Das grüne Zelt - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Das grüne Zelt E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Ljudmila Ulitzkaja erzählt von drei Freunden, die in der Sowjetunion zu Dissidenten werden. Ilja, der Fotograf, vervielfältigt und verbreitet in seiner Freizeit verbotene Literatur. Als sich Jahre später herausstellt, dass er auch für den KGB tätig war, muss er fliehen. Micha ist Jude und schreibt seit seiner Jugend Gedichte. Wegen seiner Nähe zum Samisdat wird er denunziert und kommt ins Lager. Sanja kümmert sich während Michas Haft um dessen Frau und kleine Tochter. Dennoch hält ihn nach Michas Tod nichts mehr in der Sowjetunion. In ihrem großen Gesellschaftspanorama erzählt Ulitzkaja von Mut und Verrat, irregeleiteten Idealen, menschlicher Größe und Niedertracht - und immer wieder von der Liebe, die das Handeln der Menschen antreibt.

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Hanser eBook
Ljudmila Ulitzkaja
Das grüne Zelt
Roman
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag
Die russische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Зеленый шатер (Zelënyi šatër) bei Eksmo in Moskau und wurde für die deutsche Ausgabe in Zusammenarbeit mit der Autorin vollständig durchgesehen.
Die Nachdichtungen, soweit sie nicht aus den in den Anmerkungen erwähnten Quellen übernommen wurden, stammen von Jekatherina Lebedewa.
ISBN 978-3-446-24068-1
© Ljudmila Ulitzkaja 2010
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2012
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
»Trösten Sie sich nicht damit, dass die Zeit im Unrecht ist. Dass sie moralisch im Unrecht ist, bedeutet noch nicht, dass wir im Recht sind, ihre Unmenschlichkeit heißt nicht, dass wir, weil wir nicht mit ihr einverstanden sind, allein dadurch schon Menschen sind.«
Boris Pasternak an Warlam Schalamow, 9. Juli 1952

Inhalt

Prolog
Schuljahre sind doch die schönste Zeit
Der neue Lehrer
Kellerkinder
Die Ljurssy
Der letzte Ball
Völkerfreundschaft
Das grüne Zelt
Liebe im Ruhestand
Alle sind Waisen
König Arturs Hochzeit
Die zu kleinen Stiefel
Ein hohes Register
Schulfreundinnen
Das Schleppnetz
Der Engel mit dem großen Kopf
Das Haus mit dem Ritter
Der Kaffeefleck
Der Flüchtling
Die Überschwemmung
Hamlets Schatten
Ein gutes Los
Das arme Kaninchen
Reise ohne Rückkehr
Taubstumme Dämonen
Der Miljutin-Garten
In der vordersten Reihe
Die ordengeschmückte Hose
Imago
Eine russische Geschichte
Ende gut – alles gut
Epilog: Das Ende einer schönen Epoche
Anmerkungen
Danksagung

Prolog

Tamara saß vor einem Teller mit glibberigem Spiegelei und aß, noch ganz in ihren Traum vertieft.
Ihre Mutter Raissa Iljinitschna führte mit zärtlicher Hand einen grobzinkigen Kamm durch Tamaras Haar, bemüht, nicht allzu heftig an dem lebendigen Filz zu zerren.
Das Radio spie feierliche Musik, aber nicht sehr laut, denn hinter dem Wandschirm schlief die Großmutter. Plötzlich verstummte die Musik. Dann eine auffällig lange Pause. Schließlich ertönte eine bekannte Stimme:
»Achtung! Hier spricht Moskau. Angeschlossen sind alle Radiostationen der Sowjetunion. Wir verlesen eine Regierungserklärung …«
Der Kamm erstarrte in Tamaras Haar, sie selbst war schlagartig wach, schlang ihr Spiegelei hinunter und sagte mit heiserer Morgenstimme: »Es ist bestimmt nur eine simple Erkältung, und das müssen sie gleich im ganzen Land …«
Weiter kam sie nicht, denn ihre Mutter riss plötzlich so heftig am Kamm, dass Tamaras Kopf nach hinten ruckte und ihre Zähne aufeinanderschlugen.
»Sei still«, zischte Raissa Iljinitschna gepresst.
In der Tür stand die Großmutter in ihrer Kittelschürze, die so alt war wie die große chinesische Mauer. Sie hörte sich die Rundfunkmeldung mit leuchtenden Augen an und sagte:
»Rajetschka, kauf im Jelissejewski etwas Süßes. Heute ist nämlich Purim. Ich denke doch, Samech ist krepiert.«
Tamara wusste damals nicht, was Purim ist, warum man dafür etwas Süßes kaufte, und schon gar nicht, wer dieser Samech war, der krepiert sein sollte. Woher sollte sie auch wissen, dass Stalin und Lenin aus Gründen der Konspiration in ihrer Familie seit langem nur nach dem Anfangsbuchstaben ihrer Parteinamen benannt wurden, »S« und »L«, und auch das in einer geheimen alten Sprache – Samech und Lamed.
Indessen verkündete die Lieblingsstimme des Landes, dass es sich bei der Krankheit keineswegs um einen Schnupfen handelte.
Galja hatte schon ihr Schulkleid angezogen und suchte nach der Schürze. Wo hatte sie die nur gelassen? Sie kroch unter die Liege – vielleicht war sie dorthin gerutscht?
Plötzlich kam ihre Mutter aus der Küche gestürmt, ein Messer in der einen und eine Kartoffel in der anderen Hand. Sie heulte so durchdringend, dass Galja glaubte, die Mutter habe sich geschnitten. Aber es war kein Blut zu sehen.
Der Vater hob den morgens immer schweren Kopf vom Kissen.
»Was schreist du so, Nina? Was schreist du so früh am Morgen?«
Aber die Mutter heulte noch lauter, und ihre Worte waren in dem abgehackten Geschrei kaum zu verstehen.
»Er ist tot! Wach auf, du Dummkopf! Steh auf! Stalin ist tot!«
»Haben sie das im Radio gesagt?« Der Vater hob den großen Kopf mit den an der Stirn klebenden Haaren.
»Sie haben gesagt, er ist krank. Aber er ist tot, ich schwör’s dir, er ist tot! Das fühle ich!«
Dann folgte erneut unartikuliertes Geheul, unterbrochen von dramatischen Ausrufen:
»Ojeojeoje! Was soll nun werden? Was soll jetzt aus uns allen werden? Was wird nun bloß?«
Der Vater verzog das Gesicht und sagte grob:
»Was heulst du so, dumme Gans? Was heulst du? Schlimmer kann’s nicht werden!«
Galja hatte endlich die Schürze hervorgezogen – sie war tatsächlich unter die Liege gerutscht.
Egal, dass sie zerknautscht ist, ich bügle sie jetzt nicht, entschied sie.
Gegen Morgen war das Fieber gesunken, und Olga schlief gut – ohne zu schwitzen und zu husten. Sie schlief fast bis zum Mittag. Und erwachte erst, als die Mutter ins Zimmer kam und mit lauter, feierlicher Stimme verkündete:
»Steh auf, Olga! Ein großes Unglück!«
Ohne die Augen zu öffnen, vergrub sich Olga im rettenden Kissen, in der Hoffnung, sie träume noch, obwohl sie bereits ein schreckliches Pochen im Hals spürte, und dachte: Krieg! Die Faschisten haben uns überfallen! Es ist Krieg!
»Olga, steh auf!«
Was für ein Unglück! Die faschistischen Horden zertrampeln ihr heiliges Land, alle werden an die Front gehen, aber sie darf nicht mit …
»Stalin ist tot!«
Das Herz pochte ihr noch in der Kehle, doch sie ließ die Augen geschlossen. Gott sei Dank, kein Krieg. Wenn der Krieg eines Tages käme, wäre sie bestimmt schon erwachsen, und dann würde man sie nehmen. Sie zog sich die Decke über den Kopf, murmelte im Halbschlaf »dann nehmen sie mich« und schlief mit diesem guten Gedanken ein.
Die Mutter ließ sie in Ruhe.

Schuljahre sind doch die schönste Zeit

Es ist interessant zu verfolgen, welche Wege zur unvermeidlichen Begegnung von Menschen führen, die füreinander bestimmt sind. Manchmal ergibt sich eine solche Begegnung scheinbar ohne besonderes Zutun des Schicksals, ohne raffinierte Arrangements, allein aus dem natürlichen Lauf der Dinge – zum Beispiel, weil diese Menschen im selben Hof wohnen oder dieselbe Schule besuchen.
Diese drei Jungen gingen in dieselbe Klasse. Ilja und Sanja von Anfang an, Micha kam später dazu. In der Hierarchie, die sich spontan in jedem Rudel herausbildet, standen alle drei ganz weit unten – wegen ihrer vollkommenen Unfähigkeit zu Prügeleien und Brutalität. Ilja war lang und dünn, Arme und Beine ragten aus zu kurzen Ärmeln und Hosenbeinen. Überdies riss jeder Nagel, jede scharfe Kante unweigerlich ein Loch in seine Kleidung. Seine Mutter, die alleinstehende, verzagte Maria Fjodorowna, mühte sich redlich, mit ihren zwei linken Händen Flicken auf alle Löcher zu nähen – sie saßen immer schief und krumm. Die Kunst des Nähens war ihr einfach nicht gegeben. Aber Ilja, stets schlechter angezogen als die anderen, ebenfalls schlecht gekleideten Jungen, spielte gern den Clown, alberte ständig herum und stellte seine Armut regelrecht zur Schau – eine erhabene Form, sie zu überwinden.
Sanja war schlimmer dran. Seine Reißverschlussjacke, die mädchenhaften Wimpern, das provozierend hübsche Gesicht und die Leinenservietten, in die seine Schulbrote eingewickelt waren, weckten bei seinen Mitschülern Neid und Abscheu. Zudem lernte er Klavier spielen, und manch einer hatte ihn schon, mit seiner Großmutter an der einen und einer Notenmappe in der anderen Hand, die Tschernyschewski-Straße entlang zur Musikschule gehen sehen – manchmal sogar, wenn er an einer seiner häufigen, nicht sonderlich schweren, aber langwierigen Krankheiten litt. Die Großmutter setzte die schlanken Beine wie ein Zirkuspferd und wippte im Gehen rhythmisch mit dem Kopf. Sanja hielt sich seitlich hinter ihr, wie es sich für einen Reitburschen geziemt.
In der Musikschule wurde Sanja, anders als in der allgemeinbildenden, bewundert – bereits in der zweiten Klasse spielte er in der Prüfung ein Stück von Grieg vor, das nicht einmal jeder Fünftklässler bewältigte. Ein weiterer Grund für die allgemeine Verzückung war Sanjas geringer Wuchs: Mit acht Jahren wurde er für ein Vorschulkind gehalten, mit zwölf für einen Achtjährigen. In der allgemeinbildenden Schule bekam er deshalb den Spitznamen Gnom. Und erntete weder Bewunderung noch Verzückung – nur beißenden Hohn. Dem langen Ilja ging Sanja bewusst aus dem Weg; nicht so sehr wegen dessen ständiger Spötteleien, die sich gar nicht gegen ihn richteten, sondern wegen des für ihn so demütigenden Größenunterschieds.
Zusammengebracht wurden Ilja und Sanja von Micha, als der im fünften Schuljahr in ihre Klasse kam. Sein Erscheinen rief Begeisterung hervor, denn als klassischer Rothaariger war er die ideale Zielscheibe für jeden Spottlustigen. Seinen im Nacken und an den Seiten kahlgeschorenen Kopf zierte ein golden leuchtender Schopf, er hatte durchscheinende himbeerrote Segelohren, die irgendwie an der falschen Stelle am Kopf angeschraubt schienen, zu dicht an den Wangen, weiße Haut und Sommersprossen; und selbst die Augen hatten einen orangeroten Schimmer. Zudem war er Brillenträger und Jude.
Die erste Tracht Prügel bezog Micha gleich am ersten September – nicht sehr heftig, nur zur Belehrung – in der großen Pause, auf der Toilette. Und zwar nicht von den notorischen Unruhestiftern Mutjukin und Murygin – die ließen sich dazu nicht herab –, sondern von deren Nachläufern und Nachahmern. Micha ließ die Prügel stoisch über sich ergehen, öffnete seine Schultasche, holte ein Taschentuch heraus, um sich den Rotz abzuwischen, und da schaute ein kleines Kätzchen aus der Tasche. Die Jungen nahmen es ihm weg und warfen es wie einen Ball reihum. In diesem Augenblick kam Ilja herein, fing das Kätzchen über den Köpfen der Volleyballspieler auf – er war der Größte in der Klasse –, und das Klingelzeichen beendete das spannende Spiel.
Im Klassenraum steckte Ilja das Kätzchen Sanja zu, der ihm gerade über den Weg lief, und der verstaute es in seiner Schultasche.
In der nächsten Pause suchten Mutjukin und Murygin, die Hauptfeinde des Menschengeschlechts, deren Namen später Anlass für ein Wortspiel sein sollten und die hier aus vielerlei Gründen Erwähnung verdienen, eine Weile nach dem Kätzchen, vergaßen es aber bald. Nach der vierten Stunde durften sie alle nach Hause gehen; die Jungen stürmten mit Geheul und Geschrei aus der Schule und scherten sich nicht mehr um die drei, die allein in dem mit bunten Astern geschmückten Klassenraum zurückblieben.
Sanja holte das halberstickte Kätzchen aus dem Ranzen und gab es Ilja. Der reichte es weiter an Micha. Sanja lächelte Ilja an, Ilja Micha, Micha Sanja.
»Ich hab ein Gedicht gemacht. Über das Kätzchen«, sagte Micha schüchtern. »Hier:
Ein junger Kater, wunderschön, Der sollte beinah von uns gehn. Ilja hat ihn vorm Tod bewahrt, Hat ihm den schlimmen Tod erspart.«
»Na ja, nicht schlecht. Natürlich nicht gerade Puschkin«, kommentierte Ilja.
»Zweimal Tod geht nicht«, bemerkte Sanja, und Micha stimmte ihm selbstkritisch zu.
»Ja, du hast recht. Hat ihm ein schlimmes Los erspart. Das ist besser!«
Micha erzählte ausführlich, wie er am Morgen auf dem Schulweg das arme Kätzchen knapp einem Hund entrissen hatte, der drauf und dran war, es totzubeißen. Aber nach Hause mitnehmen könne er es nicht, denn wer weiß, wie die Tante, bei der er seit letztem Montag wohne, das finden würde.
Sanja streichelte das Kätzchen und seufzte.
»Ich kann es auch nicht nehmen, wir haben einen Kater. Der hätte bestimmt was dagegen.«
»Na schön, dann nehme ich es.« Ilja griff lässig nach dem Kätzchen.
»Und du kriegst zu Hause keinen Ärger?«, erkundigte sich Sanja.
Ilja lachte spöttisch.
»Bei mir zu Hause wird gemacht, was ich sage. Mit meiner Mutter komme ich klar. Sie hört auf mich.«
Er ist schon richtig erwachsen, so werde ich nie, ich könnte nicht sagen »mit meiner Mutter komme ich klar«. Ich bin wirklich ein Muttersöhnchen. Obwohl meine Mutter auch auf mich hört. Und Großmutter auch. Sogar mehr als das! Trotzdem ist das etwas anderes, dachte Sanja traurig.
Er betrachtete Iljas knochige Hände, die voller gelber und dunkler Flecke und Schrammen waren. Lange Finger, damit könnte er zwei Oktaven greifen. Micha setzte sich derweil das Kätzchen auf den Kopf, auf den roten Haarschopf, den der großmütige Friseur gestern »zum Weiterwachsen« stehengelassen hatte. Das Kätzchen rutschte dauernd herunter, Micha setzte es immer wieder zurück.
Sie verließen die Schule zu dritt. Das Kätzchen fütterten sie mit einem geschmolzenen Eis. Sanja hatte Geld dabei. Es reichte für vier Portionen. Wie sich später herausstellte, hatte Sanja fast immer Geld dabei … Zum ersten Mal im Leben aß Sanja Eis auf der Straße, gleich aus der Packung. Wenn seine Großmutter Eis kaufte, trugen sie es nach Hause, füllten den schrumpfenden Klumpen in eine Glasschale mit Fuß und gaben Kirschkonfitüre darauf – nur so hatte er bisher Eis gegessen.
Ilja erzählte den beiden begeistert, was für einen Fotoapparat er sich vom ersten selbstverdienten Geld kaufen würde, und teilte ihnen auch gleich seinen Plan mit, wie er dieses Geld verdienen könne.
Sanja eröffnete ihnen unvermittelt sein Geheimnis – seine Hände seien zu klein, keine Pianistenhände, und das sei für einen Klavierspieler ein großes Manko.
Micha, der Waise war und sich gerade in eine neue Familie einlebte, die dritte in den letzten sieben Jahren, erzählte freimütig, dass seine Verwandten nun zur Neige gingen, und wenn Tante Genja ihn jetzt nicht behalten würde, müsse er wieder ins Kinderheim …
Diese neue Tante war eine schwächliche Person. Sie hatte keine bestimmte Krankheit, sagte aber gern bedeutungsschwer und voller Trauer von sich: »Ich bin am ganzen Leib krank« und klagte ständig über Schmerzen in den Beinen, im Rücken, in der Brust und in den Nieren. Außerdem hatte sie neben ihrem erwachsenen Sohn Marlen, der nicht mehr bei ihr wohnte und ihr keine große Hilfe war, eine behinderte Tochter, was sich ebenfalls negativ auf ihren Gesundheitszustand auswirkte. Jede Arbeit fiel ihr schwer, so dass die Familie schließlich entschieden hatte, den verwaisten Neffen bei ihr unterzubringen und in der Verwandtschaft Geld für seinen Unterhalt zu sammeln. Micha war immerhin der Sohn ihres gemeinsamen im Krieg gefallenen Bruders.
Die Jungen schlenderten und redeten, redeten und schlenderten, dann blieben sie an der träge dahinfließenden Jausa stehen und verstummten. Sie spürten alle zugleich, wie gut das tat: Vertrauen, Freundschaft, Gleichheit. Und kein Gedanke daran, wer der Anführer sei, nein, jeder interessierte sich gleichermaßen für jeden. Von Ogarjow und Herzen und ihrem berühmten Schwur auf den Sperlingsbergen wussten die drei noch nichts, selbst der belesene Sanja kannte Alexander Herzen noch nicht. Außerdem galt diese verrufene Gegend – Chitrowka, Gontschary, Kotelniki – seit Jahrhunderten als übelste der Stadt und war nicht geschaffen für romantische Schwüre. Aber in ihrem Leben war etwas Wichtiges geschehen: Eine solche Verbundenheit zwischen Menschen ist nur in jungen Jahren möglich. Als Kinderfreundschaft hakt sie sich tief im Herzen fest und hält ein Leben lang.
Einige Zeit später würden sie ihren Herzensbund hochtrabend »Trianon« nennen, andere Namen wie »Troiza« und »Trio« hatten sie nach langen Debatten verworfen. Sie wussten nichts von der Teilung Österreich-Ungarns, sie wählten die Bezeichnung »Trianon« ihrer Schönheit wegen.
Dieses Trianon sollte zwanzig Jahre später in einem peinlichen Gespräch erwähnt werden, das Ilja mit einem hochrangigen Mitarbeiter der Staatssicherheit haben würde, dessen Dienstgrad im Dunkeln blieb und dessen Name, Anatoli Alexandrowitsch Tschibikow, nicht sein richtiger war. Aber selbst die eifrigsten Dissidenten-Bekämpfer der KGB-Bande würden sich genieren, das Trianon als antisowjetische Jugendorganisation einzustufen.
Zusammengeführt wurden die Jungen also nicht vom hohen Ideal der Freiheit, um dessentwillen man entweder unverzüglich sein Leben opfern oder, was noch öder ist, Jahr um Jahr seines Lebens dem Dienst am undankbaren Volk widmen muss, wie Alexander Herzen und Nikolai Ogarjow es hundert Jahre zuvor getan hatten, sondern von einem schwachen Kätzchen, dem es nicht vergönnt war, die Erschütterungen des ersten Septembers 1951 lange zu überleben. Es starb zwei Tage später in Iljas Armen und wurde unter einer Parkbank im Hof des Hauses Nummer 22 in der Pokrowka-Straße (die damals den Namen Tschernyschewskis trug, der sein Leben ebenfalls für edle Ideen geopfert hatte) heimlich, aber feierlich begraben. Das Haus war früher einmal »Kommode« genannt worden, doch das wusste inzwischen kaum noch einer der Bewohner.
Das Kätzchen ruhte nun unter einer Bank, auf der – vermutlich – der junge Puschkin mit seinen Cousinen gesessen und sie mit wohlgesetzten Versen unterhalten hatte. Sanjas Großmutter erinnerte ständig daran: Das Haus, in dem sie wohnten, habe bessere Zeiten erlebt.
In der Klasse vollzog sich erstaunlicherweise ziemlich rasch – innerhalb von zwei oder vier Wochen – eine gewisse Veränderung. Micha merkte das natürlich nicht, woher sollte er wissen, wie es früher gewesen war, er war ja neu. Sanja und Ilja aber spürten: Sie standen in der Klasse zwar nach wie vor ganz unten in der Hierarchie, aber nun nicht mehr einzeln, sondern gemeinsam. Und galten jetzt als anerkannte Minderheit, und zwar, weil sie sich nicht in die Allgemeinheit der kleinen Welt einzufügen vermochten. Die beiden Anführer, Mutjukin und Murygin, hatten alle Übrigen fest im Griff, und wenn sie sich zerstritten, zerfiel die Klasse in zwei verfeindete Parteien, denen sich die Parias nie anschlossen – man hätte sie auch gar nicht aufgenommen. Dann kam es zu fröhlichen oder bösartigen Rangeleien, mit Blutvergießen und ohne, und die drei wurden vergessen. Wenn sich Mutjukin und Murygin jedoch wieder versöhnt hatten, besannen sich alle auf die drei Außenseiter, die man mühelos verprügeln konnte, doch es war reizvoller, sie in Angst und Unruhe zu halten und sie ständig daran zu erinnern, wer hier das Sagen hatte.
In der fünften Klasse begann die Mittelstufe, und anstelle der für die gesamte Lese-, Schreib- und Rechenkunst zuständigen Natalja Iwanowna, einer herzensguten Frau, die es geschafft hatte, sogar Mutjukin und Murygin, von ihr liebevoll Tolenka und Slawotschka genannt, das Alphabet beizubringen, bekamen sie nun Fachlehrer: Lehrer für Mathematik und Erdkunde, Lehrerinnen für Russisch, Biologie, Geschichte und Deutsch.
Die Fachlehrer waren besessen von ihrem jeweiligen Fach und gaben umfangreiche Hausaufgaben auf, und die »normalen Jungs« waren eindeutig überfordert. Ilja, der in der Unterstufe keineswegs geglänzt hatte, holte dank seiner neuen Freunde auf, und am Ende des ersten Quartals, zu Neujahr, stellte sich heraus, dass die minderwertigen Brillenträger und Schwächlinge beste Leistungen hatten, während Mutjukin und Murygin im Unterricht kaum noch mitkamen. Der Konflikt, den die Erwachsenen einen sozialen genannt hätten, spitzte sich zu und wurde bewusster wahrgenommen, zumindest von der unterdrückten Minderheit. Damals führte Ilja den Begriff ein, der sich in ihrer Gruppe lange halten sollte: »Mutjuki und Murygi«. Er entsprach fast der Bezeichnung Sowki, die sich später einbürgern sollte, aber das Schöne daran war, dass nur sie ihn benutzten.
Den größten Unmut der »Mutjuki und Murygi« erregte Micha, darum bekam er von ihnen am meisten ab, doch dank seiner Heimerfahrung ertrug er die Prügel in der Schule mit Leichtigkeit, klagte nie, schüttelte sich, hob seine Mütze auf und rannte unter dem Gejohle seiner Feinde davon. Ilja spielte weiter mit Erfolg den Clown, so dass er die Feinde oft verwirrte, sie zum Lachen brachte oder mit einem überraschenden Streich verblüffte. Sanja war am sensibelsten. Doch gerade diese schmähliche Sensibilität wurde letztlich zu seinem Schutz. Eines Tages, als sich Sanja an einem Waschbecken der Schultoilette – die eine Mischung aus Parlament und Diebestreffpunkt war – die Hände wusch, empfand Mutjukin plötzlich eine heftige Abneigung gegen diese unschuldige Tätigkeit und forderte Sanja auf, sich auch die Visage zu waschen. Sanja tat es, teils aus Friedfertigkeit, teils aus Feigheit, woraufhin Mutjukin zum Scheuerlappen griff und damit über Sanjas nasses Gesicht fuhr. Inzwischen waren die beiden von Neugierigen umringt, die sich Unterhaltung versprachen. Doch daraus wurde nichts. Sanja fing an zu zittern, wurde blass, verlor das Bewusstsein und fiel auf den Fliesenboden. Damit war der klägliche Gegner natürlich besiegt, aber auf eine recht unbefriedigende Weise. Sanja lag in einer seltsamen Pose auf dem Boden, den Kopf weit zurückgeworfen; Murygin stieß ihn vorsichtig mit dem Fuß in die Seite, um festzustellen, wieso er so reglos dalag. Dabei sprach er ihn beinahe sanftmütig an: »He, Sanja, was liegst du hier rum?«
Mutjukin starrte entgeistert auf den reglosen Sanja.
Sanjas Augen blieben trotz der aufmunternden Tritte geschlossen. Da kam Micha herein, warf einen Blick auf die stumme Szene und lief zur Schulärztin. Eine Nase voll Salmiakgeist holte Sanja ins Leben zurück, und der Sportlehrer trug ihn ins Arztzimmer. Die Schulärztin maß Sanjas Blutdruck.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
Er antwortete, ganz gut, erinnerte sich aber nicht gleich, was geschehen war. Doch als ihm der schmutzige Lappen einfiel, der ihm übers Gesicht gefahren war, wurde ihm übel. Er bat um Seife und wusch sich gründlich. Die Ärztin wollte seine Eltern anrufen. Sanja überredete sie mit einiger Mühe, das zu unterlassen. Seine Mutter war sowieso arbeiten, und die Großmutter wollte er mit diesem unangenehmen Vorfall nicht behelligen. Ilja erbot sich, den geschwächten Freund nach Hause zu bringen, und die Ärztin schrieb beiden einen Zettel, dass sie den Unterricht verlassen dürften.
Von diesem Tag an genoss Sanja seltsamerweise einen höheren Status. Sie nannten ihn nun zwar »fallsüchtiger Gnom«, rührten ihn aber nicht mehr an. Aus Angst, er könnte wieder in Ohnmacht fallen.
Am 31. Dezember endete die Schule, und es begannen die Winterferien – elf Tage pures Glück. Micha behielt jeden einzelnen dieser Tage in Erinnerung. Zum Neujahrsfest bekam er ein märchenhaftes Geschenk. Tante Genja überreichte ihm nach geheimen Verhandlungen mit ihrem Sohn Marlen, der versicherte, dass seine Kinder auf diesen Teil des Familienerbes verzichteten und er selbst keine Einwände habe, ein Paar Schlittschuhe.
Es war ein längst nicht mehr gebräuchliches amerikanisches Modell, ein Mittelding zwischen Kunst- und Schnelllaufschlittschuhen mit vorn gezahnten Doppelkufen. Die Schlittschuhe waren mit sternförmigen Nieten an einstmals roten Schuhen befestigt. Auf der Metallplatte, die die Kufen mit den Schuhen verband, standen das Wort »Einstein« und eine Reihe rätselhafter Zahlen und Buchstaben. Die Schuhe hatte der Vorbesitzer ziemlich abgestoßen, doch die Kufen blitzten wie neu.
Für Tante Genja waren die Schlittschuhe ein Familienheiligtum. So wurden in anderen Familien Großmutters Brillanten gehütet.
Tatsächlich hatte die Geschichte dieser Schlittschuhe auch etwas mit Brillanten zu tun. 1919 war Tante Genjas älterer Bruder Samuil von Lenin in die USA geschickt worden, um die Amerikanische Kommunistische Partei zu gründen. Samuil war den Rest seines Lebens stolz auf diese Mission und erzählte seinen nahen Verwandten und engen Freunden, von denen er einige Hundert hatte, immer wieder von dieser Reise, bis er 1937 verhaftet wurde. Er wurde zu zehn Jahren Haft ohne Recht auf Briefwechsel verurteilt und verschwand für immer, aber seine große Geschichte wurde zur Familienlegende.
Im Juli 1919 fuhr Samuil also auf Umwegen von Moskau über Nordeuropa nach New York und betrat den Pier als Matrose, der mit einem Handelsschiff aus Holland gekommen war. Polternd schritt er den Landungssteg hinab; in den Absätzen seiner von einem Kreml-Schuster gefertigten Schuhe steckten Brillanten von enormem Wert. Er erfüllte seinen Auftrag – im Namen der Komintern eröffnete er den ersten illegalen Parteitag der Kommunistischen Partei Amerikas. Nach einigen Monaten kehrte Samuil zurück und erstattete dem Genossen Lenin persönlich Bericht.
Von seinen bescheidenen Spesen gab er nur zwölf Dollar fürs Essen aus, vom übrigen Geld kaufte er Geschenke. Für seine Frau erstand er ein rotes Wollkleid mit einem gehäkelten Beerenmuster auf Kragen und Schultern und drei Nummern zu kleine rote Schuhe. Die Schlittschuhe waren das dritte und teuerste amerikanische Mitbringsel in seinem Gepäck – er hatte sie auf Zuwachs für seinen kleinen Sohn gekauft, der jedoch bald darauf starb.
Samuil hätte lieber Schlittschuhe für sich selbst kaufen sollen. Als Kind hatte er so davon geträumt, übers Eis zu gleiten, tief über die glänzende Fläche gebeugt, vorbei an all seinen Widersachern, vorbei an den Damen mit Muff, den Gymnasiasten und Fräuleins, darunter vor allem Marussja Galperina … Die Schlittschuhe lagen lange in der Truhe und warteten auf einen neuen Erben. Aber Samuil waren keine weiteren Kinder beschieden, und nach zehn Jahren unter Verschluss gingen die Schlittschuhe an den Sohn seiner jüngeren Schwester Genja.
Und nun, weitere zwanzig Jahre später, wechselten sie in die Hände – genauer, an die Füße – eines anderen Verwandten des großen Helden Samuil.
Mit diesem überraschenden Geschenk, das alle Vorstellungen von einem möglichen Glück übertraf, endete für Micha der erste Ferientag. Und nichts deutete auf das Unglück hin, das dieses Geschenk bald bringen sollte.
Am Silvesterabend versammelte sich Tante Genjas vielköpfige Familie um den Tisch, der mit Erlaubnis der Nachbarn in der großen Küche der Gemeinschaftswohnung gedeckt war statt in dem Vierzehn-Quadratmeter-Zimmer, in dem Tante Genja mit ihrer unverheirateten behinderten Tochter Minna und mit Micha wohnte. Tante Genja hatte ein üppiges Mahl zubereitet – Fisch und Huhn. In der Nacht nach dem denkwürdigen Fest schrieb Micha ein Gedicht, in dem er die unvergesslichen Eindrücke dieses Tages festhielt.
Die Schlittschuhe sind schöner noch als alles, was ich fand, sind schöner als der Sonnenschein, als Feuer, Wasser, Sand. So wunderschön ist jeder Mensch, der diese Schlittschuh trägt. Der Tisch so feierlich gedeckt, für alle Speis und Trank, und der Familie wünsche ich Erfolg und Glück zum Dank.
Die ganze folgende Woche stand Micha noch im Dunkeln auf und ging hinaus auf den Hof, auf die kleine Eisbahn, drehte dort ganz allein seine Runden und verschwand, sobald die anderen Jungen, die in den Ferien lange schliefen, auf dem Hof auftauchten. Er stand nicht sehr sicher auf den Schlittschuhen und fürchtete, einen möglichen Angriff nicht abwehren zu können.
Die Schlittschuhe waren in diesen Ferien natürlich das Ereignis Nummer eins. Nummer zwei war Sanjas Großmutter Anna Alexandrowna. Sie ging mit den drei Freunden ins Museum.
Das begeisterte nicht nur Micha, der von Natur aus zur Hälfte aus Wissensdurst, wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher Neugier und Begeisterung und zur anderen Hälfte aus unbändiger kreativer Energie bestand. Die Museumsbesuche beeindruckten sogar Ilja, der sich nicht durch ein großes Kunstbedürfnis auszuzeichnen schien, sondern sich mehr für Technik interessierte. Nur Sanja, der Besitzer der unglaublichen Großmutter, schlenderte gelassen von Saal zu Saal und gab hin und wieder Kommentare ab – nicht an seine Freunde gewandt, nein, an die Großmutter! –, die zeigten, dass er in den Museen genauso zu Hause war wie im Konservatorium.
Diese Großmutter hatte es Micha angetan, er verliebte sich geradezu in sie. Fürs ganze Leben, bis zu ihrem Tod. Und sie sah in ihm einen künftigen Mann jenes Typs, der ihr immer gefallen hatte. Der Junge war rothaarig, er war Dichter, und in jener Woche humpelte er vom vielen Üben auf den neuen Schlittschuhen sogar ein wenig – genau wie jener beinahe große Dichter, in den Anna Alexandrowna als dreizehnjähriges Mädchen heimlich verliebt gewesen war. Das Vorbild selbst, damals ein erwachsener Mann mit der Aura eines Kämpfers, ja beinahe Märtyrers, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sehr populär war, bemerkte das verliebte Fräulein nicht, hinterließ aber eine nachhaltige Spur in der Tiefe ihrer Psyche: Ihr ganzes langes Leben hindurch bewahrte sie eine Vorliebe für solche rothaarigen, markanten, emotionalen Männer.
Sie lächelte, wenn sie Micha ansah – der Junge war von eben diesem Typ, aber sie hatten einander zeitlich verfehlt … Seine entzückten Blicke waren ihr angenehm.
Michas Gefühle fanden also, ohne dass er es ahnte, Erwiderung. Von diesem Winter an war er ein häufiger Gast bei Sanjas Familie. Das große Zimmer mit den dreieinhalb Fenstern (eines wurde von einer Wand in der Mitte geteilt) beherbergte unter der hohen Decke mit dem ebenfalls zerteilten Stuck einzigartige Bücher, sogar in Fremdsprachen. Ein stets einsatzbereites Klavier barg Musik. Von Zeit zu Zeit breiteten sich ungewohnte, herrliche Gerüche aus – nach echtem Kaffee, Bohnerwachs oder Parfüm.
Genau so war es bestimmt zu Hause bei meinen Eltern, dachte Micha. An seine Eltern hatte er keine Erinnerung: Seine Mutter war bei einem Bombenangriff auf den letzten Zug aus Kiew in Richtung Osten umgekommen, am 18.  September  1941, als die Deutschen bereits auf Podol vorrückten. Sein Vater war an der Front gefallen, ohne vom Tod seiner Frau und der Rettung des Sohnes erfahren zu haben.
In Wirklichkeit war es bei Michas Eltern ganz anders gewesen als bei Sanja Steklow; doch Fotos seiner Eltern, die wie durch ein Wunder den Krieg überstanden hatten, sah er zum ersten Mal mit zwanzig. Sie zeigten ärmliche, unschöne Menschen, die ihn sehr enttäuschten – die Mutter mit der riesigen schamlosen Büste und einem falschen Lächeln auf den kleinen dunklen Lippen, und der Vater – ein kurzbeiniger Dicker mit schrecklich aufgeblasener Miene. Der Hausrat im Hintergrund erinnerte in keiner Weise an den im kleinen Salon im ehemaligen Haus der Apraxins-Trubezkois, in dem Sanjas Familie lebte.
Am 9. Januar, gegen Ende der Ferien, feierten sie Sanjas Geburtstag. Davor, am 7. Januar, war noch Weihnachten gewesen, aber dazu waren nur erwachsene Gäste eingeladen. Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis auch die Jungen am 7. Januar empfangen wurden. Dafür waren zu Sanjas Geburtstag immer diverse Weihnachtsleckereien übrig – kandierte Äpfel, Kirschen und sogar Apfelsinenschalen, die bei Anna Alexandrowna so gut schmeckten wie bei niemandem sonst. Außerdem war der Wandschirm zusammengeklappt, der Esstisch näher zur Tür gerückt, und zwischen den beiden Fenstern stand eine große Tanne, behängt mit phantastischem Baumschmuck aus einer Schachtel, die das ganze Jahr auf dem Hängeboden lag.
Sanjas Geburtstag war immer ein wunderschönes Fest. Diesmal kamen sogar Mädchen: Lisa und Sonja, zwei Freundinnen von Sanja aus der Musikschule, und Tamara mit ihrer Freundin Olga, aber die beiden waren noch sehr klein, sie gingen in die erste Klasse und interessierten die Jungen nicht. Tamara war die Enkelin von Großmutters Freundin, einer eher unscheinbaren und wenig beeindruckenden Frau. Dafür war Lisas Großvater Wassili Innokentiewitsch großartig in seiner Militäruniform, mit seinem Schnauzbart und seinem komplexen Geruch nach Rasierwasser, Medizin und Krieg. Seine Enkelin redete er halb scherzhaft mit »Sie« an, zu Anna Alexandrowna aber sagte er »Anjuta, du …« Er war ihr Cousin, Lisa war also Sanjas Cousine zweiten Grades. Auch diese vorrevolutionären Wörter – Cousin, Cousine – stammten vermutlich aus der Schachtel vom Hängeboden.
Anna Alexandrowna nannte die Mädchen »Fräuleins« und die Jungen »junge Männer«, und Micha, verwirrt und überwältigt von diesen mondänen Umgangsformen, beruhigte sich erst, als Ilja ihm von weitem zuzwinkerte, mit einer Miene, als wollte er sagen: Keine Angst, hier tut dir keiner was!
Anna Alexandrowna hatte alles phantastisch arrangiert. Zuerst gab es Puppentheater mit einer echten Puppenbühne, mit einem Petruschka, einem dummen Iwan und der dicken Puppe Rosa. Es war sehr lustig, wie sie sich prügelten und in einer fremden Sprache zankten.
Dann machten sie Wortspiele. Die beiden kleinen Mädchen, Tamara und Olga, standen den Erwachsenen in nichts nach, sie waren ungewöhnlich weit für ihr Alter. Anschließend bat Anna Alexandrowna die Kinder an den ovalen Tisch, und die Erwachsenen tranken ihren Tee im Hintergrund, hinter dem Schrank. Wassili Innokentiewitsch saß in einem Sessel und rauchte eine Papirossa. Jetzt nahm sich auch Anna Alexandrowna aus dem Etui, das vor Wassili Innokentiewitsch lag, eine dicke Papirossa, zündete sie an und tat einen Zug, musste aber sofort husten.
»Basil, die Papirossy sind furchtbar stark!«
»Darum biete ich sie auch niemandem an, Anjuta.«
»Puh, puh!« Anna Alexandrowna wedelte den Qualm von ihrem Gesicht weg. »Wo hast du die her?«
»Ich kaufe Tabak, und Lisa füllt ihn in die Hülsen.«
Aber damit war das Fest noch lange nicht zu Ende. An die Kuchentafel würde sich Micha sein Lebtag erinnern, alles daran beeindruckte ihn sehr – von der selbstgemachten Bowle bis zu den Elfenbeinringen für die steifen weißen Stoffservietten.
Ilja und Micha verständigten sich mit einem Blick. In diesem Moment existierte Sanja allein für sich, irgendwo weit über ihnen. Eine Freundschaft zu dritt ist, wie jede Dreiecksbeziehung, nicht so einfach. Es gibt Hindernisse und Versuchungen – Eifersucht, Neid, manchmal sogar kleine, wenn auch verzeihliche Gemeinheiten. Ist Gemeinheit mit unerträglich großer Liebe zu entschuldigen? Mit unerträglich großer Eifersucht und großem Schmerz? Das herauszufinden waren den dreien eine passende Zeit und ein ganzes Leben beschieden – dem einen ein längeres, dem anderen ein kürzeres …
An diesem Abend fühlte sich nicht nur der gehemmte Micha, sondern selbst der forsche Ilja von der Pracht dieses Haushalts ein wenig gedemütigt. Das spürte Sanja, riss sich von Lisa los, die ihr Haar aus dem blauen Band gelöst hatte, und rief Micha beiseite. Sie flüsterten lange miteinander, holten auch Anna Alexandrowna hinzu. Nach einer Weile kündigten sie eine Scharade an. Sanja drehte einen eigentümlich aussehenden Stuhl um, und flugs wurde daraus eine kleine Treppe. Sanja stieg ganz nach oben, so dass er Micha weit überragte, der stellte sich eine Stufe tiefer, und dann sprachen sie zweistimmig, einander schubsend, stoßend und an den Ohren ziehend, grunzend und diverse unverständliche Laute ausstoßend, eine Art Gedicht-Rätsel:
Mein Erstes ist bei beiden gleich – eine Rede, wie sie auf der Weide zu hörn. Mein zweites – in einem Fall eine Last1) – »uff, wie schwer!«, im andern ein nicht ganz salonfeiner Laut, wie er uns nach dem Essen entfährt2). Mein drittes ist wieder bei beiden gleich – Im Deutschen als Präposition bekannt. Es sind die Namen von zwei Wesen, bedingt gehören sie zur Gattung Homo sapiens.«
1) Anspielung auf russ. tjuk – Packen, Ballen. Anm. d. Ü.
2)Ryg – ist die Wurzel des russ. Wortes rygnutj – rülpsen. Anm. d. Ü.
Die Gäste lachten, aber auf die Lösung kam natürlich niemand. Nur einer im Raum konnte dieses linguistische Rätsel lösen: Ilja. Und das tat er. Er ließ die Gäste eine Weile nachdenken, bis sie einsahen, dass sie diese Nuss nicht knacken konnten, und verkündete dann nicht ohne Stolz: »Ich weiß es, diese Tiere heißen Mutjukin und Murygin!«
Eigentlich war diese Scharade ein wenig unfair, schließlich hatte keiner der Gäste je von Mutjukin und Murygin gehört, doch niemand machte ihnen deswegen einen Vorwurf. Es war lustig, und das war in diesem Moment die Hauptsache.
Aber zwischen den drei Jungen war etwas geschehen: Micha war durch seine Beteiligung an der Scharade zu Sanja aufgerückt, und Ilja hatte die beiden sogar überflügelt – schließlich hatte er das Rätsel gelöst und so das Spiel unterstützt. Es wäre gescheitert, hätte niemand die Lösung gefunden. Gut gemacht, Ilja!
Die Jungen umarmten sich, und Wassili Innokentiewitsch fotografierte sie. Das war das erste gemeinsame Foto der drei.
Der Fotoapparat war toll, ein Beutestück, das registrierte Ilja sofort. Ebenso wie die Oberst-Schulterstücke mit den Schlangen. Ein Militärarzt, das imponierte ihnen.
Am 10. Januar ging Anna Alexandrowna mit den drei Freunden zu einem Klavierkonzert in den Tschaikowski-Saal, es wurde Mozart gespielt. Ilja langweilte sich gehörig, döste sogar kurz ein, Micha geriet in große Erregung, weil die Musik in ihm starke Begeisterung auslöste und ihn zugleich so verwirrte, dass er nicht einmal ein Gedicht darüber schreiben konnte. Sanja wurde traurig, er weinte beinahe. Anna Alexandrowna wusste, warum: Sanja hätte gern genauso gut Mozart gespielt …
Am 11. gingen sie wieder in die Schule, und gleich am ersten Tag wurden die drei und ein weiterer Junge, Igor Tschetwerikow, auf dem Schulhof ordentlich verprügelt. Es begann mit einer harmlosen Schneeballschlacht und endete mit einer großen Niederlage: für Micha mit einem blauen Auge und einer zerbrochenen Brille, für Ilja mit einer aufgeplatzten Lippe. Kränkend daran war, dass die Angreifer nur zu zweit waren, sie dagegen zu viert. Sanja hielt sich wie gewohnt ein wenig abseits – eher aus Sensibilität denn aus Feigheit. Mutjukin und Murygin weckten in ihm ebensolchen Abscheu wie der unvergessliche Scheuerlappen, mit dem sie ihm übers Gesicht gefahren waren. Doch Sanja beachteten die Gegner ohnehin nicht, der rothaarige Micha, der Murygin mit einem steinharten Schneeball mitten auf die Nase getroffen hatte, interessierte sie weit mehr. Ilja spuckte am Zaun Blut, Tschetwerikow überlegte, ob es nicht an der Zeit sei, abzuhauen, und Micha stand mit dem Rücken an der Wand, die geballten roten Fäuste in Abwehrstellung vorm Gesicht. Michas Fäuste waren groß, fast schon die eines erwachsenen Mannes.
Mutjukin zog ein Schnappmesser, das aussah wie ein Federmesser, allerdings für sehr große Federn, eine schmale Klinge sprang heraus, und Mutjukin ging breitbeinig auf Micha und seine lächerlichen Fäuste zu. Da jaulte Sanja auf, sprang los, war mit zwei ungeschickten Sätzen bei Mutjukin und griff nach der Klinge. Das Blut schoss furchtbar schnell hervor, Sanja schüttelte die Hand, und der rote Strahl traf Mutjukins ganzes Gesicht. Mutjukin brüllte, als hätte das Messer ihn getroffen, und rannte augenblicklich davon, gefolgt von Murygin. Doch niemand triumphierte. Micha sah schlecht, was geschah – er war ohne Brille. Tschetwerikow rannte verspätet Murygin hinterher, aber diese Verfolgung war völlig sinnlos. Ilja wickelte einen Schal um Sanjas Hand, doch das Blut lief wie aus einem Wasserhahn.
»Lauf zu Anna Alexandrowna, schnell!«, rief Ilja Micha zu. »Und du in die Schule, zur Ärztin.«
Sanja war bewusstlos – vor Schreck oder vom Blutverlust. Fünfundzwanzig Minuten später befand er sich in der Sklifossowski-Unfallklinik. Rasch wurde das Blut gestillt und die Wunde genäht. Nach einer Woche stellte sich heraus, dass Ringfinger und kleiner Finger steif waren. Ein Professor erschien, wickelte Sanjas kleine Hand aus, freute sich, wie gut die Heilung verlief, und erklärte, das teuflische Messer habe die Beugesehnen des zweiten bis fünften Fingers durchtrennt, und es sei erstaunlich, dass nur zwei Finger steif seien und nicht alle vier.
»Kann man das behandeln? Massagen? Elektrotherapie? Irgendwelche neuen Behandlungsmethoden?«, fragte Anna Alexandrowna den Professor, der sie respektvoll ansah.
»Auf jeden Fall. Nach der vollständigen Verheilung. Die Mobilität lässt sich teilweise wiederherstellen. Aber wissen Sie, Sehnen sind keine Muskeln.«
»Wird er wieder ein Musikinstrument spielen können?«
Der Professor lächelte mitfühlend.
»Wenig wahrscheinlich.«
Er wusste nicht, dass er ein Todesurteil verkündet hatte. Anna Alexandrowna sagte Sanja nichts davon, und ein halbes Jahr nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging sie mit ihm zur Therapie.
Gleich nach Sanjas Operation war die Schuldirektorin zu ihm ins Krankenhaus geeilt, Berichte über das Messer hatten auch sie erreicht, und sie war erschrocken. Bei der Vernehmung zeigte sich Sanja verschlossen und entschieden: An die fünfmal wiederholte er, er habe das Messer auf dem Schulhof gefunden, auf den Knopf gedrückt, und da sei die Klinge herausgesprungen und habe ihm die Hand verletzt. Er habe keine Ahnung, wem das Messer gehöre. Das Indiz war am Tag nach dem Vorfall gefunden worden. Es lag in einer kleinen blutgetränkten Schneeinsel, wie im Film. Es wurde zur Direktorin gebracht und in der obersten Schublade ihres Schreibtischs verstaut.
Tante Genja jammerte lange über Michas zerbrochene Brille, Ilja wurde von seiner Mutter ein wenig ausgeschimpft wegen seiner Rauflust, und Igor Tschetwerikow konnte den Vorfall ganz vor seinen Eltern geheimhalten.
Von diesem Tag an galt Igor, auch wenn er nicht direkt zum Trianon gehörte, als ihr Sympathisant. Die weitere Entwicklung der Ereignisse im Laufe eines Vierteljahrhunderts sollte zeigen, dass die kleinen Rowdys einen untrüglichen Instinkt für »feindliche Elemente« besaßen – sie hatten einen künftigen Dissidenten vermöbelt.
Nachdem es der Direktorin gelungen war, diese Prügelei, die die ganze Schule in Aufregung versetzt hatte, unter den Teppich zu kehren, zogen sich Mutjukin und Murygin eine Weile zurück, zerstritten sich und prügelten sich nun miteinander. Die Klasse spaltete sich in zwei Lager und führte ein aufregendes Leben mit feindlichen Aufklärern, Überläufern, Verhandlungen und Zusammenstößen. Kampfgeist hatte die Mehrheit erfasst, die Minderheit aber entspannte sich und genoss die Ruhe.
Nach drei Wochen kam Sanja mit verbundener Hand für ein paar Tage in die Schule, dann bekam er eine Angina und tauchte bis zum Ende des dritten Schulquartals nicht mehr auf. Ilja und Micha besuchten ihn fast täglich und brachten ihm die Hausaufgaben. Anna Alexandrowna bewirtete sie mit Tee und Apfelkuchen, den sie pie nannte. Das war das erste englische Wort, das Micha lernte. Sanja lernte von klein auf Englisch und Französisch. In der Schule fingen sie in der fünften Klasse mit Deutsch an, das sie hassten. Doch da zeigte sich Anna Alexandrowna überraschend streng, sie gab Sanja zusätzliche Deutschstunden und lud zur Gesellschaft auch seine Freunde dazu ein. Ilja drückte sich, Micha aber eilte stets herbei wie zu einem Fest. Anna Alexandrowna schenkte ihm auch noch ein altes Englischbuch für Anfänger.
»Hier, Micha, bei deinen Fähigkeiten kommst du damit allein zurecht. Ich gebe dir ein paar Stunden wegen der richtigen Aussprache.«
So wurden Micha großzügige »Brosamen vom Herrentisch« zuteil.
Sanja war in einer seltsamen Verfassung: Die beiden leicht gekrümmten Finger störten nicht und fielen auch nicht auf, denn niemand hält die Finger ständig gestreckt. Aber sie bedeuteten eine radikale Veränderung seines Lebens, eine radikale Veränderung seiner Pläne. Er hörte tagelang Musik und genoss sie wie nie zuvor: Es kümmerte ihn nicht mehr, dass er nie so spielen würde wie die großen Pianisten. Der mangelnde Glaube an sein Talent fraß nicht mehr an ihm. Lisa verstand ihn – als Einzige!
»Du bist jetzt freier als diejenigen, die unbedingt Musiker werden wollen. Ein bisschen beneide ich dich …«
»Und ich dich«, bekannte Sanja.
Sie gingen oft zusammen zu Konzerten ins Konservatorium: Anna Alexandrowna mit Sanja, Lisa mit ihrem Großvater, oft schloss sich ihnen irgendeine Freundin oder Verwandte der Großmutter an. Wenn Lisas Vater Alexej Wassiljewitsch, Chirurg wie sein Vater Wassili Innokentiewitsch, nicht so viel zu tun hatte, kam auch er mit, und dann sah man die große Ähnlichkeit zwischen den dreien: Längliches Gesicht, hohe Stirn, schmale, kaukasisch gebogene Nase. Doch damals schienen alle Konservatoriumsbesucher miteinander verwandt, zumindest aber bekannt zu sein. Es war ein besonderes Völkchen, das nicht weiter auffiel in der riesigen Millionenstadt – fast wie ein religiöser Orden, eine verborgene Kaste oder ein Geheimbund.
Zu Beginn des Jahres häuften sich die Ereignisse.
Aus Leningrad reiste Iljas Vater an, Issai Semjonowitsch. Er kam ein-, zweimal im Jahr zu Besuch und brachte immer Geschenke mit. Auch im letzten Jahr hatte er Ilja etwas Gutes geschenkt, einen deutschen Zirkelkasten, aber der war nur schön und sonst zu nichts nütze. Doch diesmal brachte er einen Fotoapparat mit, eine FED-S, ein Vorkriegsprodukt, hergestellt von Halbwüchsigen in der Erziehungs- und Arbeitskommune »Felix Dsershinski«, eine exakte Kopie der deutschen Leica. Iljas Vater hing an der alten Kamera – er war Kriegskorrespondent gewesen und hatte sie fast drei Jahre lang ständig bei sich gehabt –, und nun schenkte er sie seinem einzigen Sohn, der aus einer Urlaubsromanze mit der unscheinbaren, damals schon nicht mehr jungen Maria entstanden war. Maria erwartete nichts und verlangte nichts von ihm, sie liebte still ihren Sohn und freute sich, dass Issai sie nicht im Stich ließ und ihr manchmal Geld gab, mal ganz viel auf einmal, dann wieder lange sehr wenig. Liebkosungen verweigerte sie ihrem einstigen Liebhaber, womit sie sein Interesse an sich wachhielt. Sie lächelte, setzte ihm Selbstgebackenes vor, bezog ihm das Bett mit raschelnder gestärkter Wäsche und legte sich zu ihrem Sohn aufs Sofa, in Löffelchenstellung. Issai aber bestaunte sie immer mehr und dachte immer häufiger an sie.
Um den Fotoapparat tat es ihm ein wenig leid, aber er überwand seine Anhänglichkeit an den treuen und nützlichen Gegenstand – das Schuldgefühl gegenüber dem Jungen war stärker. Zumal er noch bessere Kameras hatte. Und außerdem eine Familie, zwei geliebte Töchter, die sich kein bisschen fürs Fotografieren interessierten. Der Junge aber bebte förmlich vor Freude über das Geschenk, und seinen Vater überkam Unmut gegenüber dem Leben, in dem nichts so war, wie es sein sollte. Anstelle der scheuen Maria, deren Unscheinbarkeit eine gewisse Schönheit barg, hatte er die streitsüchtige Sima bekommen und konnte sich nicht mehr erinnern, wie und wieso er unter ihren Pantoffel geraten und ihr Mann geworden war. Er erzählte seinem Sohn, was eine Camera obscura ist, dass eine dunkle Schachtel mit einem kleinen Loch und eine mit einem lichtempfindlichen Material beschichtete Platte genügte, um ein Foto zu machen und einen Moment des Lebens festzuhalten. Maria saß dabei, die Wange auf die Hand gestützt, und lächelte angesichts ihres winzigen Glücks. Ihr genügte schon dieses kleine Körnchen, wie einer Meise. Issai sah das, und er sah, wie rasch Ilja alles erfasste, was für geschickte Hände er hatte – er war ihm ähnlich, ja! –, und reiste mit dem festen Vorsatz ab, seinen Sohn künftig öfter zu sehen. Und Maria, Maria faszinierte ihn jetzt mehr als damals, im Sommer 1938, als er sie vor allem genommen hatte, weil er sich als potenter Mann in den besten Jahren dazu verpflichtet fühlte, nicht aus Verliebtheit. Sein Leben konnte er nicht mehr umkrempeln, dazu war es zu spät. Aber eines konnte er tun: Sima endlich gestehen, dass er einen Vorkriegsspross hatte, den er gern einmal einladen und mit seinen jüngeren Schwestern bekanntmachen würde. Doch dieser Besuch sollte die letzte Begegnung zwischen Vater und Sohn gewesen sein: Zwei Monate später verlor Issai Semjonowitsch seine Arbeit bei »Lenfilm« und starb daraufhin an einem Herzinfarkt.
Bei diesem letzten Mal war der Vater zwei Tage bei ihnen geblieben. Die Mutter weinte wie immer nach seiner Abreise einige Tage still vor sich hin und hörte dann wieder auf. Iljas Leben aber zerfiel von nun an in zwei Teile – die Ära vor dem FED und die mit ihm. Dieser kluge kleine Apparat weckte ein schlummerndes Talent. Ilja hatte schon früher alles gesammelt, was in sein Blickfeld geriet. Bereits in der zweiten Klasse besaß er eine Sammlung von Federn, danach waren es Streichholzetiketten und Briefmarken. All das war vergänglicher Kleinkram. Doch nun begann er, kaum dass er sich die gesamte Technologie angeeignet hatte – von der richtigen Belichtungszeit bis zum Einspannen des Fotopapiers in das Vergrößerungsgerät –, Momente des Lebens zu sammeln. In ihm war die wahre Leidenschaft des Sammlers erwacht, die nie mehr erlöschen sollte.
Zum Ende der Schulzeit besaß er ein recht ordentliches Fotoarchiv: Auf der Rückseite jedes Fotos waren mit Bleistift das Datum, der Ort und die Namen der Personen vermerkt, alle Negative lagen in Umschlägen. Der Fotoapparat veränderte sein Leben auch deshalb, weil sich bald herausstellte, dass er außer dem Apparat eine Menge zusätzlicher Dinge brauchte, die viel Geld kosteten. Ilja dachte gründlich nach, und dann erwachte in ihm ein weiteres Talent: das des Unternehmers. Er bat seine Mutter nie um Geld, er lernte, es selbst zu beschaffen. Die erste Frühjahrsinitiative jenes Jahres war das Klimpern. Dieses Jungenspiel beherrschte er am besten in der ganzen Schule, und später kamen andere Spiele hinzu. Das brachte Einnahmen.
Sanja Steklow missbilligte Iljas Jagd nach Geld, aber Ilja zuckte nur die Achseln.
»Hast du eine Ahnung, wieviel eine Packung Fotopapier kostet? Und Entwickler? Woher soll ich das Geld nehmen?«
Da verstummte Sanja. Geld bekam er von seiner Mutter oder der Großmutter, er ahnte jedoch, dass das nicht unbedingt der beste Weg war.
Die alte Kamera machte Ilja zum Fotografen. Bald wurde ihm klar, dass er ein eigenes Fotolabor brauchte. Normalerweise richteten sich Fotoamateure ein solches Labor im Bad ein, wo es fließendes Wasser zum Wässern der Filme und der entwickelten Fotos gab. Aber in ihrer Gemeinschaftswohnung gab es kein Bad, nur eine Kammer, in der die drei Familien ihre Waschschüsseln und Zuber und andere notwendige Dinge aufbewahrten. Die Kammer lag Wand an Wand mit der Toilette, und Ilja dachte daran, deren Wasseranschluss anzuzapfen. An die Nachbarn, die das gleiche Recht auf diese Kammer hatten, dachte Ilja nicht.
In der Wohnung lebten außer Ilja und seiner Mutter noch die harmlose Oma Olga Matwejewna und die Witwe Granja Loschkarjowa mit ihren drei Kindern – Iljas Mutter brachte die beiden Jüngsten oft in den Kindergarten, in dem sie arbeitete. Überhaupt half sie dieser Granja viel.
Kurz – Iljas Mutter fragte die Nachbarn, die gaben ihre Zustimmung und räumten ihre Tröge aus der Kammer; nun war Ilja am Zug. Er hatte schon an seinen Vater geschrieben mit der Bitte, ihn bei der Einrichtung einer Dunkelkammer zu unterstützen. Der Vater war gerührt, schickte hundertfünfzig Rubel, und auf der Überweisung standen zwei Zeilen: »Komme zu den Maifeiertagen, dann machen wir alles.« Das war sein letzter Brief – die Maifeiertage erlebte er nicht mehr.
Einen Wasseranschluss bekam die Kammer erst nach anderthalb Jahren, aber Ilja hatte schon jetzt seinen eigenen Winkel, in dem er viel Zeit verbrachte. In einem Bücherschrank vom Sperrmüll verstaute er seine Fotoutensilien.
Das fünfte Schuljahr dehnte sich endlos. Die Jungen waren dreizehn, ihr Testosteronspiegel stieg, die Frühentwickler bekamen bereits Haare an intimen Stellen und Eiterpickel auf der Stirn, alles juckte und tat weh, die Prügeleien und Streitereien nahmen zu, ebenso wie der Drang, sich zu berühren und das undefinierbare körperliche Verlangen zu stillen.
Micha verausgabte sich mit Schlittschuhlaufen. Dank seines heimlichen morgendlichen Trainings lief er bald ausgezeichnet. Außerdem entwickelte er eine Leidenschaft für das Lesen. Er hatte auch schon früher alles verschlungen, was ihm in die Hände gefallen war, nun aber versorgte ihn Anna Alexandrowna mit großartigen Büchern – Charles Dickens, Jack London.
Tante Genja tat Punkt zehn Uhr abends einen trompetenden Schnarcher und schnarchte danach bis zum Morgen leise und gleichmäßig. Minna ging noch früher ins Bett und schlief nach kurzem Herumwälzen rasch ein. Dann schlich sich Micha in die Küche und las dort unter der Gemeinschaftslampe, soviel er wollte – er wurde kein einziges Mal erwischt. Er saß da, polkte an seinen prallen Pickeln und las Jugendbücher, die mit der Unruhe seines Körpers nicht das Geringste zu tun hatten.
Sanja schien nicht nur im Wachstum hinter seinen Freunden zurückzubleiben – mit seiner reinen Stirn, seinem reinen Kragen wirkte er noch immer wie ein Kind. Doch auch in ihm vollzog sich die Mannwerdung. Er verkündete seiner Mutter und seiner Großmutter, dass er nicht mehr zur Physiotherapie gehen werde – es sei sonnenklar, dass seine Hand nicht mehr zu richten sei und er nie Pianist werden würde. Mutter und Großmutter waren Laienmusikerinnen, beide hatten mal von einer Musikerlaufbahn geträumt, die Ausbildung aber abbrechen müssen – ihre Jugendzeit war gänzlich unmusikalisch gewesen, sie war eher erfüllt von jaulenden Trompeten, dröhnenden Pauken, Märschen und Hymnen, die Gassenhauer sein wollten.
Das Beste, was die beiden einsamen Frauen hatten, war Sanja, er sollte Musiker werden, alles lief wunderbar, er hatte eine großartige Lehrerin, die Zukunft stand ihm offen … Nun, nach dem unglücklichen Vorfall mit dem Messer, ging Sanja nicht mehr in die Musikschule. Seine Mutter und seine Großmutter hatten sich rechtzeitig auf das entscheidende Gespräch vorbereitet. Die Großmutter meinte, bei seiner Musikalität solle er nicht endgültig mit der Musik brechen. Auch wenn er kein Profi werden würde, hindere ihn doch nichts daran, zu Hause Klavier zu spielen – die Hausmusik besitze ihren eigenen Reiz. Sanja bockte ein wenig und sträubte sich, doch nach zwei Wochen willigte er ein. Nun übte er zu Hause mit Großmutters Freundin Jewgenija Danilowna.
Er spielte mit seinen zu kleinen, verkrüppelten Händen auf dem geliebten Klavier aus karelischer Birke. Er ließ sich von Chopins Walzern berauschen wie seine Altersgenossen von den Mädchen auf dem Hof, die sie bei Spielen und beim Herumtollen berühren konnten. Er las, spielte Klavier, und manchmal tat er etwas, das für Jungen in seinem Alter eher eine Strafe war – er ging mit seiner Großmutter auf den umliegenden Boulevards spazieren.
Zwei Jahre lang kam Jewgenija Danilowna zu ihm, dann schlief der Unterricht ein. Zum Teil wegen Lisa, die im Gegensatz zu ihm große Fortschritte machte. Das entmutigte Sanja, er verlor die Lust und drückte sich immer öfter.
Sanjas Großmutter war Russischlehrerin und unterrichtete Ausländer. Und was für Ausländer! Junge Leute aus dem kommunistischen China, die an der Militärakademie studieren wollten. Das war der achte oder neunte Beruf, den sich Anna Alexandrowna nach ihrem Gymnasialabschluss angeeignet hatte, und diesmal genügte alles ihren Vorstellungen: Das Verhältnis der Chefs zu ihr, die Teilzeitarbeit und das sehr gute Gehalt mit den diversen Zuschlägen und Privilegien, darunter ein ausgezeichnetes Armee-Ferienheim, in das sie einmal im Jahr kostenlos fahren durfte.
Sanjas Mutter Nadeshda Borissowna war Röntgenassistentin. Ein gefragter Beruf, zwar gesundheitsschädigend, aber dafür mit verkürzter Arbeitszeit und kostenloser Milchzuteilung. Die Familie war also gut versorgt, dennoch war ihr Leben nicht einfach: Es war voll latenter Unzufriedenheit. Mutter und Tochter hatten beide sowohl die Männer verloren, mit denen sie verheiratet gewesen waren, als auch die, die nie ihre Ehemänner geworden waren. Doch die taktlose Frage nach dem Verbleib ihrer Männer stellte niemand. Wer es wissen musste, wusste Bescheid. Und ließ sie zum Glück in Ruhe.
Micha verbrachte viel Zeit bei den Steklows. Sanja berührte mit den Fingern die Tasten, und sie reagierten. Es war wie ein Zwiegespräch zwischen dem Jungen und dem Instrument, in dem Micha einen geheimen Sinn erahnte, den er jedoch nicht recht erfassen konnte.
Er saß in der Ecke, raschelte mit Buchseiten und wartete auf Anna Alexandrowna, um mit ihr zu reden. Sie stellte ihm Kekse und eine Tasse Tee mit Milch hin und setzte sich zu ihm – mit einer Papirossa, die sie in den elegant gebogenen Fingern hielt und kaum rauchte. Manchmal stand Sanja von seinem Instrument auf und setzte sich auf eine Stuhlkante, was die beiden jedoch ein wenig störte. Micha war rasch aus Dickens herausgewachsen, und Anna Alexandrowna hatte ihm ohne viel zu überlegen Puschkin gegeben.
»Aber den hab ich doch schon gelesen!«, sträubte sich Micha.
»Das ist wie das Neue Testament, das liest man sein Leben lang.«
»Dann geben Sie mir lieber das Neue Testament, das habe ich nämlich noch nicht gelesen …«
Anna Alexandrowna lachte und schüttelte den Kopf.
»Deine Familie wird mich dafür umbringen. Aber es stimmt schon, ohne das Neue Testament versteht man eigentlich kein einziges Werk der europäischen Literatur. Von der russischen ganz zu schweigen. Sanja, mein Lieber, bring mir bitte das Neue Testament.«
»Anjuta«, tadelte er seine Großmutter scherzhaft, »das ist Verführung Minderjähriger.«
Doch er brachte das Buch mit dem schwarzen Einband.
Sie verabredeten, dass Micha es nur bei ihnen lesen und niemandem davon erzählen würde. Micha fühlte sich plötzlich reich: Er hatte ein Zuhause mit seinem eigenen Klappbett, Tante Genja und ihre Suppen, die dicke debile Minna, die ihn ständig mit ihrer Hüfte oder ihrer vollen Brust streifte, die Freunde Sanja und Ilja, Anna Alexandrowna, die Schlittschuhe, Bücher …
Mitte März begann es zu tauen, die Eisbahn schmolz, und Micha rieb die Schlittschuhe dick mit Maschinenfett ein, wie sein Cousin Marlen es ihm beigebracht hatte – zum Schutz. Aber zu früh: Es gab noch einmal Frost, die Eisbahn fror wieder zu, und Micha schnallte sich erneut die Schlittschuhe unter. Doch der Winter würde bald vorbei sein, deshalb ging Micha nun auch nachmittags hinaus auf den Hof. So geschah es, dass alle seinen Schatz sahen. Solche Schlittschuhe hatte sonst niemand, die meisten schnallten sich irgendwelche Kufen unter die Filzstiefel, nur Micha besaß richtige Schlittschuhe mit Schuhen. Die Kunde davon verbreitete sich rasch in den benachbarten Höfen. Nach zwei Tagen kam Murygin, die Schlittschuhe ansehen. Er stand eine Weile da, schaute und ging wieder. Als Micha am nächsten Tag von der Hofeisbahn zurückkam, drückten ihn Mutjukin und Murygin im Hauseingang gegen die Wand.
Die Sache war klar: Sie wollten die Schlittschuhe haben.
»Ausziehen, los!«, verlangte Mutjukin.
Murygin drehte Micha den Arm um, Mutjukin trat ihm gegen das Knie, und Micha ging zu Boden. Geschickt rissen die beiden ihm die Schlittschuhe herunter und liefen davon. Micha rannte in Wollsocken hinterher. Am Tor holte er die beiden ein und krallte sich an Murygin fest. Der warf die Schlittschuhe Mutjukin zu. Mutjukin rannte damit die Pokrowka entlang, Micha brüllend seinen Schlittschuhen hinterher, in Richtung Miljutin-Garten, dort gab es eine Eisbahn.
Vom Tschistoprudny-Boulevard kam langsam eine Straßenbahn gekrochen. Micha hatte Mutjukin fast eingeholt – der warf die Schlittschuhe Murygin zu, doch Murygin fing sie nicht, sie landeten zwischen den Gleisen. Alle drei stürzten dorthin. Die Straßenbahn kreischte auf, quietschte, klingelte wie verrückt und knirschte laut. Micha fiel hin. Als er die Augen öffnete, lagen die Schlittschuhe direkt vor seiner Nase. Mutjukin war nicht zu sehen. Vor der Straßenbahn lag ein dampfender Haufen. Stoff, Blut, ein verdrehtes Bein. Die Überreste Murygins. Eine schreiende Menschenmenge lief zusammen. Straßenbahnen ratterten heran. Micha stand auf, nahm die Schlittschuhe … Nein, es war nur ein Schlittschuh. Tief gebeugt ging er nach Hause. Barfuß lief er über den eisigen Boden, die Socken waren ihm irgendwie abhandengekommen, doch er spürte nichts. Vor dem Haus schleuderte er den Schlittschuh in Richtung Eisbahn und ging mit klappernden Zähnen in den Hausflur, aus dem er vor genau fünf Minuten hinausgelaufen war.
Er griff nach seinen Schuhen, schlüpfte mit nackten Füßen hinein und rannte zu Anna Alexandrowna. Sie hörte ihn an, sagte kein Wort, füllte einen Teller mit Pilzsuppe und stellte ihn Micha hin.
Als er aufgegessen hatte, brachte sie den schmutzigen Teller in die Küche.
»Das wollte ich nicht, ich schwöre!«, sagte Micha leise zu Sanja.
»Klar, wer will denn so was?« Sanja schüttelte den Kopf.
Das Straßenbahngekreisch tönt schrill und schneidend, Die ganze Welt – erlosch mit einem Mal. Was war, das ist und wird auch weiter bleiben. Jedoch Murygin WAR.
Dieses Gedicht schrieb Micha am Tag von Murygins Begräbnis. Zur Beerdigung kam die ganze Schule, als wäre Murygin ein Nationalheld. Die stellvertretende Direktorin und zwei Schüler der oberen Klassen legten einen Kranz, für den alle gesammelt hatten, auf das Grab; die Inschrift auf der roten Kranzschleife war in Gold gehalten.
Micha, Zeuge und, wie er meinte, Verursacher dieses Todes, durchlebte immer wieder diesen Augenblick, seine blitzartige Zufälligkeit: Die durch die Luft fliegenden Schlittschuhe, der metallische Aufschrei der Straßenbahn und der unordentliche Haufen unter den Straßenbahnrädern anstelle des nichtswürdigen und scheußlichen Jungen, der ihn noch einen Augenblick zuvor verhöhnt hatte und die Straße entlanggerannt war. Unerhörtes Mitleid, zu groß für Michas Kopf, sein Herz und seinen ganzen Körper, überschwemmte ihn – Mitleid mit allen Menschen, guten wie schlechten, weil sie alle so schutzlos weich, so fragil waren und weil beim Zusammenprall mit so einem unverständigen Eisending die Knochen brachen, der Kopf aufplatzte, Blut herausfloss und nur noch ein hässlicher Haufen übrigblieb. Armer, armer Murygin!
Niemand besaß mehr ein Klassenfoto von 1952, nur Ilja. Sämtliche Aufnahmen in seinem Fotoarchiv stammten von ihm selbst, bis auf die ersten beiden.
Das eine hatte Wassili Innokentiewitsch an Sanjas Geburtstag gemacht, das zweite ein Berufsfotograf: vier Reihen unterernährter Nachkriegsjungen. Die Vorderen sitzen auf dem Boden, die Hinteren stehen auf Stühlen, allesamt umrahmt von prallen Ähren, Falten werfenden Fahnen und gewölbten Wappen – dieser dekorative Rahmen war die Basis, die kahlgeschorenen Kinder mit der glubschäugigen Lehrerin in der Mitte waren der Überbau. Mutjukin und Murygin stehen nebeneinander, in der obersten Reihe links. Murygin schaut zur Seite, ein kahlgeschorener kleiner Junge, unscheinbar und harmlos. Sanja Steklow fehlt auf dem Foto – er war krank. Micha sitzt unten ganz am Rand. In der Mitte die Klassenleiterin, ihre Russischlehrerin, deren Namen niemand behalten hat, weil sie bald nach der fünften Klasse in Schwangerschaftsurlaub ging. Mutjukin musste die Fünfte wiederholen und verschwand bald ganz. Er setzte seine Laufbahn in der Berufsschule fort und später im Gefängnis. Murygin war nirgendwo mehr.

Der neue Lehrer

In der sechsten Klasse kam anstelle besagter Russischlehrerin ein neuer Klassenlehrer, Viktor Juljewitsch Schengeli, der russische Sprache und Literatur unterrichtete.
In der Schule wurde er gleich am ersten Tag von allen bemerkt: Er eilte den Flur entlang, der rechte Ärmel seines gestreiften Jacketts war bis kurz unter den Ellbogen aufgekrempelt, und der halbe Arm schwang leicht hin und her. In der linken Hand trug er eine altmodische Aktentasche mit zwei Messingschlössern, die weit älter zu sein schien als der Lehrer selbst. Gleich in der ersten Woche hatte er seinen Spitznamen weg: Der Arm.
Er war noch recht jung und sah gut aus, fast wie ein Filmschauspieler, hatte aber eine allzu lebhafte Mimik: Mal lächelte er grundlos, dann wieder runzelte er die Stirn oder zuckte mit der Nase oder mit den Lippen. Er war sehr höflich, redete alle mit Sie an, war jedoch zugleich äußerst ironisch.
Als erstes fragte er Ilja, als der in seinem schaukelnden Gang zwischen den Bankreihen hindurchging: »Was schwanken Sie denn so?«, womit er sich auf der Stelle Iljas Hass zuzog. Dann nahm der Lehrer das Klassenbuch und rief alle einzeln auf. Beim Namen Swinjin3) – es gab einen solchen unglücklichen Schüler – hielt er inne, betrachtete den Jungen mit dem kleinen Gesicht aufmerksam und bemerkte in einem seltsamen Ton, der respektvoll, aber auch spöttisch gemeint sein konnte: »Ein guter Name!« Die Klasse wieherte bereitwillig los, Senja Swinjin wurde rot. Der Lehrer hob verständnislos die Brauen.
3) Von russ. swinja – Schwein. Anm. d. Ü.
»Warum lachen Sie? Das ist ein ehrwürdiger Name! Die Swinjins waren ein altes Bojarengeschlecht. Peter I. schickte einen Swinjin, den Vornamen habe ich vergessen, zum Lernen nach Holland. Und haben Sie etwa Fürst Serebrjany nicht gelesen? Darin kommt ein Swinjin vor. Ein hochinteressantes Buch übrigens …«
Bereits nach drei Monaten hingen alle, einschließlich Ilja, Senja Swinjin, besonders aber Micha, an den Lippen des neuen Lehrers, erörterten jedes seiner Worte und zuckten genauso mit den Lippen und den Brauen wie er.
Und noch etwas tat dieser neue Lehrer: Er rezitierte Gedichte. Während sich die Schüler setzten und die Hefte auspackten, begann er die Stunde mit einem Gedicht und sagte nie, wer es geschrieben hatte. Seine Auswahl war eigenwillig – mal etwas allgemein Bekanntes wie Es blinkt ein einsam Segel, mal unverständliche, aber einprägsame Verse wie »und blau die Luft, wie frischgestärkte Wäsche« … oder etwas vollkommen Rätselhaftes wie dies:
Es klirrte strenger Frost und »Tristan« lief. Ein wundes Meer ertönte im Orchester, Im himmelblauen Nebel grünes Land. Das Herz hat plötzlich aufgehört zu schlagen. Nein, keiner sah, wie ins Theater kam