Orxan, der Hexenmeister - Nazim Kiygi - E-Book

Orxan, der Hexenmeister E-Book

Nazim Kiygi

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Beschreibung

Zwei metaphysische Wesen, einst Kinder königlichen Blutes, eineiige Zwillinge, Bruder und Schwester, unsterblich, schlüpfen mit Hilfe ihrer telepathischen Fähigkeiten in fremde Körper. Sie verbringen ihre Zeit, indem sie miteinander Schach spielen. Der Gewinner versteckt sich und darf bestimmen, wie der Verlierer ihn suchen soll. Dabei wird der geregelte Alltag eines Eigenbrötlers auf den Kopf gestellt. Durch einen Traum überschlagen sich die Ereignisse, und tausend Jahre alte Erinnerungen werden wach.

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Seitenzahl: 417

Veröffentlichungsjahr: 2017

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für all die guten Hexen, die ich kenne,

und für Petra

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

die Begegnung

Kapitel II

der vertraute Alltag

Kapitel III

in Gedanken dreißig Jahre zurück

Kapitel

IV

eine Koreanerin und eine alte Frau

Kapitel V

eine schwarze Witwe

Kapitel VI

erste Hilfe

Kapitel VII

Judith

Kapitel

VIII

Inge

Kapitel IX

bei Inge

Kapitel X

Frau Meiersdorf

Kapitel XI

bei Sing Ling

Kapitel XII

erst Klara, dann eine Psychiaterin

Kapitel XIII

Essen mit Judith

Kapitel XIV

Lamía

Kapitel XV

die Jungfrau

Kapitel XVI

bei Judith

Kapitel XVII

Intermezzo

Kapitel XVIII

Aussprache mit Inge

Kapitel XIX

Aussprache mit Judith

Kapitel XX

Aussprache mit Lamía

Kapitel XXI

Aussprache mit Olli

Kapitel XXII

gute Hexen, böse Hexen

Kapitel XXIII

Telefonate

Kapitel XXIV

bei Kläuschen

Kapitel XXV

zwei alte Bücher

Kapitel XXVI

eine mumifizierte Jungfrau

Kapitel XXVII

der Hexenmeister

Kapitel XXVIII

ein völlig anderer Mensch

Kapitel XXIX

Bruder und Schwester

Kapitel XXX

Das Spiel der Könige

Kapitel XXXI

Orca am Rande des Wahnsinns

Kapitel XXXII

Großvater und Hexenmeister

Figuren in der Reihenfolge ihres Auftritts

Orca Kir

50 Jahre alt, Privatier, sein Körper dient als Versteck für

Orxan, er ist der Vater von Norbert Busch und der

Großvater von Kläuschen

Alda Müller

Witwe, wohnt in derselben Straße wie Orca Kir, Tochter

von Frau Meiersdorf, Mutter von Judith Busch,

Großmutter von Kläuschen

Sing Ling

Musikstudentin aus Südkorea, wird von Esmeralda

getötet.

Frau Meiersdorf

wohnt im Seniorenheim ‘Abendsonne‘, Mutter von Alda

Müller, Großmutter von Judith Busch,

Urgroßmutter von Kläuschen

Judith Busch

arbeitet als Pflegerin im Seniorenheim ‘Abendsonne‘,

Tochter von Alda Müller, Enkelin von Frau Meiersdorf,

verheiratet mit Norbert Busch und

Mutter von Kläuschen

Inge Busch

Mutter von Norbert Busch,

Schwiegermutter von Judith Busch,

Großmutter von Kläuschen

Norbert Busch

Sohn von Inge Busch und Orca Kir, Stiefsohn von Olli

Henkel, Ehemann von Judith Busch,

Vater von Kläuschen

Lamía

eine ganz besondere Katze mit telepathischen

Fähigkeiten, die Alda Müller im Tal der Könige

gefunden hat. Ihre Tochter, Judith, hat der Katze den

Namen Lamía gegeben. Bei den alten Griechen war

Lamía die ‘Verschlingerin’. Orca vermutet, dass sie in

einem früheren Leben eine Hexe war.

Klara

Freundin von Norbert Busch

Ruth Barthels

Psychiaterin, Schwester von Olli Henkel

Olli Henkel

Freund von Orca Kir aus Studentenzeiten, verheiratet mit

Inge Busch, Stiefvater von Norbert Busch,

Stiefgroßvater von Kläuschen

Prof. Dr. Dr. Phil. Hermann Valerien

Sprachwissenschaftler, befreundet mit Orca Kir

Prof. Dr. Phil. Hans Krane

Sinologe und Nachbar von Hermann Valerien

Reino

Mitbewohner der WG-Busch

Kläuschen

Sohn von Judith und Norbert Busch,

Enkel von Alda Müller, Inge Busch und Orca Kir,

Urenkel von Frau Meiersdorf

Orxan

Ork, Bruder von Esma bzw. Esmaxan, Hexenmeister,

versteckt sich seit 1000 Jahren vor seiner Schwester und

lebt seit 50 Jahren im Körper von Orca Kir,

der ihm als Wirt dient.

Esmaxan

Esma, Schwester von Ork bzw. Orxan, Hexe, sucht ihren

Bruder in Gestalt einer Spinne seit 1000 Jahren.

Esmeralda

eine außerordentlich große Vogelspinne mit dem Gift

einer Spinnenart namens ‘Latrodectus mactans’ (wissenschaftliche Bezeichnung für die ‘Schwarze Witwe’), sie

beherbergt Esmaxan und dient ihr als Wirt.

Kapitel I

die Begegnung

Er liebte den Alltag, ganz besonders seinen Alltag. Er war ihm so vertraut und gab ihm ein solches Gefühl der Geborgenheit, dass er jedem, der ihn ihm wegnehmen wollte, sei es auch nur für ein paar Stunden, mit einer gewissen Skepsis gegenübertrat. Sein Alltag fing gewöhnlich mit dem Aufstehen an, was eigentlich ziemlich alltäglich ist; es sei denn, er fing an wie an jenem Morgen, als er sich auszog und ins Badezimmer ging.

Er ging hinein und da sah er sie. Sie stand mitten auf dem weißen Klodeckel in voller Größe. Pechschwarz auf weiß! Was für ein Gegensatz! Was für ein imponierender Augenblick! Sie stand da und betrachtete ihn, ihre Blicke durchbohrten ihn. Er fühlte, wie er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Ihre Blicke trafen sich, es war um ihn geschehen, es war Liebe auf den ersten Blick. Ja, geradezu majestätisch stand sie da auf ihren Beinen.

»Ihre Beine! So zierlich, lang und gleich acht Stück!«

Diskret zog sie sich nun zurück, damit er endlich das tun könne, was er musste. Sie verstanden sich ohne Worte.

Jeder Klobesuch wurde für ihn ein aufregendes Ereignis. Jedes Mal das gleiche Ritual. Sie stand da auf dem Klodeckel, sie schauten sich gegenseitig tief in die Augen, dann zog sie sich zurück. So vergingen die Tage und in einer Nacht erschien sie ihm in einem Traum. Zum ersten Mal unterhielten sie sich. So erfuhr er ihren Namen:

»Esmeralda!«

Danach hielt er sich mehr im Badezimmer auf als in den übrigen Räumen des Hauses. Wenn er auf der Klobrille saß, hing Esmeralda an einem dünnen, feinen Faden von der Decke herab oder klebte an allen acht Beinen neben ihm auf der weißen Kachelwand und hörte ihm zu. Er erzählte ihr von sich, von seiner Kindheit, von seinem Alltag und einfach alles, was ihm gerade einfiel. Esmeralda hörte immer interessiert zu. Manchmal nickte sie mit dem Kopf, um ihm ihre Zustimmung anzudeuten, und manchmal tappte sie mit den Vorderbeinen, wenn sie nicht einverstanden war.

Inzwischen kannten sie sich seit einem Monat. Er war der glücklichste Mensch auf Erden. Seine Freunde bemerkten den Stimmungswandel bei ihm und fragten neugierig nach dem Grund. Er erzählte niemandem von Esmeralda. Er hatte Angst, dass neidische Menschen ihre Harmonie zerstören könnten. Er hielt sich immer weniger bei Freunden auf, denn er wollte so viel wie möglich bei Esmeralda sein. Ihre Beziehung war einmalig. Es war eine rein platonische Beziehung zwischen zwei sehr unterschiedlichen Lebewesen. In dieser Phase ihrer Beziehung bemerkte er, dass Esmeralda gewachsen war. Sie war um mindestens zwei Zentimeter im Umfang gewachsen. Ihre Beine waren nicht mehr so zierlich wie am Anfang.

»Esmeralda war kein Kind mehr, sondern ein junges Mädchen geworden. «

Auch ihr Hunger war dementsprechend gestiegen. Sie begnügte sich nicht mehr mit kleinen Mücken und Fliegen, sondern verzehrte gleich ganze Brummer. Er sorgte natürlich dafür, dass eine ausreichende Menge von ihnen im Haus herumflog. Er züchtete sie regelrecht, indem er Speisereste in der Küche stehen ließ.

Die Tage vergingen in voller Harmonie. Eines Tages saß er auf dem Klo und las die Tageszeitung. Er war ziemlich vertieft in einen Artikel über Arbeitslosigkeit, als er etwas auf seinem rechten Knie spürte. Reflexartig war er just dabei sich, am Knie zu kratzen, als er hinschauend bemerkte, wer gerade auf seinem Knie saß.

»Es war Esmeralda! «

Sein ganzer Körper reagierte mit einem Ausschlag von Gänsehaut. Er spürte, wie die Haare auf seinem Rücken zu Berge standen. Dies war der erste physische Kontakt zwischen Esmeralda und ihm. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ‘unheimlich’. Esmeralda schaute ihm tief in die Augen, er war wie gelähmt, dann machte sie einen Satz und sprang an die Kachelwand. Er machte den Mund auf, aber es kam kein Laut heraus. Wie in einem Trancezustand sah er sich selbst aufstehen, er hatte kein Gefühl in den Beinen. Das Badezimmer verließ er und ging ins Wohnzimmer, die Tür schloss er hinter sich zu.

Nach einem Monat platonischer Liebe und sinnlicher Harmonie war plötzlich ein anderes Gefühl an ihre Stelle getreten. Die Sinnlichkeit ihrer Beziehung war durch den Körperkontakt schlagartig verloren gegangen. Die gegenseitige Achtung, die durch den Abstand vorhanden gewesen war, hatte Esmeralda durch ihren Schritt zunichte gemacht. Er überlegte, ob er Esmeralda anfassen könnte. Allein die Vorstellung dessen erzeugte wieder Gänsehaut am ganzen Körper.

»Wovor habe ich denn Angst? « fragte er sich.

»Wenn sie mich beißen wollte, hätte sie es längst getan. «

So beruhigte er sich ein wenig, vermied jedoch das Badezimmer an jenem Abend.

Am nächsten Morgen, nach einer sehr unruhigen Nacht, stand er auf und ging ins Badezimmer. Esmeralda stand wie gewöhnlich auf dem Klodeckel und schaute ihn an.

»Guten Morgen, Esmeralda! Gehst du, bitte, weg! Ich muss nämlich dringend«, sagte er, aber Esmeralda rührte sich nicht; damit hatte er nicht gerechnet. »Esmeralda, Schätzchen, bitte! «

Aber Esmeralda rührte sich nicht von der Stelle. Er merkte, dass er wütend wurde.

»Esmeralda, ich sag’ dir zum letzten Mal: Wenn du nicht augenblicklich dort weggehst, dann ...«

»Dann was? « dachte er und ging, ohne weiter zu überlegen, hin, packte Esmeralda von oben, hob sie und setzte sie in die Badewanne.

Er fühlte nichts besonders dabei, er hätte genauso gut eine Katze oder einen Hund anfassen können. Ja, so traten sie in die nächste Phase ihrer Beziehung ein. Tage vergingen. Esmeralda hielt sich nicht mehr im Badezimmer auf, sondern machte sich im ganzen Haus breit. Nachts schlief sie auf seinem Bett neben dem Kopfkissen. Sie machte auch hin und wieder kurze Exkursionen in den Garten. Er ließ das Fenster für sie immer einen Spalt offen.

Ihre Beziehung war sehr freundschaftlich geworden. Die Spannung der ersten Phase war völlig verschwunden. Morgens schaute ihm Esmeralda beim Frühstück zu. Nachmittags, wenn er von der Arbeit zurück nach Hause kam, begrüßte sie ihn, indem sie entweder auf seine Schulter oder seinen Kopf sprang und einen kreischenden Laut von sich gab. Sie spielten abends Murmeln oder Memory. Esmeralda war in beiden Spielen unschlagbar. Wie zielsicher sie die Murmeln mit ihren vier Hinterbeinen schoss und wie schnell sie die Karten umdrehte, war unglaublich. Wenn er dann mal dran kam und überlegen musste, setzte sie sich mit dem Hinterleib nach hinten und trommelte ungeduldig mit den rechten zwei Vorderbeinen. Ihre Intelligenz versetzte ihn immer wieder in Staunen.

Es war schwer vorstellbar, dass diese kleine Spinne ... . ‘Klein?’ Er holte ein Lineal und hielt es über Esmeralda. Sie war genau 15 Zentimeter im Durchmesser. Dann nahm er sie und setzte sie auf die Küchenwaage. Sie wog 220 g. Die Daten trug er in sein Tagebuch ein. Eine Woche später maß er 16 cm Durchmesser und 250 g Gewicht.

Eines Tages kam er von der Arbeit zurück und entdeckte mitten im Wohnzimmer einen toten Vogel auf dem Boden. Auf dem hellen Teppich waren Blutflecken. Er war sauer, er rief nach Esmeralda:

»Esma, wo bist du? Komm her! «

Esmeralda kam auf allen Achten laufend ins Zimmer, machte einen Schlenker um die Vogelleiche und sprang auf den davor stehenden Fernsehsessel, drehte sich um und schaute ihn neugierig an.

»Esma, das ist ungeheuerlich! Ich möchte so was nicht wieder sehen! « sagte er mit zorniger Stimme.

Esmeralda nahm den toten Vogel und verschwand damit durch das offene Fenster in den Garten. Esmeralda war eindeutig eine Vogelspinne, und ein ganz schönes Prachtexemplar noch dazu. Inzwischen hatte sie einen Durchmesser von 20 cm und brachte stattliche 420 g auf die Waage. Wenn sie von 4 bis 5 Meter Entfernung auf ihn sprang und auf seiner Brust landete, musste er aufpassen, dass ihm die Luft nicht wegblieb.

Abends, wenn sie ins Bett gingen, kuschelte sich Esmeralda an ihn heran und machte eine Art Milchtritt, wie bei Katzen, aber nicht nur mit zwei, sondern mit allen acht Beinen, bis sie beide einschliefen.

»Esmeralda war kein Mädchen mehr. Sie war eine junge Frau geworden. «

Es vergingen glückliche Tage. Er brachte Esmeralda das Schachspielen bei. Sie lernte schnell und setzte ihn dann immer schachmatt. Am Wochenende nahm er sie im Auto mit. Am liebsten wäre sie selbst gefahren, aber es ging nicht. Sie hatte eingesehen, dass sie nicht fürs Autofahren geschaffen war, beziehungsweise, dass Autos nicht für sie konstruiert worden waren. Eines Tages kaufte er einen kleinen Computer. Esmeralda lernte schnell. Wenn er zur Arbeit ging, setzte sie sich vor den Bildschirm und war damit beschäftigt, bis er nach Hause kam. Ihre Intelligenz war außergewöhnlich. Nach einer kurzen Zeit war sie in der Lage, neue Programme zu entwickeln. Inzwischen kommunizierten sie über den Bildschirm. Eines Tages teilte sie ihm mit, dass die Kapazität des Computers nicht mehr ausreiche. Er kaufte ihr einen neuen Computer.

Als er mit dem neuen Computer nach Hause kam, freute sich Esmeralda so sehr, dass sie ihn kreischend ansprang und überall küsste. Sie hatte ihn in ihrer Freude förmlich zu Boden gerissen. Immerhin wog sie inzwischen 4,2 kg und maß im Durchmesser 40 cm. Er musste sich anschließend unter die Dusche begeben, weil von ihren Küssen alles, aber wirklich alles an ihm klebte. Esmeralda saß nun Tag und Nacht vor dem Monitor. Sie hatte auch eine neue Programmsprache entwickelt, so dass er nicht mehr verstand, was sie machte.

»Aber sie ist glücklich und das ist die Hauptsache«, dachte er.

Eines Tages, als er im Garten nach Vogelleichen suchte, um sie zu begraben, entdeckte er eine Katzenleiche. Die Leiche war höchstens 24 Stunden alt. Die Katze war erstarrt. Esmeralda hatte ihr das ganze Blut ausgesaugt.

Ihn ekelte zwar diese Vorstellung an, zumal er Katzen gern hatte, aber er musste zugestehen, dass Esmeralda inzwischen zu groß war, um ihren Hunger nur mit Vögeln zu stillen. Er hoffte immer wieder, dass Esmeraldas Wachstumsprozess endlich einmal zu Ende gehen würde, aber Esmeralda wuchs weiter. Nun wog sie mehr als 5 Kilo und im Durchmesser war sie um 5 cm auf 45 cm gewachsen.

Dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Er lernte eine Frau kennen und verliebte sich in sie. Er wusste nicht, woran Esmeralda bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Er spürte die Spannung, wenn er nach Hause kam. Er erzählte Esmeralda nichts über seine neue Bekanntschaft. Irgendwas sagte ihm, dass sie sehr eifersüchtig werden könnte. Seiner neuen Freundin konnte er auch nichts über Esmeralda erzählen. Er hatte Angst, dass er sie damit verschrecken würde.

»Frauen mögen im Allgemeinen keine Spinnen und noch dazu eine solche! «

Also konnte er Judith - so hieß sie nämlich - nicht mit nach Hause nehmen. Er musste dauernd irgendwelche Ausreden finden. Er fing an, später als gewöhnlich nach Hause zu gehen, er hielt sich immer länger bei Judith auf. Er telefonierte öfters mit ihr, er zog sich dann mit dem Telefon zurück ins Schlafzimmer, Esmeralda kam hinterher, er ging in die Küche und sie ging mit. Es herrschte eine unerträgliche Spannung im Haus. Nachts schlief er sehr schlecht, er hatte ständig Albträume. Morgens stand er total erschöpft auf. Er hatte auch ständig Hunger. Er aß sehr viel, nahm aber trotzdem ab.

Es war Judith, die ihn auf die beiden Punkte an seinem Hals aufmerksam machte. Sie waren so geschwollen, dass er sie eigentlich auch hätte sehen müssen. Merkwürdigerweise hatte er weder Schmerzen noch irgendein Gefühl an den Stellen. Als Judith scherzhaft nebenbei die Bemerkung machte: »Wie der Biss eines Vampirs«, wurde ihm plötzlich alles klar! Die Albträume, die er hatte! Sie waren Wirklichkeit! Esmeralda saugte ihm in der Nacht sein Blut aus. Er erinnerte sich an die erstarrte Katze im Garten.

»Merkwürdigerweise lässt sie mir noch so viel Blut übrig, dass ich weiterleben kann. «

Deswegen war er morgens so erschöpft. Judith schaute ihn fragend an. Er überlegte, ob er ihr von Esmeralda erzählen sollte. Nein, besser nicht. Das war seine Sache. Er ging wütend nach Hause. In den letzten zwei Tagen, die er bei Judith verbracht hatte, hatte er sich einigermaßen erholt und Kraft gesammelt. Er schloss die Haustür leise auf. Es war ganz still im Haus. Er ging ins Wohnzimmer. Sie lag auf der Couch und ignorierte ihn einfach.

»Esma, ich hab’ dir etwas zu sagen. So kann es nicht weitergehen! «

Esmeralda schaute ihn nun an. Sie lag nicht mehr, sondern hatte Sprungstellung angenommen. Bevor er sich überlegen konnte, was er machen sollte, sprang sie ihn an und biss ihn in den Hals. War es der Schock oder etwas, das sie in ihn hinein gespritzt hatte oder beides - er war sofort von Kopf bis Fuß gelähmt. Esmeralda hob ihn mit ihren fingerdicken Vorderbeinen hoch und schleppte ihn zum Bett. Dann zog sie ihn aus und fing an zu spinnen. Mit einem feinen dünnen Faden umwickelte sie seinen Körper. Nach einer kurzen Zeit sah er aus wie eine halbfertige Mumie. Nur sein Kopf und seinen Hals hatte sie freigelassen. Nun ging sie ins andere Zimmer und kam mit dem Computer zurück. Sie stellte den Monitor so auf, dass er den Bildschirm sehen konnte. Sie ging zur Tastatur und tippte. Auf dem Bildschirm erschien:

»Ich liebe dich. Ich will dich mit niemandem teilen. Ich werde dich auffressen. «

Esmeralda kroch langsam auf das Bett. Sie würde gleich ihre Saugzähne in seinen Hals stechen und ihn aussaugen. Er schrie ... und wurde wach. Von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, saß er aufrecht im Bett. Er schaute auf den Wecker, es war neun Uhr.

»Irgendwie muss ich mich wieder hingelegt haben«, dachte er.

Oder war er überhaupt nicht aufgestanden?

»Doch, ich muss wohl aufgestanden sein, denn ich bin nackt. «

Er stieg langsam und überlegend aus dem Bett. Das Nachthemd und die Boxershorts lagen auf dem Boden. Also war er doch aufgestanden.

»Und dann?«

Hatte er sich tatsächlich wieder ins Bett gelegt? Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war, dass er Richtung Badezimmer ging. Ob er dann tatsächlich ins Badezimmer gegangen war? Da war er sich nicht sicher. Irgendwo zwischen Schlafzimmer und Badezimmer war der Faden gerissen. Er ging nun langsam Richtung Badezimmer, schaute auf die eigenen Beine und Füße, die sich vorwärts bewegten, und versuchte, sich daran zu erinnern, ob er jene Schritte vorhin schon ein- mal gemacht hatte. Ja, er hatte sie gemacht, jedoch war er sich nicht sicher, ob er sie im Traum oder in Wirklichkeit gemacht hatte. Die Tür vom Badezimmer war zu.

»Ich hatte sie aufgemacht«, dachte er.

»Im Traum oder in Wirklichkeit?«

Er machte die Tür auf und ging hinein. Mitten auf dem weißen Klodeckel stand eine kleine schwarze Spinne. Dann ging alles ziemlich schnell. Er nahm die Klopapierrolle vom Halter und schlug damit auf die Spinne ein. Die Reste spülte er den Abguss hinunter. Als er zitternd und unter wiederkehrenden Schüben von Gänsehaut in und ums Becken herum, den Überresten der Spinne hinterher pinkelte, schaute er sich mehrmals um, ob nicht vielleicht noch mehr Spinnen da wären. Aber da waren keine. Er zog mehrmals ab. Er konnte sich immer noch nicht beruhigen. Das Duschen half nur wenig, der Traum war zu ‘real’ gewesen.

Kapitel II

der vertraute Alltag

Er musste unbedingt in den Alltag zurück. Sein Alltag, der ihm so vertraut war, hatte einen Knacks bekommen. Er fühlte sich in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr geborgen. Schnell zog er sich an und ging in die Küche. Er schaute sich mehrmals um. ‘Keine Spinnen!’ Die Uhr behielt er im Auge, während der schwarze Tee zog.

»Zwei Minuten und nicht länger. Bloß nicht wieder einschlafen«, murmelte er vor sich hin.

Der Tee beruhigte ihn ein wenig. Die Zeitung war ein weiterer Beweis dafür, dass er sich in Zeit und Raum am richtigen Ort befand. Er fühlte sich jetzt etwas besser, konnte sich aber nicht auf die Zeitung konzentrieren.

»Nun einen Kaffee und die erste Pfeife.«

Er ging ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Seine Hände zitterten noch ein wenig, als er die Pfeife anzündete, dann fing er an zu lachen.

»Lachen ist gesund«, dachte er.

»Man sollte mindestens einmal am Tag laut lachen. «

Er sagte laut:

»Mein Gott, du lässt dich durch einen Traum so aus der Fassung bringen! « und konnte allmählich seine Pfeife ruhiger halten.

»Ich habe in letzter Zeit zu viel Fantasy und Sciencefiction gelesen«, dachte er.

»Das ist es! Freud hätte bestimmt gesagt, ... Was hätte er gesagt? «

Er wusste es nicht. War es ein Zufall, dass auf der Klobrille tatsächlich eine schwarze Spinne gestanden hatte? Hatte sie auch schon vor seinem Traum dort gestanden? War er tatsächlich ins Badezimmer gegangen und hatte die Spinne dort gesehen, war er dann wieder ins Bett gegangen und eingeschlafen? Hatte die Spinne den Traum ausgelöst? Er wusste es nicht.

»Du spinnst! « sagte er sich und lachte.

»Es ist schön, dass ich über mich selbst lachen kann. «

Es war ein gutes Zeichen dafür, dass der Alltag zurückkehrte.

»Mein vertrauter Alltag«, dachte er.

Eigentlich tat es ihm Leid um die kleine Spinne. Er hatte nichts gegen Spinnen. Er hatte keine Angst vor Spinnen oder ‘Arachnophobie’, wie es so schön hieß. Die kleinen Tiere waren sogar sehr nützlich. Sie fraßen Fliegen und.... Er merkte, dass dies nicht unbedingt der richtige Weg war, um in den Alltag zurückzukehren. Er müsste an etwas Angenehmeres denken, an Judith beispielsweise. Wie hatte sie ausgesehen? War sie blond oder rothaarig gewesen?

»Dunkelhaarig war sie nicht. Esmeralda war dunkelhaarig«, dachte er und merkte gleichzeitig, dass er sich noch immer auf dem falschen Weg befand.

»Wenn ich so weitermache, bin ich im Nu in einem weiteren Traum. «

Also stand er auf, brachte den leeren Becher in die Küche, ging dann ins Badezimmer, schaute sich noch einmal gründlich um, keine Spinnen waren zu sehen, er rasierte sich schnell und verließ das Haus. Draußen schien die Sonne. Es war ein herrlicher Tag mitten im August.

»Eine kleine Spritztour mit dem Roadster wird mir gut tun«, dachte er.

»Und mich auf andere Gedanken bringen. «

Er ging zur Garage, um den Roadster herauszuholen, steckte den Schlüssel ins Schloss, konnte es aber nicht aufschließen. Der Schlüssel ließ sich im Schloss nicht bewegen. Das Schloss saß fest. Immerhin waren mehrere Monate vergangen, seitdem er das Garagentor das letzte Mal aufgeschlossen hatte.

Aber solche Kleinigkeiten konnten ihn nicht aus der Bahn werfen. Also ging er ins Haus zurück, ab in den Keller, holte die Sprühdose mit dem Kriechöl, sprühte ein paarmal ins Schloss, wartete ein wenig, dann steckte er den Schlüssel ein, und siehe da! Das Schloss ließ sich ohne Widerstand aufschließen. Nun stand der Roadster, ein wenig staubig, aber sonst genauso da, wie er ihn vor Monaten abgestellt hatte. Allein der Anblick ließ Freude in ihm aufkommen und es ging ihm wieder besser. Als er sich jedoch hinters Lenkrad quetschte, den Schlüssel ins Zündschloss steckte und nach rechts drehte, hörte er das ihm vertraute Klicken der Benzinpumpe nicht.

»Tja! « dachte er,

»Wer seine Liebe vernachlässigt, der muss leiden. «

Auch dies konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. Er fuhr sein Alltagsauto, das Coupé, vor die Garage, schloss die Überbrückungskabel an und schon saß er wieder im Roadster. Den Schlüssel nach rechts drehend, hörte er das Klicken der Benzinpumpe. Nun zog er den Choke ganz heraus, drückte zwei Mal aufs Gaspedal, drehte den Zündschlüssel ganz nach rechts und der Roadster brummte förmlich aus allen acht Zylindern. Schnell machte er die Überbrückungskabel los, fuhr erst das Coupé weg, dann den Roadster aus der Garage, und stieg dann aus, um das Tor zu schließen. Eine Nachbarin lehnte sich aus dem offenen Fenster in der zweiten Etage hinaus.

»Na, endlich kommen Sie aus Ihrem Häuschen! «

»Tag, Frau Müller!«

Er grüßte sie mit der erhobenen rechten Hand, so wie er sie immer grüßte. Frau Müller war Witwe. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Irgendwo zwischen 40 und 60, wobei wenn sie 40 war, sah sie eher aus wie 50 und wenn sie 60 war, hatte sie sich gut gehalten. Frau Müller war eigentlich blond, aber nachdem sie ihren Mann vor drei Jahren verloren hatte, hatte sie sich ihre Haare schwarz färben lassen. Seitdem trug sie auch nur noch schwarz. Frau Müller wusste über alles und jeden in der Straße Bescheid.

»Ihr entgeht nichts, aber wirklich nichts. Eine Alarmanlage für das Haus und die Garage brauche ich bestimmt nicht, « dachte er.

»Wo geht’s hin? « fragte Frau Müller.

»Ach, ich wollte eine kleine Spritztour machen bei dem schönen Wetter. «

»Nehmen Sie mich mit? «

Er zuckte kurz, seine Stimme klang ein wenig nervös, als er sagte:

»Aber selbstverständlich, Frau Müller. Kommen Sie! «

»War nur ein Scherz, «rief jetzt Frau Müller.

Er überlegte, ob sie sein Zögern gemerkt hatte.

»Ach, was! Es war ein Scherz, wie sie gesagt hat«, dachte er.

»Und mir wäre die Bemerkung: ‘Und ich dachte, dass Sie es ernst meinen’ beinahe über die Lippen gerutscht. «

»Vielleicht ein anders Mal«, fügte Frau Müller hinzu.

»Wann immer Sie wollen, Frau Müller! Also, Tschüss!«

Als er wieder im Auto saß, merkte er, dass er kein Lenkrad vor sich hatte. Bei dem britischen Roadster war das Lenkrad auf der rechten Seite. Obwohl dies nicht das erste und bestimmt nicht das letzte Mal war, dass er sich auf die falsche Seite gesetzt hatte, war es ihm in dem Augenblick schon ein wenig peinlich, zumal Frau Müller noch zuschaute. Also fummelte er unter dem Armaturenbrett herum, als ob er irgendetwas reparieren wollte. Vorsichtig riskierte er einen Blick nach oben, Frau Müller war noch da.

»Alles in Ordnung? « fragte sie.

»Ja, ja. Alles bestens, Frau Müller. Da war eine Schraube locker. «

Er hatte die Situation wieder im Griff. Gelassen stieg er links aus, ging zur anderen Seite und stieg wieder ein, holte die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, setzte sie auf, zog an dem Sicherheitsgurt, zog noch einmal und noch ein drittes Mal, aber der Gurt bewegte sich nicht. Er saß fest! Er schaute kurz nach oben und sah Frau Müller, wie sie immer noch aus dem Fenster schaute. Er müsste erst einmal dort weg, dann könnte er in aller Ruhe nach dem Problem mit dem Gurt sehen. Also löste er die Handbremse und setzte den Gang ein.

»Sie wollen nicht unangeschnallt fahren, oder? «

»Nein, Frau Müller!«

»Wir wollen Sie doch nicht verlieren, oder? «

»Nein, Frau Müller! Sehr aufmerksam! Vielen Dank!«

Er zog ganz vorsichtig an dem Gurt, der dann auch widerstandslos kam, schnallte sich an, winkte noch einmal nach oben, ohne hinzuschauen, und fuhr los.

»Endlich! « dachte er.

»Solche radikalen Schwankungen zwischen Frust und Freude kann man nur mit einem echten Roadster erleben. Je größer der Frust, desto größer auch die anschließende Freude.«

Kapitel III

in Gedanken dreißig Jahre zurück

Er erinnerte sich an seinen ersten Roadster. Dreißig Jahre waren zwar inzwischen vergangen, aber er konnte sich an jene Zeit erinnern, als wäre sie gestern gewesen. An den kleinen Roadster war er damals mehr oder weniger durch Zufall gekommen. Er studierte an der Universität und wohnte in einem der Wohnheime für Studenten. Der Kauf des kleinen Roadsters wurde im Laufe eines langen Abends in der Heimbar, in der viel Bier über die Theke lief, getätigt. Die lächerliche Summe von 400 Mark, die er nicht hatte und die daher für ihn nicht lächerlich, sondern eher astronomisch war, wurde für den sieben Jahre alten Roadster verlangt. Nach mehreren Gläsern Bier und dem Vorschlag, ihm die Summe zu stunden, kam er kurz nach Mitternacht in den Besitz der Schlüssel und der Papiere.

Der Winter war kalt am Anfang jenes lange vergangenenJahres, es war viel Schnee gefallen. Um ein Uhr morgens ging er mit einer Taschenlampe bewaffnet hinaus in die eiskalte Nacht und hinein in einen Schneesturm, um sich wenigstens einmal in sein neues Auto zu setzen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich die kleinen geteilten Plexiglasscheiben an den Türen entdeckte, sie zur Seite schob und anschließend auch noch den Türgriff im Innern des Autos fand. Um drei Uhr morgens saß er dann in seinem ersten Roadster und versuchte, ihn anzulassen. Nach kurzer Zeit war die Batterie leer!

Er rannte durch den Schnee in die Wärme des Studentenheims zurück. An Schlafen war nicht mehr zu denken, er war wie besessen, also ging er zu Olli. Olli wohnte im Heim nebenan. Um sechs Uhr morgens stand er bei Olli an der Tür und klopfte.

»Olli, mach die Tür auf! «

Von nebenan hörte er jemand rufen: »Ruhe! «

Er klopfte noch einmal, die Tür ging auf, Olli stand nackt vor ihm. Er schubste Olli ins Zimmer, ging hinein, machte die Tür hinter sich zu. Ollis Reaktionsvermögen schwankte zwischen fünf und zehn Prozent.

»Is’ was passiert? «

»Olli, ich brauche deine Autoschlüssel. «

»Spinnst du! Is’ was passiert? « wiederholte Olli.

»Nein, ich hab’ ein Auto gekauft. «

»Spinnst du! Warum brauchst du dann mein Auto? « fragte Olli.

»Das erzähl’ ich dir nachher. Komm, gib mir die Schlüssel und geh wieder ins Bett! «

Nachdem er die Tür hinter sich und Olli geschlossen hatte, war es sehr dunkel im Zimmer. Also machte er das Licht an, damit Olli die Schlüssel finden konnte. Im Bett lag ein Koloss von einer Frau. Sie drehte sich halb um, machte die Augen auf, sah ihn und suchte vergebens das Laken, das auf dem Boden lag. Er drehte sich schnell um. Olli, dessen Reaktionsvermögen durch die Betätigung des Lichtschalters schlagartig auf hundertachtzig gestiegen war, hatte inzwischen die Autoschlüssel in der Hand und schob ihn zur Tür.

»Hier, die Schlüssel. Du hast nichts gesehen«, sagte Olli bestimmend.

»Olli, die putzt bei uns«, flüsterte er.

»Spinnst du! Hau ab! Du hast nichts gesehen! «

Olli schob ihn hinaus und machte die Tür zu. Er stand im Flur, perplex und fasziniert zugleich von dem, was er eben gesehen hatte. Olli war höchstens 1.65 cm groß und wog um die 50 kg, wenn überhaupt. Diese Frau, die er gerade nackt in Ollis Bett gesehen hatte, war eine der Putzfrauen aus dem Wohnheim. Für ihn war sie eine geschlechtslose Reinigungsmaschine auf zwei Beinen. Sie war mindestens 1.80 cm groß und wog an die 120 kg.

Es war sieben Uhr morgens, als er Ollis Batterie aus seinem Käfer ausgebaut, fünfhundert Meter von einem Parkplatz zum anderen getragen und in den Roadster eingebaut hatte. Nun saß er wieder hinter dem Lenkrad. Olli und die Putzfrau gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er drehte den Zündschlüssel nach rechts, der Anlasser drehte und drehte und drehte sich, es war zwecklos. Müde, zu müde, um neue Ideen zu entwickeln, verließ er den Roadster auf dem Parkplatz, ging zu seinem Zimmer und warf sich aufs Bett.

Als er irgendwann seine Augen aufmachte, stand die ‚Reinigungsmaschine‘ mitten im Zimmer. Er hatte vergessen, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken, damit keiner von draußen die Tür aufschließen konnte. Die ‚Reinigungsmaschine‘ starrte ihn an.

»Warum geht sie nicht wieder? « fragte er sich.

Er schaute auf die Tür und sah einen Schlüsselbund aus dem Schloss hängen. Die ‚Reinigungsmaschine‘ fing an, sich auszuziehen. Sie zog die Schürze aus, dann die Strickjacke. Nun knöpfte sie ihre Bluse auf. Eine Vorstellung davon, was ihm aus der Bluse entgegen quellen würde, hatte er schon gehabt. Als sie dann den Rock fallen ließ und die schwarz behaarten Beine zum Vorschein kamen, klopfte es an der Tür.

»Mach auf! Ich bin es! Olli!«

Olli würde ihm nie glauben, dass er ihm seine Freundin nicht ausgespannt hatte. Olli klopfte wieder und rief:

»Mach doch endlich auf, Mensch! «

Es blieb ihm keine andere Wahl, als die Tür aufzumachen.

»Einen Moment, ich komme schon! «

Er stand auf. Ollis Freundin sammelte ihre Sachen vom Boden und verschwand um die Ecke. Er hörte, wie der Kleiderschrank auf und wieder zuging. Es war ihm unbegreiflich, wie sie sich in den Kleiderschrank hinein gequetscht haben konnte. Den Schlüsselbund hatte sie mitgenommen, die Tür war nicht abgeschlossen, er machte sie auf. Olli schubste ihn weg und kam herein, er war außer sich. Fast hysterisch - mit einer halb weinerlichen und halb kreischenden Stimme - brüllte Olli ihn an:

»Was hast du mit meinem Wagen angestellt!!? «

»Olli, nichts. Ich habe ...«

»Spinnst du! Er ist tot! Er sagt keinen Ton! « kreischte Olli.

»Kann er auch nicht. Ich ...«

»Er ist alles, was ich habe. Ich habe ihn dir anvertraut und du bringst ihn um! «

»Olli, das ist nur ein Auto«, sagte er ruhig.

»Gerade du musst mir das sagen, du Autonarr! Was hast du mit ihm angestellt? «

»Nur die Batterie ausgebaut. «

»Spinnst du! «

»Ja, ich bau’ sie dir auch wieder ‘rein, aber sie ist leer.

Jetzt muss ich erst ein bisschen schlafen. Ich bin todmüde. «

Er wollte Olli sehr schnell loswerden. Er schubste ihn zur Tür. Olli schubste ihn zurück.

»Spinnst du! Mitten in der Nacht schmeißt du mich aus dem Bett und jetzt willst du schlafen! «

»Entschuldige, ich wollte nicht stören. Wenn ich gewusst hätte, ...«

»Wenn du was gewusst hättest? « fragte Olli verwundert.

»Tja, dass du Besuch hast. « sagte er mit einem hämischen Grinsen.

»Spinnst du! «

»Ich weiß, ich habe nichts gesehen. Ich sag’ es auch niemandem«, sagte er, um Olli zu beruhigen.

»Was erzählst du für einen Quatsch! «

»Du brauchst keine Angst zu haben. Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte er mit sanftem Ton.

»Ich glaube, ich spinne! Was willst du mir eigentlich sagen? « fragte Olli ziemlich verblüfft.

Olli spielte seine Rolle gut.

»Tja, mit deiner Freundin, weißt du?« sagte er nun wieder mit einem hämischen Grinsen.

»Was für eine Freundin? Spinnst du! Ich hab’ keine Freundin.«

Olli ließ sich nicht aus der Reserve locken.

»Du weißt schon. Ich meine die ...«, so leise, wie es nur ging, flüsterte er Olli ins Ohr: »die Putzfrau. «

»Was für eine Putzfrau?!!«

Olli schrie so laut, dass er ein paar Schritte rückwärts ging, sich an die Tür des Kleiderschranks lehnte und gleichzeitig ihm gestikulierte, dass er leise sein sollte.

»Nicht so laut, die Leute schlafen noch! «

»Spinnst du! Es ist 11 Uhr. Was für eine Putzfrau? Was erzählst du für einen Schwachsinn? Warum schwitzt du so? «

Olli wollte sich auf keinen Fall aus der Reserve locken lassen.

»Ich glaube, ich habe mich erkältet. Mir geht’s nicht gut. Ich muss mich wieder hinlegen. «

»Was ist mit meinem Wagen? «

»Nimm die Batterie mit. Bring’ sie zur Tankstelle und lass sie aufladen. Komm, lass mich jetzt schlafen! «

»Spinnst du! Ich glaube, du bist wirklich krank. «

Olli nahm die Batterie und ging.

Er holte seinen Schlüssel und schloss die Tür ab. Die Schranktür blieb zu. Er ging zum Kleiderschrank, machte ihn auf. Sie war nicht drin!

»Komisch! « dachte er, als er den Roadster in die Autobahneinfahrt lenkte und Gas gab. Dreißig Jahre waren nun vergangen zwischen dem Erscheinen der ‚Reinigungsmaschine‘ und der Spinne von heute morgen. Wie damals wusste er auch heute nicht, wann sich der Übergang vom Traum in die Wirklichkeit vollzogen hatte.

»Freud hätte bestimmt eine plausible Erklärung gehabt. «

In Gedanken verglich er die schwarz beharrten Beine der damaligen Putzfrau mit denen von Esmeralda. Eine gewisse Ähnlichkeit schien er auszumachen, wobei die Putzfrau nur zwei, Esmeralda dagegen gleich acht Stück davon vorzuweisen hatte! Er schaltete in den fünften Gang und gab Gas. Über 200 PS beschleunigte den Roadster auf 100 kmh in wenigen Sekunden.

»Ein herrliches Gefühl! « schrie er in Gedanken und spürte den Stoß des Adrenalins.

Plötzlich setzte die Kraft aus. Der Motor lief nicht mehr. Er schaltete die Warnanlage an und ließ den Roadster auf der Standspur ausrollen. Dann fing er mit dem ihm inzwischen vertrauten Ritual an. Er flüsterte vor sich hin:

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Keine Aufregung. Keep cool. Du schaffst das schon. Du hast es immer geschafft. Es ist nur eine Kleinigkeit. Du musst nur einen klaren Kopf behalten. «

Diese Methode hatte er mit der Zeit selber entwickelt und sie funktionierte fast immer. Nachdem er sich beruhigt hatte, zog er an dem Seilzug, um die Motorhaube zu öffnen, stieg aus und ging nach vorn. Als er die Motorhaube hochklappte, sah er schon die Ursache. Ein Kabel hatte sich von der Zündspule losgelöst und hing frei in der Luft. Er holte die Zange heraus, drückte den Stecker mit der Zange zusammen, und ein paar Minuten später fuhr der Roadster wieder auf der Autobahn.

Er erinnerte sich, dass Olli ihm gegenüber auch später nie eingestand, dass er mit der Putzfrau geschlafen hatte. Er hatte sie aber mit seinen eigenen Augen in Ollis Bett in jener Nacht gesehen! Das Thema wurde jedoch nie wieder angesprochen. Seine Annah-me damals, dass es Olli einfach zu peinlich war, schien heute, nach dreißig Jahren, allerdings sehr zweifelhaft. An dem besagten Tag vor dreißig Jahren hatte er die Putzfrau nachmittags im Wohnheim gesehen. Außer einem ‘Tach!’ gab es keine außergewöhnliche Reaktion von ihr, und danach auch nicht. Damals hatte er angenommen, dass sie ihn halb im Schlaf gar nicht so richtig wahrgenommen haben musste. Noch am selben Tag liefen Ollis Käfer und auch sein Roadster! Mit der aufgeladenen Batterie war der Roadster problemlos angesprungen. Der Rest war allerdings ziemlich problematisch gewesen. Der Roadster war blieb fast täglich irgendwo stehen geblieben. Eigentlich waren es damals immer wieder Kleinigkeiten gewesen, die ihn in Situationen gebracht hatten, die er heute durch seine Erfahrung und sein Ritual fast immer, und wenn nicht, dann durch mittels seines Geldbeutel löste, die ihm damals jedoch durch Unerfahrenheit und chronische Geldknappheit zum Albtraum wurden. Er erinnerte, sich und gleichzeitig versetzte er sich in Gedanken dreißig Jahre zurück.

Es ging damals ziemlich schnell, dass er überall und bei fast jedem Schulden hatte. Er konnte sich nach einer Zeit kaum in der Öffentlichkeit zeigen, ohne einen seiner Gläubiger zu begegnen. Zu dieser Zeit hatte der Anlasser seinen Geist aufgegeben. Die einzige Person, die er noch um Geld hätte bitten können, war dieselbe Person, die er zu meiden versuchte. Inge war eine von diesen Frauen, die ihm irgendwie Angst machten. Ihr dunkles, buschiges und kurzgeschnittenes Haar saß auf einem Kopf mit einem Mondgesicht. Mit einem flachem Busen und einem platten Hintern, mit geraden Hüften, in weißen Strümpfen und mit Gesundheitsschuhen, dunkelblauem T-Shirt und ausgeleierten Jeans, war Inge für ihn die Anti-Frau überhaupt. Aber er brauchte unbedingt einen Anlasser. Er war der festen Überzeugung, dass er erst wieder Freude am Leben haben würde, wenn der Roadster wieder führe. Er hätte in der Situation genauso gut einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Also ging er zu Inge.

Die Tür ging auf und Inge stand im Bademantel vor ihm. Er schaute sie nicht an, sondern fixierte irgendeinen Punkt hinter ihr im Zimmer. Auch sonst, wenn er mit ihr sprach, vermied er den Blickkontakt mit ihren Augen, die durch die dicken Gläser ihrer Hornbrille schielten. Dann schaute er nach unten und sah ihre unrasierten Beine. Bevor er etwas sagen konnte, packte sie ihn am Arm und zog ihn ins Zimmer hinein.

»Komm schnell ‘rein! Ich bin halb nackt. «

»Inge, ich ...«

»Wo warst du die letzten Tage? Ich hab’ dich überall gesucht. «

»Das Auto, weißt du, ...«

»Ach, schon wieder das Auto. Weg damit! Es macht dich nur unglücklich. «

»Ja, aber es ist nur der Anlasser. «

»Ja, heute ist es nur der Anlasser und morgen ist es was anderes. Komm, setz dich! Ich mach’ dir einen Tee«, sagte sie, und er dachte:

»Oh Gott, schon wieder eine dieser Teemischungen!«

Ein wenig sie anflehend, sagte er:

»Ja, aber keinen mit Kräutern und so.«

»Keine Widerrede! Erst mach’ ich dir einen schönen Beruhigungstee, dann reden wir über das Auto. «

Inge war so bestimmend, dass er keine Wahl hatte. Während sie den Tee machte, überlegte er, wie schnell er wieder verschwinden könnte.

»Der Anlasser ist vielleicht doch nicht so wichtig«, dachte er.

»Ich könnte ja den Wagen anschieben. So schwer ist er nicht. Abends könnte ich ihn so parken, dass ich ...«

Inge kam mit einem Becher zurück, beugte sich über ihn, um den Becher hinzustellen. Der Bademantel öffnete sich bis zum Bauchnabel. Zwei leichte Erhebungen, auf denen jeweils eine Brustwarze emporstieg, umranden mit einzelnen schwarzen Haaren, machten hoffnungslose Anspielungen auf einen weiblichen Busen. Er schaute schnell weg, nach unten, merkte zu spät, dass der Bademantel unter dem Gürtel ebenfalls offen war, und sein Blick fiel voll auf den üppigen buschigen dunklen Wald zwischen ihren Beinen. Jetzt setzte sie sich in den Sessel vor ihm, beugte sich zu ihm, so dass sich der Mantel wieder oben und unten öffnete, fasste ihn mit der rechten Hand oberhalb des linken Knies an und sagte:

»Jetzt nimm einen Schluck und erzähl’ mir, was mit dem Anlasser ist. «

Gehorsam trank er einen Schluck aus dem Becher.

»Bah! Das ist ja scheußlich! Was ist das? «

»Das ist gut für die Nerven, glaub mir. «

»Muss ich das trinken? « fragte er sie flehend.

»Ja«, sagte sie bestimmend. »Also, was ist mit dem Anlasser? «

»Er ist kaputt. Irreparabel. Ich muss einen neuen kaufen. «

»Was kostet ein neuer? «

»90 Mark.«

Er zwang sich, Inge in die Augen zu schauen, es ging nicht. Inges linkes Auge schielte nach links. Er fixierte kurz ihre Nase, es ging auch nicht. Also schaute er mit beiden Augen in ihr rechtes Auge. Er wollte sie keineswegs ärgern. Jetzt war er so weit gekommen, dass es kein Zurück mehr gab. Er nahm noch einen Schluck aus dem Becher.

»Diese Hexenbrühe«, dachte er und merkte, wie seine Speiseröhre Widerstand leistete. Als Inge, »Gut«, sagte, nahm er noch einen Schluck, um den ersten Schluck zu unterstützen. Die Speiseröhre gab nach. Nun meldete sich der Magen und fing an zu beben. Inge fragte:

»Schmeckt es nicht? «

»Doch! Doch! Der Geschmack ist ein bisschen ungewöhnlich, aber es tut gut. «

Er nahm demonstrativ noch einen Schluck von der Hexenbrühe. Die Speiseröhre krümmte sich, der Magen bebte.

»Du bist ja kreideweiß! Komm, leg dich hin! «

Was danach geschehen war, wusste er immer noch nicht, und glaubte, es auch nicht wissen zu wollen.

Am nächsten Morgen wurde er durch ein Klopfen an der Tür geweckt. Er lag nackt in Inges Bett, aber Inge war nicht da!

»Mach doch auf! Ich bin es! Olli! Ich weiß, dass du da bist. Inge hat’s mir gesagt. Kommschon! «

»Einen Moment! Ich komme«, rief er und stand auf.

Auf dem Tisch lagen 90 Mark, ein Fünfziger und zwei Zwanziger. Er ging zur Tür, machte sie auf und sagte:

»Olli, kannst du mich in die Stadt fahren? Ich muss einen Anlasser kaufen. «

»Spinnst du! Mein Wagen ist kaputt. Ich dachte, du könntest mal nachsehen, « sagte Olli.

»Olli, du hast mich hier nie gesehen!. «

»Spinnst du! «

Was Olli damit gemeint hatte, wusste er immer noch nicht. Damals hatte er es so verstanden wie: ‘Wie du mir, so ich dir’, oder ‘Wenn du nichts gesehen hast, habe ich auch nichts gesehen’. Olli benutzte den Ausdruck ‘Spinnst du!’ so oft, dass er unterschiedliche Bedeutungen hatte. Beispielsweise, in einem Zusammenhang wie ‘Spinnst du! Ich esse jetzt!’ war gemeint, dass er nicht gestört werden wollte oder ‘Spinnst du! Du kommst mit!’ bedeutete, dass er keine Widerrede hören wollte. Bei Olli war ‘Spinnst du!’ immer gleich betont und niemals eine Frage. Problematisch wurde es jedoch, wenn Olli den Ausdruck so stehen ließ. Bei Olli konnte ‘Spinnst du!’sowohl bejahend als auch verneinend verstanden werden. Seine Frage: ‘Olli, kannst du mir 20 Mark leihen?’ hatte Olli immer mit einem ‘Spinnst du!’ erwidert und hatte ihm mal 20 Mark gegeben und mal nicht. Also konnte man die Bedeutung des Ausdrucks nur bestimmen, wenn ein weiterer Satz oder eine Handlung folgte. Er hatte damals Ollis ‘Spinnst du!’ so interpretiert, wie er es wollte, und so sprachen sie weder über die Anwesenheit der Putzfrau in Ollis Zimmer in jener Nacht noch über seine Anwesenheit in Inges Zimmer.

Kapitel IV

eine Koreanerin und eine alte Frau

Er fuhr den Roadster in die nächste Ausfahrt zum Einkaufszentrum, wo er irgendwo draußen sitzen, etwas trinken und den sonnigen Tag genießen wollte. Nachdem er einen schattigen Platz für den Roadster gefunden und ihm die Spritzdecke überzogen hatte, ging er in das Einkaufszentrum und befand sich nach kurzer Zeit in der Möbelabteilung eines Kaufhauses.

Vor ihm standen zwei schöne Schuhschränke. Er wollte schon immer einen Schuhschrank haben, in dem alle seine Schuhe schön übersichtlich geordnet standen. Der erste Schrank gefiel ihm äußerlich sehr gut.

»Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt«, dachte er.

Er klappte den fünfreihigen Schrank auf. Innendrin war es ziemlich eng; so eng, dass nur Kinderschuhe hineingepasst hätten. Er schaute kurz um sich, zog seinen rechten Schuh aus und platzierte ihn quer ins oberste Fach.

»So könnten ein paar Schuhe in jede Reihe, also insgesamt fünf Paar Schuhe in den Schrank passen. Dann stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis aber nicht mehr«, dachte er.

Außerdem musste er den Schuh richtig hinein drücken, um den Schrank zu schließen. Als er sich überlegte, warum sie solche Schränke für Kinderschuhe bauten und nicht für Erwachsene, fiel ihm auf, dass circa 10 Meter entfernt von ihm drei Verkäufer standen und ihn beobachteten. Ihren Blicken war zu entnehmen, dass sein Verhalten nicht der Norm entsprach. Gleichzeitig entdeckte er im Fach des anderen Schrankes eine CD. Seinen rechten Schuh nahm er gelassen aus dem ersten Schrank, zog ihn in aller Ruhe an, drehte sich um und entfernte sich mit dem Rücken zu den Verkäufern.

Als er im Café saß, einen Schluck vom Cappuccino nahm und an seiner Pfeife zog, beruhigte er sich ein wenig.

»Ein CD-Schrank! Und ich setze noch meinen Schuh da ‘rein! Was die drei Verkäufer sich dabei gedacht haben müssen. Eigentlich hätte ich aus der Situation mehr machen müssen. Stattdessen habe ich mich wie ein Feigling weggeschlichen. «

Er überlegte, wie er sich aus der Situation einen viel besseren Abgang hätte verschaffen können.

»Ich habe die Situation vorhin mit Frau Müller doch blendend gemeistert, oder? Nun, bei Frau Müller war die Sache anders. Wie war die Sache mit Frau Müller eigentlich? «

Sie war eine einsame Witwe und noch nicht zu alt, um eine neue Beziehung einzugehen. Er nahm noch einen Schluck aus der Tasse und zog an seiner Pfeife. Er hatte kein Interesse an Frau Müller und war zufrieden mit ihrer Beziehung, so wie sie war; eine ‘Guten-Tag-Beziehung’ auf Distanz und nicht mehr. Die eine Etage zwischen ihrem Fenster und seiner Garage war die ideale Entfernung für diese Beziehung und jeder zusätzliche Satz gefährdete ihre Harmonie. Allein ihre Frage: ‘Nehmen Sie mich mit?’ hatte so bedrohlich geklungen.

»Ob sie mein Zucken gemerkt hat? « fragte er sich.

Hatte sie vielleicht ein wenig mehr Interesse an ihm als er an ihr?

»Ach, was! Das ist meine blühende Phantasie! Ich bilde mir schon wieder Dinge ein, die nicht da sind«, dachte er.

»Außerdem hat sie sich innerlich von ihrem vor drei Jahren verstorbenen Ehemann noch nicht gelöst. Was hatte sie noch mal gesagt? ‘Wir wollen Sie doch nicht verlieren.’ Witwen, die in der ersten Person Plural sprechen, können nicht gefährlich sein. Für mich ist sie eine gut funktionierende Alarmanlage, nicht mehr und nicht weniger. «

Er bezahlte die Rechnung, stand auf, überlegte kurz, ob er zurück zum Roadster gehen oder einen kleinen Bummel durch die Geschäfte machen sollte, entschied sich fürs letzteres und ging in den Buchladen um die Ecke. Bei den Sonderpreisen gab es Atlanten. Er brauchte einen neuen Atlas, also blätterte er in einem der Atlanten herum und machte ein paar Stichproben, um die Aktualität zu prüfen. Die GUS-Länder waren drin, auch Slowenien und Bosnien. Das Preis-Leitungs-Verhältnis stimmte. Was war nun mit dem Format? Er wollte kein Buch, das nicht ins Regal passte. Für die hohen Bildbände hatte er aus dem Bücherregal ein Brett herausgenommen. Daher wusste er, dass die zweisprachigen Wörterbücher, die im Fach darüber standen, eine Höhe von 19,5 cm hatten. Jetzt musste er eins von diesen Wörterbüchern finden. Die Wörterbücher waren oben im ersten Stock. Er ging nach oben, fand die Reihe mit den zweisprachigen Wörterbüchern, nahm eins mit und ging wieder nach unten. Das mitgebrachte Wörterbuch hielt er auf den Atlas, markierte die Mitte des Atlanten mit dem linken Daumen und maß so noch einmal mit dem Wörterbuch den Atlas nach, um sicher zu gehen.

»Ja, er würde passen«, dachte er.

»Kann ich Ihnen behilflich sein? « fragte eine Stimme und er sah die Verkäuferin neben sich stehen. »Ja, ...«

Die Verkäuferin nahm ihm die Bücher ab, bevor er noch weiter reden konnte und fragte:

»Möchten Sie sich weiter umsehen? «

»Nein, danke! «

»Sie können hier an der Kasse zahlen«, sagte die Verkäuferin.

»Danke! «

Es war zu spät! Er war soeben stolzer Besitzer eines Wörterbuches geworden, das er nie benutzen würde!

»Macht 162 Mark 80«, sagte die Kassiererin.

»Kann ich mit Karte bezahlen? « fragte er.

»Natürlich! Brauchen Sie eine Tüte? «

»Nein, danke! « sagte er statt »Ja, bitte! «

Er ging aus dem Laden hinaus auf die Einkaufsstraße wie in Trance. 14 Mark 80 für den Atlas und 148 Mark für ein chinesisch-deutsches Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache!

»Ich muss mich irgendwo hinsetzen und eine Pfeife rauchen«, dachte er und ging zurück zum Café.

Alle Tische waren besetzt. An dem Tisch neben ihm saß eine junge Frau. Zwei Stühle waren frei. Er fragte die junge Frau:

»Entschuldigen Sie, kann ich mich dazu setzen? « »Natüllich! Bitte schön! « sagte die Frau mit strahlender Miene.

Er bedankte sich mit einem ‘Danke schön!’ Ein kurzer Blick auf die Augen, die sich dezent hinter den Gläsern ihrer Sonnenbrille versteckt hielten, sowie ihre Aussprache verrieten ihm, dass sie Ostasiatin war. Die Bücher legte er auf den dritten Stuhl, zuerst das Wörterbuch und dann den Atlas darauf. Der Atlas kippte um und fiel auf den Boden. Sie hob den Atlas auf.

»Es ist bessel, wenn Sie gloßes Buch unten liegen. «

»Ja, da haben Sie vollkommen Recht. Vielen Dank! « sagte er und nahm den Atlas, nahm das Wörterbuch, legte das Wörterbuch mit der Vorderseite auf den Atlas und legte beide so auf den Stuhl.

Dann drehte er seinen Stuhl zur Seite. Nachdem er sich schräg zu ihr hingesetzt hatte, überlegte er, ob diese Sitzhaltung richtig wäre. Einerseits wollte er keinesfalls bei ihr den Eindruck erwecken, dass er sie anmachen wollte, andererseits wollte er nicht unhöflich erscheinen. Er hatte sich zu ihr gesetzt, weil kein anderer Platz frei war.

»Ich hätte mich auch zu einem Mann hingesetzt«, dachte er.

»Entschuldigen Sie! Ich habe das Wöltelbuch gesehen. Dalf ich Sie flagen? Lelnen Sie Chinesisch?«

»Ja. Nein, noch nicht. Ich fange erst an. Ich gehe wahrscheinlich nächstes Jahr nach China. Sind Sie aus China? «

»Ich komme aus Süd-Kolea und lelne hiel Deutsch. «

»Schön! « sagte er, weil ihm sonst nichts passenderes einfiel.