorze floss, sah vor sich die kleine, alte Holzbrücke. Sie rannte darauf zu. Kaum hatte sie einen Fuss auf die Holzplanken gesetzt, hörte sie seinen Atem hinter sich.

Er hatte sie fast eingeholt.

Sie schrie.

Dann packte er sie und hielt sie fest, die Hand mit dem Ring über ihrem Mund. Er steckte ihr etwas in die Ohren. Ihre Kopfhörer. Musik untermalte die Szene. Ihre Musik, in voller Lautstärke.

Sie spürte die Kälte nicht, als er ihr die Kleider vom Leib riss.

Sie hörte auch sein Stöhnen nicht, als er sich holte, was er wollte.

Sie sah die gesichtslosen Schatten an der Holzwand der alten Brücke nicht, die im Mondlicht kämpften.

Aber sie hörte die Musik, hörte die Worte und schrie sie in sich hinein, um dem Schmerz zu entfliehen:

Schrei! Und wenn es das Letzte ist.

Schrei! Auch wenn es wehtut.

Schrei so laut do kannst. Schrei!

Und jetzt schweig!

EINS

«Abgefahren …»

«Hä?» Lucy verstand kein Wort von dem, was ihre Freundin Tina sagte. Es war ohrenbetäubend laut in dem kleinen Musikkeller.

Tina warf die Arme in die Höhe und hüpfte wie ein Gummiball auf und ab. «Die sind so geil!»

Lucy wackelte nur mit dem Kopf im Takt der schrillen Musik. Nicht schlecht, die Jungs auf der Bühne, die nur ein bis zwei Jahre älter waren als sie. Vor allem der Gitarrist war süss. Er war recht gross. Seine pechschwarzen Haare waren mit Gel nach hinten frisiert. Das Lippen- und Augenbrauenpiercing und die unzähligen Ohrringe standen ihm gut. Lucy bestaunte seinen Oberarm mit dem Tribal-Tattoo. Er trug zu seiner zerrissenen Jeans ein schwarzes T-Shirt, dessen Ärmel weggeschnitten waren. Grinsend schlug er auf die Saiten ein, sein Stand war breitbeinig und lässig.

Der Sänger der Indie-Rock-Band war mindestens genauso süss. Kleiner und schmächtiger als der Gitarrist, aber sein Gesicht war echt schön. Er trug eine sexy Lederhose in Schwarz und ein rot bedrucktes Tanktop, um den Hals ein rotes Bandana und eine schwere Metallkette. Einzig der Schlagzeuger war nicht Lucys Typ. Zu bullig.

In Euphorie packte Tina sie an den Schultern und feuerte die Band The Dudes of Salvation an. «Jimmy, Jimmy, Jimmy», rief sie. Vor dem Konzert, zu dem sie Tina überredet hatte, hatte ihr ihre Freundin verraten, dass sie in den Sänger verknallt sei. Sie kannte die Band von der Geburtstagsparty ihres grossen Bruders, wo sie gespielt hatte.

Lucy wurde es zu heiss, zu laut und zu voll. Die Typen der Erlösung brauchte sie nicht. Sie deutete Tina mit Handzeichen an, dass sie frische Luft schnappen wollte. Beim Verlassen des Konzertes hörte sie, wie der Sänger den letzten Song ankündigte.

Draussen war die Luft herrlich erfrischend. Es war der 1. Juli, ein Samstag. Noch eine Woche bis zu den Sommerferien. Lucy schaute auf ihr Handy, dessen Akku am Sterben war, obwohl sie ihn heute Morgen extra vollgeladen hatte. Das Handy war Schrott. Tina hatte von ihren Eltern das neue Galaxy S23 geschenkt bekommen, und Lucy musste sich mit einem vierjährigen iPhone begnügen. Wie unfair. Immerhin zeigte es die Zeit korrekt an. Es war halb zehn. Um elf musste sie zu Hause sein. Keine Eile also. Sollte sie zurück in den Musikkeller gehen und sich die nächste Band anhören? Nein, entschloss sie sich und swipte einige Minuten durch TikTok.

Sie hörte Stimmen hinter dem Haus. Zwei Männer stritten sich. Lucy horchte auf. Hatte der eine soeben den Namen Jimmy erwähnt? Der Sänger der Band? Aus dem Keller drang keine Livemusik mehr. Das Konzert der Dudes of Salvation war zu Ende. Lucy schlich sich der Hauswand entlang und spähte um die Ecke.

«Jimmy, du redest Bullshit.»

«Das war scheisse, da drin. Wir hätten gleich in einem Kindergarten auftreten können.»

«Krieg dich wieder ein.»

Lucys Neugier war geweckt. Tatsächlich. Da standen der Sänger und der Gitarrist von The Dudes of Salvation. Jimmy stand mit dem Gesicht zur Fassade, die Stirn an der Mauer. Mit der Faust schlug er dagegen.

«Spinnst du, oder was?», sagte der Gitarrist, dessen Namen Lucy nicht kannte.

Jimmy drehte sich um, die Schultern an der Wand, und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, dabei starrte er den Gitarristen an. «Wir müssen dieses verfluchte Image von einer Schülerband loswerden. Wir brauchen einen grossen Gig.»

«Wir arbeiten daran. Ich lade morgen unser neues Musikvideo auf YouTube und TikTok hoch.»

Jimmy atmete tief durch. Dann lachte er, packte den Gitarristen am T-Shirt und zog ihn zu sich heran. «Du hast recht. Sorry, Mann.»

Der Gitarrist klopfte Jimmy auf die Schulter. «Lass es.»

«Warum?» Jimmy legte seine Arme um die Taille seines Kumpels.

Dieser liess es zu, zog Jimmy von der Wand weg und drehte sich mit ihm zur Seite, sodass sein Blick über Jimmys Schulter hinweg plötzlich an Lucy hängen blieb. «Wir haben Besuch», sagte er und stiess Jimmy von sich weg.

Der Sänger drehte sich zu ihr um. «Hey, du. Komm her.»

Oh shit, dachte Lucy. Sie blieb wie angewurzelt stehen.

«Komm her, Kleine.» Jimmy winkte sie zu sich.

Lucy wandte sich ab und wollte zurückgehen, da hörte sie hinter sich Schritte. Sie wirbelte herum. Jimmy rannte an ihr vorbei und versperrte ihr den Weg. «Ich habe dich gesehen, vorhin, unter den Fans. Du hast ET angestarrt.»

«Was?»

«Stehst du auf ihn?»

«Ich – nein!»

«Bist du ein Fan?» Jimmy trat näher zu ihr heran, starrte sie an, sein Gesicht nur eine Handbreit von ihrem entfernt.

Lucy stolperte zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Hauswand stiess. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie wich Jimmys Blick aus und drehte den Kopf. Keine gute Idee. ET hatte sich neben sie geschlichen.

Lucys Knie wurden weich. Sie schloss kurz die Augen und versuchte, sich zu erinnern, was ihr Vater ihr beigebracht hatte.

Linkes Knie Jimmy zwischen die Beine.

Rechte Faust unter ETs Kinn.

Und dann losrennen.

Lucy war recht gross, und das tägliche Tennistraining zahlte sich aus. Und sie war nicht nur gross, sondern auch stark.

Mental bereitete sie sich vor.

ET kam ihr zuvor.

Er packte Jimmy an den Schultern und schob ihn von Lucy weg. «Du machst ihr Angst.»

Jimmy schnaubte laut. «Stehst du auf die Kleine?»

Wut brodelte in Lucys Bauch. «Nenn mich nicht Kleine!»

«Ah, sie wird frech.»

«Lass gut sein, Alter», sagte ET.

«Stellst du dich auf ihre Seite? Fick dich!» Den Mittelfinger in die Höhe haltend, marschierte Jimmy zurück zum Hintereingang des Musikkellers.

«Sorry, er ist nach einem Gig voll emotional überdreht.»

«Ist er auf Drogen?» Lucys Wut war noch nicht verraucht. «Starallüren dürfen nur die wahren Stars zeigen.»

«Auf den Mund gefallen bist du nicht», neckte er. «Du hast Eier, echt, es mit Jimmy aufzunehmen.»

«Hast du etwa keine? Steht er auf dich?»

ET zuckte mit den Schultern. «Wir kennen uns ewig.» Lässig steckte er seine Hände in die Jeanstaschen. «Ich bringe dich zurück. Du solltest nachts nicht allein unterwegs sein.»

«Wow, bist du ein Gentleman? Es ist nicht mal richtig dunkel.»

«Ja, ich bin eben ein netter Typ.» Er streckte Lucy die Hand entgegen. «Ich bin ET.»

«ET? Wie der Ausserirdische?»

Er rümpfte die Nase, was süss aussah und Lucy an ein Kaninchen erinnerte. «Gleich ausgesprochen, aber andere Bedeutung. ET ist die Abkürzung meines Namens, der voll lahm klingt.»

«Und wie heisst du?»

«Um dir das zu verraten, kennen wir uns noch nicht gut genug.»

«Und ET klingt cool?»

«Ich bin cool. Und du bist irre mutig. Keine Angst vor mir?»

Langsam lehnte sich Lucy vor. «Nö. Nicht vor Halbstarken mit einer grossen Klappe.»

«Ich bin älter als du, wetten?»

«Ich bin siebzehn», log Lucy. Gute zwei Jahre gemogelt lagen drin. In zwei Monaten war ihr fünfzehnter Geburtstag.

«Niemals.»

Sie hob leicht schnippisch das Kinn. «Du musst es ja wissen. Wie alt bist du? Fünfzehn?»

«Werde im August siebzehn.»

«Ja klar.»

«Sag mal», er strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Lust auf ein Bier am See?»

«Musst du nicht wieder rein?»

«Wir können unser Equipment erst zusammenräumen, wenn die Band, die jetzt spielt, fertig ist.» Provokativ starrte ET ihr in die Augen. «Oder hast du doch Schiss vor mir?»

«Ich habe den schwarzen Gürtel im Judo. Pass du bloss auf.» Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Ihr blieben eine Stunde und fünfzehn Minuten, bis sie zu Hause sein musste. Diese Zeit wollte sie definitiv mit dem süssen Gitarristen am See verbringen.

***

Tom sass im Wohnzimmer und starrte auf sein Handy.

Alicia kam aus ihrem Zimmer. «Lucy ist noch nicht zurück. Sie hätte vor dreissig Minuten zu Hause sein sollen.»

«Du bist ihre kleine Schwester und nicht die Mutter. Zurück ins Bett mit dir.»

Müde setzte sie sich neben Tom aufs Sofa und legte ihren Kopf an seine Schulter. «Ich kann nicht schlafen. Es ist heiss.»

«Zwölfjährige Mädchen gehören um diese Zeit ins Bett.»

«Dad, du bist so öde, echt. Behandle mich nicht wie ein Baby.»

Sie war sein Baby, genau wie Lucy. Wo steckte sie nur? Es war nicht ihre Art, eine Abmachung nicht einzuhalten. Lucy war die ruhige und zuverlässige Tochter, nicht so ein Wildfang wie die jüngere Alicia. Tom war geschieden und hatte seine Töchter nur jedes zweite Wochenende bei sich. Er hatte vor ein paar Minuten mit Tinas Mutter telefoniert. Offenbar war ihre Tochter vor einer Viertelstunde heimgekommen und wusste nicht, wo Lucy war. Tina hatte gedacht, Lucy sei schon während des Konzertes heimgegangen. Schlimmer war, dass Lucys Handy aus war. Er sollte ihr zum Geburtstag ein neues kaufen. Ihres war alt und der Akku schnell leer. Er griff nach dem Handy und wählte Saras Nummer.

Beim zweiten Rufzeichen nahm sie ab. «Tom? Um diese Zeit? Was ist passiert?» Seit einem halben Jahr arbeitete sie nicht mehr für die Kripo, klang aber nach wie vor wie ein Bulle. Sie waren zusammen mit Natalie Geschäftspartner der Detektei Trust Investigation.

«Lucy ist noch nicht zurück vom Ausgang.»

«Seit wann ist sie überfällig?»

Tom schaute auf die Uhr. «Fünfunddreissig Minuten. Ihr Telefon ist aus.»

«Klar, du wolltest ihr ja kein neues Handy kaufen. Ihr Akku hält kaum einen Telefonanruf lang durch. Dein Fehler.»

«Ist ja gut.»

Sara stöhnte. «Warst du nie jung? Sie hat Spass und die Zeit vergessen. Ruf mich in zwei Stunden wieder an, sollte sie nicht heimkommen.»

Sara konnte kalt sein wie ein Fisch im Eismeer. Tom brummte ein Tschüss und legte auf.

Alicia klopfte ihm auf die Brust. «Du hättest Natalie anrufen sollen. Sie ist voll cool. Bestimmt kann sie Lucy über das Darknet orten.»

Tom starrte seine Tochter an. «Weshalb sollte Lucy im Darknet zu finden sein? Und woher kennt meine Tochter das Darknet?»

«Natalie hat es mir gezeigt.»

«Was hat sie?» Mit Natalie würde Tom ein ernstes Wort reden müssen.

***

Natalie legte ihr Handy weg. War Tom nie ein Teenager gewesen? Er schob voll Panik, weil Lucy ihren Samstagabendausgang überzog. Bestimmt hatte sie einen netten Typ kennengelernt und nicht auf die Uhr geschaut.

Sie blickte auf die Monitore vor sich. Natalie sass in ihrem Geheimzimmer. Sie wollte sich gleich in einem Chatroom im Darknet mit Xinxin treffen. Das China-Problem war heikel. Es ging um Arbeiter in einer Ziegelei in der Provinz Henan. Offenbar wurden Erwachsene und auch Kinder als Sklavenarbeiter ausgenutzt. Xinxin hatte davon Wind bekommen und sich vor ein paar Wochen bei Natalie gemeldet, welche mit ihrer Organisation Kipekapeka solche Fälle von Ausbeutung und Missbrauch aufdecken wollte, um jenen Menschen zu helfen, die keine Mittel hatten, sich selbst gegen kriminelle Machenschaften, ausbeuterische Firmen oder korrupte Regierungen und Rechtssysteme zu wehren.

Natalie loggte sich über den Tor-Browser ins Darknet ein, als es an der Tür klopfte. «Ja?»

Rebecca, Natalies Stiefmutter, trat ein, in der Hand ein Tablett, auf dem ein Glas Milch und eine Schale mit Birchermüesli standen, daneben lag ein Beutel.

«Ich nehme das Dosenfutter», sagte Natalie. «Ich habe keine Zeit, um zu essen und zu trinken.»

«Das habe ich mir gedacht. Dein Vater meinte, ich solle dir das Birchermüesli intravenös verabreichen, wenn du dich weigerst, es zu essen.»

«Das erhöht das Risiko von Thrombosen erheblich.»

Rebecca stellte das Tablett neben Natalie auf den grossen Arbeitstisch, auf welchem mehrere Computer und Bildschirme standen. Natalie blickte auf. An der Wand vor ihr hing ein riesiger LED-Bildschirm. Sie leitete das Bild des Monitors ihres PCs auf den Bildschirm. Noch war er schwarz, einzig ein grünes Licht blinkte in der oberen linken Ecke.

«Du musst auf deine Gesundheit achten», sagte Rebecca, ganz die Ärztin, die sie war. «Wie geht es deinem Arm?»

«Musa hat ihn vor ein paar Stunden erneut verbunden.» Natalie hob ihre Hände. Für einmal war nur die Rechte samt Arm einbandagiert. Sie bewegte die Finger der linken Hand, wobei der kleine Finger mit dem Ringfinger zusammengewachsen war. Natalie war ein Schmetterlingskind. Sie litt seit fünfundzwanzig Jahren an Epidermolysis bullosa, EB, einer genetisch bedingten Krankheit, die ihre Haut so empfindlich wie die Flügel eines Schmetterlings machte. Sie fasste sich an den Hals. «Meine Speiseröhre schmerzt. Lassen wir das Birchermüesli weg, ja? Ich nehme den Beutel über die Magensonde. Aber erst muss ich mich mit Xinxin unterhalten. Dauert nicht lange, dann lege ich mich hin und geniesse den Mitternachtssnack.» Natalie grinste, wie sonst sollte sie ihre Krankheit ertragen, gegen die sie seit ihrer Geburt kämpfte, die dafür verantwortlich war, dass ihre leibliche Mutter sie früh verlassen hatte, weil sie nicht mitansehen konnte, wie ihre Tochter litt. Die Jugendjahre waren hart gewesen. Kein Junge interessierte sich für ein Mädchen mit solch einer Krankheit. Vielleicht gerade deshalb hatte sie Tom zurechtgewiesen und gesagt, er solle seine Tochter diesen Samstagabend geniessen lassen. «Ah, da ist sie. Xinxin! Ni hao ma?»

***

Belle Amie pirschte sich auf leisen Pfoten heran. Aus den Augenwinkeln beobachtete Sara, wie die Katze den kleinen Zeh ihres Fusses anvisierte. Sie duckte sich, peitschte mit dem Schwanz hin und her und sprang hoch, um auf Saras Fuss zu landen und in den Zeh zu beissen. Typisch. Ihre junge Katze hatte einen Knacks. Sie war süchtig nach Zehen. Oder war das normal? «Autsch, beiss nicht so fest.» Sara griff nach dem Weinglas, das auf dem winzigen Glastisch auf ihrem kleinen Balkon stand. Es war ein herrlicher Sommerabend. Die Uhr der St. Martinskirche in Baar schlug Mitternacht. Es ist Samstagnacht, und ich vergnüge mich mit einem Glas Wein und einer beisswütigen Katze auf meinem Balkon, dachte sie.

Sie musste an Toms Anruf denken. Er war ein taffer Kerl, aber als Vater voll die Memme. Da würden schwere Zeiten auf ihn zukommen. Zwei Mädchen im Teenageralter grosszuziehen, war heutzutage keine leichte Aufgabe.

Sie musste an ihre eigene Tochter denken, die keinen Kontakt zu ihr wollte. Eine tot geglaubte Tochter, die sie nicht aufgezogen hatte, von der sie erst seit ein paar Wochen wusste, dass sie überhaupt noch lebte. Schuld daran waren ihre eigenen Eltern, die ihr die Tochter in ihrem religiösen Wahn entrissen, sie belogen und ihre Tochter im Wald vor einem Wohnwagen ausgesetzt hatten. Eine Tochter, die bei Fahrenden aufgewachsen war. Eine Tochter, die heute siebenundzwanzig war und ihr eigenes Leben lebte – ohne Sara. Sie hatte alles verpasst: die ersten Schritte von Mirjam, ihre ersten Worte, den ersten Schultag, den ersten Freund, den ersten Liebeskummer … Während Mirjam vom Baby zum Kind, zum Teenager und zu einer jungen Frau heranwuchs, hatte Sara gearbeitet, gearbeitet und noch mehr gearbeitet, um diese innere Leere zu füllen. Sie hatte es bis zur Chefin der Zuger Kripo gebracht, nur um vor sechs Monaten den Dienst zu quittieren, eben wegen Mirjam, als sie erfahren hatte, dass ihre Tochter lebte. Ihre Familiengeschichte war ein einziges Drama, das ihre berufliche Karriere beendet hatte. Seither war sie mit Tom und Natalie zu einem Drittel Mitgründerin und Mitinhaberin der Trust Investigation und schnüffelte zu achtzig Prozent untreuen Eheleuten hinterher. Aber es war gut so, wie es war. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu ignorieren und sich ganz der Arbeit zu widmen. Damit liess es sich stressfrei leben. Sie musste wieder an Tom und seine Sorge um Lucy denken. Diese Art von Sorge wollte sie nie kennenlernen. Wenn man allein war, war das Leben einfacher. Sie starrte auf das Glas Rotwein in ihrer Hand, es war das dritte.

***

Lucy lag auf dem Rücken im Gras am See. Er hockte über ihr, drückte ihre Handgelenke auf den Boden.

«Du hast keine Chance gegen mich», sagte ET und zog eine herausfordernde Grimasse.

Lucy blickte ihn an. Sie wusste, ihr Vater würde sie umbringen. Sie hätte längst zu Hause sein sollen. Konzentriere dich, dachte sie. Du hast gelernt, wie das geht. So leicht würde sie ihn nicht gewinnen lassen. Kurz schloss Lucy die Augen, holte tief Luft, spannte ihre Muskeln an, schwang ihre Beine hoch, legte sie von hinten um ETs Hals und zog ihn rückwärts, weg von ihr. In diesem Moment mussten seine Hände ihre Handgelenke loslassen. Lucy zögerte nicht, schnellte hoch, warf ihre Ellbogen nach vorne und drückte ET auf den Boden.

Sie war an der Reihe zu grinsen. «Siehst du, ich habe dir gesagt, ich bin gut. Ich habe dich voll im Griff.»

Auf dem Rücken liegend ergab er sich. «Okay, überzeugt. Du hast den schwarzen Gürtel im Judo.»

Lucy genoss den Triumph. Aber dann wurde es ihr peinlich, rittlings auf ETs Bauch zu sitzen, und sie rollte zur Seite von ihm runter, um sich in sicherem Abstand im Schneidersitz hinzusetzen.

ET blieb liegen und schaute sie an. «Ich habe noch nie einen Tennisprofi getroffen, der einen schwarzen Gürtel im Judo hat.»

«Ich bin noch kein Tennisprofi.»

«Aber bestimmt bald.»

Lucy fühlte, wie ihre Wangen glühten. Gut, war es hier draussen am See bei der Schützenmattwiese dunkel genug, dass er es nicht bemerkte. Über eine Stunde quatschten sie schon. ET war lustig. Sie mochte seine Energie. Und er war ein Junge, der zuhören konnte. «Mein Dad hat mir Judo beigebracht. Er war früher Kickbox-Champion.»

«Echt? Wow, wie krass ist das denn? Lass mich raten, er führt eine Martial-Arts-Schule?»

«Nicht ganz. Er ist Personenschützer, bildet Leute aus und ist Teilhaber einer Detektei. Trust Investigation. Na ja, meistens muss er Ehebrechern hinterherschnüffeln, aber sie hatten letzten Monat auch einen Mordfall zu lösen. Ja, mein Dad ist cool.»

ET setzte sich auf. «Er ist Privatdetektiv? Kann man ihn engagieren?»

«Klar.»

«Krass.»

Das schlechte Gewissen überkam Lucy erneut, und sie griff nach dem Handy in ihrer Tasche. «Der Akku ist alle. Weisst du, wie spät es ist?»

ET zog seines aus der Hosentasche. «Zehn Minuten nach Mitternacht. Warum? Musst du heim?»

Lucy schoss vom Boden auf. «Mein Dad wird mich umbringen. Ich muss los. Tschüss.» Lucy sprintete davon. Sie hörte ET hinter ihr herrufen, ignorierte ihn aber. Wenn sie sich umdrehte, würde sie bleiben wollen. Dann hätte sie ihren Status als vorbildliche Tochter bei ihrem Vater verspielt – und die Zukunft als Tennisprofi. «Sorry, ET», flüsterte sie vor sich hin, als sie zur Bushaltestelle rannte.

ZWEI

«Guten Morgen.»

Sara nickte Tom zu. Sie waren nahezu gleichzeitig mit ihren Wagen bei der ehemaligen Werft angekommen, die sie gemietet hatten, um darin ihre Detektei Trust Investigation unterzubringen. Sie lag unweit der früheren Papierfabrik, neben einer Grossbaustelle, in einer Seitenstrasse von Cham. «Wir sind spät dran. Natalie wartet sicher.»

Tom schlug die Tür seines alten Peugeots zu. «Karo hat eine Szene gemacht, weil sich Alicia heute Morgen beim Frühstück verplappert hat und sie herausfand, dass Lucy am Samstag zu spät nach Hause gekommen war.»

«Hatte das Mädel wenigstens Spass?»

«Teenager.» Mehr sagte Tom nicht.

Sara strich ihre schulterlangen schwarzen Haare hinter die Ohren. Ihr war heiss, dabei war es erst kurz nach neun Uhr. Wie jeden Tag trug sie eine weisse Bluse und schwarze Hosen.

Tom zwinkerte ihr frech zu. «Versuch es doch mal mit einem bunten Sommerkleid.»

«Mit T-Shirt, kurzen Hosen und Badelatschen machst du bei unseren Klienten keinen Eindruck. Wie soll das seriös sein?»

«Wir haben keine Klienten. Und für den Kurs am Nachmittag muss ich eh Trainingssachen anziehen.» Er hielt ihr die Tür auf.

Drinnen war es noch wärmer. Gleich vor ihr lag das Dojo, wo sie und Tom Kurse in Selbstverteidigung gaben, dahinter lag der Hindernispark für die Teilnehmer, die sich als Personenschützer ausbilden lassen wollten. Rechts führte die Metalltreppe der Wand entlang hoch zur Galerie, wo die Büros in Containern untergebracht waren.

Sara stöhnte innerlich. Oben wurde es im Sommer brütend heiss. Sie hätte eine Ersatzbluse mitnehmen sollen. Wie sie Schweissflecken unter den Armen hasste. Sie ging vor. «Du hast mir noch nicht erzählt, was Lucy Samstagnacht angestellt hat. Hatte sie eine gute Ausrede bereit?»

«Ein Junge, was denn sonst.»

«Hoppla, sie gibt Gas. Pass besser auf. Nicht dass du nächstes Jahr schon Grossvater wirst – Alter.» Sara konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen, bereute ihn aber gleich. Was gab ihr das Recht, darüber Witze zu reissen? Sie war auch erst fünfzehn gewesen, als sie schwanger wurde … «Ist Lucy aufgeklärt? Sie weiss hoffentlich über Verhütung Bescheid?»

Tom räusperte sich. Sie waren auf der Galerie angekommen und blieben vor der offenen Tür zum Sitzungszimmer stehen. «Ist das nicht Karos Aufgabe? Sie ist die Mutter.»

«Seit wann verlässt du dich auf die Frau, die dich betrogen und ausgenommen hat? Nein, Tom. Du musst mit Lucy über Verhütung sprechen. Sie muss wissen, wie Kondome funktionieren. Nimmt sie die Pille?»

«Ähm, nein?»

«Dann geh mit ihr zum Arzt.»

«Aber sie ist erst vierzehn.»

«Eben.» Sara fasste sich an den Bauch.

Tom machte auf stur. «In der Schule haben sie Aufklärungsunterricht.»

«Und als Nächstes sagst du mir, dass YouTube und die sozialen Medien die Aufgabe der Eltern übernehmen, ihre Kinder vernünftig aufzuklären?»

«Leute!» Natalie stürmte aus dem Sitzungszimmer. «Echt, ihr seid peinlich», flüsterte sie. «Wir haben da drin einen neuen Klienten, und ihr sprecht hier draussen über Verhütung bei Minderjährigen. Wir konnten jedes Wort mithören.»

Sara beschloss, die Rüge zu ignorieren. «Wir haben einen Fall? Worum geht’s?»

«Stalking. Kommt mit, ich stelle euch Herrn Tanner vor.»

Herrn, wunderte sich Sara. Meist waren Frauen die Opfer von Stalkern. Sie staunte nicht schlecht, als sie den Herrn neben dem Tisch stehen sah. Er trug ein weisses Hemd und eine schwarze Hose. Die dunkelbraunen Haare waren fein säuberlich zur Seite gekämmt. Eine Aktentasche stand auf dem Tisch. Die Kleidung wirkte fremd an dem Mann, der höchstens zwanzig Jahre alt sein konnte. Sein Gesicht war jungenhaft, irgendwie niedlich. Die Augen waren gross und dunkel. Seine Haut war makellos, aber für Saras Geschmack zu bleich. Er lächelte freundlich zur Begrüssung. Schmuck trug er keinen. Als sie ihm die Hand schüttelte, lullte der dezente Geruch eines würzigen Parfums sie ein. Sara entging nicht, dass seine Wangen leicht gerötet waren. Sie konnte den Grund dafür nicht erahnen. War er nervös? «Guten Morgen, Herr Tanner.» Sie drückte ihm kräftig die Hand. «Ich bin Sara Jung, das ist unser Kollege Tom Engels.»

«Bitte entschuldigen Sie, dass ich unangemeldet in Ihre Detektei platze. Sie sind mir empfohlen worden, und ich brauche dringend Ihre Hilfe.»

«Wer hat Sie uns empfohlen?», fragte Tom.

«Eine Freundin», sagte Tanner.

«Setzen wir uns», schlug Tom vor.

Sara zückte ihr rotes Notizbuch aus ihrer Umhängetasche, Natalie zog den Laptop näher zu sich heran, und Tom begnügte sich mit einem weissen Blatt Papier, das auf dem Tisch lag, und einem Kugelschreiber. Zu dritt sassen sie nebeneinander am Tisch und starrten erwartungsvoll Herrn Tanner an, der ihnen gegenüber Platz genommen hatte.

Hübscher Junge, dachte Sara, so gepflegt und manierlich. Aber ihr Bauch rebellierte. Etwas war an der Sache faul, bloss was? «Was können wir für Sie tun?»

«Ich brauche Beweise und möchte Sie engagieren», sagte Tanner. Er öffnete die Aktentasche und holte eine Mappe hervor. Auf dem Tisch öffnete er sie und schob ihnen eine Visitenkarte zu, die er aus der Mappe gezogen hatte.

«Dr. med. dent. Roman Wagner?», las Natalie laut vor. «Er hat eine Zahnarztpraxis am Eschenring.»

«Ich möchte, dass Sie Dr. Wagner überführen, damit er verhaftet wird und hinter Gitter kommt.»

«Welche Straftat werfen Sie ihm vor?», fragte Sara. Ihr fiel der Schatten auf Tanners Oberarm auf, der sich durch das weisse Hemd abzeichnete. Ein Tattoo?

«Stalking. Körperverletzung. Verleumdung.»

Oh, eine klare Ansage, dachte Sara.

«Bedroht er Sie?», fragte Tom.

Tanner schüttelte den Kopf. «Nicht mich. Meine Mutter.»

Die Mutter? Sara musterte den jungen Mann genauer. Nein, sie täuschte sich nicht, er hatte ein winziges Loch seitlich in der unteren Lippe, und die Ohren waren mehrfach durchstochen. Piercings? «Warum ist Ihre Mutter nicht mitgekommen?»

«Sie verlässt die Wohnung seit zwei Jahren nur selten.»

«Wegen Dr. Wagner?», schoss es aus Natalie heraus.

Tanner nickte.

«Waren Sie bei der Polizei?», fragte Sara.

«Ja. Mehrmals. Auch bei der Stadtverwaltung, beim Sozialamt, bei Hilfsorganisationen, die Nummer der Hotline für Stalking-Fälle kenne ich auswendig. Umsonst.»

«Natürlich helfen wir», sagte Natalie. «Stalkingopfer werden bis heute von unserem Gesetz ungenügend geschützt.»

Tanner legte einige Fotos auf den Tisch. «Das ist der Arsch.»

Arsch? Das Wort passte nicht zu einem jungen Mann in weissem Hemd und schwarzer Hose. Sara wusste, dass auf ihren Instinkt Verlass war. Sie schaute sich die Bilder an. «Haben Sie die aufgenommen? Heimlich?»

«Ja. Mit dem Handy.»

«Das kann Ihnen Ärger einbringen.» Sie nahm eines der Bilder in die Hand. Dr. Wagner telefonierte auf einem Parkplatz vor einer Corvette. Er wirkte elegant, freundlich, attraktiv. Er musste Mitte vierzig sein, so etwa in ihrem Alter.

«Übernehmen Sie den Fall?», fragte Tanner.

Natalie wollte antworten, aber Sara kam ihr zuvor. «Wir verlangen einen Pauschalvorschuss von zweitausend Franken. Wöchentlich wird eine Ratenzahlung von eintausend Franken fällig. Mit der Endabrechnung sind unsere effektiv geleisteten Stunden aufgelistet. Spesen sind extra zu bezahlen. Erfolgsgarantie geben wir keine. Bezahlen Sie bar oder mit Kreditkarte? Banküberweisung geht natürlich auch. Ah, wir haben sogar Twint, richtig?» Sie schaute die verdutzte Natalie an. «Aber zuerst brauchen wir Ihren Ausweis.»

Tanner starrte sie mit offenem Mund an. «Wieso einen Ausweis?»

«Ist Vorschrift.»

Er zögerte.

«Oder haben Sie uns angelogen?»

«Sara», mischte sich Tom ein.

Sie streckte die Hand aus. «Den Ausweis.»

Mit den Fingern klopfte Tanner auf den Tisch, dann griff er nach dem Portemonnaie in der Hose und zog seine Identitätskarte heraus.

Wenig zimperlich entriss Sara ihm diese. «Herr Elias Tanner, wir haben hier ein Problem. Sie sind minderjährig. Mit sechzehn kann man keine Detektei beauftragen.»

«Ich werde nächsten Monat siebzehn.»

«Immer noch minderjährig. Ihre Mutter muss herkommen.»

Tanner schoss vom Stuhl auf. «Wie denn, wenn sie die Wohnung nicht verlässt?»

Tom stand ebenfalls auf. «Beruhigen wir uns, ja? Wir könnten zu Ihnen nach Hause kommen.»

«Nein, unmöglich. Meine Mutter lässt keine Fremden in die Wohnung.»

Jetzt stand Natalie auf, ging um den Tisch herum und legte die Hand auf die Schulter des Jungen. «Keine Sorge, wir helfen Ihnen. Das ist erlaubt, oder?» Sie starrte Sara wütend an. «Dürfen wir Minderjährigen helfen, wenn sie um Hilfe bitten? Oder ist das verboten?»

«Natalie!» Das war gemein, dachte Sara.

«Vielen Dank.» Tanner wischte sich mit der Hand über das Gesicht. «Ich will bloss, dass meine Mutter und ich ein ganz normales Leben führen können, wie andere Familien. Wissen Sie, wie schwer es ist, mit vierzehn die Verantwortung von Erwachsenen zu übernehmen? Ich will das nicht mehr. Ich will, dass meine Mutter endlich wieder eine Mutter werden kann, die sich um ihren Sohn kümmert, bis er volljährig wird.»

«Erzählen Sie uns alles, was wir wissen müssen, um Ihnen zu helfen», sagte Natalie. «Einige Details haben Sie mir ja schon anvertraut. Sie behaupten, Herr Wagner terrorisiere und bedrohe ihre Mutter seit rund zwei Jahren mit Anrufen und Nachrichten auf dem Handy. Fast wöchentlich tauche er nachts vor ihrem Wohnhaus, meist mit einem seiner Wagen oder einem Motorrad, auf und starre zu ihren Fenstern hoch. Auch fanden Sie Drohbriefe im Briefkasten und unter der Tür. Entweder auf dem Computer geschrieben oder mit aufgeklebten Textschnitzeln aus Zeitungen.»

«Haben Sie solche Drohbriefe dabei?», fragte Sara.

«Nein. Meine Mutter verbrennt sie sofort.»

«Herr Wagner soll auch Ihnen gefolgt sein», fuhr Natalie fort. «Er hat Fotos von Ihnen gemacht, bei einem Konzert, bei der Arbeit und im Park mit Freunden. Diese Bilder hat er ebenfalls an Ihre Mutter geschickt, ist das korrekt, Herr Tanner?»

«Genau. Aber können Sie mir einen Gefallen tun?»

Natalie hob fragend die Augenbrauen.

Er zwinkerte ihr zu.

So schnell wechselte er vom verlorenen Kind zum flirtenden Macho, dachte Sara, die ihn genau beobachtete.

«Nennen Sie mich nicht Herr Tanner, das klingt voll alt. Ich bin ET.»

Sara wippte mit dem Stuhl vor und zurück, liess ET dabei nicht aus den Augen.

Dieser wandte sich an Tom. «Darf ich Ihnen einen Tipp geben? Ich meine, wegen Ihrer Tochter. Ich denke, sie ist aufgeklärter als ihr Dad. Lucy weiss, was sie tut. Also keine Angst, wegen mir werden Sie nächstes Jahr nicht zum Grossvater. Zu der Sorte Mann gehöre ich nicht.»

Sara schnappte nach Luft, wirbelte den Kopf zu Tom herum. Keine gute Idee. Der Stuhl stand gerade auf der Kippe auf den hinteren beiden Stuhlbeinen. Der Sturz war unumgänglich. Sie krachte nach hinten und landete schmerzhaft mit dem Rücken auf dem Boden.

«Sara!», rief Natalie schockiert.

Nicht so Tom, er starrte ET mit den Augen eines Raubtieres an, kurz davor, ihm den Kopf abzureissen. Doch das Kaninchen zeigte keine Angst. Es rümpfte bloss niedlich die Nase und sagte mit ruhiger Stimme: «Lucy hat mir Ihre Detektei empfohlen. Sorry, dass sie Samstagnacht zu spät heimkam. War meine Schuld. Wir hatten viel zu quatschen, ganz sittlich, echt. Ich bin ein Gentleman.» Er zwinkerte diesmal Sara zu. «Ein Gentleman der alten Schule.»

Was für ein überheblicher Dreikäsehoch, dachte Sara und rappelte sich vom Boden auf. Wie peinlich war das denn?

***

Natalie würde für Gerechtigkeit kämpfen, koste es, was es wolle. Sie stand breitbeinig, die Arme verschränkt, in ihrem Büro, Tom und Sara vor sich. ET war vor einer halben Stunde gegangen. Er musste zur Arbeit, wie er sagte. Seither stritten sie sich. Es ging ungewohnt laut zu und her. Auch wenn Natalie mit ihrem wunden Hals nicht die kräftigste Stimme besass, so wusste sie, dass sie den grössten Dickschädel hatte. Sie würde den Jungen nicht im Stich lassen. «Er braucht uns. Ihr habt es selbst gehört. Seiner Mutter geht es schlecht, den Vater kennt er nicht, und die Behörden arbeiten zu träge und kompliziert.»

«Ein Minderjähriger kann uns nicht beauftragen, geschweige denn bezahlen», konterte Sara.

«Geht es euch nur ums Geld?» Natalie schnaubte. «Was ist mit Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft und dem Gewissen, das Richtige zu tun?»

«Du hast leicht reden. Deine Familie ist vermögend. Sara und ich müssen uns durchschlagen und Rechnungen bezahlen. Wie soll das gehen, wenn wir nur aus Nächstenliebe arbeiten, ohne unsere Dienste in Rechnung zu stellen?»

«Aber er ist ein Junge.»

«Ein frecher dazu. Er hat meine Lucy angestachelt …»

«Spiesser», sagte Natalie, bereute die Worte aber gleich wieder. Tom war damals bei den Höllgrotten ihr Retter gewesen. Er hatte ein grosses Herz, aber auch ein grosses Loch in seinem Bankkonto.

War Tom beleidigt, so zeigte er es nicht. Er schaute auf die Armbanduhr. «Ich habe Papierkram zu erledigen und die Kurse vom Nachmittag vorzubereiten.» Er ging hinüber in sein Büro, welches er mit Sara teilte.

«Tom!», rief ihm Natalie hinterher. Vergeblich.

«Das war nicht fair», rügte sie Sara. «Wir geben unser Bestes, das weisst du. Aber wenn wir nur aus Nächstenliebe Fälle übernehmen, ist das unser Ende. Wir haben Richtlinien.» Sara massierte sich den leicht schmerzenden Rücken. «Ich muss mich um Herrn Isenegger kümmern, der es mit der Treue nicht so genau nimmt. Ich hasse das.» Sara folgte Tom ins Büro.

Macht doch, dachte Natalie, dann ermittle ich auf eigene Faust zu diesem Dr. Wagner. Gut, hatte sie beim Gespräch mit ET einige Infos zusammengetragen, bevor Tom und Sara am Morgen gekommen waren.

Natalie setzte sich an den Tisch und schaltete den Laptop ein. Sie schaute auf ihre Notizen auf dem Bildschirm:

–Elias Tanner alias ET, 16 (wird am 25. August 17 Jahre alt)

–Adresse: Sankt-Johannes-Strasse 25, Zug

–Ausbildung: Lehrling im 1. Lehrjahr als Veranstaltungsfachmann bei Mäder Licht & Ton in Zürich

–Hobby: spielt E-Gitarre in der Indie-Rock-Band The Dudes of Salvation

–Mutter: Bianca Tanner, 38, gelernte Dentalassistentin, seit über zwei Jahren arbeitslos (psychische Probleme?), Stalkingopfer

–Vater: unbekannt

–Beschuldigter: Dr. med. dent. Roman Wagner, ehem. Arbeitgeber von Bianca Tanner. Hatten die beiden eine (heimliche) Beziehung?

Viel war das nicht. Als Erstes schaute sich Natalie die Website der Zahnarztpraxis an. Schön war die. Schöne Bilder. Edle Praxis. Der gute Dr. Wagner strahlte in die Kamera, flankiert von zwei Dentalassistentinnen, einer Dentalhygienikerin und einem Studenten, der bei Dr. Wagner sein Praktikum absolvierte, wie Natalie dem Beschrieb der Fotos entnehmen konnte. Es gab Kundenbewertungen, die alle positiv ausfielen. Aber Natalie hielt wenig von Kundenbewertungen. In der Vita stand, dass Dr. Wagner eine Auszeichnung für eine Forschungsarbeit erhalten hatte, bei der es um Nervenschädigungen im Kieferbereich ging. Schön und gut.

In einem zweiten Schritt fragte Natalie den schlauen Dr. Google. Der wusste auch nur Gutes über den Zahnarzt zu berichten. Offenbar unterstützte er ein Behindertenheim und war Mitglied im Golfclub Holzhäusern.

Danach klopfte sie in der Unterwelt an, aber das Darknet kannte den attraktiven Herrn im Arztkittel nicht.

Sie versuchte es bei diversen sozialen Medien. Dort existierte er nicht. Das Handelsregister bot keine neuen Informationen. Die Praxis war eine GmbH. Natalie forderte bei der Stadt Zug einen Auszug aus dem Betreibungsregister an. Vielleicht hatte die Praxis Schulden. Auf diese Antwort musste sie warten.

Kurz entschlossen kontaktierte sie Simone. «Wie geht es dir?», fragte sie am Telefon. «Zurück aus dem Silicon Valley?»

«Hey, Natalie. Ja, seit acht Wochen. Bin für ein paar Monate in Bern untergebracht. Wie geht es unserem bunten Schmetterling von Kipekapeka?»

«Scheisse, wie immer. Hör zu, ich brauche deine Hilfe. Nichts Dramatisches.»

«Schiess los.»

«Kannst du mir Informationen über einen Dr. med. dent. Roman Wagner besorgen? Er führt eine Zahnarztpraxis in Zug. Ich brauche seine Privatadresse, ob er verheiratet ist und Kinder hat. Ich will wissen, ob er vorbestraft ist, eine Betreibung am Hals hat – schmutzige Sachen halt.»

«Ein paar Hacks unter dem Radar der Behörden? Eilt es? Ich bin gerade an einem wichtigen Projekt dran, habe den Auftrag von einem Finanzinstitut, ihr eigenes IT-Netzwerk zu hacken, um Schwachstellen zu finden.»

«Kein Stress.»

«Gut, in ein paar Tagen schicke ich dir die Infos, okay?»

«Du bist die Beste.»

«Logo.»

Warten, dachte Natalie. Sie holte YouTube auf den Bildschirm und suchte nach The Dudes of Salvation. ET hatte versprochen, dass ihr neues Musikvideo voll der Hammer sei. Sie schaute es sich an.

Es war eine Low-Budget-Eigenproduktion: laut, schräg, düster und emotional. Vermutlich aufgenommen in einem Zimmer, mit einem Greenscreen im Hintergrund, den ET am Computer bearbeitet hatte, sodass beim Betrachter der Eindruck entstand, die Band spiele vor einem ausbrechenden Vulkan. Ein paar Filter und Spezialeffekte, ein paar geschickte Bildschnitte und das Musikvideo liess sich sehen. Gut gemacht. Natalie stach der Sänger der Band ins Auge. Sein Blick war hypnotisierend, die Stimme beschwörend. Er sang gut, auch wenn er die höchsten Töne knapp verfehlte.

***

Der Montag war fast geschafft. Sara packte die Kameraausrüstung zusammen und stieg in ihren Wagen. Sie hatte die Bilder im Kasten, die der Trust Bares einbringen würden und die Iseneggers vor den Scheidungsanwalt brachten. Der Herr Gemahl hätte sich nicht an einem Montagnachmittag mit seiner Geliebten in deren geschlossenem Coiffeursalon treffen sollen, vor allem nicht, da das Hinterzimmer ein Fenster besass, durch welches man von der Gasse einen perfekten Blick ins Innere werfen konnte.

Sara würde die Bilder umgehend der Klientin zustellen.

Job erledigt.

Sara hasste solche Fälle.

Unschlüssig sass sie hinter dem Steuer. Zurück ins Büro? Um diese Zeit allein zu Hause sitzen wollte sie nicht. Es war ein herrlicher Sommerabend. Ein paar Kilometer Joggen würde ihr guttun. Sie musste fit bleiben.

Warum zögerte sie?

Mit der Hand schlug sie auf das Lenkrad ein. Den ganzen Tag war sie abwesend gewesen.

Dieser Rotzbengel.

Spontanität gehörte nicht zu ihren Stärken. Es musste an dem Jungen liegen, dass sie statt zu ihrer Wohnung zur Polizeidienststelle fuhr. Sie kannte das Gebäude nur zu gut. Nicht so den Herrn in Uniform am Empfang. Er musste neu hier sein. War er alt genug, eine Uniform zu tragen?

Sara schüttelte den Kopf, in welchem sich ET festgekrallt hatte wie ein Parasit.

Sie fragte den Jüngling am Empfang nach Bolander oder Rizzo. Fünf Minuten später bekam sie den Besucherausweis und ging hoch in ihr altes Büro. Samuel Bolander sass hinter dem Schreibtisch und nickte kühl, als sie eintrat. Er hatte ihren Posten als Chef der Zuger Kripo übernommen. Ein guter Mann, aber zu wenig kreativ, wie Sara fand. Dennoch war auf ihn Verlass.

«Sara höchstpersönlich? Ich nehme an, das ist kein Freundschaftsbesuch?» Bolander war ein Jahr älter als Sara, ein durchschnittliches Gesicht mit farblosen Kleidern ab der Stange.

«Habt ihr meine Stadt unter Kontrolle?» Es sollte locker klingen.

«Zumindest ist Zug sittlich geworden», witzelte Bolander ungeschickt. «Streitereien aufgrund von Ehebruch sind rapide am Schwinden, dafür beklagen sich die Scheidungsanwälte bei uns wegen Überarbeitung. Das haben wir der Trust Investigation zu verdanken.»

«Ha! Du übertreibst.»

«Kaffee?», fragte eine Stimme hinter ihr. «Ciao, Sara.» Giovanni Rizzo trat ins Büro, seine prachtvollen braunen Locken aus der Stirn streichend. «Ein Freundschaftsbesuch?»

«Auch.»

«Wusste ich es.» Bolander winkte mit dem Zeigefinger ab. «Nein, du darfst keinen Blick in unsere Akten werfen oder unsere Computer benutzen.»

Sara versuchte, lieb zu schauen. «Ach, kommt schon, wir sind ja fast wie eine Familie.»

«Nicht ein weiterer blutrünstiger Fall», sagte Rizzo. «Der Schutzengelmord hat mir gereicht.»

«Nur ein Stalking», sagte Sara.

Rizzo hob eine Augenbraue. «Stalking? Du weisst, dass –»

«Hattet ihr jemals mit einem Dr. Roman Wagner zu tun? Er ist Zahnarzt in der Stadt.»

Die beiden überlegten kurz.

«Nein, ist mir nicht bekannt», antwortete Bolander. «Ich müsste im System nachschauen.»

Auch Rizzo verneinte.

Bolander legte eine Kapsel in die Kaffeemaschine. «Hat sich eine Klientin bei euch über einen Stalker beklagt?»

«So in der Art.»

Rizzo setzte sich auf die Kante von Bolanders Arbeitstisch. «Das Gesetz ist –»

«In diesem Fall keine Hilfe. Ich weiss.» Sara wusste, dass der Polizei die Hände gebunden waren, solange ein Stalker nur beobachtete. Es war nicht verboten, auf der Strasse zu stehen und ein Haus anzuschauen. «Kennt ihr eine Bianca Tanner?»

«Ist sie das Opfer?», fragte Rizzo.

Bolander servierte ihr den Kaffee. «Der Name Bianca Tanner sagt mir nichts. Wenn keine Körperverletzung oder ein Todesfall vorliegen, kommen Anzeigen wegen Stalkings nicht bis zu uns durch, das weisst du.»

Sara presste die Lippen zusammen. «Hätte ja sein können.»

«Weiss Staatsanwalt Lind, dass du hier bist?», fragte Rizzo. «Er würde sich freuen, dich zu sehen. Ständig spricht er von dir.»

Rasch trank Sara den Kaffee und winkte ab. «Lasst gut sein. Ein andermal. Tschüss.»

«Gern geschehen», rief ihr Bolander hinterher.

Kurz nach siebzehn Uhr war Sara in der Sankt-Johannes-Strasse. Zwei Frauen mit Kopftuch plauderten fröhlich vor dem Eingang, während ihre Kinder Fangen spielten. Daneben kratzte ein älterer Herr, in einem weissen Unterhemd und mit einer Zigarette im Mundwinkel, Unkraut aus den Fugen des Plattenbodens. Sara zog ihr rotes Notizbuch aus der Handtasche und warf einen Blick hinein. Ja, das war die Adresse, die ET genannt hatte. Sie stieg aus dem Wagen, ging zum Eingang und schaute sich die Tafel mit den Klingeln und Namensschildern an. Es gab unzählige Wohnungen, der Block war zwölf Stockwerke hoch. Zwei Namensschilder fehlten. Sie ging zu dem Herrn, der vermutlich der Hauswart war. «’tschuldigung. Wohnen hier Bianca und Elias Tanner?»

Der Mann richtete sich auf und streckte seinen Rücken durch. In der Hand hielt er ein Fugenmesser. Solange er damit nur dem Unkraut an den Kragen ging, war das okay.

«Die Tanners?» Er sprach ein gutes Deutsch, aber mit einem Akzent aus Osteuropa, vermutete Sara. «Da oben, siebter Stock rechts.» Er zeigte zu einem Fenster. «Sie werden kein Glück haben.»

«Ist niemand zu Hause?»

«Woher soll ich das wissen?», fragte er und musterte Sara von oben bis unten. «Die Tanners wollen keinen Kontakt mit uns anderen. Ich habe Frau Tanner erst zwei- oder dreimal gesehen, und sie wohnen schon bald zwei Jahre hier.»

«Was ist mit dem Jungen?»

«Der kommt und geht, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Der muss aufpassen, dass er nicht auf die schiefe Bahn gerät, so wie der aussieht. Dealer und Kriminelle dulde ich nicht in meinem Block. Wir haben viele Familien mit Kindern hier.»

«Was ist mit einem Mann?»

Der Hauswart schüttelte den Kopf.

«Ist das Ihre Masche?», rief eine Stimme hinter Saras Rücken. Sie drehte sich um.

ET zeigte mit dem Finger auf sie, kam schnell näher und blieb nah vor ihr stehen. Sie erkannte ihn kaum wieder. «Warum fragen Sie nicht mich nach meinem Alten, statt hinter meinem Rücken zu schnüffeln? Herr Milenkovic weiss nichts über uns, lassen Sie ihn in Ruhe.»

Sara blickte ET unerschrocken in die Augen. Sie waren gleich gross. «Kann ich hochkommen?»

«Nein.» ET war verschwitzt. Er trug zerrissene Jeans und ein verbleichtes schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die Sara nicht kannte. In Lippe und Augenbraue steckten Piercings, auch in den Ohren. Unter dem Ärmel des T-Shirts konnte sie ein schwarzes Tribal-Tattoo auf dem Oberarm sehen. Auf dem Rücken trug ET einen Rucksack.

«Kommst du von der Arbeit?» Sie schaute auf die Uhr. «Es ist erst kurz nach fünf.»

«Wollen Sie meinen Lehrmeister anrufen und fragen, ob ich schwänze? Nur zu.»

«Ich muss mit deiner Mutter sprechen.»

«Sie will aber niemanden sehen.»

«ET, wie sollen wir –»

«Fuck! Ich wollte Sie engagieren, damit Sie diesen Arsch von Zahnarzt beschatten, nicht damit Sie meine Mutter stalken. Lassen Sie sie in Ruhe.» Er wandte sich ab und ging ins Haus.

Sara überlegte, ihm zu folgen, liess es aber bleiben.

Sie konnte nichts tun.

Sie hatte es immerhin versucht.

Teenager!

Sie stampfte zu ihrem Wagen. Ein paar Kilometer Joggen würde ihre miese Laune vertreiben.

***

Tom stand am Tennisplatz und schaute zu, wie Lucy Aufschläge unter der Anleitung ihrer Trainerin übte. Wie hatte ihm das entgehen können? Sie war kein Kind mehr. Auch wenn Sara keine Ahnung von Kindererziehung hatte, so behielt sie recht. Ob Tom es wollte oder nicht, das Thema Jungs würde sich nicht vermeiden lassen.

Die Trainerin winkte Tom zu und verliess den Tennisplatz. Die Privatstunde war zu Ende. Tom half Lucy, die Bälle einzusammeln.

«Bist du hier, weil du ein Tenniswunderkind bestaunen willst oder um deine Strafpredigt fortzuführen?»

Lucy war cool, ein anderes Wort fiel Tom nicht ein. «War ich Samstagnacht zu streng?»

«Ja. Warst du. Ich habe ja nichts Böses angestellt, bloss die Zeit vergessen. Ist dir das nie passiert?»

Tom hob zwei Bälle vom Boden auf und warf sie in einen Korb. Natürlich war ihm das schon passiert. Aber eigentlich war er aus einem anderen Grund hier. «Magst du den Jungen?»

Lucy stemmte die Hände in die Hüften. «Interessierst du dich doch für ihn?»

«Fang.» Tom warf ihr einen Ball zu.

«ET ist nett.»

Nett klang gut. Harmlos.

«Und lustig.»

Genug der Komplimente.

«Er sieht klasse aus.»

Gefährliches Terrain.

Lucy musste das Entsetzen in seinem Gesicht erkannt haben. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. «Und sexy. Ja, das ist er auch.»

«Lucy!»

«Mensch, ich mach bloss Spass. ET ist okay, aber mehr läuft da nicht.»

Tom zeigte mit dem Finger auf sie. «Versprich mir das.»

Sie runzelte die Stirn. «Ich hatte bereits einen Freund. Nico war –»

«Anständig. Gut erzogen. Hatte beste Manieren.»

Lucy presste die Lippen aufeinander. «Ja klar, das hat er dir vorgespielt. Er hat mich wegen einer anderen sitzen lassen. Und weisst du, wie er Schluss gemacht hat? Er hat mir eine WhatsApp-Nachricht geschrieben. ‹Machen wir Schluss.› Punkt. Mehr stand nicht drin.»

Tom starrte seine Tochter an. «Diese kleine Ratte, wie kann der es wagen, meine Lucy …»

«Krieg dich wieder ein. Ich habe es überlebt. Oder glaubst du, wegen so eines miesen Typen mache ich mich unglücklich?» Sie drückte ihm einen Tennisball in die Hand. «Aber du benimmst dich kindisch. Du kennst ET nicht und denkst dennoch schlecht über ihn. Nur wegen dieser einen Stunde?»

«Er war heute bei uns in der Detektei.»

«Was?»

«Hast du ihm von der Trust erzählt?»

Sie nickte. «Was wollte er bei euch?»

«Sorry, über die Anliegen von potenziellen Klienten darf ich nicht sprechen.»

«Komm schon, was wollte er?»

Tom haderte mit sich. Er konnte unmöglich seine Tochter als Spionin einsetzen, oder? Nein, das ging gar nicht. «Frag ihn selbst – solltest du ihn zufällig wieder einmal sehen.»

«Hm, okay. Ich rufe ihn nachher an.»

«Du hast seine Nummer?»

«Klaro.»

Kinder. «Sag mal, hat … hat deine Mutter … ich meine, hat Karo mit dir einmal über … du weisst schon … über Verhütung –»

«Nicht dein Ernst?» Sie atmete tief durch und verwarf die Hände. «Ja. Mami war letztes Jahr mit mir beim Frauenarzt. Mann, ist das peinlich. Frag mich das nie wieder, okay? Ich bin aufgeklärt.» Sie marschierte zu den Umkleidekabinen, drehte sich aber noch einmal um. «Vermutlich besser aufgeklärt als du. Tschüss.» Sie winkte ihm zu und verschwand rasch im Clubhaus.

DREI

Dienstag, 4.Juli, 8.30Uhr