Jakobsleiter - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Jakobsleiter E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Nach der Revolution ziehen Jakow und Marussja mit ihrer kleinen Familie nach Moskau. Während Marussja der neuen Regierung vertraut, erkennt Jakow bald die Missstände. Unter Stalin wird er nach Sibirien verbannt. Seine Frau lässt sich scheiden, auch der Sohn wendet sich von ihm ab, und seine Enkelin Nora sieht er nur einmal als Kind. Sie, die ein bewegtes Leben führen wird – Bühnenbildnerin, alleinerziehend, georgische Liebschaft – lernt ihren Großvater erst aus seinen Liebesbriefen an die Großmutter kennen. Angeregt durch den Briefwechsel ihrer eigenen Großeltern hat Ljudmila Ulitzkaja einen Roman geschrieben, der die Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert aus unmittelbarer Nähe erzählt.

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Über das Buch

Nach der Revolution ziehen Jakow und Marussja mit ihrem kleinen Sohn nach Moskau. Während Marussja der neuen Sowjetregierung vertraut, erkennt Jakow als Wirtschaftswissenschaftler bald die Missstände. Als angeblicher Volksfeind wird er in die Verbannung geschickt. Während er in Sibirien ist, lässt sich seine Frau scheiden. Auch sein Sohn Genrich wendet sich von ihm ab, und seine Enkelin Nora sieht er nur einmal als Kind. Sie, die als Erwachsene ein bewegtes Leben führt – unregelmäßige Aufträge als Bühnenbildnerin, ein schwieriger Sohn aus früher Ehe, eine Liebschaft mit einem georgischen Regisseur –, lernt ihren Großvater erst aus seinen Liebesbriefen an die Großmutter wirklich kennen. Der Roman Jakobsleiter besteht aus zwei großen Erzählsträngen. Der eine gibt Jakow Ossetzkis Geschichte zwischen 1910 und seinem Tod 1955 vorwiegend in Briefen und Tagebuchnotizen wieder, der andere erzählt von Noras Leben. Aus unmittelbarer Nähe schildert Ljudmila Ulitzkaja so die dramatischen Schicksale einer Familie, die unlösbar verknüpft sind mit der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Familiengeschichte, Gesellschaftsroman und Panorama eines Jahrhunderts zugleich.

Hanser E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

Jakobsleiter

Roman

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Erstes KapitelDie Weidentruhe (1975)

Zweites KapitelDie Uhrmacherwerkstatt in der Mariinsko-Blagoweschtschenskaja-Straße (1905–1907)

Drittes KapitelAus der Truhe. Tagebuch von Jakow Ossetzki (1910)

Viertes KapitelDer abgesetzte Tschechow (1974)

Fünftes KapitelEin neues Projekt (1974–1975)

Sechstes KapitelKlassenkameraden (1955–1963)

Siebtes KapitelAus der Truhe. Tagebuch von Jakow Ossetzki (1911)

Achtes KapitelDas Dickicht der Größen (1958–1974)

Neuntes KapitelEnkelschau (1975–1976)

Zehntes KapitelDie Fröbelianerin (1907–1910)

Elftes KapitelDer besondere Jurik. Die Yahoos und die Houyhnhnms (1976–1981)

Zwölftes KapitelDas wichtigste Jahr (1911)

Dreizehntes KapitelDie weibliche Linie (1975–1980)

Vierzehntes KapitelDer unnachgiebige Mensch (1980–1981)

Fünfzehntes KapitelDie heimliche Ehe (1911)

Sechzehntes KapitelAus der Truhe. Jakows Tagebücher (1911)

Siebzehntes KapitelMarias Briefe (1911)

Achtzehntes KapitelErste Klasse. Fingernägel (1982)

Neunzehntes KapitelAus der Truhe. Jakows Briefe. Der Freiwillige Ossetzki (1911–1912)

Zwanzigstes KapitelEin glückliches Jahr (1985)

Einundzwanzigstes KapitelAus der Truhe. Briefe vom und in den Ural(November 1912 – Mai 1913)

Zweiundzwanzigstes KapitelEine neue Richtung (1976–1982)

Dreiundzwanzigstes KapitelCarmen (1985)

Vierundzwanzigstes KapitelDie brillantene Tür (1986)

Fünfundzwanzigstes KapitelAus der Truhe. Briefwechsel zwischen Jakow und Maria (Mai 1913 – Januar 1914)

Sechsundzwanzigstes KapitelNora in Amerika. Begegnung mit Vitja und Martha (1987)

Siebenundzwanzigstes KapitelDie linke Hand (1988–1989)

Achtundzwanzigstes KapitelDie Geburt von Genrich (1916)

Neunundzwanzigstes KapitelExodus-Bewegungen (1988–1989)

Dreißigstes KapitelEin Boot ans andere Ufer (1988–1991)

Einunddreißigstes KapitelAus der Truhe. Briefe von Jakow an Maria (1916)

Zweiunddreißigstes KapitelKiew – Moskau (1917–1925)

Dreiunddreißigstes KapitelJurik in Amerika (1991–2000)

Vierunddreißigstes KapitelAus der Truhe. Briefe von Maria an Jakow aus Sudak (Juli – August 1925)

Fünfunddreißigstes KapitelLady Macbeth von Mzensk (1999–2000)

Sechsunddreißigstes KapitelDer letzte glückliche Sommer (1925–1931)

Siebenunddreißigstes KapitelErste Verbannung. Stalingrader Traktorenwerk (1931–1933)

Achtunddreißigstes KapitelJuriks Rückkehr (Januar 2000)

Neununddreißigstes KapitelAus der Truhe. Briefe von Jakow aus Bijsk (1934–1936)

Vierzigstes KapitelDer fünfte Versuch (2000–2009)

Einundvierzigstes KapitelFamiliengeheimnisse (1935–1937)

Zweiundvierzigstes KapitelKrieg. Genrich und Amalia (1941–1943)

Dreiundvierzigstes KapitelVariationen zum Thema Der Fiedler auf dem Dach (1992)

Vierundvierzigstes KapitelAn der Seite von Michoels (1945–1948)

Fünfundvierzigstes KapitelBegegnung in Moskau (2003)

Sechsundvierzigstes KapitelSchattentheater (2010)

Siebenundvierzigstes KapitelJakows Befreiung (1953–1955)

Achtundvierzigstes KapitelDie Geburt eines neuen Jakow (2011)

Neunundvierzigstes KapitelDas Archiv (2011)

Epilog

Anmerkungen der Übersetzerin

… des Daseins langer Geisterschatten scheint hinter meiner Seite auf wie Wolken von der Zukunft her – und meine Zeile endet nie.

Vladimir Nabokov

Erstes KapitelDie Weidentruhe (1975)

Der Kleine war vom ersten Augenblick an schön – er hatte ein deutliches Grübchen am Kinn, und sein Köpfchen schien durch die Hand eines guten Friseurs gegangen zu sein: Die Haare waren kurz wie die seiner Mutter, nur ein wenig heller. Nora liebte ihn sofort, obgleich sie vorher ihre Zweifel gehabt hatte. Sie war zweiunddreißig und glaubte, Menschen nur noch lieben zu können, wenn sie es verdienten, nicht einfach so, nur weil sie mit ihr verwandt waren. Der Kleine rechtfertigte die unmotivierte Liebe vollkommen – er schlief gut, schrie nicht, trank fleißig und betrachtete interessiert seine geballten Fäustchen. Disziplin zeigte er nicht – er schlief mal zwei, mal sechs Stunden hintereinander, dann wachte er auf, bewegte schmatzend die Lippen, und Nora legte ihn sofort an die Brust. Auch sie hielt nichts von Disziplin, und sie registrierte diese Gemeinsamkeit.

Ihre Brüste hatten eine märchenhafte Verwandlung erfahren. Schon während der Schwangerschaft ansehnlich angeschwollen, waren die einst flachen Schalen, aus denen nur die Nippel herausragten, nun, da reichlich Milch einschoss, zu etwas sehr Gewichtigem geworden. Nora betrachtete sie mit Respekt und empfand diese Verwandlung als merkwürdig angenehm. Obwohl sie körperlich eher lästig und unbequem war, vor allem das ständige Druckgefühl. Das Stillen selbst weckte verdächtig wohlige Empfindungen, die mit dem eigentlichen Vorgang nichts zu tun hatten. Inzwischen war der Kleine bereits drei Monate auf der Welt und hieß nicht mehr »Baby«, sondern Jurik.

Er bekam das einstige Zimmer von Noras Mutter, das unbewohnt war, seit Amalia Alexandrowna endgültig zu ihrem Mann Andrej Iwanowitsch aufs Land gezogen war. Zwei Wochen vor der Entbindung hatte Nora das Zimmer rasch gestrichen, und nun schlief Jurik in dem weißen Kinderbett, das im zweiten Akt der Drei Schwestern als Requisite hatte dienen sollen. Die Aufführung war verboten worden, was inzwischen niemanden mehr interessierte, doch in der vorigen Spielzeit hatte der Skandal das ganze Theater erschüttert. Nora war die Ausstatterin gewesen, Tengis Kusiani der Regisseur.

Vor seinem Abflug nach Tbilissi hatte Tengis gesagt, er werde nie wieder nach Moskau zurückkehren. Ein Jahr später rief er Nora an und erzählte ihr von einem Angebot aus Barnaul, er solle Ostrowskis Mädchen ohne Mitgift inszenieren, er überlege noch. Am Ende des Gesprächs forderte er Nora auf, ihn als Ausstatterin zu begleiten. Er schien nicht zu wissen, dass sie ein Kind bekommen hatte. Oder tat er nur so? Erstaunlich – sollte der Buschfunk diesmal versagt haben? Die Theaterwelt war ein Misthaufen, in dem stets im Privatleben gewühlt, jede noch so nichtige Kleinigkeit bekannt wurde; und wer wen liebte, wer bei einem Gastspiel in der Provinz mit wem zusammen auf den Hotellaken gelandet war und welche Schauspielerin wessen Kind abgetrieben hatte – solche Dinge verbreiteten sich erst recht im Nu.

Nora betraf das kaum, sie war kein Star. Sie hatte lediglich ein glänzendes Fiasko hingelegt. Und ein Kind geboren. Die Theaterwelt fragte sich im Stillen: Von wem wohl? Denn natürlich wussten alle über ihr Verhältnis mit dem Regisseur Bescheid. Noras Mann war nicht am Theater, er war »von draußen«, und sie selbst gerade mal eine junge Bühnenbildnerin, deren Karriere erst begann. Und womöglich schon beendet war. Deshalb zeigte der Theaterklüngel kein besonderes Interesse an ihr, es gab kein Getuschel hinter ihrem Rücken und keine verstohlenen Blicke. Aber auch das war nun ohne Belang, denn Nora hatte im Theater gekündigt.

Jurik war seit acht Uhr wach. Um neun hatte die Krankenschwester Taissija kommen sollen, um ihn zu impfen, doch es war schon nach zehn, und sie ließ sich noch immer nicht blicken. Nora ging ins Bad, Wäsche waschen. Sie hätte das Klingeln fast überhört, stürzte zur Tür und öffnete. Taissija plapperte gleich auf der Schwelle los. Sie war nicht nur Krankenschwester in der Kinderarztpraxis, sie empfand ihre Arbeit als Mission: Sie erzog die unverständigen jungen Mütter, weihte sie in das heilige Mysterium der Kinderaufzucht ein und vermittelte ihnen nebenbei jahrhundertealte Frauenweisheiten, belehrte sie über Ehe und Familie, war eine Expertin im Umgang mit Schwiegermüttern und dem übrigen Anhang der Ehemänner, einschließlich ihrer Exfrauen. Sie war eine fröhliche und eifrige Tratscherin und überzeugt, dass all die Kleinen ohne ihre Betreuung – »Betreuungsschwester« war ihre offizielle Bezeichnung – nicht gut gedeihen würden. Sie akzeptierte keine anderen Methoden als ihre eigenen. Fiel der Name Doktor Spock, geriet Taissija außer sich.

Von allen »Mamas« mochte sie solche wie Nora am liebsten – Erstgebärende, ohne Ehemann, ohne mütterlichen Beistand. Nora war ein Idealfall: Geschwächt von der Entbindung, schonte sie ihre Kräfte fürs Überleben und wehrte sich nicht gegen Taissijas Belehrungen. Zudem hatte sie bei ihrer Arbeit am Theater, wo sich die Schauspieler aus Neid und Eifersucht ständig zankten wie kleine Kinder, gelernt, sich jeden Blödsinn mit gut gespielter Aufmerksamkeit anzuhören, an den richtigen Stellen zu schweigen und mitfühlend zu nicken.

Nora stand neben Taissija, hörte ihrem Geplapper zu und beobachtete, wie die Schneeflocken auf den nadelfeinen Haaren von Taissijas Pelzmantel zu kleinen Tropfen wurden und hinunterrollten.

»Entschuldige, ich bin zu spät, stell dir vor, ich komme zu den Siwkows – kennst du Natascha Siwkowa aus Wohnung fünfzehn? Ihre Olenka ist acht Monate, eine passende Braut für deinen Kleinen –, und da ist gerade Zoff. Die Schwiegermutter aus Karaganda ist zu Besuch und mäkelt an Natascha rum, von wegen sie kümmert sich nicht genug um ihren Mann und ernährt das Kind falsch, deshalb ist es ganz wund. Na, du kennst mich, da hab ich mal ein Machtwort gesprochen.«

Taissija ging ins Bad, Hände waschen, und kritisierte Nora nebenbei: »Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst zum Waschen Babyseife nehmen, die Pulver taugen nichts. Hör auf mich, ich bring dir nichts Schlechtes bei.«

Es war kurz nach elf. Jurik war eingeschlafen, und Nora wollte ihn nicht wecken. Sie bot Taissija Tee an. Taissija setzte sich in der Küche auf den Platz des Familienoberhaupts. Den wichtigsten Platz einzunehmen passte zur ihr, zu ihrem großen Kopf voller Locken, die zu einem Knoten hochgesteckt waren und von einer Kammspange gehalten wurden; alles im Raum ordnete sich respektvoll um sie herum, sie wurde sofort zum Mittelpunkt der Tassen und Teller, die zu ihr strebten wie Schafe zum Hirten. Ein schönes Arrangement, registrierte Nora mechanisch.

Sie stellte eine Pralinenschachtel mit einem fliegenden Rentier auf den Tisch. Gäste brachten manchmal so etwas mit, doch Nora mochte nichts Süßes, die Schokolade wurde »für Gelegenheiten« aufgehoben und bekam einen weißen Belag.

Taissija langte nach der Konfektschachtel, wobei Tropfen aus ihrem Haar auf den Tisch fielen, überlegte, welche der teuren Pralinen sie wählen sollte, ließ die Hand in der Luft schweben und fragte plötzlich: »Nora, bist du eigentlich verheiratet?«

Sie weiht mich in die Geheimnisse der Babypflege ein und will meine dafür, als Gegenleistung für die Seife. Dialoge so zu verstehen, ihren verborgenen Sinn wahrzunehmen, hatte Tengis Nora beigebracht.

»Ja, bin ich.«

Kein Wort zu viel, das konnte alles verderben, der Dialog musste so laufen, dass der andere nachfragte.

»Schon lange?«

»Seit vierzehn Jahren, seit der Schulzeit.«

Pause. Es funktionierte wunderbar.

»Na ja, immer wenn ich komme, bist du allein zu Hause … Er unterstützt dich nicht, auch in die Praxis kommst du immer allein …«

Nora überlegte einen Augenblick: Sollte sie sagen, er sei Hochseekapitän? Oder sitze im Gefängnis?

»Er kommt nur zu Besuch. Lebt bei seiner Mutter. Er ist ein ganz besonderer Mensch, sehr begabt, Mathematiker, aber im praktischen Leben etwa so wie Jurik.« Nora sagte die Wahrheit. Ein Zehntel der Wahrheit.

»Oh«, entgegnete Taissija lebhaft, »ich kenne einen ähnlichen Fall!«

Doch da vernahm Nora mit ihrem feinen Gehör ein Rascheln und ging zu ihrem Sohn. Er war aufgewacht und schaute seine Mutter wie erstaunt an. Hinter ihr stand Taissija, und auf die war sein Blick geheftet.

»Na, Jurotschka, sind wir aufgewacht?« Taissija lächelte breit.

Nora nahm den Jungen aus dem Bett. Er drehte den Kopf zur Kinderschwester und schaute abwartend.

Nora besaß keinen Wickeltisch. Nur einen aufklappbaren Sekretär, und auf den passte Jurik kaum noch drauf. Aber Nora wickelte ihn auch nicht. Die Mädchen in der Theaterschneiderei hatten ihr zwei Bodys genäht, von einem westlichen Modell abgekupfert. Taissija murrte ein bisschen über die kapitalistischen Höschen mit Gummieinlage, in denen die nasse Windel zum Wundsein führe, küsste das Baby auf den Po, wies Nora an, ein sauberes Laken auf die Couch zu legen, und ging die Impfung vorbereiten.

Sie mixte etwas aus zwei Ampullen zusammen, zog die Spritze auf und pikste die Nadel leicht in den Kleinen. Er verzog das Gesicht, wollte losschreien, besann sich aber. Schaute seine Mutter an und lächelte.

Kluger Junge, er versteht alles, dachte Nora begeistert.

Taissija ging in die Küche, den Wattebausch wegwerfen, und rief von der Schwelle: »Das Wasser! Nora! Das Wasser läuft noch! Überschwemmung!«

Die Wanne war übergelaufen, das Wasser hatte den Flur überschwemmt und lief nun in die Küche. Sie steckten Jurik ins Bett, offenbar zu hektisch und nervös, denn er fing an zu weinen. Nora drehte den Hahn ab, warf Handtücher auf den Boden und begann zu wischen. Taissija half ihr flink. Da klingelte in das Brüllen des Babys hinein das Telefon.

Die Nachbarn, das Wasser, dachte Nora und lief zum Telefon, um zu sagen, dass sie schon am Aufwischen sei.

Aber es waren nicht die Nachbarn. Es war Noras Vater, Genrich Jakowlewitsch.

Wie immer zur Unzeit, dachte Nora noch. Jurik schrie gekränkt, zum ersten Mal im Leben so laut, dazu das Wasser, das schon nach unten durchlief.

»Papa, bei mir ist Überschwemmung, ich ruf dich später zurück.«

»Nora, Mama ist gestorben«, sagte er langsam und feierlich. »Heute Nacht … zu Hause …« Dann fügte er mit ganz normaler Stimme hinzu: »Komm her, schnell, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Nora schleuderte den ausgewrungenen Lappen auf den Boden. Ausgerechnet jetzt – warum suchten sich ihre Angehörigen sogar fürs Sterben den unpassendsten Moment aus?

Taissija begriff sofort. »Wer?«

»Meine Großmutter.«

»Wie alt?«

»Über achtzig, glaube ich. Sie hat ihr Alter verheimlicht, hat sich jünger gemacht, auch im Ausweis. Lässt du mich für ein paar Stunden weg?«

»Geh nur, geh. Ich bleibe hier.«

Nora wusch sich noch einmal die Hände, völlig blödsinnig, denn schließlich waren sie schon mehr als sauber, rannte zu Jurik und gab ihm die Brust. Erst stieß er die Brustwarze beleidigt von sich, dann fuhr Nora ihm damit über die Lippen, und er schnappte zu und wurde still.

Währenddessen wischte Taissija, nun ohne Rock und Pullover, flott das Wasser auf und leerte den Eimer immer wieder in die Toilette; die lange rosa Unterhose, das kurze weiße Unterhemd und die dicken Haarsträhnen aus dem aufgelösten Knoten huschten nur so an Nora vorüber, und sie erfreute sich unwillkürlich an Taissijas Geschick, an ihren schönen und präzisen Bewegungen.

»Ich weiß nicht, wie lange es dauert. Ich rufe an. Sie wohnt ganz in der Nähe, in der Powarskaja.«

»Geh nur, geh, ich sage zwei Hausbesuche ab. Aber pump vorsichtshalber noch mal ab. Falls du länger wegbleibst. Bei so einer Sache …«

So was, dachte Nora, sie kennt mich kaum, springt aber sofort ein. Unglaublich, die Frau.

Zehn Minuten später rannte Nora schon den Boulevard entlang, bog beim Nikitskije-Tor ab und drückte weitere zehn Minuten später bereits auf den Klingelknopf, unter dem ein kleines Messingschild mit der Aufschrift »Ossetzki« hing. Die übrigen sieben Namen standen auf einem Pappschild.

Ihr Vater, das durchgeweichte Mundstück einer erloschenen Papirossa im Mundwinkel, legte irgendwie schlaff den Arm um Nora und fing an zu weinen. Dann besann er sich und sagte: »Stell dir vor, ich hab bei Nejman angerufen, um ihm zu sagen, dass Mama gestorben ist, und da erfahre ich, dass er auch tot ist! Also, eine Notärztin war hier und hat den Totenschein ausgestellt, jetzt brauchen wir noch irgendein Papier aus der Poliklinik und müssen entscheiden, wo wir sie beerdigen wollen. Mama hat mal gesagt, ihr sei es egal, bloß nicht neben Vater …«

Das alles erzählte er Nora, während er den langen Flur entlang hinter ihr herlief. Aus einer Tür schaute ein fetter Nachbar heraus, Großmutters Feind Kolokolzew, aus einer anderen die kurzbeinige Raissa, und ihnen entgegen kam Tante Katja, die »Erstbewohnerin«. So nannte sie sich selbst. Ihre Mutter war gleich nach dem Bau des Hauses als Dienstbotin hier eingezogen, in ihrer Kammer neben der Küche war Katja zur Welt gekommen. Sie wusste alles über jeden und schrieb noch immer halb analphabetische Berichte über ihre Nachbarn, was für diese kein Geheimnis war. Zudem war sie von so schlichtem Gemüt, dass sie immer warnte: Denkt dran, ich schreib über euch alle Berichte!

In Großmutters Zimmer roch es nach Rauch – Noras Vater hatte es vollgequalmt – und dem Kölnisch Wasser, das Großmutter ihr Leben lang mit einem Zerstäuber um sich versprüht hatte. Diese Prozedur ersetzte ihr das Putzen. Nun lag sie auf der selbstgezimmerten Liege, in einem weißen Nachthemd mit Stopfstellen am Kragen, klein, den Kopf stolz gereckt, die Augen nicht ganz geschlossen. Der Unterkiefer hing ein wenig herab, der Mund war leicht geöffnet, auf dem Gesicht lag der Schatten eines Lächelns.

Nora schnürte es die Kehle zu vor Mitleid. Sie sah plötzlich, wie elend und stolz die Großmutter gelebt hatte. Ideologisch motivierte Armut. Nackte Fenster – Gardinen und Vorhänge waren ihrer Überzeugung nach kleinbürgerlich. Die beiden Flügeltüren, Attribute der einst herrschaftlichen Wohnung, verstellt oder eher verbarrikadiert, die eine mit einem Büfett, die andere mit einem Bücherschrank. Der enthielt ebenso viel Staub wie Bücher. Auf den Staub hatte Nora schon früher allergisch reagiert, wenn sie hier übernachtete – in jenen Jahren, als sie Großmutter Marussja noch »Murlyka« nannte, wie eine schnurrende Katze, und mit kindlicher Leidenschaft verehrte. Die Bücher kannte sie allesamt. Hatte sie gelesen, gründlich gelesen. Bis heute schlug Nora jeden Kretin mit ihrer umfassenden kulturellen Bildung, und die stammte aus diesen rund zweihundert Büchern, ausgewählt wie für ein Leben auf einer einsamen Insel, alle voller Randbemerkungen. Von der Bibel bis zu Freud. Ja, eine einsame Insel. Das heißt, nicht ganz einsam – hier lebten Scharen von Wanzen. Nora war als Kind von ihnen furchtbar gepeinigt worden, Großmutter aber hatte sie gar nicht bemerkt. Oder hatten umgekehrt die Wanzen sie ignoriert?

An der Tür hing ein zerschlissener Wandteppich, der niemals gewaschen oder gereinigt worden war. An der Decke ein nacktes »Iljitsch-Lämpchen«, wie die Glühbirnen früher genannt wurden – nach Wladimir Iljitsch Lenin, den Großmutter zutiefst und furchtsam verehrte. Ja, sie hatte die Krupskaja gekannt und Lunatscharski, war Kulturarbeiterin gewesen, hatte ein Laienspielstudio für verwahrloste Kinder organisiert. Was für eine wunderliche Bücherwelt – in friedlicher Nachbarschaft lebten hier Karl Marx und Sigmund Freud, Stanislawski und Jewreïnow, Andrej Bely und Nikolai Ostrowski, Rachmaninow und Grieg, Ibsen und Tschechow! Und natürlich ihr geliebter Hamsun! Der hungernde Journalist, der schon auf Lederriemen kaute und vor Hunger wunderschön halluzinierte, bis ihm ein verblüffender Gedanke kam: Vielleicht sollte er arbeiten gehen? Und sich dann als Schiffsjunge verdingte.

Großmutter hatte sich mit einer Art esoterischem Tanz befasst, dann mit der später vergessenen und verbotenen Wissenschaft Pädologie, und in ihren späten Lebensjahren bezeichnete sie sich als »Essayistin«. Ihr Leben war erfüllt von geistigen Interessen. Und vom heutigen Leben ebenso weit entfernt wie die Kreidezeit. Das alles stürzte auf Nora ein, als sie, noch in der Jacke, vor ihrer für immer eingeschlafenen Großmutter stand.

Nora verdankte ihr so vieles. Großmutter hatte auf diesem Klavier gespielt, und Nora dazu »ihre Stimmung getanzt« … Hier, an dieser Ecke des Tisches, hatte Nora ein blaues Pferd gemalt … und Großmutter war begeistert, sprach vom Blauen Reiter, von Kandinsky … Sie gingen zusammen ins Puschkin-Museum … ins Theater … Wie sehr hatte Nora sie damals geliebt … und wie schrecklich enttäuscht war sie von ihr gewesen, wie kalt hatte sie ihr den Rücken gekehrt. Großmutter hasste alles Bürgerliche, verachtete Spießertum, nannte sich eine »parteilose Bolschewikin«. Vor acht Jahren hatten sie sich völlig zerstritten, peinlicherweise aus politischen Gründen. Wie absurd … wie blödsinnig.

Zu zweit legten sie den steifen Körper auf den ausgezogenen Tisch. Er war nicht schwer. Der Vater ging in die Küche, rauchen, und Nora zerschnitt mit einer Schere das uralte Nachthemd. Es zerfiel unter ihren Händen. Dann füllte sie eine Schüssel mit kühlem Wasser, wusch den Leichnam, der aussah wie ein schmales Boot, und staunte dabei über dessen Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Körper: schlanke, lange Beine, Füße mit hohem Spann, sehr lange, große Zehen, die Nägel lange nicht geschnitten, kleine Brüste mit rosa Brustwarzen, langer Hals und schmales Kinn. Der Körper wirkte jünger als das Gesicht, die Haut war weiß und haarlos.

Der Vater rauchte in der riesigen Küche mit den vielen Tischen – jede Familie, die in der Wohnung lebte, besaß einen eigenen – und ging hin und wieder in den Flur, wo das uralte Telefon hing, um die Verwandten zu benachrichtigen. Nora hörte seine tragische Stimme immer dieselben Worte sagen: Mama ist heute Nacht gestorben, wegen der Beerdigung melde ich mich später.

Als der Körper gewaschen war und Nora ihn mit einem zerrissenen Bettbezug abgetrocknet hatte, fühlte sie einen warmen Strahl über ihren Bauch laufen. Sie schrak auf – wie konnte sie Jurik vergessen, das war seine Milch, die da nutzlos verrann. Sie wollte sich auf die Liege setzen, entdeckte aber auf dem Laken einen Fleck, den die letzten Säfte und Schlacken des toten Körpers hinterlassen hatten. Sie riss das Laken herunter, knüllte es zusammen und warf es auf den Boden. Sie fand einen anderen Platz, im Sessel am Fenster, wo Großmutter meist die immer gleichen Bücher aus ihrem Schrank gelesen hatte, denn neue waren nicht dazugekommen, solange Nora denken konnte. Sie nahm die große Tasse mit dem abgebrochenen Henkel, die sie seit ihrer Kindheit kannte, und pumpte rasch die Milch ab – die Tasse wurde fast voll. Sie kippte alles in die Waschschüssel, denn es war undenkbar, diese dreihundert Gramm nach Hause zu tragen. Sie wischte sich die Brust mit ihrem T-Shirt ab – alle Sachen im Zimmer schienen vom Tod infiziert, auch die unschuldige Tasse.

Sie zog sich wieder an und verließ das Zimmer. Ihr Vater saß im Wollmantel und mit Persianermütze rauchend in der Küche. Er hatte in der Poliklinik, die ganz in der Nähe war, auf dem Arbat, bereits die nötige Bescheinigung geholt.

»Ich kann das Krematorium nicht erreichen. Da ist ständig besetzt. Ich fahre hin, ich will, dass das alles schnell …« Er endete mit einer unbestimmten Handbewegung, die hieß: schnell erledigt ist. Dann telefonierte er erneut.

Als er fertig war, wählte Nora ihre eigene Nummer, Taissija hob sofort ab.

»Mach dir keine Sorgen, Norotschka, mach dir keine Sorgen. Ich hab schon zu Hause angerufen, Serjoshka kommt allein zurecht, ich kann bis zum Abend hierbleiben. Jurik schläft, er schläft.«

Nora schaute in die Garderobe – eine Ecke hinterm Büfett, in der auf drei Bügeln Großmutters gesamte Kleidung hing. Mein Gott, was für eine demütige Armut! Ein völlig abgewetzter Wintermantel mit Lammfellkragen, ein blaues Kostüm, aus einem alten Herrenanzug geschneidert, zwei Blusen – jedes dieser Stücke kannte Nora seit ihrer Kindheit. Dem Schnitt nach zu urteilen stammten sie vom Ende der zwanziger Jahre. Nora wählte die weniger abgetragene der beiden Blusen. An den Ärmeln war noch die Spur eines ägyptisch anmutenden Ornaments zu erkennen. Diese Kleidungsstücke waren Artefakte der Modegeschichte.

Der Körper war erstarrt wie Gips, Nora musste die Bluse hinten aufschneiden. Sie breitete sie neben der Toten aus.

Wir müssen sie nachher vorsichtig in den Sarg legen, dachte Nora. Aber ich ziehe ihr schon mal was an, damit sie hier nicht nackt liegt.

Plötzlich merkte sie, dass es im Zimmer sehr kalt war. Sie wollte die Großmutter wärmer anziehen und nahm einen Blazer vom Bügel. Den Rock musste sie nicht aufschneiden, sie zog ihn über die Beine. Die Großmutter war ein Kind des Silbernen Zeitalters, des Fin de Siècle, sein Produkt und sein Opfer. Zwei staubgetrübte Fotos einer schönen jungen Frau hingen über dem Klavier. Sie war hübsch gewesen. Sehr hübsch.

Aus einem Koffer unter der Liege holte Nora ein Paar Schuhe – archaische Stücke, museumsreif: Riemchen mit einem Lederknopf, Pfennigabsätze. Darin war Großmutter zur NÖP-Zeit herumgelaufen. Sie ließen sich nicht auf die steifen Füße ziehen.

Nora agierte, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Dabei war es das erste Mal. An den Tod von Sinaida, ihrer anderen Großmutter, konnte sich Nora nicht erinnern, damals war sie erst sechs gewesen. Und ihre Großväter hatte sie praktisch nicht gekannt. In ihrer Frauenfamilie gab es nur einen einzigen Mann – Genrich. Hatte er lange mit ihnen zusammengelebt, in der Wohnung am Nikitski-Boulevard? Amalia hatte sich von ihm scheiden lassen, als Nora dreizehn war.

Mit Marussja konnte sich Nora nicht mehr versöhnen, dazu war es zu spät. Nun wusch Nora sie, zog sie an, und die alte Empörung über die Beschaffenheit der Welt, über das Unheimliche an dieser Hülle eines einst geliebten Menschen stieg wieder in ihr auf. Ein Sarkophag. Jeder tote Körper ist ein Sarkophag. Das wäre Stoff für ein Theaterstück – alle lebendigen Figuren stecken in Sarkophagen, und wenn sie sterben, verlassen sie diese. Was hieße: Alles Lebendige ist schon tot. Das muss ich Tengis erzählen …

Nora schaute aus dem Fenster. Die Scheibe war schmutzig, seit Jahren nicht geputzt. Statt des grauen Schnees fiel nun grauer Regen. Warum habe ich nichts für sie getan? Wie dumm von mir, sauer zu sein auf eine alte Frau. Ich bin ein hartherziges Monster. Dabei habe ich sie über alles geliebt!

Fast jeden Tag hatte Nora nach der Schule den gewohnten Weg genommen, am Programmkino vorbei, am Nikitskije-Tor über die Straße, vorbei am »Konserven«-Geschäft in das enge Netz der Gassen – Mersljakow-, Skatertny-, Chlebny-, Skarjatinski-Gasse – zur Powarskaja, zu Großmutters Haus. Und das Herz stockte ihr vor Freude, wenn sie in den zweiten Stock hinaufrannte, in Marussjas Arme.

Wie weiß Großmutters Haut war. Ihre Augen schauten unter den Lidern hervor, schienen Nora gleichgültig anzusehen. Sie zog die aufgeschnittene Bluse über den rechten, dann über den linken Arm und hob den schweren Kopf an, um den Kragen hinten zuzuknöpfen. In den letzten Jahrzehnten hatte sich Marussja anscheinend nichts Neues angeschafft. Aus Armut? Aus Starrsinn? Aus einem unbegreiflichen Prinzip?

Jemand klopfte zaghaft an die Tür – ihr Vater, der sich fürchtete, seine Mutter nackt zu sehen. Mit geschäftig-fröhlicher Miene kam er herein, den Mantel in der Hand.

»Norka, ich habe einen Sarg bestellt. Er kommt morgen früh, gegen zehn. Sie wollten nicht mal den Totenschein sehen! Haben nur gefragt, wie groß die Tote ist. Ich hab gesagt, eins sechzig.«

»Eins achtundfünfzig«, korrigierte Nora. »Und nenn mich nicht Norka. Ich heiße Nora. Deine Mutter hat mir den Namen Nora gegeben. Nach Ibsen, wenn dir das was sagt.«

Die Sonne kam kurz heraus und beleuchtete das Zimmer und die Großmutter, blitzte im Perlmuttknopf unter dem Blusenkragen auf und verschwand erneut im grauen Nieselregen.

Nora stopfte den aufgeschnittenen Blazer mit der runden Messingbrosche rechts und links unter den Körper. In dieser Jacke war Marussja immer zu ihren Gewerkschaftsversammlungen gegangen, bei den Journalisten oder den Dramatikern.

»Bleibst du heute Nacht hier?«, fragte Nora ihren Vater.

»Nein, ich muss nach Hause«, entgegnete er erschrocken. Und hatte es plötzlich eilig. »Aber morgen bin ich um neun wieder hier. Kommst du auch, Liebes?«, fragte er unsicher. »Ich muss noch ins Krematorium. Wär schön, wenn es morgen schon ginge.«

»Übermorgen würde auch reichen.«

»Lieber so schnell wie möglich. Ich versuch’s. Ich ruf dich heute Abend an.«

Genrich Jakowlewitsch war auf einmal erstaunlich flink.

»Ich bin um neun hier.« Nora nickte knapp. Sie spürte, dass sie die Tote unmöglich allein lassen konnte. Aber genauso unmöglich konnte sie mit Jurik hier übernachten.

Sie ging hinaus in den Flur und bog um die zwei Ecken, die ihr von Kindesbeinen an vertraut waren. In der Küche stand Katja, die Erstbewohnerin, mit dem Rücken zu Nora an ihrem Tisch und schnitt mit energisch ausholenden Ellbogen etwas klein.

»Tante Katja, ich müsste mal mit dir reden.«

Katja wandte sich mit dem ganzen Oberkörper zu ihr um, sie hatte keinen Hals, ihr Kopf saß direkt auf den Schultern. »Was ist los, Njura?« So nannte diese reizende Idiotin sie schon immer.

»Würdest du heute bei Marussja im Zimmer übernachten?«

»Wenn du das für nötig hältst, schlaf doch selber da. Wieso ich?«

»Ich habe ein Baby, wie soll das gehen?«

»Ach, du hast ein Kind gekriegt?«

»Ja.«

»Meine Ninka auch! Wieso bleibt Genka denn nicht hier?«

»Er muss gleich nach Hause. Ich bezahl dich auch dafür.«

»Dann will ich auch noch das Büfett, Njura. Es gefällt mir.«

»Gut«, willigte Nora ein. »Das kannst du haben. Aber es passt bei dir gar nicht rein.«

»Na, ich nehm doch auch das Zimmer. Ich zieh einfach rein, wer soll was dagegen sagen? Ninka wohnt zwar bei ihrem Mann, aber sie ist noch hier gemeldet!«

»Ja, ja.« Nora nickte gleichgültig und stellte sich vor, wie Katja auf der Suche nach etwas Brauchbarem das Zimmer durchwühlen würde.

»Zehn Rubel, Njura! Für weniger mach ich’s nicht«, sagte Katja und kniff die Augen zusammen ob ihrer eigenen Unverschämtheit.

»Zehn Rubel – fürs Übernachten und fürs Putzen!«, präzisierte Nora.

Darauf einigten sie sich.

Am nächsten Tag passte Taissija wieder auf Jurik auf, sodass sich Nora nicht den Kopf zerbrechen musste, wen sie darum bitten könnte. In Frage kamen zwei Freundinnen aus der Zeit an der Theaterschule, Natascha Wlassowa und Marina Tschipkowskaja, Spitzname »Tschipa«. Beide waren zuverlässig, aber Natascha hatte einen fünfjährigen Sohn, und Tschipa arbeitete auf drei Stellen gleichzeitig, denn sie sorgte für ihre kranke Mutter und ihre kleine Schwester.

In Großmutters Zimmer fand Nora mehrere Personen vor – ihren Vater und seinen Assistenten Valera Besborodko, Katja mit ihrer Tochter Ninka, die Nachbarin Raissa und eine Frau von der Hausverwaltung mit einer schief sitzenden roten Perücke. Die Frauen sprachen leise, aber lebhaft miteinander. Verhandlungen über Großmutters Nachlass, vermutete Nora.

»Ach, Marussja tut mir so leid.« Raissa wackelte mit dem Kopf. »Fast fünfzig Jahre haben wir hier Wand an Wand gelebt. Ich hab nie ein böses Wort zu ihr gesagt. Ich hätte als Erinnerung gern …«

»Was hätten Sie gern, Raissa?«, unterbrach Genrich sie überraschend scharf.

»Nein, nein, Genja, ich sag nur, fast fünfzig Jahre, sozusagen ein Herz und eine Seele.« Damit wich sie zurück zur Tür.

Wie die Krähen, dachte Nora und warf rasch und entschieden alle hinaus. Ihr Vater schaute sie dankbar an. Er hatte seine Kindheit in dieser Wohnung verbracht, hatte diese alten Weiber als junge Frauen gekannt, aber nie gelernt, richtig mit ihnen umzugehen – er schlug immer den falschen Ton an, mal zu hochmütig, mal zu unterwürfig. Nora wusste, dass er sich nie von Gleich zu Gleich verständigen konnte, er kannte nur eine Stufenleiter – über mir, unter mir … Der Ärmste, bedauerte sie ihren Vater und empfand sogar eine gewisse Wärme für ihn. Er spürte das und legte ihr die Hand auf die Schulter. Unsicher. Er hatte Nora, weil sie seine Tochter war, stets als jemanden betrachtet, der unter ihm stand, und sie deshalb von oben herab behandelt, doch als sie herangewachsen war, hatte sie ihm ihre Haltung klargemacht. Sie war achtzehn, als sie ihn eines Tages besuchte, in seinem neuen Zuhause, bei seiner neuen Familie, und unter vier Augen machte er ihr Vorwürfe, dass sie so selten komme, das sei bestimmt der Einfluss ihrer Mutter, die nicht wolle, dass sie Kontakt hätten. Nora widersprach schroff: »Kapierst du nicht, Pa, wenn Mama dagegen wäre, würde ich dich überhaupt nicht besuchen. Es ist ihr einfach egal.«

Seitdem machte er ihr keine Vorhaltungen mehr.

Um zehn wurde der Sarg gebracht. Zwei Männer stellten ihn geschickt auf den Tisch, schoben die Tote beiseite, hoben sie blitzschnell, ja fast artistisch hoch, und mit einem hölzernen Aufprall landete der Körper präzise in dem Kasten. Der Vater ging mit den Männern hinaus und ließ Nora allein. Er bezahlte die beiden im Flur, und Nora hörte, wie sie sich bedankten. Sie hatten vom Vater offenkundig mehr erhalten als erwartet.

Nora legte die aufgeschnittenen Kleidungsstücke im Sarg wieder ordentlich zurecht, kämmte und scheitelte das schüttere Haar, wie Großmutter es getragen hatte, strich widerspenstige Strähnen zurück und betrachtete liebevoll die leicht fliehende hohe Stirn und die langen Wimpern. Großmutters Körper hatte etwas von einer Integralkurve, im Umriss der Wangenknochen, im Übergang vom Hals zur Schulter, von den Knien zu den Zehen. Nora verspürte sogar Lust, sofort zum Bleistift zu greifen. Die Tote schien sich in der Nacht verändert zu haben. Ihr Gesicht war nicht landläufig schön – es war edel und schmal; die überflüssige Altershaut, die zu Lebzeiten schlaff unter ihrem Kinn hing, hatte sich gestrafft, Großmutter wirkte nun jünger. Schade, dass ich ihr nicht ähnlich sehe, dachte Nora.

»Nora, die Nachbarn sagen, wir müssen was auf den Tisch stellen, also … ein Totenmahl …« Der Vater sah sie erwartungsvoll an.

Nora überlegte kurz. Großmutter hatte es nicht ausstehen können, wenn die Nachbarinnen in ihr Zimmer kamen.

»Sag Katja, sie soll was besorgen, und gib ihr Geld. Sie soll in der Küche decken. Aber sie soll nicht so viel Wodka kaufen, sonst besäuft sie sich. Ohne Totenmahl geht’s bei uns eben nicht.«

Der Vater stimmte ihr zu.

»Vor dem Krieg standen weniger Tische in der Küche, da wurde immer dort gedeckt. Damals wohnten viele alte Leute in der Wohnung. Die sind jetzt alle tot. Ich bin nie zu so einem Totenmahl gegangen, Mama auch nicht. Aber mein Vater, der ging merkwürdigerweise hin.«

Zuvor hatte Genrich seinen Vater fast nie erwähnt. Das fiel Nora plötzlich auf, und sie wunderte sich: Tatsächlich, niemand hatte ihr je von Jakow Ossetzki erzählt. Es gab nur eine vage Kindheitserinnerung. Der Großvater hatte sie einmal zu Hause am Nikitski-Boulevard besucht, Nora sah einzelne Details vor sich: einen Schnurrbart, lange, große Ohren und eine Krücke aus einem knorrigen Ast, dessen Gabelung als Griff diente. Danach hatte sie ihn nie wiedergesehen.

Der Vater ging die eben verjagte Katja suchen. Sie freute sich – über den Vorschlag wie über das Geld – und sagte, sie werde alles in den Läden im Hochhaus kaufen. Der Vater nickte. Ihm war es gleichgültig, doch für Katja war es ein großes Vergnügen. Fast gleichzeitig verließen sie und Nora das Haus, die eine Richtung Arbat, zum Blumenladen, die andere Richtung Platz des Aufstandes. Katja war sehr aufgeregt, das Geld von Genrich entsprach anderthalb ihrer Monatsrenten, und sie überlegte, wie sie es am klügsten anstellte, um etwas davon für sich zu behalten.

Im Blumenladen auf dem Arbat erlebte Nora eine wunderbare Überraschung: Zum ersten Mal im Leben sah sie so prachtvolle Hyazinthen, gleich einen ganzen Eimer voll. Sie kaufte alle, die blauvioletten, die weißen und die vereinzelten rosavioletten. Ihr gesamtes Bargeld legte sie dafür hin. Die Blumen wurden erst in viele Schichten Zeitungspapier eingewickelt, dann bekam sie auch noch den Eimer dazu. So lief sie mit dem bäuerlichen Eimer in der Hand erst den Teil der Trubnikowski-Gasse auf der Seite des alten Arbat entlang, überquerte dann die Magistrale des Neuen Arbat und ging auf dem längeren Abschnitt der Trubnikowski-Gasse weiter. Es nieselte oder schneite, das Licht war perlmuttgrau, der Eimer schwer, Noras Stiefel waren durchgeweicht. Die Milch schoss bereits wieder ein, doch diesmal hatte sie Windeln in den BH gestopft und das Ganze noch mit einem alten Tuch umwickelt, denn Taissija, die am frühen Morgen herbeigeeilt war, hatte in herrischem Ton erklärt, ohne ein Tuch um die Brust lasse sie Nora nicht zur Beerdigung. Nora hatte ihr lachend gehorcht.

Sie traf gleichzeitig mit dem Leichenwagen ein und eilte vor den Bestattern die Treppe hinauf. Im Zimmer standen mit gesenktem Kopf einige entfernte Verwandte; ihr kaum bekannte Leute küssten Nora und Genrich und sagten banale Worte, mal mehr, mal weniger herzlich. Eine kleine alte Frau mit weißem Schal und Baskenmütze schluchzte leise, in einer Ecke füllte ihr jemand zur Beruhigung ein paar Tropfen Baldrian in Großmutters »Medizingläschen«. Nora kannte sie nicht.

Nora legte die Hyazinthen in den Sarg, sie mussten gar nicht besonders arrangiert werden. Ihr Zauber lag allein darin, wie sie alles um sich herum verwandelten – aus der Armut wurde plötzlich etwas Glanzvolles, wie im Märchen vom Aschenputtel. Nora, die erfahrene Bühnenbildnerin, deren Beruf es ja war, mit technischen Mitteln den künstlichen Bühnenraum zu gestalten, erstarrte vor Begeisterung. So hatte vor vielen Jahren die Zauberlampe in der Aufführung des Blauen Vogels im Künstlertheater gewirkt, in der Szene, in der Tyltyl und Mytyl ins Reich der Toten gehen, zu Großmutter und Großvater. Ja, natürlich, Marussja hatte sie in dieses Stück mitgenommen, Nora war fünf gewesen. Ihr schien, als blitze in dem schmalen Spalt unter den halb geschlossenen Lidern Zustimmung auf. Die Hyazinthen besaßen eine unglaubliche Kraft, ihr starker Duft erfüllte das Zimmer und übertrumpfte den Geruch von Kölnisch Wasser, Staub und Baldrian. Nora dachte unwillkürlich, die Berührung mit einem Zauberstab könnte das ganze Zimmer in einen Palast verwandeln und die arme Marussja mit ihren großen Ambitionen in die Frau, die sie immer hatte sein wollen und die sie nie geworden war.

Vier Männer hoben den Sarg an und trugen ihn hinaus auf die Straße. Rund ein Dutzend Verwandte stiegen in den Leichenwagen, der Vater fuhr mit seinem Moskwitsch hinterher.

Bis zum Donskoi-Krematorium brauchten sie nicht lange, sie kamen zu früh und standen noch eine halbe Stunde wartend herum. Dann wurde der Sarg auf eine Art Gepäckkarren geladen, und Nora und Genrich gingen vor den anderen in die Halle. Nora kümmerte sich erneut um die Blumen. Die Hyazinthen wirkten noch üppiger, sie schienen inzwischen voll aufgeblüht zu sein. Nora arrangierte sie nun bewusst: die rosavioletten neben dem gelblichen Gesicht, die blauen um den Kopf herum und neben den Armen. Die armseligen Nelken, die die Verwandten gleich bringen würden, wollte sie am Fußende verteilen.

Dann kamen die Trauergäste herein, allesamt in schweren schwarzen Mänteln und mit roten Nelken, und gruppierten sich hufeisenförmig um den Sarg. Vor Noras Augen flimmerte es leicht, doch sie sah alles klar und deutlich. So entdeckte sie plötzlich, dass die Familie aus zwei verschiedenen Phänotypen bestand: Vaters Cousins mit dem von der Stirn nach vorn wachsenden dicken Haar, der langen Nase mit dem kleinen Rüssel am Ende und dem kurzen Kinn hatten Ähnlichkeit mit Igeln, während Großmutters Nichten ein schmales Gesicht, große Augen und einen dreieckigen Fischmund hatten.

Ich gehöre zu den Igelartigen, dachte Nora, und ein heißes Schwindelgefühl überkam sie. Da ertönte Chopins Trauermarsch und zerstörte ihre sonderbare Vision – diese Musik war längst zu einer akustischen Banalität geworden. Nur noch für komische Szenen zu gebrauchen.

»Halt mal«, flüsterte Genrich, drückte ihr sein Persianerschiffchen in die Hand und kramte in seiner Aktentasche nach seinem Ausweis. Nora nahm sofort den Geruch seiner Haare wahr, der an der Mütze haftete und den sie seit ihrer Kindheit als unangenehm empfand. Auch ihr eigenes Haar roch, wenn sie es nicht täglich wusch, nach diesem Gemisch aus Talg und irgendeiner widerlichen Pflanze.

Eine Angestellte im Kostüm las offizielle Phrasen vom Blatt ab. Dann sagte Genrich etwas nicht minder Farbloses, und Nora wurde ganz trübsinnig von so viel Geschmacklosigkeit und Stümperhaftigkeit. Abrupt durchbrochen wurde der öde Stumpfsinn von der winzigen alten Frau, die in Großmutters Zimmer geschluchzt hatte. Sie trat ans Kopfende des Sargs und hielt mit klarer Stimme eine richtige Rede, die sie allerdings mit dem Standardsatz einleitete: »Wir nehmen heute Abschied von Marussja …« Doch dann folgten überraschend leidenschaftliche Worte.

»Wir alle, die wir hier stehen, und viele, die schon unter der Erde liegen, waren überwältigt, ja, wirklich überwältigt, als Marussja in unser Leben trat. Ich kenne niemanden, den die Bekanntschaft mit ihr unberührt gelassen hat. Sie stellte alle vom Kopf auf die Füße, von den Füßen auf den Kopf. Sie war so begabt, so schillernd, ja, so eigensinnig wie niemand sonst. In ihrer Gegenwart lernten die Menschen staunen, lernten mit ihrem eigenen Kopf zu denken. Meint ihr, Jakow Ossetzki wäre allein so ein Genie gewesen? Nein, er war so ein Genie, weil sie sich seit ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr liebten, eine Liebe war das, wie man sie nur aus Romanen kennt …«

Durch das dunkle Häuflein der Angehörigen ging ein Flüstern, und die Alte bemerkte das.

»Du halt den Mund, Sima! Ich weiß schon, was du da sagst! Ja, ich habe ihn geliebt! Ja, ich war in seinem letzten Lebensjahr an seiner Seite, und für mich war das ein großes Glück, aber er war nicht glücklich. Denn sie hatte ihn verlassen, und ihr müsst gar nicht wissen, warum sie das getan hat. Ich verstehe selbst nicht, wie sie das tun konnte. Doch hier an ihrem Sarg möchte ich vor euch allen sagen: Ich trage ihr gegenüber keine Schuld, ich hätte nie den ersten Schritt gemacht, Ossetzki war für mich ein Gott und Marussja eine Göttin. Und was war ich? Eine einfache Feldscherin! Ich trage keine Schuld gegenüber Marussja, aber ob Marussja eine Schuld trägt gegenüber Jakow …«

Da riss Genrich die Alte energisch zur Seite, und ihr Eifer verebbte sofort, sie wehrte sich ein wenig mit ihren dürren Armen und verließ dann zusammengekrümmt mit raschen Schritten die Halle.

Alle schauten etwas betreten, die Angestellte sprang herbei, erneut ertönte die abgedroschene Musik, der Sarg fuhr hinab, in die Tiefe, und wurde verschlungen vom nie verlöschenden Feuer, von Schwefelregen und flammender Gehenna. Die Würmer überleben dort bestimmt nicht, dachte Nora. Ich muss Vater nach der Alten fragen und was das für eine Geschichte war.

Als die zähe, langwierige Zeremonie vorbei war, hatte Nora das Totenmahl völlig vergessen. Der Vater erinnerte sie daran. »Fahren wir?«

Die Verwandtschaft stieg diszipliniert in den Bus, Nora in Genrichs Moskwitsch. Unterwegs fragte er, ohne den Blick von der Straße zu wenden: »Deine Mutter hat es also nicht für nötig gehalten, zur Beerdigung zu kommen?«

»Sie ist krank«, schwindelte Nora. In Wirklichkeit hatte sie ihre Mutter nicht einmal angerufen. Sie würde es noch früh genug erfahren. Marussja hatte nach Genrichs Scheidung den Kontakt zu Amalia abgebrochen.

Die Wohnungstür war weit geöffnet, aus dem Flur roch es nach Plinsen. Auch die Tür zu Großmutters Zimmer stand offen, hier vermischte sich der Geruch von Kölnisch Wasser und frisch gewischtem Boden mit dem aus der Küche. Das Fenster war ebenfalls weit geöffnet, und der Zugwind bewegte den weißen Kissenbezug, der den Spiegel verhüllte. Nora ging hinein, zog die Jacke aus, warf sie über einen Sessel, setzte sich darauf, nahm die Wollmütze ab und blickte sich um. Selbst der jahrhundertealte Staub auf dem Klavierdeckel war abgewischt worden. An dieses Instrument hatte Großmutter einst die fünfjährige Nora gesetzt und sie spielen lassen. Mit zwei Kissen auf dem Hocker. Doch damals spielte Nora viel lieber mit dem Hocker – sie legte ihn auf den Boden, setzte sich auf dessen einziges Bein und drehte den Sitz wie ein Lenkrad. Nora berührte den Hocker, der Lack war längst abgeblättert. Vielleicht sollte ich das Klavier für Jurik mitnehmen, dachte sie, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder: der Transport, ein Klavierstimmer, Möbel umräumen … nein, nein.

Dann kam die gesamte Busbesatzung herein, genau so, wie sie im Bus gesessen hatten, paarweise: Vaters vier Igel-Cousins zogen die schweren schwarzen Mäntel aus und legten sie auf die Liege. Dann drängten die Fisch-Frauen zur Tür herein. Alle im Pelzmantel – Großmutters drei Nichten nebst zwei jungen Töchtern, Noras Großcousinen –, alle mit spitz zulaufendem Kinn, herrlich. Und ein paar Frauen, die Nora kaum kannte. Die Großcousinen hatte sie in ihrer Kindheit bei den Festen gesehen, die Großmutter für einige Kinder der Verwandtschaft zu veranstalten pflegte. Doch sie waren alle jünger als Nora und ihr darum gleichgültig gewesen. Sie hatte sich stets zu Menschen hingezogen gefühlt, die älter waren als sie selbst. Eine Frau ragte aus der Gruppe heraus – die hochgewachsene Mikaela, schwarzes Haar, leichter Damenbart, um die sechzig. Nora versuchte sich zu erinnern, wessen Tochter oder Frau sie war, aber es wollte ihr einfach nicht einfallen. Sie sah diese ganze Verwandtschaft ohnehin nur etwa alle zehn Jahre, bei familiären Anlässen, das letzte Mal hatte Genrich sie alle zur Feier seiner Habilitation eingeladen. Ljuscha, Njussja und Verotschka hießen die Großtanten, Nadja und Ljuba die Großcousinen. Aber zu wem diese Mikaela gehörte …

Die Frauen traten sich auf dem Läufer vor Marussjas Tür den schmutzigen Schnee von den Schuhen und legten ihre Pelzmäntel auf die Liege. Nora entdeckte, dass ihre eigenen Schuhsohlen auf dem sauberen Boden eine Pfütze hinterlassen hatten.

Im Gänsemarsch folgten alle der Einladung der Nachbarinnen in die Küche. Die Peinlichkeit des Ganzen war nicht zu übersehen: Mitten in der Gemeinschaftsküche standen zwei mit Zeitungspapier bedeckte Tische, darauf thronte ein Stapel Plinsen, die letzten wurden noch in drei Pfannen gebacken. Am Herd stand Galija, eine alte Schauspielerin, Großmutters einstige Busenfreundin, mit der sie seit zwanzig Jahren kein Wort gesprochen hatte. Katja goss warme Fruchtgrütze aus einem Topf in Großmutters Waschkrug, in der dazugehörigen Waschschüssel türmte sich ein Berg Kartoffelsalat mit Roter Bete, ein sparsames Gericht, von Katja eigenhändig zubereitet, das Gemüse hatte ihre Schwester mitgebracht. Zu trinken gab es nur Wodka.

Auf Großmutters winzigem Tisch – sie hatte nie gekocht, sie aß außer Haus oder kalt – stand bereits ein Glas Wodka, mit einem Stück Schwarzbrot darüber. Nora spürte heftigen Ärger in sich aufwallen. Das Ganze war eine schwachsinnige Farce. Großmutter hatte in ihrem ganzen Leben keinen Tropfen Wodka angerührt, selbst Wein hatte für sie etwas Lasterhaftes gehabt. Absurderweise fühlte sich Nora verantwortlich für dies alles. Was hätte es sie gekostet, kategorisch zu sagen: Nein, es gibt keinen Leichenschmaus! Doch die Nachbarinnen hatten die Regie übernommen, und nun musste dieses kollektive Totengedenken absolviert werden.

Katja benahm sich wie die Herrin des Festes, die Verwandten fühlten sich als ihre Gäste, Genrich gab sich gütig, denn alles Unangenehme war überstanden. Wodka wurde eingeschenkt, alle tranken, ohne anzustoßen. Möge die Erde ihr leicht sein!

Genrich stürzte sich hungrig auf das Essen, und Nora empfand wieder die gewohnte Gereiztheit ihm gegenüber, die verflogen war, solange er sich um die Beerdigung kümmerte. Er kaute energisch, und Nora, die schon als Kind wenig und sehr langsam gegessen hatte, erinnerte sich an den Widerwillen, den sie stets empfunden hatte, wenn sie ihren Vater so gierig essen sah.

Ich bin so hart gegen ihn, dachte Nora. Er hat einfach einen guten Appetit.

Sie pickte sich ein Stück Rote Bete aus dem Salat. Es schmeckte gut. Aber mehr brachte sie nicht herunter. Außerdem schmerzte ihre Brust, sie musste wieder abpumpen.

Der alte Kolokolzew saß auf einem kleinen Hocker, sein Hintern in der Trainingshose quoll über den Sitz. Raissa hatte ihre Tochter Lorotschka mitgebracht, eine alte Jungfer mit intelligentem Gesicht – ein Rätsel, woher sie das hatte. Auch Katjas Ninka hatte sich eingefunden, Ninka und Marussja waren einmal gut miteinander ausgekommen. Marussja, die sich für eine große Expertin in Sachen Kindererziehung hielt, hatte sich die gesamten fünf Jahre, in denen Ninka zur Schule ging, um sie gekümmert. Als kleines Mädchen hatte Ninka Noras Kleider aufgetragen, bis sie mit acht größer war als die zwei Jahre ältere Nora. Dann brachten böse Mädchen Ninka das Stehlen bei, sie geriet auf die schiefe Bahn, und Marussja war sehr bekümmert, als Ninka in ein Jugendgefängnis gesteckt wurde. Marussja meinte, Ninka habe gute Anlagen.

Ninka mit ihren guten Anlagen saß auf einem Hocker, die prallen Brüste auf dem Tisch. Sie wollte sich mit Nora austauschen – ob sie einen Jungen oder ein Mädchen habe, wie die Geburt gewesen sei, ob sie stille. Auch sie habe vor kurzem entbunden, ihre Milch reiche nicht zum Stillen, sie gebe dem Baby die Flasche, und es schreie ununterbrochen.

Es hatte sich so ergeben, dass die Angehörigen auf der einen Seite des Tisches saßen, die Nachbarn auf der anderen. Zwei geschlossene Reihen. Nora sah die Szene schon als Theaterstück vor sich. In genau diesen Kulissen. Mit einem interessanten sozialen Subtext. Alle erinnern sich an die Verstorbene, und plötzlich stellt sich heraus … Was genau sich herausstellt, konnte Nora nicht zu Ende denken, denn die Frau von der Hausverwaltung mit der schief sitzenden Perücke, die am Vortag mit den Nachbarinnen ins Zimmer gekommen war, berührte sie an der Schulter. »Nora, einen Augenblick. Wir müssen was besprechen. Im Flur.«

Dort stand bereits Genrich. Die Dame erklärte ihnen, das Zimmer falle an den Staat, morgen werde es versiegelt, sie sollten also heute mitnehmen, was sie noch haben wollten. Der Vater schwieg, Nora auch.

»Kommen Sie, schauen wir mal«, schlug die Dame vor.

Sie gingen ins Zimmer. Das Fenster war bereits geschlossen, aber es war kalt, und der mit einem weißen Kissenbezug verhüllte Spiegel wirkte wie ein blindes Auge. Die Glühbirne an der Decke war durchgebrannt, die Tischlampe gab nur ein schwaches Licht.

»Ich schraube eine neue Birne rein«, sagte der Vater, der das immer gemacht hatte. Und kramte nach einer Glühbirne. Er kannte sich hier aus. Er schraubte die Lampe ein, sie war stark und grell. Großmutter besaß keinen Lampenschirm – viel zu kleinbürgerlich.

Ein perfektes Bühnenbild, dachte Nora erneut.

Genrich nahm eine kugelförmige Uhr von der Größe eines Apfels vom Klavier, eine Erinnerung an seinen Großvater, den Uhrmacher.

»Mehr will ich nicht«, sagte er. »Nora, nimm dir, was du haben möchtest.«

Nora schaute sich um. Sie würde am liebsten alles mitnehmen. Obwohl es hier bis auf die Bücher nichts Brauchbares gab. Das war hart. Sehr hart.

»Können wir das nicht morgen entscheiden? Ich müsste mal alles durchsehen«, sagte sie zögernd.

»Morgen kommt der Revierchef zum Versiegeln, ich weiß nicht, ob gleich früh oder später. Ich rate Ihnen, das Ganze heute zu erledigen.« Damit entfernte sich die Dame von der Hausverwaltung taktvoll und ließ Nora allein mit dem traurigen Gedanken, dass die Nachbarinnen mit dieser Person ein billiges Komplott geschmiedet hatten, um Nora und Genrich so schnell wie möglich loszuwerden und dann ungestört alles durchwühlen zu können.

Genrich schaute sich wehmütig im Zimmer um – seinem ersten Zuhause. An die Kiewer Wohnung des Großvaters, in der er geboren wurde, erinnerte er sich nicht, doch in diesem lang gestreckten Raum mit den zwei Fenstern hatten sie einst zu dritt gelebt, seine Eltern und er, bis 1931, als er vierzehn war und der Vater verhaftet wurde.

Nichts, absolut nichts von diesem ärmlichen Besitz wollte Genrich haben. Denn was würde Irina sagen, seine jetzige Frau, wenn er dieses Gerümpel ins Haus brachte?

»Nein, nein, Nora, ich brauche nichts davon.« Damit trottete er wieder in die Küche.

Nora schloss die Tür, schob sogar den kleinen Messingriegel vor. Sie setzte sich in Großmutters Sessel und ließ ein letztes Mal den Blick durch dieses Heim schweifen, das noch lebte, obwohl seine Bewohnerin bereits tot war. An den Wänden hingen einige kleine Bilder, kaum größer als Postkarten. Nora kannte sie in- und auswendig. Ein Foto von Großmutters Bruder Michail, ein Foto des Schauspielers Wassili Katschalow mit Autogramm, ein Foto, das kleinste, von einem Mann in Uniform, darauf eine Widmung, die seine Wange streifte: »Für Maria«. Sie wusste nicht, wer das war. Merkwürdigerweise hatte sie die Großmutter nie nach diesem Herrn gefragt. Nora sah auf die Uhr – Zeit, nach Hause zu gehen. Die arme Taissija hatte fast ihren gesamten freien Tag bei Jurik verbracht.

Unter dem Fenster stand eine geflochtene Weidentruhe. Nora klappte den Deckel auf. Bis obenhin alte Hefte, Notizbücher, stapelweise beschriebenes Papier. Sie schlug das oberste Heft auf – eine Art Manuskript oder Tagebuch. Ein Bündel Postkarten, Zeitungsausschnitte.

Gut, dachte sie, ich nehme die Bücher mit und die Truhe. Doch nachdem sie sich noch einmal umgeschaut hatte, legte sie auch die Fotos in die Truhe, einen kleinen silbernen Becher, in dem Großmutter ihre Haarnadeln aufbewahrt hatte, und den anderen, aus dem sie ihre Medizin getrunken hatte, sowie eine Untertasse; die dazugehörige Tasse hatte Nora als Kind eigenhändig zerschlagen. Dann holte sie aus dem Büfett eine kleine Zuckerdose und eine Zange zum Zerkleinern von Bruchzucker – Großmutter hatte Diabetes, liebte aber Süßes über alles und zwackte sich mit dieser Zange hin und wieder ein winziges Stückchen Zucker ab, nicht größer als ein Streichholzkopf. Nora dachte an den Waschkrug und die Schüssel, doch die hatten in der alten Küche bereits ein neues Leben begonnen, als Gemeinschaftsgeschirr. Weg mit Schaden!

Eine Stunde später, nachdem die Angehörigen gegangen waren, luden Nora und ihr Vater Truhe und Bücher ins Auto. Die Truhe passte in den Kofferraum, die Bücher nahmen die gesamte Rückbank ein und versperrten den Blick durch die Heckscheibe. Der Vater fuhr Nora nach Hause und half ihr, das ganze Gerümpel hochzutragen. Er blieb an der Tür stehen, und Nora bat ihn auch nicht in die Wohnung. Er hatte sie vor zwei Monaten besucht, um seinen Enkel zu sehen. Früher hatte in diesen drei kleinen Zimmern eine vierköpfige Familie gelebt – Genrich mit Frau, Tochter und Schwiegermutter. Nun lebten sie darin zu zweit.

Eine schöne, bequeme Wohnung. Gut, dass man heutzutage niemanden mehr reingesetzt bekommt, dachte er. Daneben blitzte ein anderer Gedanke auf: Schade eigentlich, dass Mamas Zimmer an den Staat fällt.

Dann fuhr er in sein neues Zuhause im Bezirk Timirjasewka, zu Irina.

Taissija zog sich an, küsste Nora auf die Wange, stieg über den Berg verstreuter Bücher und sagte noch rasch, schon halb aus der Wohnung: »Ach ja, eine Tussja hat angerufen, ein Vitja zweimal und ein Armenier, den Namen hab ich mir nicht gemerkt.«

Dann lief sie davon.

Endlich war alles vorbei.

Auf dem Küchentisch standen drei blitzsauber ausgewaschene Fläschchen – der Kleine hatte sechshundert Gramm getrunken. Nora schaute in sein Zimmer. Er schlief, auf dem Bauch, die Beine angezogen. Sein Gesicht war nicht zu sehen, nur eine runde Wange und ein angewachsenes Ohrläppchen. Ohne die Mütze abzusetzen, griff Nora zu Papier und Bleistift. Ein paar Striche, und die Zeichnung war fertig. Eine gelungene Zeichnung. So hielt es Nora seit vielen Jahren: Jede kleine Freude, die ihr Auge entdeckte, bannte sie sofort auf Papier. Ganze Stapel sammelten sich an, immer mehr, und am Ende warf sie alles weg. Doch ihr Gedächtnis brauchte die Aktion der Hand offenbar, um den Augenblick festzuhalten.

Sie führte den Bleistift, ohne nachzudenken, fast mechanisch.

Dann betrachtete sie den Bücherhaufen an der Tür und wusste, dass sie sich heute nicht schlafen legen würde, ehe alles weggeräumt war. Am meisten störte sie der Staubgeruch. Sie machte einen Lappen nass, wrang ihn aus und wischte Buch für Buch ab, ohne auf Umschlag oder Rücken zu schauen. Sie erkannte sie allein durch die Berührung. Dann füllte sie zuerst die Lücken in den beiden großen Bücherschränken auf, den Rest stapelte sie im Durchgangszimmer, das ihr als Werkstatt diente. Um vier war sie mit den Büchern fertig, blieb noch die Truhe. Aber sie hatte keine Kraft mehr. Sie setzte sich auf einen knarrenden Thonetstuhl, um zu verschnaufen. Da regte sich Jurik, sie zog die staubigen Sachen aus, stellte sich unter die Dusche, und während das Baby unwillig klagte, weil keine Nahrung kam, trocknete sie sich ab und lief dann nackt, mit zwei übervollen Brüsten, zu ihrem Sohn. Er lächelte mit seinen hellen Augen und öffnete den Mund. Während er trank, schlief Nora ein, und als er eingeschlafen war, wachte sie auf. Sie zog ihren Pyjama an und sank im Nebenzimmer auf die Liege.

Sie schlief wie ein Stein und erwachte von einem Gefühl, als hätte etwas sie versengt. Sie blickte an sich herab – Wanzen krabbelten auf ihr herum und hinterließen eine ganze Straße aus Bissspuren. Nora schüttelte sich und schaute auf die Uhr. Kurz nach sieben, sie hatte keine zwei Stunden geschlafen. Sie sprang auf, ging zur Tür und begriff: Von der Wärme waren die Wanzen in der Weidentruhe munter geworden und durch die Ritzen auf die Jagd gegangen. Nora klappte den Deckel auf. Die Truhe war voller Papiere, darin nisteten mehrere Generationen dieser Blutsauger, Nora nahm den typischen Wanzengeruch wahr. Eine schöne Erbschaft! Ekelhaft!

Sie packte die Truhe an dem verbliebenen der beiden seitlichen Griffe. Der Balkon war vor Juriks Zimmer, sie schleifte die Truhe an dem weißen Gitterbettchen vorbei, öffnete die Balkontür, wobei ein Schwall kalter Luft hereindrang, und stieß den Wanzenkorb hinaus. Sollten die Volksfeinde dort erfrieren! Sie verriegelte die Balkontür.

Jurik wachte auf, lächelte selig und reckte sich. Auf seiner Decke saß gedankenversunken eine vor Unterernährung ganz ausgedörrte Wanze. Nora schnippte sie angewidert auf den Fußboden, hob sie auf und warf sie auf den Balkon. Der Kleine lächelte – er verstand die schwungvolle Handbewegung seiner Mutter als Einladung zum Spiel und schwenkte ebenfalls die Fäustchen.

Nora wischte den Fußboden von der Tür bis zum Balkon mit Petroleum, schüttelte ihre Unterwäsche aus und wartete, ob noch Nachzügler auftauchten. Doch die Wanzen fanden, wie sich später herausstellen sollte, alle auf dem Balkon den Tod. Und Nora vergaß die Truhe wie die Wanzen erst einmal.

Am nächsten Tag brach später Frost herein, dann regnete es lange und heftig. Im Mai mietete Nora ein Sommerhaus in Tischkowo und verbrachte dort über drei Monate. Als sie nach ihrer Rückkehr die im Verlauf des Sommers eingestaubte Wohnung putzte, entdeckte sie auf dem Balkon die Truhe wieder. Die Weidenruten waren leicht aufgequollen, und vom Regen reingewaschen sah die Truhe sogar besser aus als unmittelbar nach ihrer Evakuierung. Nora klappte den Deckel auf und erblickte einen Brei aus durchgeweichtem Papier mit verschmierten Tintenspuren. Die Bleistiftaufzeichnungen waren gänzlich ausgewaschen.

Auch gut, dachte sie, muss ich nicht mehr in diesem alten Schlamm wühlen. Sie holte den Mülleimer aus der Küche und stopfte die übel riechende Papiermasse hinein. Vier Eimer brachte sie hinunter, dann fand sie auf dem Grund der Truhe ein in rosa Wachstuch gewickeltes Päckchen. Sie machte es auf – es enthielt mit Bändern verschnürte Briefe. Sie zog den obersten Brief heraus. Auf dem Umschlag stand die Adresse: Kiew, Mariinsko-Blagoweschtschenskaja-Straße 22, der Poststempel war vom 16. März 1911. Die Empfängerin hieß Maria Kerns, der Absender Jakow Ossetzki, Kiew, Kusnetschnaja-Straße 23. Ein umfangreicher Briefwechsel, nach Jahren geordnet. Dazu mehrere Notizbücher, die Seiten vollgeschrieben mit altmodischer kleiner Schrift. Nora untersuchte alles gründlich – sie wollte ihre Wohnung nicht noch einmal mit Wanzen verseuchen. Aber alles war sauber. Sie legte das Päckchen mitsamt dem Wachstuch in ihr Theaterarchiv, das sie damals bereits begonnen hatte. Und vergaß es erneut, diesmal für viele, viele Jahre.

Die Papiere reiften jahrelang im Dunkel ihres Sekretärs. Als Nora sie schließlich herausnahm, waren alle Menschen gestorben, die Noras Fragen, die ihr beim Lesen der Briefe kamen, hätten beantworten können.

Zweites KapitelDie Uhrmacherwerkstatt in der Mariinsko-Blagoweschtschenskaja-Straße (1905–1907)

Maria wurde in Kiew geboren, wohin ihr Vater, Pinchas Kerns, 1873, fast zwanzig Jahre vor ihrer Geburt, aus der kleinen Stadt La Chaux-de-Fonds in der westlichen Schweiz gezogen war. Der Vater war Uhrmacher in dritter Generation und wollte hier eine eigene Firma gründen, nach dem Vorbild der kleinen Schweizer Unternehmen, die zu jener Zeit ihren Siegeszug um die Welt antraten. Pinchas war befreundet mit Louis Brandt, dem Inhaber einer Uhrmacherwerkstatt und späteren Gründer der Firma Omega; und der hatte ihn auf diese Idee gebracht. Pinchas war ein erstklassiger Uhrenmechaniker, und bei seinem Fleiß und seiner Gewissenhaftigkeit hätte er mit Uhren aus Schweizer Teilen in Kiew ein florierendes Geschäft machen können. Louis Brandt beteiligte sich sogar an der Finanzierung dieses Vorhabens.

Zwar stellte sich nach und nach heraus, dass Pinchas der ehrenvollen Mission als Vertreter des westlichen Kapitalismus nicht gewachsen war, doch er lebte sich am neuen Ort ein, heiratete ein ortsansässiges jüdisches Mädchen und bekam drei Söhne und die Tochter Maria. Mit der Zeit lernte er auch die beiden für ihn neuen slawischen Sprachen, Russisch und Ukrainisch. Zweisprachigkeit war er gewohnt, denn in seinem heimischen La Chaux-de-Fonds wurde neben Französisch fast gleichberechtigt Deutsch gesprochen, hinzu kamen die beiden jüdischen Sprachen, das Alltagsjiddisch und das »erhabene« Hebräisch.

Das in den Umzug und die Einrichtung am neuen Ort investierte Schweizer Geld war nicht völlig in den Sand gesetzt, denn Kerns, der rasch begriff, dass ihm der Handel weit weniger lag als das Handwerkliche, eröffnete in der Mariinsko-Blagoweschtschenskaja-Straße eine Werkstatt, wo er Uhren jedes Fabrikats reparierte, meist namenlose Stücke ortsansässiger Meister. Sein Handwerk schätzte er sehr hoch, während er den Handel für eine Art Gaunerei hielt. Obgleich das Kapital zu der Zeit schon geschrieben war und dessen genialer Autor, damals noch nicht weltberühmt, darin Pinchas’ Heimatstadt La Chaux-de-Fonds äußerst lobend erwähnte, als Beispiel für die kapitalistische Spezialisierung der Produktion, hatte der Uhrmacher diese Bibel des Kommunismus nie gelesen. Er blieb sein Leben lang Handwerker und erklomm nie die Höhen der kommunistischen Theorie, ja, nicht einmal die der kapitalistischen. Dafür eigneten sich seine Kinder früh die fortschrittlichen Ideen der Menschheit an und verspotteten ihren gütigen, fröhlichen und in jeder Hinsicht vorbildlichen Vater liebevoll wegen seiner archaischen Gewohnheiten, seines französischen Akzents und wegen der altmodischen französischen Gehröcke, die er fast vierzig Jahre lang auftrug.