Alissa kauft ihren Tod - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Alissa kauft ihren Tod E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Klug und warmherzig, voll Witz und Lakonie – Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja, der „Grande Dame der russischen Literatur“. (Zeit Online)

Ljudmila Ulitzkaja beeindruckt mit diesem großen Erzählungsband: Eine Aserbaidschanerin und eine Armenierin überwinden in einer langjährigen Liebesbeziehung die Feindschaft ihrer Völker. Eine junge Moskauerin wird mit einem Iraker verkuppelt und findet ihr Glück im englischen Exil. Eine Frau verpuppt sich und wird zum Schmetterling. Ulitzkajas Alltagsgeschichten sind nie alltäglich, sie eröffnen immer neue Perspektiven. Was ist Schicksal, was Charakter? Welchen Einfluss haben wir auf das, was uns widerfährt? Von realistisch-brillanten Novellen über Szenen am Lebensende bis zu Biografien im Zeitraffer vervollkommnet sie ihre Meisterschaft, menschliche Schicksale erzählend zu verdichten.

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Seitenzahl: 336

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Über das Buch

Klug und warmherzig, voll Witz und Lakonie — Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja, der »Grande Dame der russischen Literatur«. (Zeit Online)Ljudmila Ulitzkaja beeindruckt mit diesem großen Erzählungsband: Eine Aserbaidschanerin und eine Armenierin überwinden in einer langjährigen Liebesbeziehung die Feindschaft ihrer Völker. Eine junge Moskauerin wird mit einem Iraker verkuppelt und findet ihr Glück im englischen Exil. Eine Frau verpuppt sich und wird zum Schmetterling. Ulitzkajas Alltagsgeschichten sind nie alltäglich, sie eröffnen immer neue Perspektiven. Was ist Schicksal, was Charakter? Welchen Einfluss haben wir auf das, was uns widerfährt? Von realistisch-brillanten Novellen über Szenen am Lebensende bis zu Biografien im Zeitraffer vervollkommnet sie ihre Meisterschaft, menschliche Schicksale erzählend zu verdichten.

Ljudmila Ulitzkaja

Alissa kauft ihren Tod

Erzählungen

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Hanser

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Fußnoten

Über Ljudmila Ulitzkaja

Impressum

Inhalt

Freundinnen

Andere brauche ich nicht …

Drache und Phönix

Alissa kauft ihren Tod

Die Ausländerin

Gesegnet seien, die …

Russische Frauen

Züü-rich

Vom Körper der Seele

Keine einzige Lektion gelernt

Wo sind ihre Seelen?

Aqua Allegoria

Zweisam

Ein Mensch in Gebirgslandschaft

Awa

Die Autopsie

Serpentinen

Sechs mal sieben Miniaturen

Sieben Weltuntergänge

Sieben Tode

Sieben Geburten

Sieben Krankheiten

Sieben Zwillingspaare

Sieben Ehepaare

Freundinnen

Andere brauche ich nicht …

Meine Freundinnen, Amazonen, blutjunge Mädchen und alte Damen,

in knallbunten Stiefeln, in Galoschen, Sandalen und barfuß,

singen im Reigen, sorglos, lärmend, auch mal kreischend,

sie drehen sich, hüpfen und tanzen Quadrille und Twist.

Die Tänze der Welt sind heilig;

ihr Singen macht Kranke gesund, wiegt Kinder in den Schlaf,

nur Tote erwecken, das können sie nicht,

doch wer weiß, vielleicht lernen sie’s bald.

Schön sind die Freundinnen — mit Kraushaar, mit Zopfkranz oder kahlgeschoren,

die Köpfe wie Kugeln aus blankem Elfenbein,

mit dichter Mähne, mit Dreadlocks, mit zartlila Löckchen —

und leichtfüßig — eine in Spitzenschuhen, eine stets hüpfend,

eine im Rollstuhl, dahinter die Freundin mit dreibeinigem Gehstock seit ihrem Schlaganfall.

Es hüpfen die Jungen, die spitzen Brüste gereckt,

die Hängebrüstigen lassen die Nippel spielerisch wippen,

die flachbrüstigen Mädchen hüpfen, einen Kranz aus Dill vor der Scham …

Ich liebe euch, Freundinnen, für eure Heiterkeit und eure Treue,

für eure Güte und eure Großzügigkeit,

für die Mütterlichkeit, mit der ihr

euch über Kleine und Schwache beugt, sei es ein Frosch, eine Maus

oder gar ein kleines Menschenkind.

Tanka, Soja, Larissa, drei Nataschas, Diana, Irischa,

Katja-Lena, Tamara, Ilana, Christina und Ganna-Maria,

Nastja, Katja, Kioko … Mascha, ja, Mascha, fast hätte ich sie vergessen,

denn sie ist schon so lange fort,

die Kinder haben längst Kinder geboren, Enkel wachsen heran …

und jene, die fort sind, drehn sich im Reigen weit oben,

schau nur hinauf,

dann siehst du fröhliche Fersen oder leichte Totenschuhchen

und schneeweiße Totenhemden —

Vera, Katja und Olja, Tamara, Gajeneh und Marina, Irina und Natalie …

Wir haben das Leben zusammen verbracht, alle Trauer gemeinsam getragen,

gemeinsam Koffer geschleppt, Kartoffeln und Särge,

uns ausgeweint beieinander — ob Liebeskummer,

Betrug, Abtreibung, Verrat, Haussuchung oder beschämender Neid.

Wir spannten einander die Männer aus und lehrten einander verzeihen,

wir waren verworfen, wir logen und machten uns schuldig,

dann lagen wir weinend auf Knien und flehten,

erhofften voneinander Vergebung und Gnade,

Freundschaft und schwesterliche Liebe.

Andere brauche ich nicht, ich liebe diese leichtsinnigen, weisen,

schamlosen, bezaubernden, verlogenen, wunderbaren, abergläubischen und treuen,

diese überaus klugen und unfassbar dummen Frauen, von denen die Engel im Himmel noch lernen könnten …

Ich brauche euch, wie ihr seid — denn ich bin wie ihr und passe zu euch.

Drache und Phönix

Als nur noch eine Woche blieb, was jedoch niemand wissen konnte, bat Sarifa Mussja, eine bestimmte Nummer zu wählen, die sie ihr sogleich diktierte.

»Du hast wirklich ein unglaubliches Gedächtnis«, sagte Mussja zum tausendsten Mal bewundernd.

Sarifa, an diese Bewunderung längst gewöhnt, sagte nur ziemlich streng: »Verbinde mich.«

Sie hatte zwar einen Sekretär, doch Mussja erfüllte dessen Aufgaben besser als jeder Sekretär. Auch ihr Englisch war besser als das des Sekretärs und eindeutig besser als das von Sarifa. Genau wie ihr Russisch und ihr Französisch; seit einiger Zeit konnte sie sogar Griechisch, was nun jedoch keine Rolle mehr spielte.

Mussja wählte die Nummer mit der ihr unbekannten Vorwahl, ein Mann meldete sich mit einem langgezogenen, melodischen »Hallou«, und Mussja hielt den Hörer direkt an Sarifas Ohr, damit diese sich nicht aufrichten musste. Sarifa antwortete auf Aserbaidshanisch, und ihre Stimme wurde kräftiger und zugleich zärtlich. Mussja verstand die Sprache ein wenig, obwohl sie sie nie gesprochen hatte — sie hatte in einer damals friedlichen armenisch-aserbaidshanischen Kleinstadt eine russische Schule besucht, in der nur die Hälfte der Schüler Russen gewesen waren, die andere Hälfte Armenier und Aserbaidshaner, Kinder der gebildetsten Leute der Stadt, die wussten, dass eine gute Ausbildung nur in Russland zu bekommen war. Bei Schulabschluss konnten die Kinder fast so gut Russisch wie ihr Lehrer Alijew, ein Russophiler und glühender Kommunist. Ursprünglich war es eine rein russische Lehranstalt gewesen, zudem die erste für Mädchen in ganz Karabach. Als Mussja sie besuchte, waren die Lehrer allesamt alt, wie Museumsstücke. Eines war Lehrern und Schülern dieser Schule gemeinsam: Das Bemühen um die Feinheiten der Sprache von Puschkin und Tolstoi milderte die Differenzen zwischen Armeniern und Aserbaidshanern, denn in einem waren beide gleich: Sie gehörten nicht zur großen russischen Kultur. Sarifa hatte dieselbe Schule abgeschlossen, allerdings acht Jahre vor Mussja, kennengelernt hatten sie sich erst Jahre später in Moskau.

Ihre Heimatstadt in Karabach war seit eh und je dezent, aber deutlich in einen oberen und unteren, einen armenischen und einen aserbaidshanischen Bezirk geteilt gewesen, und das Leben kreiste wie auf dem Land um den eigenen Hof, die eigene Straße. Hin und wieder kam es zu gemischten Ehen, und das war jedes Mal etwas Besonderes, ein Ereignis, das unter Nachbarn und Verwandten hohe Wellen schlug. Warum diese Aufregung? Oh, das ist ein Thema für sich … Ehen mit Russen brachten das Blut merkwürdigerweise weniger in Wallung.

Mussja lauschte dem Gespräch. Offenbar wollte Sarifa, dass ihr Bruder herkam, sie erwähnte den nächstgelegenen Flughafen. Außerdem bat sie den Bruder um etwas, doch worum, verstand Mussja nicht, sie erhaschte das Wort »Drache«, war sich jedoch unsicher. Was für ein Drache? Zum Schluss sagte Sarifa auf Russisch: »Komm her, Said. Und beeil dich.«

Mussja nahm das Telefon an sich. Sarifa untersagte ihr zu weinen. Beide schwiegen. Mussja legte ihre porzellanweißen Hände auf den kleinen Ablagetisch des Krankenhausnachtschränkchens und ließ lautlos Tränen darauf tropfen.

Es war fast zwei Jahre her, seit bei Sarifa diese verfluchte Krankheit ausgebrochen war. Erst war sie in München behandelt und operiert worden, dann waren sie nach Israel gezogen, dort hatte sie Bestrahlung und Chemotherapie bekommen, nun lebten sie auf Zypern, wo Sarifa schon vor langer Zeit ein Haus für glückliche Sommer gekauft hatte. Jede für sich hatte wortlos ihre eigene Entscheidung getroffen: Sarifa kämpfte bis zum Letzten, und Mussja, die nicht mehr an Ärzte glaubte, hatte sich mit zwei armenischen Hexen eingelassen, ältlichen Schwestern, die von Kopf bis Fuß in Gold gefasst waren, und nachts, wenn Sarifa sie nach Hause schickte, damit sie ein wenig schlief, sprach sie heimlich per Skype mit den beiden. Sie hatte ihnen eine schwierige Aufgabe gestellt — nicht die Heilung von Sarifa, sondern die komplizierte Operation eines Seelentauschs. Die Schwestern hatten ihr ein besonderes Öl geschickt, zum Einreiben der Beine. Margo, die ältere Schwester, behauptete, ein solcher Tausch sei möglich — sie hätten mal eine Mutter gehabt, die anstelle ihres Sohnes gestorben sei. Ihr Zauber habe auf folgende schlaue Weise gewirkt: Der Junge überlebte, Professor Worobjow in Moskau konnte seine lebensgefährliche Blutkrankheit heilen, die Mutter aber geriet unter eine Straßenbahn, sie wurde überfahren, sobald ihr Sohn geheilt war.

Mussja hatte am Moskauer Pädagogischen Institut studiert, sie war literarisch gebildet und belesen, deshalb verwies ihr Gedächtnis sofort auf Berlioz: Zauberei, eine Straßenbahn, Öl.*1

»Er war ein guter Junge, ist zur Armee gegangen, aber jetzt sitzt er im Gefängnis«, sagte die eine Schwester, und die andere unterbrach sie: »Verbreite keine Gerüchte. Es gibt Wunder, jawohl, die gibt es!«

Drei Monate lang wurde es immer schlechter, und es geschah kein Wunder. Mussja fasste einen Plan: Sollte der Tausch nicht zustande kommen und Sarifa sterben, wollte sie selbst ihr folgen. Straßenbahnen gab es in ihrer zyprischen Stadt zwar nicht, aber dafür das Meer, das direkt unter ihren Fenstern rauschte und seine vielfältigen Dienste anbot, und auch der gute alte Strick war noch immer eine Möglichkeit. Warum sich Sarifas Glück — oh, sie hatte ihr Leben lang so viel Glück gehabt! — von ihr abgewandt hatte und das Schicksal nun mit einem Schlag alles einfordern wollte, was ihr so großzügig zugefallen war, darüber dachte jede für sich im Stillen nach. Doch während Sarifa herauszufinden suchte, wo sie einen Fehler gemacht hatte, mengte Mussja in ihre Gedanken archaische Motive wie Feuer, Blut und Wasser, die in einem bestimmten Verhältnis gemischt sein mussten, aber da fand sich kein Fehler, nur bedrückende Ausweglosigkeit.

»Hör auf zu schniefen. Iss lieber was, hier, Katja hat gefüllte Weinblätter mitgebracht.«

Katja war die aus Moskau geholte beste Haushaltshilfe der Welt. Sarifa legte stets Wert auf das Allerbeste, sie verstand etwas von Uhren, Brillanten, Schreibgeräten, Autos — und von Menschen.

Nun weinte Mussja erst recht los. Schon seit einer Woche aß Sarifa nicht mehr, keinen Bissen, sie trank nur noch ein wenig, und die Flüssigkeit, die in den Plastiksack an ihrem Bett tropfte, war nicht mehr rosa, sondern blutrot. Wieder gingen Mussja vage archaische Gedanken durch den Kopf: Blut-Seele-Leben flossen heraus, und durch den Tropf rann eine Nährlösung hinein, eine Art trübes Wasser. Wenn es nach ihr ginge, würde sie ihr gesamtes Blut spenden.

»Iss, und ich muss noch einen Anruf erledigen«, befahl Sarifa. »Was Geschäftliches.«

»Geschäftlich?«, fragte Mussja besorgt.

Diese bezaubernde Naivität — Mussjas absolutes Unverständnis für die geschäftliche Seite des Lebens — hatte Sarifa an ihr schon immer gemocht. Sie strich über das seidenweiche Bein ihrer Freundin. An Mussjas Körper war kein einziges Haar, schon als junges Mädchen war sie von der Großmutter angehalten worden, die Haut mit Bimsstein zu schrubben, bis sie makellos glatt war.

Sarifa hatte nach einer langen Phase körperlichen Abbaus plötzlich einen Energieschub. Sie zeigte erneut auf das Telefon.

»Ruf Shenja Raichman an, sag, sie soll herkommen, sich verabschieden …«

»Nicht doch … was sagst du denn da … wieso verabschieden …«

»Sag ihr, was du willst, aber sie soll herkommen. Heute Nacht bleibt Katja hier bei mir, du hast drei Nächte nicht geschlafen, geh nach Hause, ruh dich aus. Komm gegen Mittag wieder, und um elf schick Katja her.«

Vor zwölf Jahren hatten sie geheiratet, in Amsterdam. Sarifa hatte diesen Plan lange mit sich herumgetragen und alles gut vorbereitet: ein Bleiberecht in den Niederlanden erwirkt, eine Filiale ihrer juristischen Firma eröffnet und schließlich ein gemütliches Haus in Amsterdam gekauft, direkt an der Amstel, nur ein paar Schritte entfernt vom Theater »De Kleine Komedie«.

Nach all diesen vorbereitenden Maßnahmen, bei denen sich die Heiratspläne wunderbar mit den geschäftlichen verbinden ließen, machte sie Mussja einen Antrag. Sie lebten damals schon fünf Jahre zusammen, dennoch erschrak Mussja. Erstens lag hinter ihr schon eine missglückte Ehe, aus der sie geflohen war wie aus einem Gefängnis, und sie hatte lange gebraucht, um den Mann mit den stachligen Bartstoppeln und den sadistischen Neigungen aus ihrem Gedächtnis zu tilgen. Damals hatte sie geschworen, sich nie mehr mit einem Mann einzulassen und nie mehr zu heiraten — ohne zu ahnen, wohin sie dieser Schwur führen würde. Nämlich in die Arme von Sarifa. Zweitens, und das war eigentlich »erstens«, hatte sie Angst, vor aller Welt zu bekennen, dass sie … Beim Wort »lesbisch« erstarrte Mussja noch immer, wie ein kleines Mädchen, das bei einem Diebstahl ertappt wird. Tief in ihrer scheuen Seele saß die Furcht, das Wissen: Das ist etwas Schlimmes — ihre Mutter hatte beinahe der Schlag getroffen, als sie von Sarifa erfuhr, und sie hatte Mussja verboten, den Verwandten davon zu erzählen. Und nun machte ihr Sarifa einen Heiratsantrag! Sollte sie ablehnen? Unmöglich. Alles, was Sarifa tat, war großartig: Sie war eine erfolgreiche Juristin, eine einzigartige Verhandlungsexpertin und eine exzellente Geschäftsfrau, risikobereit und zugleich behutsam und vorsichtig. Mussja war stolz auf Sarifa, die einfach alles konnte: Fallschirmspringen, Rallyefahren, in ihrer Jugend hatte sie sehr gut Preference gespielt, in letzter Zeit ging sie manchmal ins Kasino — und verlor nie!

Mussja versuchte, Sarifas mutige Verrücktheit zu bremsen, doch ihre schüchternen Überredungsversuche endeten immer gleich: mit entschiedener, ganz unweiblicher Zärtlichkeit und energischen Liebkosungen. Sarifa war maßlos gerührt von Mussjas ständiger abergläubischer Angst um sie, ihrer teils mütterlichen, teils kindlichen Sorge.

Die Eheurkunde, ausgestellt vom Standesamt der tolerantesten Stadt der Welt, hing jetzt, in ein Passepartout aus geprägtem weißem Samt gerahmt, an einer Wand im Wohnzimmer ihres gemeinsamen Hauses auf Zypern. Als sie die Urkunde Shenja Raichman zum ersten Mal zeigten, küsste die grinsend das Papier und sagte: »Ach, Mädels, bis jetzt wart ihr zwei verdorbene Weibsbilder, und nun seid ihr ein anständiges Ehepaar!«, und alle lachten.

Shenja war der freieste Mensch der Welt, anscheinend auch frei von jeder sexuellen Orientierung. Sie hatte einzig die Wissenschaft zu ihrem Partner erkoren, mit ihr ließ sie sich immer wieder ein, untersuchte bald Hefe, bald irgendwelche Würmer, und seit einigen Jahren erforschte sie in einem Laboratorium in Zürich das menschliche Genom — ein internationales Projekt, über das Sarifa spottete; sie versprach Shenja kostenlosen juristischen Beistand, sollte man sie eines Tages wegen Verrats des Göttlichen Geheimnisses vor Gericht stellen.

Auch das Hochzeitsfoto hing jetzt in ihrem Haus auf Zypern: Die breitschultrige Sarifa im weißen Jackett mit einer kostbar funkelnden Brosche am Revers hat ihre kleine Hand auf die Schulter der schüchtern lächelnden Mussja gelegt; sie stehen am bodentiefen Fenster des Restaurants Ciel Bleu in der dreiundzwanzigsten Etage des Hotels Okura. Sarifa strahlt, Mussja ist verlegen. Das Wort »Gatte« konnte sie nicht aussprechen. Sie hätte niemandem erklären können, was Sarifa für sie war: Beschützerin, Gönnerin, Freundin, Geliebte. Oder Geliebter? Natürlich war ihr klar, dass ein Gatte ein Mann sein muss. Doch nie war sie jemandem begegnet, der Sarifa glich, ob Mann oder Frau, und aus Bewunderung und Dankbarkeit war ihre Liebe entstanden, jene bewundernde Liebe, wie sie junge Studentinnen für einen alten Professor empfinden, Mädchen für ihre Lehrerin und Jungen für ihren Lieblingsfußballer.

Sie waren das erste Ehepaar dieser Art aus Russland, das in Amsterdam geheiratet hatte. In Armenien und Aserbaidshan war etwas so Exotisches überhaupt unvorstellbar.

Und die Hochzeit, die Hochzeit! Das würde sie nie vergessen! Sosehr Mussja auch gebeten hatte, nichts zu organisieren, niemanden zur Feier ihrer einst illegalen, seit einem Jahr jedoch vom niederländischen Gesetz offiziell sanktionierten Liebe zu bitten — Sarifa hatte trotzdem ihre aserbaidshanischen Verwandten zur Hochzeit eingeladen, Flugtickets für sie gekauft und sechs Zimmer im Hotel Okura gebucht. Mussja hatte von ihrer armenischen Familie nur ihren Neffen Aschot eingeladen, der seit zwei Jahren an einer Business-School in London studierte, von Sarifa finanziert. Den Rest der Familie — ihre Eltern und ihre Schwester — wollte sie lieber nicht beunruhigen. Ihr Vater hatte hin und wieder epileptische Anfälle, womöglich könnte er, Gott behüte, während der Hochzeit vor Aufregung einen Anfall erleiden.

Sarifa hatte sich gründlich verrechnet: Die eingeladenen aserbaidshanischen Verwandten, angeführt von ihrem älteren Bruder Said, reisten fast vollzählig an, bis auf eine Tante aus Karabach, die Schwester ihres verstorbenen Vaters, eines Teppichknüpfers, die ihre Flugangst nicht überwinden konnte. Sie kamen am Tag vor der Hochzeit, und noch am selben Abend, nachdem sie den vermeintlichen Bräutigam kennengelernt hatten, der sich als Braut entpuppte, fuhren sie einträchtig zum Flughafen, ohne sich zu verabschieden, und verweigerten so ihre Teilnahme an dem bevorstehenden Frevel.

»Du hattest recht, Mussja«, fauchte Sarifa, als ihr Sekretär sie informierte, dass ihre Verwandten allesamt zum Flughafen Schiphol aufgebrochen seien — »ich habe sie falsch eingeschätzt. Said hat mich vergöttert, als ich klein war, er ist fünfzehn Jahre älter als ich, er war für mich wie ein Vater. Besser als mein Vater. Ach, hol sie der Teufel!«

Sie zuckte die Achseln, ging in die nächstgelegene Homo-Bar und lud alle Anwesenden zu ihrer Hochzeit ein. Der Tisch für vierzig Personen füllte sich am nächsten Tag mit ihren wenigen Amsterdamer Bekannten und Wildfremden aus der Bar: Schwulen, Transvestiten und Individuen undefinierbaren Geschlechts, eher männlich als weiblich. Sie sahen wunderschön aus, beinahe bühnenreif, mit buschigen Federn und klirrendem Schmuck. Auch von ihnen gab es Fotos, allerdings nicht an der Wand, sondern in einem Album, das jedem gezeigt wurde, der sich für die gemeinsame Biographie von Mussja und Sarifa interessierte.

Während Sarifas Krankheit hatte Mussja stark abgenommen, nun ähnelte sie noch stärker als früher einem langhalsigen, bauchigen Krug. Sie aß kaum noch. An jenem Abend blickte sie in den Kühlschrank, er war voller Essen, doch Mussja wehte daraus nur eine ungenießbare Kälte an. Sie duschte und ging ins Bett. Sie schlief sofort ein, ohne jeden Gedanken und jede Vorahnung, die waren in ihr abgestorben, es existierten nur noch Sarifas tägliche Anordnungen, die sie gewissenhaft umsetzte.

Sie erwachte vom Klingeln des Telefons. Ihr Herz begann zu hämmern — ein so früher Anruf verhieß nichts Gutes. Sie griff nach dem Hörer. »Hallou!« Said, sie wusste es sofort. Er sagte, er sei schon in Moskau, werde um 8:20 Uhr abfliegen und drei Stunden später in Larnaka eintreffen. Sie sollten ihn abholen … Ja, ja, natürlich, wir holen Sie ab …

Sie rief Katja im Krankenhaus an. Die sagte, Sarifa sei im OP, zum Katheterwechsel, und den Sekretär habe sie angewiesen, gleich am Morgen zur Bank zu fahren.

»Wastunwastunwastun«, flüsterte Mussja mit ausgetrockneten Lippen. Sie war es seit langem nicht mehr gewohnt, Entscheidungen zu treffen, nicht einmal bei der Wahl ihrer Kleidung. Nun aber lag eine ungeheure Aufgabe vor ihr, die all ihren Kummer überschattete: Sie musste Said abholen, der sie hasste, sie musste selbst zum Flughafen fahren, und was sollte sie ihm sagen, was würde er sagen … und was sollte sie anziehen … Sarifa war im OP, Mussja konnte niemanden fragen. Said war schon auf dem Weg hierher … er war schon in der Luft, kam näher … diese aserbaidshanischen Männer … die waren noch schlimmer als die armenischen … Sie hatte Said nur ein einziges Mal gesehen, damals, als er nach Amsterdam gekommen war, kurz vor der Hochzeit, er hatte sie wütend angeblickt, war aufgestanden und mit Sarifas gesamter Sippe wieder verschwunden … schrecklich …

»Sag Sarifa, ich sitze schon im Auto. Ich fahre Said abholen.«

Mussja erkannte ihn sofort — er war grauhaarig, breit und ziemlich klein, aber dennoch attraktiv. Seine Nasenspitze war leicht abwärts gebogen, das Kinn wie bei Sarifa leicht aufwärts, und in der Mitte saß das gleiche Grübchen wie bei ihr. In seinem schwarzen Anzug und den Sandalen sah er so absurd aus, dass sich die Griechen nach ihm umsahen. Zudem war er mit Plastiktüten behängt und zog eine knallbunte Tasche auf Rädern hinter sich her, aus der eine riesige eingewickelte Rolle ragte. Als Mussja ihn entdeckte, hätte sie beinahe losgeheult, so sehr ähnelte er Sarifa. Allerdings hätte er dem Aussehen nach ihr Vater sein können.

Mussja ging auf ihn zu. »Guten Tag, Said, ich will Sie abholen. Sarifa hat mich geschickt.«

»Warum ist sie denn nicht selber gekommen?«

Mussja lächelte ihr schüchternes Lächeln.

»Ihr geht es nicht gut. Sie liegt im Krankenhaus. Wir fahren erst zu ihr, dann bringe ich Sie zu uns nach Hause oder ins Hotel, was Ihnen lieber ist … Warten Sie hier, mein Auto steht auf dem Parkplatz. In fünf Minuten bin ich bei Ihnen.«

Der BMW war zwar groß, sein Kofferraum allerdings bot wenig Platz. Sie verstauten Saids Tüten. Er klappte den Trolley zusammen und stopfte die riesige, in schmuddeliges Segeltuch gehüllte Rolle in den Kofferraum. Lange fuhren sie schweigend, schließlich fragte Said: »Was hat sie denn?«

»Krebs«, antwortete Mussja kurz.

»Das ist schlecht. Alle sterben sie an Krebs. Vater ist an Krebs gestorben, Vaters Vater auch. Und sein Vater am Magen. Wahrscheinlich war das auch Krebs, das wussten sie bloß damals nicht.«

Zwei Stunden später betrat Said das Krankenzimmer, in das Sarifa gerade aus dem OP zurückgekehrt war. Ihre natürliche Bräune verlieh ihrem gelb gewordenen Gesicht einen Walnusston. Sie öffnete die Augen und erblickte ihren Bruder. Seine Augen waren starr vor Schreck.

»Ah, du bist da. Geht alle raus. Ich muss mit ihm reden.«

Mussja, Katja und die Krankenschwester gingen nacheinander hinaus und schlossen die Tür. Mussja blieb davor stehen und lauschte, konnte aber nichts hören — die beiden sprachen zu leise.

Anschließend fuhr Mussja den versteinerten Said ins Hotel. Zu ihnen nach Hause wollte er nicht, und sie atmete erleichtert auf.

Am nächsten Abend landete Shenja Raichman auf dem Flughafen Larnaka. Sie mietete einen Wagen und fuhr zum Haus der beiden, das sie von früheren Besuchen kannte. Die Haushälterin Katja nahm sie in Empfang und rief Mussja im Krankenhaus an. Die fragte Sarifa, ob Shenja gleich ins Krankenhaus kommen solle, und Sarifa beorderte Shenja sofort zu sich. Also fuhr Shenja hin.

Wieder schickte Sarifa alle hinaus.

Als sie mit Shenja allein war, sagte sie: »Gut, dass du gekommen bist, ich habe drei wichtige Fragen an dich.«

Shenja, die auf den ersten Blick erfasste, wie es stand, schaffte es nicht, in ihrer üblichen Weise mit einem albernen Scherz zu reagieren. Sie setzte sich zu Sarifa und stellte ihr die unangebrachte, ja, dumme Frage: »Wie geht es dir?«

»Das siehst du doch, oder? Ich krepiere. Aus, Sense. Und deshalb habe ich ein paar Fragen an dich. Du bist unsere klügste Freundin …«

Shenja erschrak — nicht, weil Sarifa im Sterben lag, und nicht, weil sie selbst das wusste. Sie hatten einmal zusammengewohnt, in derselben Wohnung in Marjina Roschtscha, damals hatte Sarifa ein Zimmer bei Shenjas Tante gemietet, ihr erstes Moskauer Zuhause, und sie kannten einander sehr gut. Es geht bestimmt um Geld, um Besitz, dachte Shenja erschrocken. Irgendeine komplizierte Aufteilung, eine Manipulation, eine Trickserei, für die Sarifa großes Talent hatte und gegen die Shenja lebhafte Abneigung empfand.

Auf keinen Fall, entschied Shenja in Gedanken. Ich werde sagen, sie soll ein Testament schreiben, ja, das werde ich ihr sagen … Nervös wartete sie auf die Frage.

Sarifa hob ein wenig den Kopf.

»Sag mal, Shenja, was meinst du, was bedeutet Intelligenzia?«

Shenja atmete die kühle klimatisierte Luft ein und wieder aus. Ist sie verrückt geworden? Oder habe ich was falsch verstanden?

»Die Intelligenzia?«, fragte Shenja zurück, unsicher, ob sie sich verhört hatte, aber auch ein wenig erleichtert.

Sarifa schloss die Augen, und nun war erkennbar, wie tief sie eingesunken waren. Der Tod hatte Sarifa bereits geschminkt — schwarze Schatten unter den Augen, die aufgeworfenen Lippen dunkel und ausgetrocknet, die Schläfen eingefallen … Shenja sah, dass Sarifa müde war, sehr müde. Als sie die Augen schloss und verstummte, wirkte sie wie tot.

»Weißt du, ich bin nicht sicher, ob die Intelligenzia überhaupt noch existiert. Aber wenn es sie mal gab, denke ich, lässt sie sich am ehesten definieren als Schicht gebildeter Menschen, deren Antrieb nicht Eigennutz ist, sondern das Gemeinwohl.«

Über Sarifas Gesicht huschte ein Schatten von Unzufriedenheit.

»Nein, das denke ich nicht.«

Dann öffnete sie die Augen und fragte, im Ton eines Lehrers, der einen Schüler prüft: »Sag mir, was unterscheidet Armenier und Aserbaishaner? Also, nicht, was die Leute auf der Straße dazu sagen, nein, wissenschaftlich. Du bist doch Genetikerin.«

Shenja, die nicht gläubig war und taub für religiöse Konstrukte jeder Art, betete zum ersten Mal im Leben: Hilf mir, Herr! Hilf mir, ich kann nicht …

»Meinst du das ernst?«

»Ja. Vollkommen ernst. Ich wollte dich das schon lange fragen, aber dafür war nie Zeit.«

»Dann hör zu. Ich halte dir einen kleinen Vortrag … Inzwischen gilt es als erwiesen, dass die kognitiven und mentalen Eigenschaften genetisch programmiert sind. Doch die individuellen Besonderheiten sind recht breit gefächert und werden von Genvarianten bestimmt. Und die Häufigkeit bestimmter Genvarianten in einer Population …«

»Einfacher«, bat Sarifa ganz leise.

»Ich versuch’s. Die häufigsten ›Verhaltens‹-Allele, also Varianten ein und desselben Gens in einer Population, bestimmen das, was man als Nationalcharakter bezeichnet.«

»Noch einfacher bitte. Ich möchte das unbedingt verstehen.«

Shenja verstummte und flehte mit der ganzen Kraft eines in die Enge getriebenen Menschen den Himmel an.

»Also, ein Beispiel: Erst vor kurzem wurde entdeckt, dass es Gene gibt, die Kampfeslust und Friedfertigkeit bestimmen. Am friedfertigsten sind demnach angeblich die Angehörigen des Stammes San in Südafrika, am kampfeslustigsten die Yanomami-Indianer in Südamerika. In einem Gen der Yanomami findet sich, anders als bei den San, die Mutation 7R, und die macht sie so kampfeslustig und aggressiv …«

»Shenja, du sollst mir von Armeniern und Aserbaidshanern erzählen … nicht von Indianern.«

Die kühle Luft aus der Klimaanlage traf direkt auf Shenjas Hals, dennoch wurde ihr plötzlich heiß.

»Weißt du, neben den rein genetischen Faktoren gibt es noch ethnografische und historische, doch das, was man als ›Nationalcharakter‹ oder als ethnopsychologische Besonderheiten bezeichnet, wird von den in einer Population am häufigsten anzutreffenden ›Verhaltens‹-Allelen bestimmt …«

»Ach, verdammt!«, schnaubte Sarifa, und ihre Stimme klang fast energisch, »erklär mir, warum kann man Armenier und Aserbaidshaner nicht zusammen an einen Tisch setzen?«

»Das ist keine Frage der Genetik, das ist ein soziokulturelles Problem, denke ich …«

»Auch darauf hast du also keine vernünftige Antwort. Ungenügend, setzen. Dann sag mir ganz ehrlich: Bin ich ein guter Mensch?«

Shenja überlegte einen Augenblick: Sie liebte Sarifa, aber sie wusste, dass Sarifa sehr verschieden sein konnte, manchmal war sie ein guter Mensch, ein sehr guter sogar, und manchmal … oje, oje!

Sarifa lag da, breit und flach, die Augen geschlossen, und wartete auf eine Antwort.

»Du bist ein sehr guter Mensch«, sagte Shenja leise und dachte: Viele Menschen auf der Welt würden da widersprechen.

»Na dann, geh jetzt.« Sarifa öffnete die Augen und fand mühsam Shenjas Blick. »Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie kaum hörbar, und ihre Stimme klang unzufrieden.

Shenja trat hinaus in den Flur, winkte, und Mussja, Katja und die private Krankenschwester gingen im Gänsemarsch und auf Zehenspitzen wieder ins Zimmer. Die Schwester schaute auf den Monitor an der Wand und berührte Sarifas Hand. Sie lag schlaff da und reagierte nicht. Sarifa war bewusstlos.

Shenja weinte draußen auf dem Flur.

Sarifa starb noch in dieser Nacht. Mussja saß bis zum letzten Augenblick bei ihr. Zusammen mit einem Arzt, der mehr den Monitor ansah als die sterbende Patientin. Irgendwann lief die schwach zuckende Linie in einer Geraden aus, und Sarifa war fort.

Mussja weinte nicht. Sie saß bis zum Morgen bei Sarifa und sagte ihr alles, was sie in den siebzehn Jahren ihres Zusammenlebens nicht hatte sagen können. Am Morgen ließ sie sich nach Hause fahren. Sie waren kaum angekommen, als die armenische Hexe anrief, die für den Seelentausch hatte sorgen sollen. Ihre übernatürlichen Informationskanäle hatten ihr Sarifas Tod gemeldet.

»Hör mal, Anahid«, sagte die Hexe Margarita, die Einzige, die Mussja beim alten Namen nannte, »wir haben keine Erlaubnis bekommen für das, worum du uns gebeten hast. Dort stand der Ablauf fest. Ruf mich in einer Woche an, dann sage ich dir etwas Wichtiges. Nicht jetzt. Und du sollst sie christlich begraben lassen.«

»Wie — christlich? Sie ist doch nicht getauft. Die sind doch Moslems.«

»Das weiß ich nicht. So wurde es mir gesagt. Ich übermittle es nur. Dass ein Trauergottesdienst abgehalten werden soll.«

Was Mussja weiter tun musste, dafür gab es Anweisungen in einem Umschlag, auf dem in Sarifas großer Schrift stand: »Nach meinem Tod öffnen«. Mussja öffnete ihn, las die Anweisungen und ging an deren Umsetzung. Sie nahm aus dem Kleiderschrank einen Bügel, auf den Sarifa vor ihrem letzten Krankenhausaufenthalt ihr Beerdigungskostüm gehängt hatte. Sie hatte es während ihrer letzten Italienreise bei einer angesagten Schneiderin in Mailand anfertigen lassen. Es war weiß mit üppiger Goldstickerei an Kragen und Ärmeln, dazu ein goldfarbener Schal und goldfarbene, hinten offene Schuhe. Alles nagelneu, noch nie getragen, wie es sich gehört. In einem kleinen Beutel, der ebenfalls an dem Bügel hing, lag weiße Leinenunterwäsche.

Weiter stand da etwas von einem Teppich, der, wenn der Bruder ihn mitgebracht habe, bei der Trauerfeier über den Sarg gelegt werden solle. Und dass die Trauerfeier bei ihnen zu Hause stattfinden solle. Und in welches Restaurant sie nach der Beerdigung gehen sollten. Und dass sie verbrannt werden und die Asche später über dem Meer verstreut werden solle. Und noch etwas von einem Testament, in dem alles aufgelistet und festgelegt sei, und wo es liege.

Nur die Anweisung der Hexe wegen des Trauergottesdienstes verunsicherte Mussja. Fragen konnte sie niemanden, und etwas selbst zu entscheiden, hatte sie längst verlernt. Sie stellte diese Frage in Gedanken Sarifa, erhielt jedoch keine Antwort.

Sie will es nicht, schloss Mussja.

Am nächsten Morgen sehr früh wurde der Sarg nach Hause gebracht.

Mussja, die bereits die dritte Nacht nicht geschlafen hatte, setzte sich in einen Sessel im Wohnzimmer, vor den geschlossenen Sarg, und schlief ein.

Der Abschied war für zehn Uhr vormittags angesetzt. Shenja verteilte seit dem frühen Morgen im ganzen Haus Blumen, huschte herum wie ein Schatten.

Um acht kam Mussjas Neffe Aschot aus London, ein schmächtiger Orientale mit großer mathematischer Begabung und geringem Durchsetzungsvermögen — Sarifa hatte ihn von klein auf unterstützt, und nun war er ein etwas schwerfälliger, aber zuverlässiger Topmanager.

Mussja umarmte ihren Neffen. »Danke, dass du gekommen bist, Aschot.«

»Was denn sonst? Ich verdanke ihr alles.«

Unser anständiger Junge, dachte Mussja. Weinen konnte sie noch nicht.

Um neun kam Said aus dem Hotel, mitsamt der riesigen Rolle. Sie schnitten die Hülle auf und breiteten einen Karabach-Teppich auf dem Boden aus, den ihr Urgroßvater oder der Vater des Urgroßvaters geknüpft hatte — in der alten Zeit waren alle Männer in ihrer Familie Teppichknüpfer in Schuscha gewesen. Sie packten den ziemlich schweren Teppich an den vier Ecken, hoben ihn hoch und legten ihn über den Sarg. Da entdeckte Mussja den Drachen, von dem Sarifa bei ihrem Telefonat mit Said gesprochen hatte.

Er war nicht allein, dieser Drache, er war in immerwährendem tödlichem Kampf mit Phönix vereint. Auf dem rotblauen Rand befehdeten sich die Ecken und scharfen Windungen von Ornamenten, in der Mitte war ein magerer Drache erkennbar, zu einem Ring verschlungen mit einem heiligen Vogel, Phönix oder Simorgh. Dieser Ring war gewissermaßen eine für alle Zeit erstarrte Erinnerung an einen Kampf, in dem niemand siegen kann. Die Hände des Teppichknüpfers hatten die scharfen Krallen und Zähne für die Ewigkeit festgehalten, bis die Farben verbleichen und die Wolle verrotten, bis die Zeit alles zu Asche zerfallen lassen würde — die Erinnerung an die Arbeit des Künstlers, an den Widerstreit der Kräfte von Natur und Mythos, an die Feindschaft schwacher Menschen, die tiefer saß als in diesem handgeknüpften Bild, im Bewusstsein zweier benachbarter Völker, von denen eines ein grimmiger Drache war und das andere ein heiliger Vogel oder umgekehrt, eines ein heiliger Drache und das andere ein grimmiger Vogel … und wer von beiden der Krieger war und wer der Zauberer, wer das Böse und wer das Gute, war nicht zu unterscheiden, denn beide waren zu einem starren, unauflösbaren Ring miteinander verschlungen.

Die Trauergäste trafen ein. Shenja geleitete sie ins Zimmer: Bekannte von Sarifa, Nachbarn, sogar zwei Londoner Klienten.

Mussja sah diesen Drachen, sah ihn, stürzte zum Sarg, breitete die Arme über dem Teppich aus und schrie. »Aaaa…«

Dieser hohe, langgezogene Ton bahnte endlich dem Strom den Weg, der sich in ihr hinter einem unerklärlichen Damm gestaut hatte, und brach nun mit heißen Tränen aus ihr heraus. Sie sang oder weinte … niemand verstand die armenischen Worte, die sie weinte, sang … Niemand wird mich trösten, niemand wird mir beistehen, mein Leben hat mich verlassen …

In ihr schlummerte die gleiche uralte Kraft, die der vor langer Zeit verstorbene aserbaidshanische Großvater dargestellt, geknüpft hatte, sie verschmolzen zu einem Ganzen — und nun weinten alle im Raum.

Die Sonne schien grell zum Fenster herein, der Lärm der Brandung stieg vom Meer herauf, zwei liebende Seelen nahmen Abschied voneinander, und Said, der am Sarg stand und angereist war, um sich von seiner geliebten und von ihm verfluchten Schwester zu verabschieden, weinte ebenfalls. Wer hier Ehemann war und wer Ehefrau — was spielte das für eine Rolle?

Der letzte Schrei verharrte auf einem hohen, klingenden Ton. Said trat zu Mussja, umfasste ihre Schultern. »Weine nicht, Mädchen …«

Drache und Phönix erstarrten in ihrem ewigen unauflösbaren Ring.

Nach einer Woche bekam Mussja die Urne und verstreute die Asche über dem Meer. Dann packte sie einen kleinen Koffer — Sarifas Handkoffer, mit dem sie in ihren juristischen Angelegenheiten in die Hauptstädte Europas gereist war — und flog nach Schuscha, zur Hexe Margarita, um das Wichtige zu erfahren, von dem die Hexe gesprochen hatte. So sehr war sie daran gewöhnt, dass jemand sie anleitete.

Alissa kauft ihren Tod

Für Tanja Rachmanowa

Als sie ihr Leben perfekt eingerichtet hatte, kam das Alter. Das letzte kostspielige Detail war die kleine Badewanne, die sie nach langem Suchen und Überlegen hatte installieren lassen. Manche hatten ihr zu einer Duschkabine geraten, doch Alissa war eine Wanne mit einer kleinen Tür entschieden lieber: Was war schön daran, wenn es einem auf den Kopf regnete? Im warmen Wasser zu liegen, ein Gummikissen unterm Kopf, und mit den aufgeweichten Füßen zwei angenehm stachlige Plastikbälle hin und her zu bewegen, das war doch etwas ganz anderes.

Alissa gehörte zu den seltenen Menschen, die mit absoluter Sicherheit wissen, was sie wollen und was auf gar keinen Fall.

Ihr mütterlicherseits gemischtes Blut, halb baltisch, halb polnisch, unterdrückte seit ihrer frühen Jugend jeden Anfall von Leidenschaft, und die Angst, sich einer fremden Macht unterzuordnen, war stärker als jede andere Angst, die Frauen üblicherweise haben: Angst vor Einsamkeit, vor Kinderlosigkeit oder vor Armut. Ihre Mutter Marta hatte noch vor dem Krieg einen Offizier geheiratet und in dieser Ehe Alissa geboren, dann hatte sie ihren General begraben müssen und sich ihr ganzes noch verbliebenes junges Leben immer wieder leidenschaftlich verliebt und intensiv gelitten, bis hin zur Einweisung in die Psychiatrie. Jedes Mal war sie bereit, ihrem jeweiligen Geliebten alles zu Füßen zu legen, was sie besaß, einschließlich der von ihrem Mann geerbten Generalswohnung.

Nach dem Abschied von ihrem letzten Geliebten verübte Marta auf geschmacklose, eine literarische Vorlage kopierende Weise Selbstmord: Sie ging noch einmal zum Friseur und zur Maniküre und warf sich dann unter einen Zug. Diese Wahnsinnstat der Mutter lähmte ein für alle Mal Alissas Fähigkeit zu sinn- und fruchtloser Selbstaufopferung.

Zu Martas Beerdigung kamen einige ihrer ehemaligen Liebhaber, auch der letzte, der sie verlassen und ihr damit den Todesstoß versetzt hatte. Sie häuften einen Berg Blumen auf den Sarg, und die zwanzigjährige Alissa mit ihren unscheinbaren, unterentwickelten Reizen verachtete die übertriebenen Gefühle der Mutter, schämte sich dafür und schwor, niemals zu werden wie sie, ein Spielzeug dieser animalischen Geschöpfe. Und daran hielt sie sich. Keine bleischwere Nonnenhaftigkeit, sondern hin und wieder belanglose Affären, so dass sie nicht weniger Lebenserfahrung besaß als andere Frauen ihres Alters.

Sie war technische Zeichnerin und begeistert von ihrer großartigen Arbeit, denn sie wusste, dass niemand in ihrem Konstruktionsbüro so perfekt Linien zeichnete. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts gab es plötzlich Computer, selbst die besten technischen Zeichner mussten den Bleistift aus der Hand legen und sich qualvoll den Umgang mit einem Programm aneignen, das präzise Befehle ausführte wie »Stift anheben, Stift senken, versetzen auf Punkt …«, doch just da ging Alissa in Rente.

Über zehn Jahre währte die glücklichste Zeit ihres Lebens. Ihre Rente war nicht hoch, doch Alissa hatte einen wunderbaren Zuverdienst gefunden: Dreimal in der Woche betreute sie Kinder, ging mit ihnen von zehn bis eins, also bis zum Mittag, in den Park und war danach herrlich frei. Manchmal besuchte sie Theater, öfter Konzerte, im Konservatorium, schloss dort interessante Bekanntschaften und lebte zu ihrem Vergnügen, bis sie eines Tages ganz unvermittelt in ihrer eigenen Wohnung, neben ihrer eigenen Couch das Bewusstsein verlor. Als sie nach einer Weile wieder zu sich kam, wunderte sie sich über ihr merkwürdiges Blickfeld: Sie sah eine zerschlagene Tasse in einer dünnen Pfütze, die Beine eines umgekippten Stuhls und den flauschigen rotblauen Teppich direkt vor ihrem Gesicht. Mühelos stand sie auf. Ihr Arm tat weh. Sie überlegte und rief einen Arzt. Der maß ihren Blutdruck und verschrieb Tabletten. Dann war alles anscheinend wie zuvor. Doch es blieb nicht ohne Folge: Von diesem Tag an machte sich Alissa Gedanken über den Tod.

Sie hatte praktisch keine Verwandten — die polnisch-litauische Sippe war aus Abneigung gegen die Sowjetmacht, die der verstorbene General verkörperte, längst verschwunden. Die Sippe des Generals wiederum mochte weder Marta noch ihre Tochter Alissa — warum, hatten alle längst vergessen.

Alissa war vierundsechzig. Abgesehen von der einmaligen Ohnmacht, dieser überraschenden Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens, war sie gesund. Doch plötzlich fragte sie sich: Wenn sie nun krank wurde? Bettlägerig? Auf wen konnte sie zählen?

Alissa konnte nicht mehr schlafen. Nach mehreren unruhigen Nächten fand sie eine geniale Lösung. Ganz einfach: Wenn die Krankheiten kamen und sie es nicht mehr aushielt, konnte sie sich vergiften. Sie musste sich rechtzeitig ein wirksames Gift beschaffen, am besten ein Schlafmittel, nach dessen Einnahme sie nicht mehr aufwachen würde. Nichts lächerlich Demonstratives, wie es ihre Mutter damals veranstaltet hatte. Eine schöne Anna Karenina! Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Und so auch das Unangenehme am Sterben umgehen.

Als Alissa diese Idee gekommen war, sprang sie aus dem Bett und suchte in der Tischschublade nach einem bestimmten Döschen — einem kleinen Porzellandöschen für Puder oder Ähnliches, noch von ihrer Mutter. Darin könnte sie das Mittel aufbewahren, neben ihrem Bett, und es einnehmen, wenn es so weit war.

Nicht gleich morgen, nein. Aber jetzt sollte sie darüber nachdenken. Dafür musste sie zunächst einen vertrauenswürdigen Arzt finden, der ihr das Mittel in der nötigen Menge verschrieb. Keine leichte Aufgabe, aber lösbar.

Nach ihrer Ohnmacht lebte Alissa weiter wie zuvor und ging täglich mit Arsjuscha und Galotschka; lieben Kindern aus dem Nachbaraufgang, in den Park; auch ihre Mutter war keine primitive Person, sie war Musiklehrerin, vormittags gab sie Stunden, nachmittags unterrichtete sie ihre eigenen Kinder.

Abends gönnte sich Alissa nach wie vor ihre Zerstreuungen, verlor aber auch die Suche nach einem guten Arzt nicht aus den Augen. Bei einem Gespräch über dies und das mit einer ihrer Theaterbekannten erfuhr sie, dass deren Cousin Arzt war. Ein Jude übrigens. Ah ja. Vielleicht erzählte man über die nicht ohne Grund alles Mögliche — Saboteure, Giftmischer … Kurz, Alissa bat ihre Bekannte, sie mit dem Cousin zusammenzubringen, für eine ärztliche Beratung.

Eine Woche darauf erschien der Cousin bei Alissa — Alexander Jefimowitsch. Ein trauriger dünner Mann mit fragendem Gesichtsausdruck. Er dachte, er sei zu einer Privatsprechstunde gebeten worden, doch Alissa dirigierte ihn an den Tisch und servierte Tee. Er wunderte sich ein wenig, aber die Patientin war kultiviert und sehr attraktiv. Solche Frauen hatte er früher nie in Betracht gezogen. Eigentlich zog er schon seit langem überhaupt keine Frauen mehr in Betracht. Patientinnen beurteilte er ausschließlich aus medizinischer Sicht. Er war seit drei Jahren Witwer und litt unter der Einsamkeit, wollte jedoch die Andeutungen seiner Familie über die Schädlichkeit der Einsamkeit nicht hören.

Der Tisch war vornehm gedeckt, auf einem grauen Leintuch standen dünne Porzellantassen, dazu kleine ausländische Pralinen, kein mächtiges Mischka-Konfekt. Ebenso wie die Tassen und die Pralinen war auch Alissa Fjodorowna selbst elegant, mit ihrem ernsten schmalen Mund und dem hellen, glatt hochgesteckten Haar. Sie schenkte Tee ein und erläuterte ihm ohne Umschweife ihr Problem: Ich brauche ein starkes Schlafmittel, und zwar in einer Menge, nach deren Einnahme ich nicht mehr aufwache.

Alexander Jefimowitsch überlegte eine Weile, trank einen Schluck Tee und fragte: »Haben Sie eine onkologische Erkrankung?«

»Nein. Ich bin vollkommen gesund. Die Sache ist die: Ich möchte gesund sterben. Sobald ich diese Entscheidung treffe. Es gibt keine Angehörigen, die mich pflegen könnten, und ich will auf keinen Fall in irgendeinem Krankenhaus liegen, leiden und unter mich machen. Das Schlafmittel brauche ich, damit ich es einnehmen kann, sobald ich mich dazu entschlossen habe. Ich will mir einfach einen leichten Tod kaufen. Halten Sie das für verwerflich?«

»Wie alt sind Sie?«, stellte der Doktor nach einer langen Pause eine ganz medizinische Frage.

»Vierundsechzig.«

»Sie sehen großartig aus. Niemand würde sie älter schätzen als fünfzig«, bemerkte er.

»Ich weiß. Aber ich habe Sie nicht eingeladen, damit Sie mir Komplimente machen. Sagen Sie mir geradeheraus, ob Sie mir das nötige Medikament in ausreichender Menge beschaffen können.«

Der Doktor nahm die Brille ab, legte sie vor sich auf den Tisch und rieb sich die Augen.

»Ich muss darüber nachdenken. Sie wissen ja, Barbiturate sind prinzipiell verschreibungspflichtig … So etwas ist strafbar.«

»Und in diesem Fall gut bezahlt«, sagte Alissa Fjodorowna trocken.

»Ich bin Arzt, und das ist für mich in erster Linie eine moralische Frage. Ich gestehe, einem solchen Ansinnen begegne ich zum ersten Mal.«