Kulturschock, Integration, Diskriminierung, Ehrensache, Doppelpass und andere Geschichten - Nazim Kiygi - E-Book

Kulturschock, Integration, Diskriminierung, Ehrensache, Doppelpass und andere Geschichten E-Book

Nazim Kiygi

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Beschreibung

Die teils autobiographischen, teils erfundenen Geschichten über "Kulturschock", "Integration" , "Diskriminierung" , "Ehrensache" und "Doppelpass" erzählen Episoden aus dem Leben des Autors. Die erste Sprache des Autors war Englisch, die zweite, Türkisch und die dritte, Deutsch. Der Autor lernte diese Sprachen dort, wo sie gesprochen werden: Englisch in den USA, Türkisch in der Türkei und Deutsch in Deutschland.

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Seitenzahl: 72

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Danke, meine liebe Petra!

Danke, Antje, danke Michael!

Inhaltsverzeichnis

Kulturschock

Sie haben zu viel Schokolade gegessen

Nigger-Lover

Die Straßenkinder von Neapel

Die Kinder der Nachbarschaft

Der Sonderling

Der Verrückte auf dem Turm

Amerikanisch und Türkisch, gleiche Laute, unterschiedliche Bedeutungen

Privater Korankurs

Silke

Weihnachten 68

Die Friedenspfeife

Salz im Kaffee

Wie unterschiedlich die beiden Länder und die Menschen sind, die dazu gehören

Die Bombe

Die Reise zum Mittelmeer

Ehrensache

Mein Sohn

Der Deutschländer

Als meine Mutter starb

Wo sind sie geblieben?

Lieber Ausländer erster Klasse als Deutscher zweiter Klasse

Der Herr aus Konstantinopel

Digitale Integration

Schicksalswahl in der Türkei und die gescheiterte Integrationspolitik in Bezug auf türkischstämmige Mitbürger in Deutschland

Kulturschock

Den ersten Teil der folgenden Geschichten hätte ich genauso gut auf Englisch schreiben können, denn zu jener Zeit, als mein Leben Bewusstsein erlangte und meine Erinnerungen einsetzten, kannte ich keine andere Sprache als die englische. Chronologisch gesehen, schreibe ich diese Geschichten in einer Sprache, nämlich Deutsch, die meine dritt-erlernte Sprache ist.

Der Begriff „Kulturschock“ wurde 1951 von der US-amerikanischen Anthropologin Cora DuBois eingeführt und bezeichnet den schockartigen Gefühls-zustand, in den Menschen verfallen können, wenn sie mit einer fremden Kultur zusammentreffen.

Meinen ersten Kulturschock dürfte ich kurz nach Einführung dieses Begriffes erlitten haben. Was für ein Glück, sonst hätte ich den Begriff so oder ähnlich selbst erfinden müssen.

Im Jahre 1952, ich war damals zweieinhalb Jahre alt, flog ich mit meiner Mutter von Istanbul, der Stadt meiner Geburt, über London in die USA, nach Cleveland, Ohio, zu meinem Vater, der dort als Arzt tätig war.

Meine Erinnerungen an diese Reise müssen auf den Erzählungen meiner Mutter basieren. Das ist meine Vermutung. Ob ich mich an diese Reise ohne die späteren Erzählungen meiner Mutter erinnern könnte, kann ich nicht sagen.

Auf jeden Fall kann ich mich aber an den Winter des Jahres 1963 erinnern. Ich war 14 Jahre alt. Wir wohnten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Wanne-Eickel in Deutschland. Die Heizung war ausgefallen, und es war bitterkalt. Aus diesem Anlass erzählte mir meine Mutter von unserer Reise in die USA - mit Zwischenlandung in England. Sie berichtete, wie wir in London im Hotel übernachtet hatten und sie keine Münzen für die Heizung gehabt hatte, denn zu jener Zeit musste man Münzen einwerfen, um die Heizung im Hotel einzustellen.

Nachtrag: War das mein erster Kultur-Schock gewesen? Die Kälte? Die Kälte in einem Londoner Hotel? Wieviel von dieser bitterkalten Nacht hatte ich mitbekommen als zweieinhalbjähriges Kind?

Sie haben zu viel Schokolade gegessen

Für einen kleinen Jungen, der bis dahin noch nie dunkelhäutige Menschen gesehen hatte, war die Erklärung kurz, verständlich, logisch und, falls Zweifel bestehen sollten, jedenfalls unwiderlegbar.

„Sie haben zu viel Schokolade gegessen.“

Nachtrag: So war meine Mutter. Ich habe diese Erklärung damals nicht angezweifelt. Und wenn ich Schokolade gegessen hatte, untersuchte ich mich jetzt daraufhin, ob irgendwelche Hautveränderungen an meinem Körper zu sehen waren.

Nigger-Lover

Ich ging in die dritte Klasse. In der Pause spielte ich mit einigen anderen Jungen „catchen“ mit dem Baseball. In der Runde warfen wir den Ball hin und her. Ein Junge, der ‘zu viel Schokolade gegessen hatte‘, schaute zu. Es gab nicht viele solcher Kinder in der Schule. In meiner Klasse waren gar keine. Als ich den Ball hatte, warf ich ihn dem Jungen, der ‘zu viel Schokolade gegessen hatte‘, zu. Reflexartig fing er den Ball auf, ließ ihn jedoch ebenso schnell wieder fallen. Die anderen Jungen, die gespielt hatten, standen wie versteinert da. Der Ball blieb auf der Erde liegen. Die Pause war zu Ende. Wir gingen zurück in die Klasse.

Ich merkte, dass ich etwas gemacht hatte, was nicht in Ordnung war. Aber was? Als wir im Klassenraum zurück waren, fragte ich Bobby, der neben mir saß, was denn los sei? Er antwortete nicht. Als ich ihn am Arm schüttelte, schrie er: „Lass mich in Ruhe!“ Wir mussten beide nachsitzen wegen Ruhestörung.

Nach dem Unterricht saßen wir beide also alleine im Klassenraum. Ich fragte Bobby noch einmal, was denn passiert sei. Er schaute an mir vorbei und murmelte: „Nigger-Lover!“. Inzwischen wusste ich, dass „Nigger“ etwas Schlimmes war. Was genau schlimm daran war, wusste ich nicht, aber in dem Augenblick war das auch nicht wichtig. Wichtig war, dass Bobby mich beleidigt hatte, und ich war wütend. Ich stand auf und ging auf ihn los.

Nach so langer Zeit erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten unserer Rauferei. Irgendwann bin ich jedenfalls gestolpert und hingefallen. Ich stand noch einmal auf, um auf Bobby loszugehen. Ich kann mich gut an seinen Gesichtsausdruck erinnern, an die Angst in seinen Augen. Schreiend lief er aus dem Klassenraum. Aus meinem Kopf tropfte Blut. Ich kann mich nur noch schwach daran erinnern, dass die Klassentür aufging und Mrs. Watson, die Klassenlehrerin, hereinkam. Auch sie schaute mich an, als ob etwas sehr Schlimmes geschehen wäre. Dann wurde mir schwarz vor den Augen.

Als ich später im Krankenhaus zu mir kam, erfuhr ich Folgendes: Bei dem Gerangel mit Bobby war ich gestolpert und hatte mir die rechte Augenbraue mit der Kante eines Stuhls aufgeschlitzt. Die Schulleitung hatte das Krankenhaus angerufen. Dieses hatte sofort einen Krankenwagen geschickt und meine Eltern benachrichtigt. Alles hatte oberste Priorität, zumal mein Vater Arzt in eben diesem Krankenhaus war. Zurück blieb eine Narbe, die mir zukünftig einigermaßen Respekt verschaffte.

Nachtrag: Niemand sprach mich danach nochmals auf meinen Ruf als „Nigger-Lover“ an. Und ich vermied zukünftig jeglichen Kontakt zu schwarzhäutigen Schülern. Das war auch nicht schwierig, denn die Weißen blieben ohnehin unter sich und die Schwarzen - wie auch zuvor -ebenfalls.

Die Straßenkinder von Neapel

1958 war ich mit meiner Familie zwei Wochen lang in Neapel. Wir waren mit einem Ozeandampfer von New York nach Neapel gekommen und warteten auf das nächste Schiff, das uns nach Istanbul bringen würde.

Wenn ich mit meinem Vater durch die Straßen von Neapel ging, verfolgte uns unauffällig eine Gruppe von Kindern. Die meisten von ihnen waren in meinem Alter, so um die acht bis neun Jahre alt. Manche der Kinder trugen keine Schuhe und liefen barfuß. Sobald mein Vater eine Zigaretten-Kippe auf die Straße warf, war der Stummel im Nu weg. Die Kinder sammelten sie ein.

An einen der Jungen erinnere mich besonders gut. Auch er trug keine Schuhe. Seine Hose war überall zerrissen. Er hatte sie sich mit einer Schnur um die Taille gebunden, damit sie nicht herunterrutschte. Sein Oberkörper war nackt und von der Sonne fast schwarz gebrannt. Er bewegte sich wie ein wildes Tier, das auf Beutezug ist. Mal war er hinter mir und dann wieder weg. Dann wieder tauchte er wie aus dem Nichts auf und schnappte den weggeworfenen Zigarettenstummel meines Vaters mit einem eleganten Hechtsprung vor all den anderen Kindern weg. Angst hatte ich zu dieser Zeit nicht vor den Kindern, denn sie waren nur hinter den Zigarettenstummeln meines Vaters her. Ein paar Tage später sollte ich allerdings eines Besseren belehrt werden.