Alis Scheinwelt - Nazim Kiygi - E-Book

Alis Scheinwelt E-Book

Nazim Kiygi

0,0

Beschreibung

Ali kommt in den 60-er Jahren aus Anatolien als Gastarbeiter nach Deutschland. Er will ein neues Leben anfangen und seine Vergangenheit hinter sich lassen. Er assimiliert sich hier und nimmt eine neue Identität an. Er wird mehr deutsch als mancher Deutscher, bis ihn eines Tages seine Vergangenheit einholt. War die Welt, die er für sich geschaffen hatte, nur Schein?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 92

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



***

Irgendwann Ende der 40-er, Anfang der 50-er Jahre in einem Dorf mit zwanzig Hütten in den Wäldern am Schwarzen Meer zwischen Eregli und Zonguldak kam Ali auf die Welt. Strom gab es nicht, auch keine Straßen. Die Geburt war keine Krankenhausgeburt. Aber seine Mutter hatte beim Gebären schon Routine, und genug Tanten waren auch da. Also wozu ein Arzt oder eine Hebamme? Er bekam den Namen eines verstorbenen Bruders. Wozu einen anderen Namen, wenn man den Gang zur Behörde sparen kann? Der Ausweis des verstorbenen Bruders lag in der Schublade. Ali hatte Glück und überlebte. Die Überlebensquote bei der Familie Bert war nicht sehr hoch. Sein Vater hatte die Kusine ersten Grades geheiratet. Bei zehn Geburten hatten 5 Kinder überlebt. Er war das vorletzte Kind. Denn einige Monate nach seiner Geburt kam sein Vater bei einer Schlagwetterexplosion ums Leben.

Seine Mutter erhielt eine bescheidene Witwenrente von der Berggewerkschaftskasse, sodass sich die Familie das Notwendigste leisten konnte. Für Recht und Ordnung trat anstelle des Vaters dessen Bruder ein, der nebenan wohnte. Da der Onkel selbst eine Familie hatte und als Bergmann arbeitete, blieb jedoch wenig Zeit für „Recht und Ordnung“, und so wurde Alis Familie weitgehend verschont.

Es muss eine schöne Zeit gewesen sein für Alis Mutter, die nicht mehr als Gebärmaschine tätig sein musste und auch nicht mehr geschlagen wurde. Die Aufgabenverteilung blieb. Necmiye, Alis älteste Schwester, half der Mutter bei der Hausarbeit und passte auf Sadriye, die zweitälteste Schwester, auf. Sadriye war geistig behindert und musste gepflegt werden. Später unterstützte Yeter, die dritte Schwester, die älteste Schwester Necmiye bei dieser Aufgabe. Mustafa, das vierte Kind und der erste Sohn der Familie, hatte früh die Aufgabe zugeteilt bekommen, die Ziegen zu hüten. Die zwei Kinder, die nach Mustafa geboren waren, hatten nicht überlebt, ebenso wenig das letzte Kind, das nach Ali geboren wurde.

Als Mustafa acht und Ali vier Jahre alt waren, erschien eines Tages die Gendarmerie an der Haustür. Sie teilte der Mutter mit, dass die Kinder in die Schule müssten. So kam Ali mit vier Jahren in die Schule, denn laut Geburtsurkunde seines verstorbenen Bruders war er schon sieben Jahre alt. Seine Schwestern blieben zu Hause. Die Schulbehörde hatte sie nicht vermisst.

Ali war neugierig und wissbegierig. Schon im ersten Schuljahr fing er an, Bücher aus der Schulbücherei auszuleihen. Geistig war er seinen Mitschülern überlegen, körperlich hinkte er mit einem Abstand von zwei bis drei Jahren hinterher. Mit elf Jahren bekam Ali ein staatliches Förderstipendium und wurde nach Ankara ins Internat geschickt. Eigentlich war er erst acht oder achteinhalb Jahre alt, so genau wusste das niemand mehr.

Im Internat passte Ali sich schnell an. Seine Leistungen dosierte er so, dass er weiterhin durch Stipendien gefördert wurde, aber nicht als Streber auffiel. Wenn seine Mitschüler auf dem Hof spielten, schlich er sich heimlich in die Schulbibliothek und las. Am Anfang las er das, was er zufällig aus dem Regal herausnahm. Mit der Zeit wurde er wählerisch. Er entdeckte die Evolutionstheorie von Darwin. „Der Weg des geringsten Widerstands“, genau das war sein Ding. Jetzt setzte er diese als Strategie bewusst ein. Er ging Streitigkeiten aus dem Weg. Da er körperlich im Nachteil war, kompensierte er seine physische Schwäche durch geistige List. Wenn sich Gruppen bildeten und Spannungen entstanden, hielt Ali sich in der stärkeren Gruppe auf. Er wurde mit der Zeit ein Meister der Anpassung.

Nach sechs Jahren Internat beendete Ali 1967 seine schulische Laufbahn mit einem „Befriedigend“ im Abschlusszeugnis. Nach der Abschlusszeremonie packte er schnell seinen Koffer und verließ das Internat durch die hintere Pforte, während die anderen noch mit ihren Eltern feierten.

Als der Bus in Ankara abfuhr, war es schon dunkel. Der Bus schaffte die Strecke nach zwei Pannen in knapp sieben Stunden. In Zonguldak angekommen, musste er warten, bis der Dolmus, der ihn nach Armutcuk bringen sollte, voll war. Er kam vormittags in Armutcuk an. Dann brauchte er noch einmal zwei Stunden, trotz Abkürzung durch den Wald, bis er zuhause war. Er überlegte unterwegs, ob er den Koffer im Wald lassen und ihn später abholen sollte, aber die Geschenke, die er mitgebracht hatte, konnte er ohne Koffer nicht tragen, und ohne Geschenke konnte er nicht zuhause erscheinen. Also schleppte er den Koffer mit sich und legte mehrere Pausen ein. Sonst hätte er die Strecke in anderthalb Stunden geschafft, diese Strecke, die er früher zur Schule zurückgelegt hatte, die er in- und auswendig kannte.

Nach der obligatorischen Begrüßung und der Verteilung seiner Geschenke, hatte er sich von der Familie weggeschlichen und saß nun auf einer Lichtung vor dem Abhang, seinem Geheimplatz, und schaute hinab auf das Schwarze Meer. Wenn er früher in den Ferien zuhause gewesen war, hatte er oft hier gesessen und davon geträumt, wie seine Zukunft aussehen könnte. Anfangs, als er noch Abenteuer-geschichten las, träumte er von der Schatzsuche auf fernen Inseln oder reiste in Gedanken um die Welt. Mit der Zeit wurden die Träumereien realistischer und nahmen konkrete Gestalt an. So hatte er die Entscheidung getroffen, ins Ausland zu gehen, und zwar nach Deutschland, um sein Glück dort zu suchen.

Er war nach Hause gekommen, um Abschied zu nehmen. Er wollte endgültig Abschied nehmen und alles hinter sich lassen. Er war froh, dass er in der Schule nicht mehr als das Nötigste getan hatte. Sein Förderstipendium endete mit dem Schulabschluss und ein weiteres Stipendium für das Studium hätte ihn gezwungen in der Türkei zu bleiben.

Am nächsten Morgen verabschiedete er sich von seiner Familie. Seine Mutter weinte, aber das war nichts Ungewöhnliches, denn sie weinte immer beim Abschied. Er lief die Strecke durch den Wald mit einem fast leeren Koffer, in rekordverdächtiger Zeit von 85 Minuten. Trotzdem brauchte er einen ganzen Tag, bis er in Istanbul ankam. Er fand eine günstige Bleibe in einer Pension in Fatih.

Eine Woche lang war er beschäftigt mit den Formalien: Reisepass beantragen, Urinprobe abgeben, usw. Für die Anträge ging man zu den Arzühalcis, so hießen die Antragsteller damals, die mit ihren Schreibmaschinen am Straßenrand saßen und Anträge ausfüllten. Obwohl er schreiben und lesen konnte, überließ er den Arzühalcis die Antragsarbeit. Er kaufte sogar eine Urinprobe, um ganz sicher zu gehen.

Nach einer Woche hatte er sämtliche notwendigen Papiere zusammen, einschließlich seiner Zugfahrkarte. Er ging ein letztes Mal zu seiner Pension zurück, legte sich aufs Bett und schloss die Augen. Er stellte sich vor, er wäre zeitversetzt an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit; er stand auf einer Bühne vor Publikum. Diese Menschen waren gekommen, um ihn zu sehen. Er trug einen Umhang und Sandalen. Er nahm in Gedanken Haltung an, wie einst Alexander der Große oder Julius Caesar sie vor einer Rede angenommen haben müssen, und er sprach zu den Menschen: „Ich bin Ali, Ali Bert aus Anatolien, habe nun das große Los gezogen, darf nach Alemanien. Ich habe gehört, das Geld liegt dort auf der Straße, in jedem Zimmer gibt es eine Steckdose, aus der dann immer Strom fließt. Man kann sogar sein eigenes Kino kaufen, in einem Kasten, den man an die Steckdose anschließt.“

Am nächsten Morgen stieg er in den Zug. Der erste Aufenthalt war in Edirne. Es war spannend, es war aufregend. Ein historischer Moment, dachte er. Diese Stadt, von der er den Namen durch den Unterricht in Geschichte und Erdkunde in der Schule kannte, war plötzlich real geworden. Er stieg aus dem Zug und hatte wieder festen Boden unter seinen Füßen. Er blieb auf dem Bahnsteig stehen, bis die Bahnwärter mit ihren Pfeifen das Signal erteilten, dass der Zug weiterfahren könne.

Der nächste Aufenthalt war in Kapikule, dem Grenzübergang nach Bulgarien. Niemand durfte den Zug verlassen. Türkische Zollbeamte stiegen ein, kontrollierten Reisepässe und Gepäck. Dann stiegen sie wieder aus und der Zug fuhr weiter. Kurz danach hielt der Zug wieder an, diesmal an der bulgarischen Grenze. Nun kontrollierten bulgarische Zollbeamte die Reisepässe. Nach der Passkontrolle fuhr der Zug weiter. Früh morgens erreichte der Zug schließlich Sophia, die Hauptstadt Bulgariens. Während des kurzen Aufenthalts in Sophia traute Ali sich, den Zug zu verlassen. Wie aufregend! Schon wieder erlebte er ein Stück Geografie am eigenen Leibe als er auf dem Bahnsteig stand.

Dieses Ritual wiederholte er in den nächsten Tagen in Belgrad, in Zagreb und in Wien. Endstation war München, wo er den nächsten Zug nahm.

Nach fast einer Woche stieg Ali in Bochum, mitten im Ruhrgebiet, aus dem Zug. Unten in der Bahnhofshalle sah er einen Mann, der wie ein Landsmann aussah. Ein „Merhaba“ bestätigte seine Vermutung. Er zeigte dem Landsmann das Schreiben mit der Firmenanschrift, das er in Istanbul von der Arbeitsvermittlung bekommen hatte. Er merkte sehr schnell, dass sein Landsmann mit dem Papier nichts anfangen konnte.

„Um 5 Uhr kommt Ahmet. Er kann dir weiterhelfen,“ war seine Reaktion.

Er hatte das Dokument nicht einmal richtig angeschaut. Wahrscheinlich kann er nicht lesen, dachte Ali. Die Bahnhofsuhr zeigte 20 Minuten vor 5. Er ließ sein Gepäck bei seinem Landsmann stehen und ging aus der Bahnhofshalle hinaus in die Stadt. Er überquerte die Straße vor dem Hauptbahnhof, indem er genau das tat, was die anderen Fußgänger auch taten. Es war sehr aufregend zu sehen, wie diszipliniert die Menschen warteten, bis die Ampel für die Autos rot wurde und alle Autos anhielten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass in der Türkei Autos anhalten würden, wenn eine Ampel rot zeigte, die Menschen sowieso nicht. Wegen einer blöden Ampel? Nein, niemals.

Als er die Straße mit einer Fußgängergruppe überquert hatte und auf der anderen Seite der Straße angekommen war, stand er vor der gläsernen Fassade des Esslokals von Wimpy, dem ersten Franchiseesystem auf dem deutschen Markt für Convenience Food. Er schaute hinein und beobachtete, was die Menschen aßen, wie sie aßen, was sie anhatten. Auf einem Teller war ein Hamburger mit Pommes Frites. Ali wusste nicht, was er da sah, aber er wusste, dass er bald in diesem Lokal sitzen und das, was er gerade sah, bestellen und essen würde.

Die Bahnhofsuhr zeigte jetzt auf die 5. Die ersten Eindrücke in dieser wunderbaren Stadt waren so überwältigend, dass er nicht merkte, wie die Zeit verging.

Ali ging zurück in die Bahnhofshalle. Ahmet war schon da. Ali zeigte ihm das Schreiben von der Arbeitsvermittlung in Istanbul. Dieser warf einen kurzen Blick auf das Blatt und sagte:

„Ich kenne die Firma. Sie ist nicht so groß. Hast du eine Bleibe?“

„Nein,“ erwiderte Ali.

„Du kannst erstmal bei Mehmet im Waggon schlafen. Dann sehen wir weiter.“

Am Opelwerk standen auf Abstellgleisen ausrangierte und für die türkischen Gastarbeiter als Unterkunft umgebaute Waggons. Ahmet zeigte Ali die Koje von Mehmet, der wegen eines Unfalls im Krankenhaus lag. Ali zog seine Schuhe aus, legte sich auf die Koje und schlief sofort ein. Am nächsten Morgen wurde er geweckt von Mitbewohnern des Waggons und bekam von ihnen Frühstück. Als die Mitbewohner sich zur Frühschicht auf den Weg zum Werk machten, machte auch Ali sich auf den Weg zur Firma „Von Stein Werke GmbH“, in Bochum-Langendreer. Ahmet hatte ihm den Weg beschrieben.