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Die streng und gläubig erzogene jüngste Tochter der Familie Arslan ist schwanger. Wie konnte geschehen, was nicht geschehen darf? Beide Brüder sind völlig überfordert mit der Vorstellung, dass ihre Schwester schwanger ist. Der Mann, den man dazu braucht, existiert nicht. Die Möglichkeiten für eine Schwangerschaft, wie die Existenz eines Freundes oder schlimmstenfalls eine Vergewaltigung, sind undenkbar. Die Tochter hüllt sich in Schweigen. Archaische Strukturen brechen auf. Es geht jetzt um die Ehre der Familie. Dass ein Mann im Leben der Tochter vor der Heirat eine Rolle gespielt haben könnte, ist jenseits der Vorstellungskraft der männlichen Familienmitglieder. Sie denken nur an die Ehre der Familie und geben der Tochter bzw. der Schwester die Schuld an allem. Sogar die Möglichkeit eines Ehrenmordes als Lösung des Problems wird in Betracht gezogen. Die ältere Tochter bewahrt einen kühlen Kopf, während die Ereignisse ihren Lauf nehmen.
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Seitenzahl: 87
Veröffentlichungsjahr: 2020
Dieses Werk ist allen Zeyneps gewidmet, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen und sich nicht wehren können.
Kapitel I
Der erste Tag
Die Ankunft Nermins
Kapitel II
Der zweite Tag
Zeynep ist schwanger
Kapitel III
Der dritte Tag
Zeynep muss weg
Kapitel IV
Der vierte Tag
Zeynep ist untergebracht
Kapitel V
Der fünfte Tag
Zeynep ist heimgekehrt
Kapitel VI
Der sechste Tag
Ehrenmorde
Kapitel VII
Der siebte Tag
Selbstmord
Kapitel VIII
Die Zeit danach
Nachwort
Er steht mitten in einem Saloon, einem typischen Saloon, wie in einem Western, mit Spucknäpfen und allem Drum und Dran, hinter der Theke der Barkeeper, wie es sich gehört, in seiner Hand ein Glas, das er mit Tuch und Spucke putzt. Zwischen ihm und dem Barkeeper lehnen sich sieben Männer an der Theke, mit dem Rücken zu ihm. Die Männer tragen Knickerbockers, Westernstiefel, Cowboyhüte. Ihre Colts stecken in den Holstern. Der Barkeeper schaut ihn an. Sein Mund bewegt sich, er hört sich sagen: „Hören Sie! Ich bin kein Ausländer. Soll ich Ihnen meinen deutschen Führerschein zeigen?“ Die Männer an der Theke drehen sich zu ihm um. Er holt seinen Führerschein aus der Gesäßtasche seiner Hose. Einer der Männer kommt auf ihn zu, ergreift den Führerschein und reicht ihn dem Barkeeper weiter. Der wirft einen kurzen Blick auf den Führerschein und ruft hämisch, dass der abgelaufen sei. Die Männer an der Theke gehen in Ziehstellung. Verzweifelt hört er sich rufen: „Warten Sie! Ich habe heute einen Termin bei der Ausländerbehörde!“ Die Männer ziehen ihre Colts und schießen auf ihn. Er ist getroffen. Er kann sich nicht bewegen.
Von weitem hörte er die Stimme seiner Mutter. „Ali, oğlum, böyle mi yattın?“ (Ali, mein Sohn, hast du so geschlafen?)
Er schlug die Augen auf. Es war ein Traum gewesen. Was für ein Traum! Er war völlig verschwitzt. Er richtete sich auf dem Sofa auf und untersuchte sich. Ja, es war nur ein Traum gewesen, er lebte noch. Er hätte sich gerne wieder hingelegt und weiter geträumt. Er hätte den Männern gezeigt, wie es ist, wenn man sich mit ihm anlegt. Aber seine Mutter hatte ihm Frühstück gebracht. Wie blöd war das denn gewesen, fragte er sich. Erst zu behaupten, er sei kein Ausländer und dann zu sagen, dass er einen Termin bei der Ausländerbehörde habe! Klar dass sie da geschossen hätten!
Seine Mutter ordnete die Kissen auf dem Sofa und räumte in dem karg eingerichteten Wohnzimmer auf. Ein Sofa und zwei Sessel, um einen rechteckigen Tisch aus Eiche, standen mitten im Raum auf einem türkischen Teppich. Dem Sofa gegenüber stand der Fernseher, der nie lief. Herr Arslan hatte irgendwann einmal gehört, dass Fernseher gefährliche Strahlen aussenden würden, die Krankheiten verursachen. Also wurde der Fernseher nicht angeschlossen. Warum er trotzdem im Wohn-zimmer stand? Nun, weil jede türkische Familie einen Fernseher im Wohnzimmer stehen hat. Hinter dem Sofa hing ein Webteppich mit dem Bild der Blauen Moschee an der Wand, die mit einer grün-weißen Tapete beklebt war. Frau Arslan wusch den Tisch mit einem Lappen ab, ging dann zu Ali und strich ihm über den Kopf. Er schob die Hand seiner Mutter weg und murmelte „Tamam, tamam!“ (Ist schon gut!)
Seine Mutter, Necmiye Arslan, war eine kleine mollige Frau, um die fünfzig Jahre alt. So genau wusste das aber keiner. Zur Welt war sie mittels einer Hausgeburt gekommen. Ihre Familie lebte in der Türkei, in einem Dorf in der Nähe von Caycuma, einer Kleinstadt an der Schwarzmeerküste.
Als sie auf die Welt kam, wurde sie beim Standesamt nicht gemeldet, zumal die Möglichkeit bestanden hatte, dass sie hätte sterben können, und der Gang zum Standesamt war damals mühsam gewesen. Außerdem war sie ein Mädchen, wozu also die Umstände?
Aber sie hatte überlebt, und eines Tages stand der Direktor der nächsten Grundschule vor der Tür, ein engagierter Direktor, der durch Befragung seiner Schüler immer wieder herausbekam, in welcher Familie welche Kinder lebten, die nicht zur Schule geschickt wurden. Necmiye musste zur Schule, und deshalb wurde sie auch amtlich erfasst. Der Standesbeamte stellte nach ein paar Fragen ihr Geburtsdatum fest: 01.01.1931.
Doch in der Schule fehlte Necmiye sehr oft. Das Schreiben und Lesen war eine Qual für sie. Niemand half ihr bei den Hausaufgaben, und sie blieb Jahr für Jahr in der ersten Klasse sitzen. Nach fünf Jahren wurde sie schließlich von der Schulpflicht befreit und konnte sich nun ganz ihren häuslichen Pflichten widmen.
Früh wurde sie mit ihrem Vetter Nurettin verheiratet. Nurettin erwies sich als guter Ehemann. Er schlug seine Frau wenig. Jedoch machte er sie für die anfänglichen Fehlgeburten verantwortlich und prügelte sie hierfür mit einem Stock.
Aber nach der dritten Fehlgeburt wandte sich das Schicksal für Necmiye. Nurettin bekam die Chance, nach Deutschland zu gehen und dort als Gastarbeiter zu arbeiten. In diese Zeit fiel die nächste Geburt. Endlich ein Kind, das gesund blieb, zwar ein Mädchen, dachte Nurettin, aber ein gesundes Mädchen!
Es klingelte an der Tür. Seine Mutter, die noch immer damit beschäftigt war, das Wohnzimmer aufzuräumen, rief: „Ah, Ilona geldi. Zeynep! Kapıyı aç kızım!“ (Ach, Ilona ist gekommen. Zeynep! Mach die Tür auf!)
„Tuvaletteyim, anne! Açamam!“ (Ich bin auf dem Klo, Mutter! Ich kann nicht!) schrie eine Stimme. Es klingelte wieder. Necmiye murmelte irgendetwas wie „Ah, bu çocuklar! Hiç bir işe yaramazlar” (Ach, diese Kinder! Sie sind zu nichts nutz!), und ging hinaus, um die Tür zu öffnen.
Ali war derweil noch immer mit seinem Traum beschäftigt. Er sprang auf, machte die Tür zu, schaute in eine Ecke des Zimmers, zog aus seinem imaginären Holster einen imaginären Colt und schoss: „Bam! Bam! Bam! Bam! Bam! Bam! Bam!“ Nachdem er genau sieben Mal geschossen hatte, und auch getroffen hatte, war er mit sich selbst hoch zufrieden. Während er noch da stand und über weitere Aktionen nachdachte, ging die Wohnzimmertür auf und eine junge blonde Frau betrat das Zimmer.
Es war Ilona, die Verlobte Mehmets, Alis älterem Bruder. Nachdem Ilona Ali begrüßt hatte, und Ali - ohne sich umzudrehen - den Gruß erwidert hatte, fragte ihn Ilona, wie es am Vortag beim Arbeitsamt gewesen sei und ob sie ihm einen Job angeboten hätten. Ali antwortete gelangweilt, dass sie ihm keinen Job sondern einen Lehrgang angeboten hätten, bei dem er seinen Hauptschulabschuss nachholen sollte. Ilona fand es prima, Ali nicht. „Was ist denn besser?“ fragte Ali, „Arbeitslos mit oder ohne Abschluss?“ Ilona meinte, dass Ali dann wenigstens etwas Sinnvolles zu tun haben würde.
Jetzt hab‘ ich auch genug zu tun.
Ja. Autos knacken und so weiter.
Nein. Das lohnt sich nicht mehr.
Nein?
Is‘ doch klar. Das Angebot ist zu groß. Die Preise sind im Keller. Außerdem macht es keinen Spaß.
Ja, und was machst du jetzt?
Jetzt habe ich einen Job im Hollywood.
Hollywood ist diese Disco, nicht? Und was machst du da?
Ich stehe an der Tür.
Du stehst an der Tür und kassierst Eintritt?
Nein, ich steh‘ an der Tür, und wer mir nicht gefällt, den lass‘ ich nicht ‘rein.
Da kam Alis Mutter ins Wohn-zimmer und fragte Ilona, ob sie Tee möchte. Sie stellte die Frage auf Türkisch und Ilona antwortete auch auf Türkisch. Ilona besuchte einen Sprachkurs für Türkisch an der Volkshochschule, seit sie mit Mehmet befreundet war. Sie hatte einen starken Akzent, wenn sie Türkisch sprach. Als die Mutter sich umdrehte und das Zimmer verließ, rief Ali ihr hinterher: „Bana da! (Für mich auch!) Ilonas Mine zeigte deutlich, dass sie überhaupt nicht damit einverstanden war, wie Ali mit seiner Mutter sprach, und sie hoffte, dass Ali das merkte. „Ali, freust du dich, Nermin wiederzusehen?“ war ihre nächste Frage. „Warum denn?“ fragte Ali zurück.
Sie ist schließlich deine Schwester.
Sie war meine Schwester. Jetzt nicht mehr.
Ich verstehe nicht. Was hat sie dir getan?
Nix.
Deinen Vater versteh‘ ich auch nicht.
Du verstehst gar nix, Ilona. Halt‘ dich da raus!
Dein Bruder ist da ganz anders. Ihn versteh‘ ich.
Das meinst du nur.
Wir werden schließlich heiraten.
Das ist dein Problem.
Wieso? Ich werde deine Schwägerin, und du wirst mein Schwager. Wie findest du das?
Is‘ mir egal.
Die Tür ging auf. Alis Mutter kam mit Tee ins Zimmer, hinter sich ein junges, molliges Mädchen mit Kopftuch. Sie servierten gemeinsam den Tee. Ilona sprach das Mädchen an mit den Worten: „Hallo, Zeynep! Wie geht es dir?“ Zeynep antwortete mit einem freundlichen „Guten Morgen, Ilona!“ und einem weniger freundlichen „Guten Morgen, Ali!“ Ali nahm Zeynep bewusst nicht zur Kenntnis. Dagegen wollte Ilona ein Gespräch mit ihr anfangen und fragte sie, ob sie sich freue, dass ihre Schwester komme. Ihre Frage wurde mit einem kurzen „Ja“ beantwortet.
Ilona redete weiter:
Ich möchte, dass Nermin meine Trauzeugin wird. Ob sie das tut?
Bestimmt.
Die Mutter nahm die leeren Teegläser und verließ das Zimmer. Sie nahm an der Unterhaltung zwischen Ilona und Zeynep nicht teil. Ob sie verstand, worum es ging? Weder an ihrem Verhalten noch am Gesichtsausdruck war das zu erkennen.
Nachdem sie das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fragte Ilona Zeynep, was ihre Mutter über ihre Heirat mit Mehmet denke. Bevor Zeynep antworten konnte, mischte sich Ali ein mit der Bemerkung: „Meine Mutter hält sich da `raus“. Ilona fühlte sich provoziert und reagierte mit den Worten: „Ich habe nicht dich, sondern Zeynep gefragt!“ Ali ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und beantwortete die an Zeynep gerichtete Frage mit den Worten: „Zeynep denkt genauso wie mein Vater.“ Bevor die Lage eskalieren konnte, klingelte es an der Haustür. Ilona schaute auf die Uhr und sagte, dass es unmöglich Mehmet und Nermin sein können, das Flugzeug habe Verspätung. Zeynep ergriff die Gelegenheit, um zu sagen, dass das ihr Vater sein müsse, der Nachtschicht gehabt habe.
Ali eilte zur Zimmertür und öffnete sie. Sein Vater, Nurettin Arslan, stand vor ihm.
Nurettin Arslan war zirka ein Meter siebzig groß, stämmig, mit Wohlstandsbauch und Stiernacken. Er war um die fünfzig Jahre alt. Wenn man für ihn einen passenden Hund ausgesucht hätte, wäre das wohl eine englische Bulldogge gewesen. Ali wollte an seinem Vater vorbei, aber dieser schubste ihn zurück ins Zimmer und blieb an der Türschwelle stehen. Ilona begrüßte ihn als erste, er grüßte zurück und schaute nun Zeynep an.
Kız, Zeynep. bana bir çay getir, hadi!
(Zeynep, komm, bring‘ mir einen Tee, Mädchen!)