Lichter über Luzern - Monika Mansour - E-Book

Lichter über Luzern E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Temporeich, packend, besonders. Seltsame Lichter erstrahlen über Luzern und bringen die Stadt weltweit in die Schlagzeilen. Von einer Alien-Invasion ist die Rede, denn immer wieder verschwinden Menschen, die nach ihrer Rückkehr überzeugt sind, auf einem Raumschiff gewesen zu sein. Cem Cengiz und sein Ermittlerteam glauben nicht an ausserirdische Entführer, doch dann gibt es die ersten Todesopfer – unter unerklärlichen Umständen gestorben. Haben sich tatsächlich Aliens in der Stadt niedergelassen, oder treibt ein irdischer Psychopath sein mörderisches Spiel?

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar und war Tätowiererin. 2014 erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: azur13/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-976-1

Originalausgabe

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Wenn Aliens uns jemals besuchen sollten, denke ich, ist das Ergebnis so wie bei Christoph Kolumbus und seiner ersten Ankunft in Amerika – was nicht sonderlich gut für die amerikanischen Ureinwohner ausgegangen ist.

Stephen Hawking – Physiker

Du darfst niemals vergessen: Deine Wahrnehmung bestimmt deine Realität!

Yoda – Star Wars

Es gibt gewisse Momente, die uns ein Leben lang verfolgen. Momente, in denen die Geschichte sich wendet.

Jean-Luc Picard – Star Trek

PROLOG

Die Gravitation schien inexistent, und die Umgebung war feindlich. Tödlich.

Er schwebte, den Blick nach oben gerichtet. Diffuse Lichter schwirrten über ihm.

Bloss einen winzigen Augenblick wollte er hier unten verweilen, dann musste er zurück. Sie riefen ihn.

Sein Atem ging langsam, kontrolliert. Die Kälte schmerzte. Die Lichter seines Körpers pulsierten in der Dunkelheit.

Dann sah er sie.

Erdlinge.

Sie kamen näher, schauten zu ihm herab, ihre blassen Finger ausgestreckt.

Perfekt. Die Invasion stand kurz bevor.

Die schwirrenden Lichter über ihm wurden hektisch, blitzten und funkelten, lenkten die Aufmerksamkeit der Menschen von ihm weg.

Unbemerkt tauchte er ab, entfernte sich von den lächerlichen Erdbewohnern, die nicht ahnen konnten, was in den nächsten Tagen mit ihnen geschehen würde.

EINS

Jean Moreau schmunzelte. «Fällt kein Wunder vom Himmel, sind wir erledigt.»

Marius sass an der Hotelbar und lockerte den Sitz seiner schwarzen Krawatte. Der offizielle Teil der Trauerfeier war vorbei, das Leidmahl bloss noch ein Buffet mit leeren Schüsseln und Tellern. Die meisten der über einhundert geladenen Gäste waren auf dem Heimweg.

Hinter dem Tresen stand Jean und füllte Whisky in zwei Tumbler. Der junge Mann lächelte. «Egal. Erweisen wir meinem alten Herrn die letzte Ehre. Er liebte diesen fünfundzwanzigjährigen Glenlivet. Die einzige Flasche, die übrig ist. Trinken wir sie leer, bevor die Behörden sie beschlagnahmen.»

«Komm schon, Jean. Du hast heute deinen Vater beerdigt. Die Geschäfte können warten.»

«Hm …» Jean reichte Marius den Tumbler. «Schau dich um. Das gute alte Belair, ein stattliches Hotel in bester Lage am Vierwaldstättersee, vor den Türen von Luzern. Meine Vorfahren haben es gebaut. Es gehörte immer der Familie Moreau. Weit über einhundert Jahre beherbergte es betuchte Gäste aus aller Welt. Und seit heute sind meine Schwester und ich die Erben. Wir werden das Hotel nicht einmal bis in den nächsten Sommer hinein halten können.»

«So schlimm?» Marius mochte den Jungen. Junge war der falsche Ausdruck, Jean war siebenundzwanzig, und Marius könnte mit seinen fünfunddreissig Jahren dessen grosser Bruder sein. Er musterte seinen Freund, der selbst zur Beerdigung seines Vaters keinen Anzug trug. Schwarze Jeans, graues T-Shirt und ein schwarzer Sweater mit Kapuze. Jean war ein Wildfang. Schlicht ein cooler Typ. Trotz flacher Nase, schmalen Augen und einem rotbraunen, leicht krausen Haarschopf irgendwie gut aussehend. Sein Charme war überirdisch. Jean liebte das Leben und Partys, war gleichzeitig aber ein Workaholic. Er hatte bisher alles in das Hotel investiert, hatte Koch in einem Gault-Millau-Restaurant in der Westschweiz gelernt, Erfahrungen in einer Spitzenküche in New York gesammelt und danach in Luzern die Hotelfachschule absolviert, die er diesen Sommer mit Bestnote abgeschlossen hatte.

Mit dem Tumbler in der Hand zeigte Jean zu der beeindruckenden Fensterfront, die den Blick auf den Garten des Hotels und dahinter den Vierwaldstättersee freigab. «Mensch, Marius, schau dir das an. Es ist Samstagnachmittag, Anfang November, eiskalt, grau und neblig draussen. Was siehst du noch? Genau. Nichts. Niemanden. Keine Leute, die spazieren, keine Touristen … Die Wirtschaftslage ist eine Katastrophe. Echt, dass ich einmal die Chinesen, Inder und Araber vermissen würde, wer hätte das gedacht.»

«Kann ich euch irgendwie helfen?» Marius kannte die Familie Moreau seit vielen Jahren. Oft hatte er mit Jeans Vater hier an der Bar gesessen. Die gewölbte Decke und die Wände aus Naturstein boten einen schönen Kontrast zu den Hunderten von Spirituosenflaschen, die durch indirektes Licht perfekt in Szene gesetzt wurden.

«Uns helfen? Klar. Leihst du uns mal eben drei Millionen?»

«So viel?»

«Das ist das Mindeste, das wir bis zum Sommer zusammenkratzen müssen. Die überfällige Sanierung nicht eingerechnet. Mein Vater hat uns tonnenweise Liebe und Freiheit geschenkt, aber nur Schulden vererbt.»

«Könnt ihr nicht verkaufen?»

«Nicht einmal mit Verlust. Niemand will in diesen Zeiten ein Hotel, das nichts einbringt und nur Kosten generiert. Und mit dem Palace oder National können wir auch nicht mithalten. Im Vergleich zu diesen Hotels ist unser Belair ein Winzling.» Jean kam um den Tresen herum. «Wir sind bereits mit den Löhnen für das Personal in Verzug, das chronisch unterbesetzt ist. Die Steuern sind noch offen und viele Lieferantenrechnungen nicht bezahlt.» Jean setzte sich auf den Barhocker neben Marius. «Shit, ich schleppe ganz schön viel Ballast mit mir rum, was?»

«Wie geht Pam damit um?»

«Mein Schwesterchen bleibt wie immer kühl und gelassen. Nicht einmal ich als ihr Zwillingsbruder kann ihr Pokerface lesen.»

«Du solltest die nächsten Tage um deinen Vater trauern. Nimm richtig Abschied, vergiss die Schulden. Dann sitzen wir nächste Woche zusammen und finden eine Lösung.» Marius glaubte nicht wirklich an die eigenen Worte.

«Klar, du als Journalist könntest einen Artikel in der Zeitung platzieren: ‹Waisenkinder am Abgrund›. Lässt sich bestimmt gut verkaufen und vielleicht Spendengelder fliessen.»

«Ach komm schon, den Kopf hängen lassen passt nicht zu dir.»

Jean klopfte Marius auf die Schulter. «Recht hast du. Heute Nacht gehen wir mit Freunden aus. Kommst du mit? Wir wollen Vater gebührend verabschieden. Nicht auf die Art, wie wir es bei unserer Mutter vor zwei Jahren taten. Vater hätte nicht gewollt, dass wir allein im Zimmer sitzen und uns die Augen ausheulen.»

«Es muss schwer sein.» Marius bemerkte, wie Jean trotz des Lächelns den Atem anhielt und gegen seine Gefühle ankämpfte.

«Wir konnten uns darauf vorbereiten. Mein alter Herr lag seit über zwei Monaten im Koma. Sein Tod war absehbar. Er hätte weniger rauchen und seine Lungen schonen sollen.»

«Habt ihr für mich etwas übrig gelassen?», fragte eine Frauenstimme hinter Marius.

Er konnte sich an dieser Stimme nie satthören: tief, rau und gleichzeitig samtweich. Unverkennbar Pam. Sie kam auf sie zu, elegant wie gewohnt, mit schwarzem, hautengem Kleid und High Heels. Die glänzend schwarzen Haare reichten ihr bis fast zur Taille. An den Ohren glitzerten üppige Ohrringe. Make-up trug sie wenig. Ihre Haut war makellos. Mit ihrer zarten Hand mit den weiss lackierten Fingernägeln griff sie nach dem Glenlivet auf dem Bartresen und setzte die Flasche direkt an die roten, vollen Lippen. Sie nahm drei kräftige Züge, bevor sie die Flasche absetzte.

Jean lachte. «Ist mein Schwesterchen nicht voll cool?»

Sie legte ihm den Arm um den Hals. «Schwesterchen? Vergiss nie, dass ich deine grosse, starke Schwester bin.»

«Drei Minuten machen keinen Unterschied», konterte Jean.

«Gott!» Sie stöhnte. «Es waren vier Minuten und dreihundertfünfzig Gramm. Was bin ich Mutter dankbar, dass sie uns zumindest in unterschiedlichen Eiern ausgetragen hat. Neun Monate mit dir eingesperrt wäre die Hölle gewesen.» Sie drückte Jean einen dicken Kuss auf die Wange.

Ja, Pam war cool, dachte Marius, und doch so anders als seine Lila, die vor zwei Tagen ebenfalls siebenundzwanzig geworden war. Unterschiedlicher könnten die beiden Frauen nicht sein.

«Sind noch Gäste im Restaurant?», fragte Jean.

«Nein. Ich habe die letzten verabschiedet. Dieses Kapitel können wir schliessen.»

Marius wusste, dass Pam schlecht mit Gefühlen umgehen konnte und niemals welche zeigte. Es war ihre Art, von ihrem Vater Abschied zu nehmen.

Plötzlich strahlte Jean und sprang vom Barhocker auf.

Victoria Novak, natürlich, dachte Marius. Vicky war Jeans mehr als bessere Hälfte. Jean rannte auf sie zu und nahm sie so fest in die Arme, dass sie sich beschwerte. Sie schnappte nach Luft und klopfte ihm auf den Rücken. «Willst du bei mir einen Pneumothorax auslösen?»

Jean liess den Kopf auf ihre Schulter fallen. Sie strich ihm über das wilde Haar.

Neben ihr stand ein grosser, gut aussehender junger Mann. Dieser schüttelte den Kopf über das Liebespaar und kam an die Bar. «Whisky», sagte er, «einen doppelten.»

Pam schenkte ihm grosszügig ein.

Er stiess mit Marius an. «Wir sind uns noch nicht offiziell vorgestellt worden. Ich bin Oliver Seidel. Jeans bester Kumpel. Du musst Marius sein, der Journalist. Jean hat erzählt, dass du seinen Vater in Myanmar kennengelernt hattest.»

«Ist lange her.»

Oliver seufzte. «Er meinte es gut, ihr Vater, wollte allen Bedürftigen dieser Welt mit Spenden helfen. Und wozu? Nur um seinen eigenen Kindern Schulden zu hinterlassen?»

Pam entriss Oliver das Whiskyglas. «Vaters Spenden sind nicht der Grund für unsere Finanzlage. Er kann nichts für diese langjährige Wirtschaftskrise. Es ist einfach passiert.»

«Ach komm schon, Pam, du arbeitest seit deinem Studienabschluss im Hotelmanagement. Euer Vater war ein guter Gastgeber, aber kein Geschäftsmann. Und seit dem Tod eurer Mutter –»

«Ich will heute nicht mehr über den Tod sprechen.» Pam machte deutlich, dass damit Schluss war.

Marius musterte Oliver. Er war gross und gut gebaut, mit einem perfekten Kurzhaarschnitt, der keine fünf Stunden alt sein konnte. Seine Haare waren schwarz, die Augenbrauen gerade, die Kinnlinie wie gemeisselt. Er trug eine schwarze Bundfaltenhose kombiniert mit einem Rollkragenpullover, darüber einen schwarzen Markenmantel. Marius glaubte Shampoo, Deodorant, Parfum und Schuhcrème gleichzeitig zu riechen, was überraschenderweise eine verführerische Gesamtduftnote ergab. «Was machst du beruflich?», fragte er, konnte die Neugier nicht zügeln.

Oliver richtete seinen Rollkragen. «Ich bin selbstständig, arbeite in der IT-Branche. Programmieren, 3D-Animation, App-Entwicklung und so. Verschiedene Dienstleistungen.»

«Wow.»

«Und er modelt», fügte Pam hinzu. «Er könnte locker in Paris, London oder New York laufen. An Angeboten fehlt es nicht. Aber sein Vater stellt sich quer.»

«Sprich nicht von ihm», sagte Oliver im Flüsterton.

Pam klopfte ihm auf die Schulter. «Gut. Lassen wir das. Wie wäre es mit einem Cocktail?»

Jean und Vicky setzten sich zu ihnen. Während Pam die Drinks zubereitete, blätterte Jean in der Tageszeitung, die auf dem Tresen lag. Er tippte mit dem Finger auf einen Artikel. «Die spinnen, die Amis. Das geht jetzt schon über vier Monate so. Aliens. In Colorado. Echt?» Er schaute Marius an.

«Dieses Fünfhundert-Seelen-Kaff in den Rockys», sagte Vicky. «Wie heisst es noch gleich … Firgrove Hills, genau – es wird von Tausenden von Schaulustigen überrannt. Die glauben, dass dort Aliens gelandet sind.»

«Habt ihr auch gelesen, dass dieser verrückte Milliardär Bill Braxton die Sache finanziell unterstützt?», fragte Oliver.

«Braxton?», wiederholte Vicky. «Ist das nicht der Medienmogul, der sein eigenes Raumfahrtprojekt lanciert?»

Oliver nickte. «Genau der. Er will ein Hotel im All bauen.»

Jean lachte. «Wir sollten ihm unser Belair anbieten. Er kann es gerne in den Weltraum teleportieren.»

«Ich würde unser Belair lieber hierbehalten», sagte Pam. «Bezahlen die Aliens mit Schweizer Franken, dürfen sie sich bei uns im Hotel einquartieren. Business ist Business.»

«Glaubt ihr nicht an Aliens?», fragte Marius. «Irgendwo habe ich mal den Satz gehört, es wäre eine Verschwendung des Weltraumes, wenn wir die Einzigen im Universum wären.»

«‹Contact›», sagte Vicky, «so hiess der Film mit Jodie Foster. Recht hat sie.»

«Deshalb habe ich den ausserirdischen Besuchern zu Ehren einen ‹Alien Brain Hemorrhage› gemixt.» Pam verteilte die Shotgläser mit dem bunten Inhalt, der an eine Galaxie-Infusion erinnerte.

«Stossen wir auf die Ausserirdischen an», sagte Jean, «die uns aus dieser Krise retten könnten. Von mir aus dürfen sie morgen vom Himmel fallen. Bloss heute Nacht nicht, die gehört meinem Vater.»

Marius stiess mit den Freunden an. Er war entschlossen, den Zwillingen zu helfen, auch wenn er dafür durch ein Wurmloch springen musste.

***

«Alain, teile die Gummibärchen gerecht mit Denis auf.»

Ihr sechsjähriger Sohn starrte Eva ungläubig an. «Aber Denis mag nur die gelben. Alle anderen darf ich haben.»

Die beiden Meerschweinchen, die Cem mit in ihr neues, gemeinsames Haus gebracht hatte, gurrten vergnügt in ihrem Käfig in der Ecke des Spielzimmers.

Eva ging neben Denis in die Hocke, der am Boden ein tausendteiliges Puzzle mit einem «Star Wars»-Motiv löste. «Denis, du bist jetzt Alains grosser Bruder. Du darfst ihm nicht alles durchgehen lassen.» Wenn Denis lächelte, schmolz Evas Herz dahin. Sein verstorbener Vater Viktor hatte im Leben so ziemlich alles falsch gemacht, aber mit Denis hatte er dieser Welt ein Goldstück hinterlassen. Seit bald fünf Monaten lebte der Junge bei ihnen. Noch war er ihr und Cems Pflegekind, aber Eva war zuversichtlich, dass die Adoption früher oder später genehmigt wurde. Sie war froh, dass Denis jeden Tag etwas mehr lächelte und die Traurigkeit ihn nur noch vor dem Einschlafen überkam.

«Eva», sagte der Achtjährige mit der Ausdrucksweise eines Unistudenten, «ich habe Alain erlaubt, alle Gummibärchen zu essen, vorausgesetzt, er überlässt mir die gelben. So war es abgesprochen, und Alain hat sich ganz genau daran gehalten.»

«Ich gebe auf.» Sie stand auf und betrachtete Alain mit den vollen Backen, während Denis’ gelbe Gummibärchen in einer exakten Dreierreihe neben dem Puzzle angeordnet lagen.

Sie verliess das Spielzimmer und ging ins Wohnzimmer. Cem hatte es sich auf dem neuen Sofa bequem gemacht und schaute Fussball. Ein gewöhnlicher, ereignisloser Familiensamstag. Herrlich. Eva liebte solche Tage. Seit zwei Monaten wohnten sie in dem Haus am Sonnenberg in Kriens, welches Denis’ Vater ihnen indirekt vererbt hatte.

«Macht Alain wieder Ärger?», fragte Cem und griff in die Chipstüte.

«Ich sollte mich weniger einmischen. Manchmal denke ich, Denis ist mehr Mutter und Vater für Alain, als wir es jemals sein können.» Sie setzte sich neben Cem.

Er grinste. «Meine liebe Frau Staatsanwältin macht einen tollen Job, in jeder Hinsicht.» Er legte ihr die Füsse auf die Oberschenkel.

Sie wischte Krümel von seinem T-Shirt. «Du wirst echt zu einem Couch-Potato.» Eva hörte die Haustür auf- und zuschlagen und energische Schritte näher kommen. «Sollten Bullen bei der Kripo nicht zwischendurch Sport treiben, statt ihn nur im Fernsehen zu schauen? Ella ist hier. Wir haben also ein paar Stunden für uns. Wie wäre es mit einer Runde Jogging, bevor es eindunkelt?»

«In dieser Kälte?»

«Sei kein Weichei», seufzte Eva.

«Herrgott, unser Dorfpolizist war noch nie flink auf den Beinen.» Ella trat ins Wohnzimmer. Sie entriss Cem die Chipstüte. «Hopp, hopp, dein Allerwertester hat genug gechillt – das Wort haben mir die Jungs letzte Woche beigebracht. Deine Frau will frische Luft.»

Cem grüsste Ella und setzte sich widerstrebend auf.

Ella griff beherzt nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

«Hey!», protestierte Cem.

«Fernsehen am Nachmittag?» Ella riss sich die Strickmütze vom Kopf und schlug damit auf Cem ein. «Das hätte ich meinem Ueli nie durchgehen lassen. Los, raus mit dir, du Faulpelz.»

Cem zog den Kopf ein und verdrückte sich. Er eilte die Stufen hoch zum Schlafzimmer.

Eva hatte Frau Ella, wie sie die rüstige Rentnerin aus dem Entlebuch gerne nannte, ins Herz geschlossen. Sie kam ein- bis zweimal die Woche vorbei, hütete die Jungs und schaute nach dem Haus.

Ella räumte Cems Chaos auf dem Beistelltisch zusammen. «Habt ihr viel Arbeit bei der Staatsanwaltschaft?», fragte sie gut gelaunt.

«Nein. Für einmal ist es ruhig in Luzern.»

«Hier ist die Tageszeitung. Lese sie in Ruhe. Ich bringe dir Kaffee, und dann schleppst du deinen türkischen, nichtsnutzigen Ehemann vor die Haustür. Ich will euch erst am Abend wieder sehen. Bis dahin gehören die Jungs und das Haus mir.»

Eva wagte nicht zu widersprechen. Sie schlug die Zeitung auf. Ein Artikel zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. «Hast du auch davon gehört?», rief sie Ella zu, die in der Küche die Kaffeemaschine bediente. «Aliens sollen Colorado eingenommen haben. Wie kann man nur so einen Quatsch glauben?»

Ella brachte zwei Tassen Kaffee. «Bist du noch nie auf die Idee gekommen, dass dein lieber Gatte unmöglich von diesem Planeten stammen kann?»

***

«Wie zum Teufel sollen wir ein Alien verhaften?» Barbara Amatos rote Haare glühten.

Susanne Oggenfuss seufzte und blickte aus dem Fenster im sechsten Stock der Luzerner Polizeizentrale. Grau in grau. Der November zeigte sich von seiner besten Seite. Es war unmöglich, in der farblosen Suppe Himmel, Horizont und die Kasimir-Pfyffer-Strasse zu unterscheiden. Susanne lehnte sich in ihrem Chefsessel zurück und wandte den Blick Barbara zu. «Macht kein Drama und schnappt euch das ausserirdische Wesen.»

«Drama?» Barbara war wütend. «Wir sind Ermittler bei der Kriminalpolizei und keine Alien-Jäger.» Sie kniff Hans Peter Banz, der neben ihr stand, in den muskulösen Oberarm. «Sag doch auch mal was.»

Banz strich sich mit den Fingern durch seinen vollen Bart. Susanne glaubte, darunter ein Schmunzeln auszumachen.

«Wortkarger Älpler», nörgelte Barbara, ihr italienisches Temperament nicht mehr unter Kontrolle.

Susanne lobte sich im Stillen. Das hatte sie gut gemacht. Sie hatte in ihrer Abteilung Leib und Leben ein wahres Dream-Team geschaffen. Gegensätzlicher konnten die beiden Mittvierziger nicht sein, aber zusammen waren Barbara und Banz das perfekte Duo, auch wenn sie erst seit Juni zusammenarbeiteten. Ihre unterschiedlichen Herangehensweisen fruchteten. Sie hatten die Kriminalfälle im Griff. Beinahe jedenfalls, gäbe es da nicht dieses Alien, das vor einer Woche beim Seebad aufgetaucht war. Nein, aufgetaucht war das falsche Wort. Abgetaucht war korrekt. Es gab mehrere Zeugen, die es im See beobachtet hatten. Sie waren überzeugt, dass das glühende Wesen unmöglich ein Mensch gewesen sein konnte. Seither kursierten im Internet, ja selbst in der Presse wilde Gerüchte darüber, dass sich Ausserirdische auf dem Grund des Vierwaldstättersees niedergelassen haben mussten. Hinzu kamen die schwirrenden Lichter über der Stadt, die fast jede Nacht erschienen und deren Ursprung unbekannt war.

Barbara knallte Susanne die Tageszeitung auf den Tisch. «Lies selbst. Seite fünf. In Colorado wird seit über vier Monaten eine Kleinstadt belagert, weil Aliens gesichtet wurden.»

Susanne schob die Zeitung zur Seite. «Ich habe den Bericht gelesen. Und deshalb will ich, dass ihr unser Alien so rasch als möglich als Mensch in einem Taucheranzug entlarvt. Diese Invasion wie in Colorado darf sich in Luzern nicht wiederholen. Hat der Ausserirdische kein gültiges Visum für die Schweiz, schickt ihn umgehend zurück ins All.»

«Hä?» Barbara blieb der Mund offen stehen.

Banz lachte unverfroren und legte Barbara die Hand auf die Schulter. «Ich besorge uns zwei CR-2-Blaster. Oder bevorzugst du ein Lichtschwert? Willst du den A-Wing-Starfighter oder doch lieber den Jedi-Delta-7-Sternjäger nehmen, um den Ausserirdischen zu verfolgen?»

Barbara prustete Luft aus den Lungen. «Susi, echt, wusstest du, dass unser Alpenbulle voll auf ‹Star Wars› und ‹Raumschiff Enterprise› abfährt?» Sie warf ihre rote Haarpracht in den Nacken und verliess das Büro.

Banz zwinkerte Susanne kurz zu und folgte Barbara, wie Chewbacca Han Solo hinterhergetrottet wäre, dachte Susanne.

«Mein galaktisches Dream-Team, sage ich doch.» Zufrieden rückte sie ihre runde Hornbrille zurecht. Ein Alien brachte gerade genügend Leben nach Luzern, damit es ihrem Team nicht langweilig wurde.

Susanne kam ins Grübeln. Was sollte sie mit diesem Samstagabend anfangen? Sie zog ihren grauen Schlabberpulli schief und starrte aus dem Fenster. Es begann einzudunkeln. Wenn sie da rausging, würde sie in ihrer formlosen Kleidung mit dem Nebel verschmelzen und unsichtbar werden. So lebte sie ihr ganzes Leben. Unsichtbar. Wie Darth Vader, versteckt unter einer Maske. Susanne wusste, dass ihr Übername bei der Kripo ‹Giftzwerg› war, auch wenn er liebevoll gemeint war. Sie war eine gute Chefin, führte ein Team von hervorragenden Ermittlern an, aber nach Feierabend war sie nichts als eine kleine, hässliche Frau, die niemand wirklich kannte.

***

«Schnell, komm her! Du glaubst nicht, was ich gerade sehe.»

«Lila, ich liege schon im Bett. Es ist fast Mitternacht.»

Alter Mann, dachte Lila und sprang vom Sims des Erkerfensters. Barfuss huschte sie ins Schlafzimmer. «Oh Monsieur, schwing deinen Knackarsch hier raus. Das musst du sehen!»

Marius setzte sich im Bett auf. Er trug den gestreiften Pyjama, den Lila ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, und zeigte mit dem Finger auf sie. «Sitzt du wieder halb nackt am Erkerfenster? Herr Grüter …»

«… kennt all meine sexy Unterwäsche, ich weiss. Er hat sich vor ein paar Tagen einen stärkeren Feldstecher besorgt.» Sie kicherte. «Sei nicht so prüde. Immerhin sass ich noch nie ohne BH am Fenster, im Gegensatz zu all den Ladys, die im Sommer am See ihre Busen sonnen. Kommst du jetzt?» Zurück am Erkerfenster, starrte sie wieder in die Nacht hinaus. Ihre Wohnung lag erhöht im Brambergquartier, gleich hinter der Museggmauer und der Luzerner Altstadt.

«Was ist denn da draussen so Spannendes?», fragte Marius, dessen Blick zuerst zum Fenster von Herrn Grüter wanderte, der im Haus vis-à-vis wohnte. Es war dunkel, die Vorhänge zugezogen.

«Da waren tanzende Lichter am Himmel.»

«Tanzende Lichter?»

«Ja. Sie flogen im Zickzack über unser Quartier, dann standen sie still, verschwanden, tauchten wieder auf, änderten die Farbe … Da!»

Marius’ Blick folgte ihrem Finger. «Tatsächlich. Lichter in der Leuchtenstadt. Wow!»

Lila boxte ihm hart gegen die Rippen. «Das sind keine normalen Lichter. Was könnte das sein?» Lila stellte die richtige Frage, da Marius schwieg und offenbar keine Antwort wusste.

Er lachte auf. «Vielleicht geht sein Wunsch in Erfüllung.»

«Comment?»

«Jean, er hat sich heute gewünscht, dass ein Wunder vom Himmel fällt. Vielleicht ist das sein Wunder.»

«Die Lichter?»

«Was immer das ist, lass uns schlafen gehen.» Marius drehte sich um, aber Lila packte ihn am Handgelenk. «Morgen ist Sonntag, und du willst jetzt schon schlafen gehen?»

Marius grinste. «Hast du andere Pläne?»

«Mais oui, Monsieur!» Sie streifte den Träger ihres BHs von der Schulter. «Wenn du mich nicht ganz schnell ins Schlafzimmer trägst, bekommt Herr Grüter eine Show geboten, die seinem schwachen Herzen nicht guttun wird.»

Marius verlor keine Zeit, hob Lila hoch, warf sie sich über die Schulter und marschierte mit ihr auf direktem Weg ins warme Bett.

Sie kicherte zufrieden und klatschte ihm mehrmals mit den Handflächen auf seinen Hintern.

Sonntag, 6.November, 00.10Uhr, Europaplatz

«Woah! Hast du das gesehen?» Nina zeigte hoch in den Nachthimmel …

Felix starrte Nina an, nicht bereit, etwas anderes als ihre sexy Lippen zu bestaunen, die er in den nächsten Minuten definitiv küssen würde.

«Da! Wieder eines.»

Sie mussten süss schmecken, diese Lippen. Wie einfach es gewesen war, Nina zu überreden, das laute und überfüllte Roadhouse zu verlassen, um mit ihr am See spazieren zu gehen. Es war nach Mitternacht und bitterkalt. Man sah keine zehn Meter weit. Sie standen nah am Ufer beimKKL, aber selbst der See war verschwunden, nur das leise Plätschern der aufschlagenden Wellen war zu hören. Zudem begann es zu regnen.

Nina musste frieren. Klar, die Winterjacke wärmte, aber der enge Minirock? Nun, Felix war ein Gentleman und wagte einen Vorstoss. Er stellte sich nah neben Nina und legte den Arm um sie. Sie zeigte keine Reaktion, starrte bloss weiterhin hoch. Auch gut. Ihr langes Haar trug sie im Nacken zusammengebunden. Ein Nacken, der zum Küssen prädestiniert war.

Felix nahm allen Mut zusammen und presste seine Lippen an ihre Halsschlagader.

Der Kuss dauerte keine Sekunde.

Nina schrie.

Fuck, auf diese Reaktion war er nicht vorbereitet und trat reflexartig einen Schritt zur Seite. Schon glaubte er, dass eine Ohrfeige in sein frisch rasiertes Gesicht klatschen könnte, stattdessen sprang Nina an ihm hoch wie ein verängstigtes Äffchen und krallte sich an seinem Hals fest.

Was immer sie in Panik versetzt hatte, Felix hielt sie instinktiv fest an seine Brust gedrückt. Er war nicht nur Gentleman, sondern auch ein Beschützer.

«Hast du das gesehen?», stotterte sie flüsternd in sein Ohr. Ihre Lippen berührten dabei sein Ohrläppchen. Es kitzelte.

«Ich habe nur Augen für dich», sagte Felix und versuchte, seiner Stimme ein tiefes, erotisches Timbre zu verpassen.

«Idiot!» Nina sprang auf die Füsse, schubste ihn weg und zeigte hoch in den Nebel. «Sieh doch.»

Gekränkt richtete Felix den Kragen seiner Lederjacke und folgte nach kurzem Zögern Ninas ausgestrecktem Finger. Er blinzelte ein paarmal, weil Regentropfen in sein Gesicht fielen.

Dann sah er es.

Das Licht.

Ein grünes, nein, ein blaues Licht, das pulsierte. Der Nebel verzerrte es. Oder war es mehr als ein Licht? Wie hoch über ihnen schwebte es? Drei Meter? Zehn? Oder mehr? Unmöglich abzuschätzen. Es stand still. Dann war es weg.

«Wo ist es hin?», fragte Nina.

«Da!» Felix zeigte nach rechts. «Da ist es wieder. Jetzt ist es rot. Was ist das?»

«Hörst du auch dieses tiefe Summen?» Nina packte Felix’ Arm.

Die Luft schien zu vibrieren. Das Licht bewegte sich. Hektisch flog es im Zickzack hin und her. Blitzschnell. Dann stand es erneut still. Felix glaubte, es seien vier Lichter, in gleichem Abstand zueinander angeordnet. Sie verschmolzen zu einem einzigen Licht. Oder flog das Ding senkrecht nach oben? Das Licht wurde kleiner, diffus, war kaum noch auszumachen. Felix schaute sich um. Sie waren allein hier am See. Keine Menschenseele war zu sehen. «Warte.» Er griff nach seinem Handy und filmte das Licht, das zurückkam, grösser wurde, sich in vier Lichtquellen teilte. Es schien auf die Erde zu fallen. Instinktiv zog Felix den Kopf ein. Die Lichter waren jetzt so nahe, dass er sie fast berühren konnte. Oder täuschte er sich? Dann flog das Ding mit hohem Tempo davon und verschwand.

«Ist es weg?»

«Nein.» Felix zeigte in die Richtung, in die es verschwunden war. Das Dröhnen wurde lauter. Das Licht kam zurück. Nicht allein diesmal. Er hielt die Kamera seines Handys darauf. «Es sind drei. What the fuck …»

Die drei Lichter flogen in der Form eines Dreiecks auf sie zu. Aus drei wurden zwölf Lichter.

Der Knock-out kam unvorbereitet.

Etwas Hartes traf Felix am Kopf. Es fühlte sich an wie ein Schneeball. Es war eiskalt und schlug gegen seine Schläfe. Hätte Nina ihn nicht gehalten, wäre er zu Boden gegangen. Vor Schreck liess er das Handy fallen. «Ich – ich glaube, die Lichter haben auf mich geschossen.»

«Geschossen?»

Sein Kopf schmerzte. Er griff an seine Schläfe, die sich eisig anfühlte. Und woher kam dieser fürchterliche Gestank nach faulen Eiern? «Bäh!» Panisch zog er seine Finger zurück und starrte darauf. Er hielt eine schleimige grüne Masse in der Hand, die an seiner Schläfe klebte und Fäden bis zu seiner Handfläche zog. Die Masse trieb ihm Tränen in die Augen. Sie brannte ätzend. War er mit saurem Schleim beschossen worden? Unmöglich! Felix war sich sicher, dass etwas Steinhartes gegen seinen Kopf geknallt war.

«Iiihhhh!» Nina trat drei Schritte zurück. «Das ist eklig.» Sie hielt sich die Nase zu.

«Schnell», sagte Felix, «filme das, sonst glaubt uns keiner, was hier gerade abgeht.»

ZWEI

Es war ein guter Morgen. Mit bester Laune und einer Tüte frischer Gipfeli marschierte Cem die Stufen hoch zum Eingang der Luzerner Polizeizentrale. Es kam selten vor, dass er ein ganzes Wochenende freibekam. Dieses war perfekt gewesen, weshalb er an diesem Montag erholt seine Arbeit aufnehmen wollte.

Seine Laune verflog rasch, als er erkannte, mit welcher Hektik seine Kollegen im Gebäude umhereilten.

«Was ist da los?», fragte Cem Roland, der am Empfang sass.

«Die Notrufleitzentrale ist am Anschlag.» Roland verzog den Mund. «So was hatten wir noch nie.»

«Was denn? Mich hat Susanne nicht kontaktiert.»

«Ach, es ist nichts für euch von Leib und Leben. Ihr werdet als Einzige einen ruhigen Tag geniessen können.»

Also waren keine Menschenleben in Gefahr. Das war doch gut. «Jetzt rück schon damit raus. Was hält die Polizei so auf Trab?»

«Eine Invasion.»

«Invasion? Von wem? Wollen die Deutschen uns Schweizer einnehmen?»

«Schön wäre es.»

«Schön – was?»

«Aliens.»

«Ui! Aliens?» Cem grinste schief. «Kollege, solche Scherze sind an einem hektischen Arbeitstag fehl am Platz.»

«Echt! Es gehen Hunderte Anrufe ein, weil die Menschen behaupten, mit Aliens in Kontakt gekommen zu sein.»

«Das ist kein Witz?»

Roland zog die Augenbrauen tief. «Es ist bitterer Ernst.»

Fünf Minuten später sass Cem in Susannes Büro. Sein Kollege Kevin Leibacher hockte neben ihm auf einem Stuhl, mit Augenringen und Babybreirückständen auf seinem Hemd.

«Dein Wochenende war wohl nicht sehr erholsam», stichelte Cem.

Kevin gähnte. «Hast du schon von den Aliens gehört?»

«Das ist ein Witz.» Niemals würde Cem an eine Invasion von Ausserirdischen glauben.

Barbara stand am Fenster und starrte die schweren Wolken an. Neben der Tür stand Banz, sein Blick auf die Füsse gerichtet.

Susanne wippte in ihrem Chefsessel vor und zurück. «Da es auf unserer Abteilung ruhig ist, werden wir unsere Kollegen unterstützen und dabei helfen, Aussagen aufzunehmen. Die Bevölkerung ist in Aufruhr, und die Posts in den sozialen Medien überschlagen sich mit angeblichen Beweisfotos und Filmaufnahmen.»

Susanne nahm ein Papier in die Hand. «Bisher sind am Wochenende über neunhundert Anrufe aus der Stadt Luzern eingegangen. Fast alle Anrufer erzählen von seltsamen Lichtern, die sich bewegen.»

«Wegen Lichtern rufen sie an?» Cem war verwirrt. «Waren es Laserstrahlen? Ein Feuerwerk? Drohnen?»

«Das ist nicht alles», sagte Susanne. «All jene, die nah genug an den Lichtern waren, berichten von einem üblen Gestank, den die Lichter verströmen. Ein Gestank nach faulen Eiern.»

«Mehr noch», sagte Barbara und drehte sich um. «Sie summen.»

«Die Lichter summen?» Cem wechselte mit Kevin einen irritierten Blick.

«Ja.» Barbara warf ihre Haare in den Nacken. «Ein tiefes Vibrieren oder Summen, aber nicht von Motoren. Gruselig.»

«Woher weisst du, dass es gruselig klingt?», fragte Cem.

Banz mischte sich ein. «Wir haben sie auch gesehen.»

«Ihr?» Cem war hellwach.

«Wir hatten am Wochenende Dienst und waren letzte Nacht draussen unterwegs», erklärte Barbara. «Da bereits Samstagnacht die ersten Sichtungen gemeldet wurden, patrouillierten wir beim KKL, dort scheint ein Hotspot zu sein.»

Für eine Minute war es still.

Susanne räusperte sich. «Es gibt noch mehr. Drei Meldungen sind eingegangen über Schleimangriffe.»

Die Angelegenheit wurde surreal. «Schleim greift unsere Bürger und Bürgerinnen an?»

«Die drei Opfer erzählen alle das Gleiche», erklärte Susanne. «Erst werden sie mit etwas beschossen, das schneeballgross und steinhart ist. Aber dann finden sie an der Stelle, an der sie getroffen wurden, nur eine schleimige, zähflüssige Masse, die stinkt und reizend ist, säurehaltig vermutlich.»

«Konnten wir diese Masse sicherstellen?», fragte Kevin.

«Bisher nicht», antwortete Susanne. «Die drei Betroffenen waren so geschockt, dass sie die Masse entweder panisch abwuschen oder die Kleidung entsorgten. Da der Angriff jeweils im Zusammenhang mit der Sichtung der Lichter stattfand, waren alle drei überzeugt, mit giftigem Alien-Schleim infiziert worden zu sein. Ein Mann vermutete, dass die Aliens damit Eier in ihn einpflanzen wollten.»

Die Menschen sollten mehr Liebeskomödien und weniger Horror-Blockbuster sehen, dachte Cem, dem auch gleich die «Alien»-Filme in den Sinn kamen.

«Es gibt ein Video», sagte Barbara. «Ein junger Mann und seine Freundin haben die Lichter mit dem Handy gefilmt, auch den harten Schleim, mit dem er beworfen wurde. Er sitzt gerade unten bei den Kollegen und gibt seine Aussage zu Protokoll. Der Vorfall war Samstagnacht, aber er hat sich erst heute getraut, sich bei uns zu melden. Er hatte Angst, dass wir uns über ihn lustig machen.»

«Wie denkt ihr darüber?», fragte Susanne.

«Ein Streich, ist doch klar. Jemand verarscht die Stadt», sagte Cem entschlossen.

«Das ist nicht der erste Vorfall.» Barbara seufzte. «Am Samstag vor einer Woche sahen einige Passanten beim Seebad ein unheimliches Wesen abtauchen.»

Ein Wesen? Die Geschichte wurde immer besser. Lebten die Aliens bereits in Luzern? Cem lachte. «Und ihr glaubt an den Quatsch?»

«Die Leute tun es», sagte Susanne. «In den sozialen Medien wird fleissig darüber gepostet.»

«Aber bisher wurde niemand verletzt?», fragte Kevin. «Keine Alien-Entführungen, Alien-Seuchen, Alien-Morde … Nichts in der Art?»

«Beschwöre es nicht herauf», zischte Barbara ihn an.

Cem musterte sie aufmerksam. Die sonst so selbstsichere, rational denkende und intelligente Barbara schien verstört. Und obwohl Banz nie ein Mann der grossen Worte war, zeigte er sich heute Morgen beängstigend ruhig. «Was unternehmen wir also?»

«Um zehn haben wir Abteilungsleiter eine Sitzung mit dem Polizeikommandanten und den Regierungsräten. Die Presse will Antworten. Wir müssen uns absprechen, wie wir vorgehen, um das Rätsel zu lösen.»

«Wenn wir die Ausserirdischen verhaften, wer übernimmt die Einvernahme?», fragte Cem. «Keiner von uns spricht eine Alien-Sprache.»

Für die Bemerkung kassierte er von Barbara einen heftigen Schlag gegen die Schulter. «Heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Witze zu reissen.»

***

Marius hatte an seinem Artikel über Giftmüllentsorgung in Drittweltstaaten schreiben wollen, als Jeans Anruf kam. So aufgelöst hatte er seinen Freund noch nie erlebt. Am Telefon wollte er nicht sagen, worum es ging, also fuhr Marius mit dem Bus vom Brambergquartier Richtung Verkehrshaus, vorbei an den noblen alten Hotels am Quai des Vierwaldstättersees. Beim Tennisclub stieg er aus dem Bus. Das Belair war nur halb so gross wie seine Konkurrenten, aber Marius liebte das Hotel. Es besass eine Seele, wie er fand, vielleicht, weil es der Familie Moreau gehörte, die er seit vielen Jahren kannte. Die Fassade war gebrochenes Weiss, die Läden an den Fenstern waren hellblau. Es gab vier Etagen, wobei der Mittelteil des Hotels durch zwei kleine Türme ergänzt wurde. Dazwischen fand sich die Dachterrasse, die im Sommer ein beliebter Ort für gesellschaftliche Anlässe war. In den Türmen befanden sich die Senior-Suiten. In den beiden Hotelflügeln lagen die Hotelzimmer auf dem ersten, zweiten und dritten Stockwerk. Wobei die Moreaus ihre eigene Wohnung im dritten Stock des rechten Flügels hatten. Im Mittelteil des Hotels befand sich die Lobby, von welcher eine imposante Treppe hochführte, wo die Bankettsäle im zweiten und die Büros und Lagerräume im dritten Stock zu finden waren. Rechts von der Lobby befanden sich die Bar und der grosse Saal, links das Restaurant, das Bistro und die Hotelküche. Der Weinkeller lag unter der Küche, die Tiefgarage unter dem rechten Hotelflügel.

An der Rezeption fragte Marius nach Jean. Er solle einen Augenblick Platz nehmen, hiess es. Jean wolle gleich herunterkommen. Marius liess sich in einen der Sessel fallen, überzogen mit feinstem Brokat, der aber bedenklich abgenutzt war. Die Lobby war hoch, mit einem prächtigen Chandelier, der über dem Konzertflügel hing. Olivenbäume in Terrakottatöpfen verliehen ihr einen Hauch Mittelmeerfeeling. Kunstvoll geschmiedete Kerzenhalter und antike Ölgemälde säumten die Wände, welche mit einer purpurfarbenen und ornamentverzierten Tapete überzogen waren; eine Tapete, die an den Ecken und Kanten eingerissen oder angekratzt war. Auch wenn hier drinnen alles blitzblank sauber war, so waren die Gebrauchsspuren nicht zu übersehen.

Jean kam auf Marius zu. Er trug eine alte Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband. Marius wusste, dass Jean lieber hinter den Kulissen arbeitete. Er sass im Büro oder half in der Küche aus. Für die Gästebetreuung war Pam zuständig, stets perfekt gestylt und mit einem kühlen Lächeln im Gesicht, das Professionalität ausstrahlte, aber eine höfliche Distanz wahrte. Jeans Äusseres passte nicht in die Lobby des Belairs, aber Marius wusste, wie sehr er sein Hotel liebte. Wahrscheinlich fast noch mehr als seine Freundin Vicky.

Mit ernstem Gesichtsausdruck klopfte Jean ihm auf die Schulter. «Komm mit.» Er führte ihn hinter der Rezeption durch zu einem der kleinen Büros. Schlichter hätte es hier nicht sein können. Ein einfacher Tisch und zwei Stühle, ein Bücherregal, vollgestopft mit Dokumenten, und ein Computer der vorletzten Generation.

Jean schloss die Tür und liess den Kopf hängen. «Pam ist weg.»

«Wie, weg?»

«Verschwunden.»

«Einfach so? Hast du versucht –»

Jean griff in die Tasche seiner Jeans. «Ihr Handy. Es lag oben in ihrem Büro.»

Marius setzte sich. «Was ist passiert?»

«Wir haben Kaffee getrunken, im Personalraum, zusammen mit den Angestellten, wie jeden Morgen. Dann gingen wir hoch zu ihrem Büro im dritten Stock. Sie ging rein und schloss die Tür. Ich unterhielt mich davor im Korridor noch mit dem Chef de Service. Für heute Abend ist ein kleines Bankett angemeldet. Wir unterhielten uns etwa fünf Minuten. Danach wollte ich sie sprechen und ging in ihr Büro … Sie war weg.»

«Du meinst, sie hat sich einfach in Luft aufgelöst?»

«Mensch, Marius, ich stand die ganze Zeit direkt vor ihrer Tür. Da kann sie nicht herausgekommen sein, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ihr Büro liegt oben im dritten Stock. Die hohen Fenster lassen sich dort nicht öffnen. Sie kann also unmöglich aus dem Büro gekommen sein. Aber sie war nicht mehr drin.»

«Sie verschwand spurlos?» Marius kam ins Grübeln.

Jean prustete heftig Luft aus den Lungen. «Ja, Alter, sie hat sich verflüchtigt. Wir müssen sie finden. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.»

«Kann ich mir das Büro ansehen?»

«Klar, komm mit.»

Unmöglich.

Seit einigen Minuten schaute sich Marius in dem ordentlich aufgeräumten Büro um. Die Fenster waren riesig, reichten bis hoch zur Decke und boten einen grandiosen Blick auf den See. Zu seiner Linken lagen die Boote vom Yachtclub Tivoli vertäut, rechts lag das Palace und weiter vorne, wo die Reuss aus dem See mündete, die Seebrücke. Der Bahnhof und das Kultur- und Kongresszentrum Luzern lagen auf der gegenüberliegenden Seeseite. «In alten Gebäuden gibt es oft Geheimgänge …», sagte Marius, wenig überzeugt von seiner Idee, klopfte aber dennoch gegen die Wände.

«Wir sind im Belair zur Welt gekommen», sagte Jean. «Nebenan im Zimmer 3232. Mutters Glückszahl, gleich doppelt. Sie fand es passend für die Hausgeburt von Zwillingen, obwohl die Ärzte Panik schoben. Ich kannte jeden Winkel des Belairs, bevor ich laufen konnte. Es gibt keine Geheimgänge.»

«War nur eine Idee. Ruf die Polizei.»

«Und was sage ich denen? Meine Schwester habe sich vor einer Stunde in Luft aufgelöst?»

Recht hatte er. Die Polizei würde nach keiner Vermissten suchen, die erst seit einer guten Stunde weg war, wenn kein Anzeichen von einem Verbrechen vorlag. «Was ist mit dem Chef de Service? Hat er vielleicht gesehen, wie Pam ihr Büro verliess, nur hast du es nicht bemerkt?»

Jean schüttelte den Kopf. «Er wird dir das Gleiche sagen. Fuck, ich kenne meine Zwillingsschwester. Wir fühlen, wenn etwas mit dem anderen nicht stimmt.»

«Was fühlst du?»

Jean presste die Lippen aufeinander und fuhr sich hektisch mit der Hand durch sein wildes Haar. «Angst. Ich fühle Angst.»

***

Ein gutes Mittagessen war mehr als willkommen. Was hatte Marius diesmal angestellt, dass er Cem zum Lunch einlud? Stritt er sich mit Lila? Nein, den Beziehungspsychologen würde Cem nicht spielen. «Hey, nobler Schuppen», sagte er zu sich selbst, als er die Lobby des Hotels Belair betrat. Er war zum ersten Mal hier. Die Restaurantpreise lagen über dem Budget eines Kriminalbeamten. Cem rückte seine Baseballmütze zurecht. Sein legeres Outfit mit Jeans, dunkelblauem Hemd und beigefarbener Weste war irgendwie unpassend in dem hundertjährigen Ambiente.

Marius sass in einem der Sessel, die aus einem Königshaus stammen könnten, und winkte ihn zu sich. Ihm gegenüber sass ein junger Mann, der nervös mit einem Fuss auf und ab wippte. Er schaute auf und musterte Cem mit einem Ausdruck von Misstrauen und Hoffnung. Verzweiflung, kam Cem spontan in den Sinn. Marius hatte keinen Gast erwähnt. Der Mann war für diesen Schuppen noch unpassender gekleidet, als ob man einen Rockmusiker auf eine Ballettbühne gestellt hätte. Der junge Mann könnte ein Student sein. Sein Stil lag auf halbem Weg zwischen Hippie und Rocker, leicht alternativ angehaucht. Einzigartig war er auf jeden Fall. Er besass einen wachen Geist, das war Cem sofort klar. Er mochte den Mann, der weder besonders gut aussehend noch besonders unattraktiv war. Seine Ausstrahlung war es, die glänzte, auch jetzt, als er nervös aufstand und zur Begrüssung ein erzwungenes Lächeln aufsetzte.

Cem nickte ihm freundlich zu und begrüsste seinen Kumpel. «Hey, Marius, das Belair? Wir hätten uns auch in einer Kneipe treffen können.»

«Wir sind hier genau richtig», sagte Marius. «Das ist –»

Der junge Mann kam ihm zuvor. «Ich bin Jean Moreau, aber alle nennen mich Jean.»

«Cem. Freut mich, dich kennenzulernen. Marius hat nicht –»

«Ich brauche deine Hilfe», sagte Jean.

Wow, er kam direkt zur Sache. Das Mittagessen schien seinen Preis zu haben. Er starrte Marius argwöhnisch an.

«Ich habe uns einen Tisch im Bistro Angelique frei halten lassen», sagte Jean. «Ich hoffe, du magst die französische Küche?»

Cem stutzte.

Marius blieb ernst. «Jean und seine Schwester Pamela, oder Pam, wie wir sie nennen, sind Hoteliers. Ihnen gehört das Belair. Wegen ihr bist du hier.»

Wow, dachte Cem, wie können Jugendliche ein Fünf-Sterne-Hotel führen? Cem war neugierig und deshalb bereit, sich der französischen Küche zu stellen, auch wenn ihm ein Kebab lieber gewesen wäre. Nach diesem extraterrestrischen Morgen bei der Polizei brauchte er Bodenständiges zu futtern. Aber da er schon mal hier war …

Sie sassen keine Minute an dem Tisch mit der weissen Tischdecke und dem silbernen Besteck, als der Sommelier ihnen unaufgefordert einen Château Irgendwas dekantierte und in die riesigen Burgundergläser goss. Bevor Cem die erste Frage stellen konnte, servierte eine adrette Dame mit weisser Bluse, knielangem schwarzem Jupe und weisser Schürze umgebunden ein Amuse-Bouche auf einem riesigen Teller. Die Terrine mit Ziegenkäse und Trüffeln sah köstlich aus und schmolz bestimmt zarter im Mund als ein Stück Kebabfleisch. Aber da weder Marius noch Jean ihr Essen anrührten, wartete Cem ab. «Weshalb bin ich hier?»

«Jeans Schwester ist verschwunden», sagte Marius.

«Wie, verschwunden? Seit wann?»

«Es ist heikel.» Marius, der neben Jean am Tisch sass, legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter.

Dieser nickte. «Pam verschwand heute Morgen um zehn Uhr aus ihrem Büro. Ich mache mir grosse Sorgen um sie.»

Das war ein Witz, dachte Cem. Eigentlich hatte er Jean als einen echt coolen Typen eingestuft. «Zwei Stunden sind nicht gerade eine lange Zeit, um jemanden –»

«Jean!»

Vorbei war es mit der Ruhe am Tisch. Zwei junge Männer steuerten direkt auf sie zu. Jean stand auf und umarmte den grösseren herzlich.

«Mensch, Jean, warum hast du uns nicht früher gerufen?»

Jean seufzte. «Oliver, das ist Cem von der Kripo Luzern. Er wird uns helfen.»

Würde er? Cem konnte sich nicht erinnern, dem zugestimmt zu haben.

Oliver lächelte und reichte Cem die Hand. «Danke, dass du uns hilfst. Pam ist wie eine Schwester für uns alle.»

Du? Blieben sie also beim Du an diesem Tisch. Cem war ja nur ein Bulle, keine Person, der man etwas mehr Respekt zollen sollte.

Cem musterte diesen Oliver, dessen Händedruck fest und entschlossen war. Er war über einen Kopf grösser als Cem und verdammt gut aussehend. Er könnte glatt als Modell durchgehen. Sein schwarzer Haarschopf war perfekt gestylt. Er trug einen schwarzen Anzug mit schwarzem Hemd und roch gut, so, als käme er direkt aus der Dusche. Seine Haut war makellos, weder zeigte sich die kleinste Unreinheit noch ein Hauch von einem Fältchen. Cem schätzte ihn auf Mitte zwanzig.

«Oliver ist mein bester Freund», sagte Jean. «Er ist so etwas wie mein grosser Bruder, wir waren in unserer Primarschulzeit zusammen beim FC. Fussball spielen wir nicht mehr, aber Freunde sind wir geblieben.»

Cem wandte sich dem anderen Mann zu, der drei Schritte zurückstand. «Und du bist …»

«Silas.»

Die Antwort war kurz, lieferte aber die nötige Information. Händeschütteln oder Lächeln schienen Silas nicht zu liegen. Er hatte ein seltsames Gesicht, die Form eines Dreiecks, mit Lippen, die zu voll und zu rot waren. Seine Augen waren schmal und in einer perfekten horizontalen Linie ausgerichtet. Volle dunkle Haare fielen ihm in die Stirn. Er trug eine nietenbesetzte Lederjacke.

«Mein kleiner Cousin», sagte Oliver, ohne Silas anzusehen.

«Setzen wir uns. Wir dürfen keine Zeit verlieren.» Jean winkte einen Kellner heran und bat um zwei weitere Stühle.

Kurz, aber präzise erzählte Jean, was vorgefallen war. Cem warf Marius einen fragenden Blick zu, der entschlossen nickte. Was war bloss los? Dieser Montagmorgen hatte so vielversprechend begonnen. Er wünschte sich das Wochenende zurück, wo es keine Aliens und sich in Luft auflösende Schwestern gegeben hatte.

Es brauchte einiges an Überzeugungsarbeit, um von Susanne das Einverständnis zu erhalten, seine Mittagspause auszudehnen. Cem wusste selbst nicht, weshalb er sich hatte überreden lassen, nach Jeans Zwillingsschwester zu suchen. Marius sass mit Oliver und Silas im Bistro Angelique beim Kaffee, während Jean ihn nach oben in Pams Büro führte.

Cem schaute sich um. Hier gab es keinen Fluchtweg ausser der Tür. «Sie muss da durch sein.»

«Nein. Ich stand direkt davor. Unmöglich.»

«Was hat sie gemacht, bevor sie verschwand?»

«Hm, ich glaube, sie hat telefoniert.»

Cem zeigte auf das Festnetztelefon auf dem Tisch. «Kannst du ausfindig machen, mit wem?»

«Klar.» Jean drückte einige Tasten. «Pam telefoniert oft mit internationalen Gästen und Firmen, wegen der Hotelbuchungen. Ich kenne die Nummern nicht, aber anhand der Vorwahlen … ein Anruf kam aus den USA, ein weiterer aus Russland, und sie hat nochmals die Nummer in den USA angerufen. Nichts Ungewöhnliches.»

Tatsächlich konnten internationale Anrufe kaum direkt etwas mit ihrem Verschwinden zu tun gehabt haben. Was war dann der Grund? Aliens, war Cems spontaner Gedanke. Bestimmt hatten Aliens diese Pam entführt. Besser, er sprach es nicht aus. «Hast du ein Foto von ihr?»

«Ähm, ja. Warte …» Jean zog sein Handy aus seiner Jeanstasche und holte ein Bild von ihr auf das Display. «Das wurde vor einer Woche aufgenommen.»

Cem betrachtete das Bild. Es zeigte Jean und seine Schwester im Garten des Belairs. Eine hübsche Frau, sehr gepflegt, etwas reserviert. Sie und Jean waren Zwillinge?

«Wir sind keine eineiigen Zwillinge und haben auch sehr unterschiedliche Charaktere. Aber wir waren schon immer unzertrennlich. Deshalb fühle ich auch, dass etwas nicht stimmt. Ich glaube, sie hat Angst.»

«Hat Pam Feinde? Hat jemand sie bedroht?»

«Nein. Sie ist sehr vorsichtig und lässt sich nicht mit Menschen ein, die sie nicht kennt. Sie ist im Hotel die perfekte Gastgeberin, gerade weil sie so distanziert ist.»

«Was ist mit eurer Familie?»

«Vor zwei Tagen war die Beerdigung unseres Vaters. Unsere Mutter starb vor zwei Jahren. Der Rest der Familie will nichts von uns wissen.»

«Mein Beileid», sagte Cem. Den Vater zu verlieren war schwer, Cem wusste das aus eigener Erfahrung. Allerdings warf der Tod des Vaters ein neues Licht auf das Verschwinden der Schwester. «Da euer Vater starb, nehme ich an, du und Pam seid die Erben des Belairs.»

«Ja. Aber glaube nicht, jemand hätte Pam entführt, um mich zu erpressen. Unsere Familie macht einen grossen Bogen um uns. Das Belair ist hoch verschuldet. Jeder, der an das Erbe wollte, wäre ein Idiot.»

Wow! Cem beneidete die Zwillinge nicht. Sie trugen eine grosse Last. Und Jean schien ein netter Typ zu sein. Cem sollte ihm genauer zuhören. «Setzen wir uns und erzähl mir von dir und deiner Familie. Vielleicht kommt mir dabei eine Idee, was mit deiner Schwester passiert sein könnte.»

***

Pams Kopf schmerzte.

Ihr war übel.

Das Erste, was ihre Sinne wahrnahmen, war der Gestank. Dann dieser Wind, der abwechselnd aus allen Richtungen blies und unterschiedliche Duftwolken mit sich trug: Schwefel, Altöl, Kompost und Nagellackentferner.

Sie würgte.

Ihr war schwindlig, noch bevor sie die Augen öffnete.

Plötzlich ein heftiger Ruck, als ob zehn Männer sie niederdrückten. Sie schnappte nach Atem. Nur Sekundenbruchteile später schwebte sie, losgelöst von der Schwerkraft.

Sie klammerte sich an den Stuhl, der war seltsam weich und klebrig.

Wo war sie? Ihre Erinnerungen wiesen Lücken auf. Sie war in ihrem Büro gewesen. Jean war bei ihr. Oder nicht?

Filmriss.

Es fühlte sich an, als ob sie herumgewirbelt würde. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Es war dunkel. Dann dieses Geräusch.

Wummmm!

Brrrrkrrrtztz.

Ein Summen.

Etwas Nasses streifte ihr Gesicht.

Sie schrie.

Bunte Lichter zogen in hohem Tempo an ihr vorbei, so wie die Lichter in einem Autobahntunnel.

Etwas knatterte, hämmerte. Eine Maschine?

Sie schaute sich um. Pam war in einem engen, runden Raum gefangen, in einer Art Kugel, in deren Zentrum sie auf dem stuhlartigen Ding festgeschnallt war. Obwohl sie aufrecht sass, fühlte es sich an, als liege sie.

Das Summen wurde lauter.

Vor ihr teilte sich die schwarze Wand der Kugel wie ein Fenster, das sich öffnete.

Pam schnappte nach Luft bei dem Anblick, der sich ihr bot. Sie starrte eine Galaxie an, die vor ihr im All zu schweben schien. Eine perfekte scheibenartige Galaxie, die sich wie eine Spirale um ihr Zentrum drehte.

Träumte sie?

Nein. Denn langsam kam die Erinnerung zurück. Pam hätte weinen können, aber Gefühle zu zeigen fiel ihr schwer, selbst hier auf einem Alien-Raumschiff.

***

«Pam und ich, wir haben uns seit unserer Kindheit darauf vorbereitet, dieses Hotel in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.» Jean lächelte und setzte sich mit einem sportlichen Sprung auf den Arbeitstisch. Seine Füsse schwang er wie ein Kind vor und zurück. «Ich machte eine Kochlehre. Ich denke, die Küche ist das Herzstück eines gut geführten Hotels, also wollte ich dort beginnen. Klar, ich sehe nicht aus wie der typische reiche Hotelerbe. Ich besitze keinen einzigen Anzug und keinen eigenen Wagen. Aber mein Ehrgeiz ist gross, noch grösser als der von Pam. Nach jeder noch so wilden Partynacht stand ich am nächsten Morgen als Erster in der Küche. Nach zwei Jahren Praxiserfahrung in New York und in einem Gault-Millau-Restaurant in der Westschweiz begann ich hier in Luzern die Hotelfachschule. Ich schloss mit der Bestnote ab.» Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. «Gar nicht so dumm, mein Köpfchen.»

Cem entspannte sich und hörte Jean gebannt zu. Er besass dieses Talent, Geschichten zu erzählen, die einen fesseln konnten, unabhängig von deren Inhalt.

«Tja, und dann kam vor drei Jahren die grosse Wirtschaftskrise, und die Asiaten, Inder und Araber blieben weg. Mein Vater war ein guter Mann. Er hatte ein grosses Herz. Aber sein Geschäftssinn war wenig gewinnorientiert. Er wurde krank. Fast das ganze letzte Jahr verbrachte er entweder im Spital oder zur Kur. Mit Lungenkrebs ist nicht zu spassen. Die letzten zwei Monate hing er an der Maschine.»

«Es muss schwer für euch gewesen sein. Vielleicht ist Pam deshalb verschwunden? Wollte sie einfach etwas Zeit für sich allein?» Cem fand seine Idee vernünftig.

«Nope, nicht Pam. Je gestresster sie ist, desto mehr arbeitet sie. Sie würde sich ihren Gefühlen niemals hingeben. Und vergiss nicht, wir konnten uns fast ein Jahr lang auf diesen Tag vorbereiten. Vielleicht klinge ich kaltherzig, aber Vaters Tod war auch eine Erlösung, für uns alle.»

Cem konnte Jean diesen Satz nicht übel nehmen. Er musste den spontanen Impuls unterdrücken, Jean in die Arme zu nehmen. Ging’s noch? Er kannte ihn ja kaum. «Erzähl mir von Pam.»

«Mein Schwesterchen ist die Kluge und Vernünftige in der Familie. Sie studierte Marketing und Kommunikation, ist diplomierte Marketingmanagerin, prädestiniert, ein Hotel wie das Belair zu Ruhm zu führen.»

«Hat sie viele Freunde?»

Jean verzog den Mund. «Sie hat mich. Und mit Oliver kommt sie ganz gut klar. Aber sie ist lieber alleine. Okay, sie kommt mit auf Partys, und die Typen fallen vor ihr reihenweise in Ohnmacht. Sie ist echt gut im Verführen.» Jean lachte. «Aber sie hat noch nie einen Kerl heimgebracht, jedenfalls nicht dass es mir aufgefallen wäre.»

«Was ist mit dir?»

«Ho, du stellst ganz schön viele Fragen.»

«Ich bin Bulle, schon vergessen?»

«Logo, Mann.» Jean schnippte mit den Fingern. «Ich bin schwer verliebt. Vicky und ich sind bald ein Jahr zusammen. Sie ist die Frau, die ich heiraten werde.»

«Wow, sie muss toll sein.»

Jean strahlte. «Sie ist voll der Burner. Süss und wild, clever und tollpatschig, crazy und doch bodenständig. Ja, sie ist mein Mädchen fürs Leben.»

«Was macht deine Freundin beruflich?»

«Sie ist Assistenzärztin im Kantonsspital. Dort haben wir uns kennengelernt, am Krankenbett von meinem Vater. Er hat uns zusammengebracht, seine letzte gute Tat.» Jean sprang vom Tisch, blinzelte ein paarmal heftig. «Genug gequatscht. Wie willst du meine Pam finden?»

***

«Wie willst du sie finden?», fragte auch Marius.

Cem zog den Reissverschluss seiner Jacke bis ganz nach oben. Ein eisiger Wind wehte, als er zusammen mit Marius den Carl-Spitteler-Quai Richtung Stadtzentrum entlangging. Auf dem See schwammen Enten, ihre Köpfe unter den Flügeln verborgen.

Cem mochte die Frage nicht, weil die Antwort mies war. «Vorerst gar nicht. Ich kann nichts tun. Sie ist noch keine vier Stunden weg, und es gibt keine Anzeichen von Gewalt oder einer Entführung im Hotel.»

«Wenn Jean sich Sorgen macht, ist es ernst.»

«Was denkst du, wie oft ich mir Sorgen um Eva und die Jungs mache?», fuhr Cem seinen Freund an. «Von Lila will ich gar nicht reden.»

«Ich werde selbst ein paar Nachforschungen anstellen», sagte Marius, von Cems Antwort enttäuscht, was er nicht verbarg.

«Hey, schalt einen Gang zurück. Sie wird schon auftauchen. Wahrscheinlich ist sie einfach einkaufen gegangen und hat ihr Handy vergessen. Oder sie will einige Stunden für sich sein. Sie hat am Samstag ihren Vater beerdigt, das lässt niemanden kalt.»

«Vielleicht ist es so. Wie denkst du über Jean?»

«Ich mag ihn. Cooler Typ. Unkonventionell. Man könnte meinen, er mache nur Partys und verschleudere das Geld seiner Eltern, aber ich denke, so ist er nicht.»

«Du hast recht. Ja, er liebt Partys, aber er ist ein echtes Arbeitstier. Und er hat seine eigenen bescheidenen Überzeugungen.»

«Du meinst, weil er in seiner Position keine teuren Designer-Anzüge trägt?»

«Er kauft fast nur Secondhandkleider, schneidet sich die Haare selbst und ist Vegetarier. Er hat nicht einmal einen eigenen Wagen, leiht sich, wenn nötig, Pams Mercedes. Und wenn er freihat, hängt er in seinem Schrebergarten am Rotsee ab.»

«Er hat aber auch eine ganz schön grosse Klappe und lässt andere nicht gerne ausreden.»

Marius lachte. «Diesen Makel lasse ich ihm durchgehen.»

Für einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinanderher.

«Sag mal, hast du das von den Aliens gehört?», wechselte Marius das Thema.

«Was denkst du, woran wir bei der Polizei den ganzen Tag arbeiten? Wir nehmen Aussagen über unheimliche Sichtungen auf.»

«Hast du gelesen, was seit über vier Monaten in Firgrove Hills in Colorado abgeht?»

«Wer hat das nicht?»

«Das Kaff in den Rockys wird von Tausenden von Schaulustigen belagert. Alle glauben an die Alien-Invasion.»

«Und die kommt jetzt nach Luzern?», fragte Cem sarkastisch. «Du glaubst doch nicht an den Spuk?»

«Nein. Dieser Braxton hat bestimmt seine Finger im Spiel, bauscht die Sache auf. Wenn du mich fragst, ist das nur eine Marketingstrategie von ihm, um den geplanten Bau seines Weltraumhotels zu bewerben. Die spinnen doch, die amerikanischen Milliardäre. Grössenwahnsinnig sind sie. Vielleicht sollte ich meinen nächsten Artikel darüber schreiben, jetzt, da die Ausserirdischen es auf Luzern abgesehen haben.»