Die Erinnerung nicht vergessen - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Die Erinnerung nicht vergessen E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Persönliche Aufzeichnungen und politische Essays von Ljudmila Ulitzkaja, der „wohl bekanntesten und streitbarsten russischen Schriftstellerin dieser Tage“. Sabine Berking, F.A.Z.

Private Aufzeichnungen, biografische Erinnerungen, politische Reflexionen: Ljudmila Ulitzkaja setzt ihre autobiografische Prosa nach „Die Kehrseite des Himmels“ in die Gegenwart fort. Persönliche Notizen über ihre Familie, über Herkunft und Glauben, über den eigenen Körper und seine Narben stehen neben den drängenden Fragen zur politischen und ökologischen Situation. Im Frühjahr 2022, kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine, zog Ulitzkaja aus Moskau nach Berlin. Das Verbot von „Memorial" beschäftigt sie ebenso wie das Verhältnis von Individuum und Staat im Totalitarismus. Ein offenes, ehrliches und kompromissloses Plädoyer für eine bessere Erinnerungskultur, das die Autorin selbst mit Leben füllt.

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Das ist das Cover des Buches »Die Erinnerung nicht vergessen« von Ljudmila Ulitzkaja

Über das Buch

Persönliche Aufzeichnungen und politische Essays von Ljudmila Ulitzkaja, der »wohl bekanntesten und streitbarsten russischen Schriftstellerin dieser Tage«. Sabine Berking, F.A.Z.Private Aufzeichnungen, biografische Erinnerungen, politische Reflexionen: Ljudmila Ulitzkaja setzt ihre autobiografische Prosa nach »Die Kehrseite des Himmels« in die Gegenwart fort. Persönliche Notizen über ihre Familie, über Herkunft und Glauben, über den eigenen Körper und seine Narben stehen neben den drängenden Fragen zur politischen und ökologischen Situation. Im Frühjahr 2022, kurz nach Putins Überfall auf die Ukraine, zog Ulitzkaja aus Moskau nach Berlin. Das Verbot von »Memorial" beschäftigt sie ebenso wie das Verhältnis von Individuum und Staat im Totalitarismus. Ein offenes, ehrliches und kompromissloses Plädoyer für eine bessere Erinnerungskultur, das die Autorin selbst mit Leben füllt.

Ljudmila Ulitzkaja

Die Erinnerung nicht vergessen

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt und Christina Links

Hanser

Was mir einst leicht erschien,

erwies sich als sehr schwer.

Was mir einst schwer erschien,

erwies sich als unmöglich.

Doch was unmöglich war —

das halt ich nun in meiner Hand!

Vorwort

Den größten Teil meines Lebens habe ich in Moskau gewohnt, in sieben verschiedenen Wohnungen — von einem Sechzehn-Quadratmeter-Zimmer in einer Kommunalka, in der unsere Familie mit sieben weiteren zusammenlebte, bis zu einer eigenen Wohnung im sogenannten »Schriftstellerviertel« in einem attraktiven Moskauer Bezirk. Eine meiner ältesten Freundinnen, die zu Beginn der sechziger Jahre aus der Emigration nach Russland zurückgekehrt war und zum ersten Mal in eine Kommunalka kam, nannte diese Art der Gemeinschaftswohnung beiläufig einmal »eine Erfahrung christlichen Lebens«. Ich würde das nicht unbedingt bestätigen, aber dass das Leben in der Kommunalka eine Sozialisationserfahrung ist, eine Erfahrung von Zusammenleben auf engstem Raum, in dem die Distanz zwischen den Einzelnen so gering ist, dass ein Gefühl von Luftnot entsteht — daran erinnere ich mich gut.

Ich wohne in Moskau in derselben Gegend, in die vor über hundert Jahren mein Großvater mit seiner jungen Ehefrau gezogen war. Damals lag der Bezirk am Stadtrand, heute gehört er fast zum Zentrum. Ich hatte vor, bis an mein Lebensende an diesem Ort zu bleiben, aber ein Sprichwort sagt: Gott lächelt, wenn er von unseren Plänen hört.

Jetzt lebe ich mit meinem Mann Andrej in einer großen Zwei-Zimmer-Wohnung in Berlin, einer der ruhigsten, angenehmsten und wohnlichsten Städte Europas. Das Viertel, in dem unser Haus steht, liegt im ehemaligen Mauerstreifen, ist relativ neu und ziemlich geradlinig angelegt, nur die in der Nähe fließende Spree bietet eine gewisse Auflockerung dieser Geometrie.

Ein Zimmer unserer Wohnung hat sich Andrej als Atelier eingerichtet: Der Boden ist mit Papier ausgelegt, an den Wänden hängen Zeichnungen und Skizzen. Ich sitze mit meinem Computer wie immer in der Wohnküche.

Wir versuchen, diese Wohnung zu unserem Zuhause zu machen, richten uns allmählich dort ein. Wir haben uns einen Bücherschrank angeschafft und füllen ihn nach und nach. In einem An- und Verkauf haben wir einen großen bestickten Wandteppich gefunden, der nun in unserer Küche hängt und das Auge erfreut: Zwischen Granatäpfeln liegt eine schlafende orientalische Schönheit, um sie herum stehen gerührte Beobachter. Auch ich bin eine Beobachterin. Ich kann nicht schlafen, denn mein Schlaf ist gestört — der Tag beginnt mit den Nachrichten im Internet und endet am Abend damit.

Vor einigen Tagen kehrte ich von einer Reise auf die Balearen zurück, wo ich einen Literaturpreis bekommen hatte, und das wichtigste Resultat dieser Reise war womöglich nicht der Preis selbst, sondern das Gefühl, als ich in das Flugzeug nach Berlin stieg: Ich fliege »nach Hause«. Daran muss ich mich noch gewöhnen.

Es herrscht ein irrsinniger Krieg. Millionen Menschen verlassen ihr Zuhause und gehen auf der Suche nach einem friedlichen Leben in andere Länder. Grenzen werden geschlossen. An die Grenzen strömen inzwischen wohl vor allem Männer, die der Mobilmachung entgehen wollen.

Ich habe nur noch eine Hoffnung und einen Traum: Ich möchte das Ende dieses Kriegsirrsinns noch erleben und zurückkehren nach Moskau, in meine Wohnung, in die gewohnte und geliebte Welt, in der ich mich »am rechten Ort« fühle.

Ljudmila Ulitzkaja, Oktober 2022

Die Geographie meiner Kindheit

Meine Großmutter erzählte mir oft von der Institutskaja-Straße in Kaluga, in der sie als Kind gewohnt hatte, von den Antonow-Äpfeln, die auf dem Dachboden gelagert wurden, in Stroh, von dem Geruch, der das ganze Haus erfüllte, vom privaten Gymnasium der Frau Salowa, in das sie ging. Meine Mutter sprach von ihrer Schule Nr. 110 in der Mersljakow-Straße, von der Eisbahn auf den Patriarchenteichen, wohin sie abends liefen. All diese Erzählungen wurden zu meinen Erinnerungen »zweiter Ordnung«, wenn man es so nennen kann. Nach Kaluga bin ich nie gefahren, ich habe mir nicht die Mühe gemacht, einen Blick auf die Provinzstadt zu werfen, in der meine Großmutter ihre Jugend verbrachte, und Mamas Schule Nr. 110 ist umgezogen. Vor der neuen Schule steht ein Denkmal für die gefallenen ehemaligen Schüler — alle Jungen aus Mamas Klasse sind im Krieg umgekommen. Ein Werk des Bildhauers Mitljanski, der als Einziger seiner Klasse von der Front zurückgekehrt ist. Er hat die Schule 1941 abgeschlossen, einige Jahre nach meiner Mutter.

Die Moskauer Zeit unserer Familie begann 1917 im Norden von Moskau. Das erste Quartier war eine Sommerhaushälfte im Petrowski-Park, erworben ein halbes Jahr vor der Revolution. Dort wurde 1918 meine Mutter geboren, in unmittelbarer Nähe des Petrowski-Palais.

In den dreißiger Jahren hatte auch mein Vater eine Verbindung zu diesem Bezirk: Nach der Verhaftung seines Vaters, meines Großvaters, verließ er die Schule und arbeitete beim Metrobau, und zwar an der Station Dynamo.

Zu der Zeit war der Bezirk bereits ein Teil von Moskau, kein Vorort mehr mit zweifelhaftem Ruf. Das Sommerhaus stand noch lange, nachdem Großvaters Familie umgezogen war, erst in die Sadowaja-Straße, dann in die Kaljajewskaja, aber irgendwann stürzte es ein. Ganz in der Nähe, in der Nishnjaja Maslowka, hatte mein Mann Andrej Krassulin lange sein Atelier. Die letzte Wohnung von Großmutter und Großvater befand sich in der Baschilowka — all das liegt nah beieinander im Norden der Stadt.

Auch ich bewegte mich bei meinen Umzügen immer in diesem Stadtteil — von der Kaljajewskaja in die Nowolessnaja und dann, bei dem letzten, in die Nähe der Metrostation Aeroport, unweit von Großvaters ehemaligem Haus.

Der geographische Mittelpunkt meiner Kindheit ist die Kaljajewskaja-Straße. Die einstige Dolgorukowskaja-Straße, benannt nach dem ehemaligen Moskauer Generalgouverneur Fürst Dolgorukow, trug einige Jahrzehnte lang den Namen von Iwan Platonowitsch Kaljajew, einem Terroristen mit sanfter und poetischer Seele. Jetzt heißt sie wieder Dolgorukowskaja.

Der Name Iwan Kaljajew steht in den Geschichtsbüchern, der von ihm getötete Großfürst Sergej Romanow ist vergessen. Im Übrigen ist auch Kaljajew inzwischen aus der Moskauer Toponymie verschwunden.

Die Kaljajewskaja führte zur Metrostation Nowoslobodskaja. Ich erinnere mich noch gut an die Eröffnung der Station im Jahr 1952 und daran, wie beeindruckt ich war von der farbenprächtigen Kunst, den Glasmalereien mit Ornamenten, Hämmern, Sicheln und Wappen.

Mit den Jahren erweiterte sich mein Aktionsradius — damals fuhren Kinder schon früh allein durch Moskau, heute lässt man sie kaum noch allein auf die Straße. Zusammen mit meinen Freundinnen machte ich Ausflüge zur Eisbahn im Park des Zentralhauses der Roten Armee, dem ehemaligen Jekaterina-Park, ins Kino Ekran shisni, oder bis zum Sawjolowoer Bahnhof, vorbei am Butyrka-Gefängnis. Dorthin fuhr eine Straßenbahn. Einmal sah ich, wie eine Straßenbahn eine ländlich gekleidete Frau im Schaffellmantel überfuhr. Das grub sich tief in mein kindliches Gedächtnis: der klaffende offene Mantel, die zerfetzten Beine … Das Gesicht war nicht zu sehen. Der erste tote Mensch, den ich mit eigenen Augen sah. Eine Fremde.

Dann gab es noch das Selesnjowskije-Bad voller nackter Frauen mit Bottichen im Wasserdampf. Aber dorthin wurde ich nicht oft gebracht, nur, wenn der Badeofen in Großmutters Wohnung kaputt war. In Großmutters Kommunalka gab es ein Badezimmer, darin stand eine uralte Wanne mit Löwenfüßen und ein von feinen Rissen durchzogenes Porzellanwaschbecken mit rosa Chrysanthemen. So etwas besaß sonst niemand!

Unser großer Hof war fast ausschließlich von barackenartigen Gebäuden umgeben, doch in dem weitläufigen Areal standen auch ein paar halbwegs anständige Häuser. Echte Baracken befanden sich dreihundert Meter weiter, näher an der Vierten Twerskaja und dem Miussy-Park, sie wurden Kotjaschkina*1-Dorf genannt. Dorthin zu gehen war mir verboten, aber gerade das Verbotene daran reizte mich.

Ein wunderbares Herumirren, eine Erweiterung der kleinen Welt, eine Verschiebung der Dimensionen! Ich fürchtete zwar, mich zu verlaufen, doch insgeheim wünschte ich es mir auch: Wieder und wieder die Angst zu empfinden (wenn ich mich nun für immer verirrt habe?) und dann das Glücksgefühl beim Wiedererkennen vertrauter Orte; noch heute verlaufe ich mich gern in einer fremden Stadt, jetzt allerdings mit einer Karte in der Hand.

Eine Seite des Kotjaschkina-Dorfs grenzte an das Gebäude der Parteihochschule. Vor der Revolution befand sich dort die Schanjawski-Universität, ein Zentrum der Kultur. Die Parteihochschule war ein Anziehungspunkt für die kommunistische Jugend Europas und für die lokale weibliche Bevölkerung — sie lockte mit »kommunistischen Bräutigamen«. Besonders beliebt waren Italiener. Meine Freundin Ljuba begegnete ihrem Schicksal dort in Miussy, in unserem Lieblingspark. Noch heute besuche ich das glückliche Paar in Mailand. Giuseppes Leidenschaft für die kommunistische Bewegung erkaltete rasch, er wurde ein linker Journalist, Ljuba wurde Professorin an der Mailänder Kunstakademie. Noch zwei weitere Mädchen aus meiner Klasse heirateten ins Ausland — die eine einen Schweden, die andere einen Tschechen. Heute befindet sich in der einstigen kommunistischen Bildungsstätte die Staatliche Russische Universität für Geisteswissenschaften.

An den Orten meiner Kindheit ist die Geographie nicht zu trennen von der Geschichte und umgekehrt. In Miussy und den umliegenden Straßen, wie in der Lessnaja*2, befanden sich große Holzhandlungen. Hier wurde Holz aller Arten angeliefert, zum Heizen und zum Bauen. Ich erinnere mich an das letzte Holzlager in der Nähe des Kotjaschkina-Dorfs. Geleitet wurde es von einem alten Juden, einem riesigen Kerl mit Namen Kuperschmit — er kam öfter zu meinem Großvater, um sich mit ihm über Brautwerbung zu beraten. Er hatte eine Tochter, ebenso riesig wie er selbst, sie musste längst verheiratet werden, aber es fanden sich keine Interessenten … Das Holzlager existiert nicht mehr. Genau wie das Kotjaschkina-Dorf. Der Miussy-Park vegetiert vor sich hin, es fehlt bereits der Springbrunnen, auch die japanischen Zwergakazien auf den Rasenflächen sind nicht mehr da. Verschwunden ist das alte Moskau, an das sich kaum noch jemand erinnert.

Moskau zu lieben fällt mir immer schwerer. Die Heimat meiner Kindheit ist fast völlig zerstört. Eine moderne Stadt braucht keine Drogerien und keine Petroleumläden, keine Holzlager und keine hundert Jahre alten Geschäfte mit blauweißen Fliesen wie in der Filippow-Bäckerei und der Kurnikow-Fleischerei. Sie sind überflüssig geworden und passen nicht mehr zu unserer Zeit. Sie alle wurden ersetzt durch Supermärkte und mehrgeschossige Einkaufszentren. Die Eisbahn durch Sport- und Fitnessklubs. Es gibt keine Glaser mehr, keine Wäschereien, keine Hauswarte und keine Altwarenhändler. Nur noch die kommunale Wohnungsverwaltung und Secondhandläden. Auch uns alte Moskauer wird es bald nicht mehr geben.

Mein Name

Heute Nacht der Entschluss — ohne Punkt und Komma zu schreiben … aber das kann man nicht lernen dazu muss man etwas verlernen —

und keine Chronologie … die ist endgültig vorbei — das Leben ist wie ein runder See dessen Ufer alle gleichzeitig zu sehen sind oder wie eine Kugel die ihre Flugbahn fast vollendet hat und nun abwärts fliegt immer weiter und dann — bumm! — explodiert

ich also — was für eine Ljussja was für eine Ulitzkaja — ich weiß nicht wer …

in meiner Hand wird ein weißer Stein liegen mit meinem wahren Namen und der aus meinem Pass wird auf einem grauen Stein stehen auf dem deutschen Friedhof wo Mama und Großmutter liegen

einstweilen aber tut es ein beliebiges Pseudonym und dazu ein gemurmeltes nächtliches Gebet

ich bin nicht Ljussja Ulitzkaja das sind fremde Laute kratzig wie Glas

vor allem keine Ljudmila

woher die kommt weiß ich — als ich zur Welt kam schwärmte mein sechzehnjähriger Onkel Vitja für eine Ljudmila ein Mädchen vom Land er brachte diesen zufälligen Namen ins Haus und er wurde mir angehängt

meinen wahren Namen kenne ich nicht

»Jewgenija« blitzte auf in meinem Vatersnamen und dann im Familiennamen meines zweiten Mannes des Vaters meiner Söhne

alles daran ist zufällig wie die Brown’sche Teilchenbewegung …

noch bevor ich mich von meiner geliebten Biologie verabschieden musste

und noch nicht herausgewachsen war aus der larvenartigen Unbewusstheit und noch im Urozean der Reproduktion schwamm — armes Mädchen wie unsinnig und unharmonisch der Körper wächst während die Seele nicht hinterherkommt — verbrachte ich mein halbes Leben im Bann der hartnäckigen und irrigen Idee der unerlässlichen Vermehrung und Fortsetzung des Selbst

erst am Ende des Lebens beginnt das Begreifen welch dunkle Existenz die Ursuppe aus wimmelnden Eizellen und Spermien verheißt — die Biologie mit der ich damals noch verbunden war sagte hartnäckig und entschieden: es ist Zeit, es ist Zeit, es ist Zeit

und schon liegt unter meinen Füßen ein Stück Seidenstoff ein Muster aus einer italienischen Ausstellung

und neben mir steht ein männliches Geschöpf

und ein Geistlicher führt uns um einen kleinen Tisch herum

der kurzzeitig ein Analogion spielt

und diese Prozedur heißt Trauung

und das geschah mit mir mit keiner anderen

und das Stück gemusterten Stoff kann ich noch heute aus der Kommode nehmen und zeigen

damals glaubte ich auf dem gemusterten Stoff zu stehen und um den wackligen Tisch herumzulaufen sei eine notwendige Bedingung fürs Kinderkriegen

damals war ich noch Ljudmila

die Natur hatte nach einem Geschöpf männlichen Geschlechts verlangt zur Fortsetzung der Illusion des eigenen Daseins und nach Erfüllung dieser natürlichen Aufgabe wurden zwei Kinder geboren mit der Reaktionsschnelligkeit des Vaters geistreichem Humor leicht gezierten Lippen beim Lachen und mit einer Hälfte meiner Erbmasse — eigenwillig und selektiv aufgeteilt zwischen meinen Söhnen: der Ältere hat die gute Auffassungsgabe und Zielstrebigkeit bekommen der Jüngere das Künstlerische und die Fähigkeit es frei umzusetzen in seinem Fall in der Musik

nicht auf ewig war dieser Mann — nach zwölf Jahren verließ ich dieses Ägypten feierte die Einsamkeit eine gewisse Schwerelosigkeit der Befreiung

bei null beginnt alles Neue

danach ein neues Lebensmuster

gezeichnet von einem anderen Mann mit starkem unbeugsamem Namen

mit der unbeirrten Hand eines klugen unangestrengten Egozentrikers mit unfehlbarem Auge und dem natürlichen Gleichgewicht eines gesunden jungen Tiers

ohne jeden Zweifel an der eigenen Richtigkeit

manchmal trifft der Name genau und man braucht nicht auf einen anderen wahren zu warten

an stillen Abenden kann ich ein wenig trinken während mein Mann Andrej in seinem Leben bereits genug getrunken und gefeiert hat

jetzt im Alter trinke ich mich manchmal abends in einen angenehmen leichten Rausch nachts schreibe ich Worte auf und er schläft längst hinter der Wand auf dem sauberen Fußboden auf einer Bambusmatte vollkommen in seiner Art in seiner völligen Aufrichtigkeit und Unbekümmertheit so wie er ist er kann und will nichts anderes sein als er selbst und all das liegt in seiner Bewegung von Bleistift-Hand-Schulter-Stein und Papier

das auch ich Tage und Nächte mit Zeichen bedeckte bis die Tastatur das furchteinflößende Weiß des Papiers besiegte

befreit vom Bemühen vom Können von Absichten entsteht das »jetzt genau jetzt nicht gestern und nicht morgen«

das Mädchen das um eine graue Katze weint von der es gewaltsam getrennt wurde

und der Mann der nach Workuta zurückkehrt wie in seine Heimat

der Mann der auf der langen Reise erkennt dass es keine Heimat gibt sondern nur das Fenster aus dem er den ersten Baum sieht und die Leine auf der fadenscheinige Wäsche im Wind trocknet Ärmel und Beine schwingend

und der Körper schläft im Viehwaggon und vergisst wohin und wozu er strebte wovon er träumte

an den Schienenstößen stöhnt der Waggon und eilt ins Ungewisse

Mama verbot mir Großmutter anders zu nennen als Lenotschka so sehr wollte Mama ihre Jugend bewahren … geblieben ist nur noch ein Foto: wir drei sitzen auf einem Sofa mit runder Rückenlehne die noch junge Großmutter meine blutjunge Mutter und ich fünfjährig Großmutter ist ungefähr achtundvierzig viel jünger als ich heute … an der Seite steht eine Lampe weiß aus Porzellan säulenförmig mit lila-rosa Pseudo-Jugendstil-Blumenmuster die jetzt auf mein Kissen leuchtet

Großmutter Lenotschka eine große breitknochige vollbusige Frau mit kurzem Hals stämmigen Beinen und hochgestecktem lockigem Haar … mit einem Hut wie man ihn damals trug

als sie alt war schnitt ich ihr immer die ergrauenden Locken kurz auch Mama schnitt ich die Haare … Locken schneiden ist leicht man sieht nicht wenn die Schere abgerutscht ist

wunderbare Zähne bis ins hohe Alter beim Lachen entblößte sie eine »dichte« Zahnreihe wie Tolstoi es bei Wronski nennt

sie lachte gern besonders wenn ihre ungesund dicke Schwester Sonja sie besuchte die ebenfalls große Zähne hatte aber außerdem noch große dunkelrote Nägel an den dicken Fingern …

Mädchen muss man Geschenke machen

Großmutters Schwester Sonja schenkte mir ein Strickkleid himbeerlila eine unglaubliche Farbe für die ärmlichen Zeiten damals sie hatte es nach dem Krieg von der Rigaer Küste mitgebracht

ich merkte mir das verheißungsvolle Wort Küste

in diesem Kleid umarme ich auf einem im Fotoatelier aufgenommenen Bild eine andere Sonja — meine Urgroßmutter väterlicherseits … auf dem Foto bin ich etwa drei

schade dass es heute kaum noch Fotos auf Papier gibt jeder fotografiert mit dem Smartphone für den Augenblick nicht für die Wand oder ein Fotoalbum es bleibt keine Spur außer in einer Wolke aber dort schauen wir nie hinein

das früheste Familienfoto hängt an der Wand — mein Urgroßvater Issaak Ginsburg ein alter Mann mit Kippa

das bedeutet: selbst wenn er getauft wurde als er in die Kadettenschule aufgenommen wurde ist er nach fünfundzwanzig Jahren Militärdienst im Alter zum Judentum zurückgekehrt

sein Georgskreuz für die Einnahme von Plewna 1878 habe ich im Vorschulalter mit auf den Hof genommen um damit zu prahlen und so verschwand es für immer aus unserem Haus

Jugendfotos von Issaak gibt es nicht kann es nicht geben — damals gab es noch keine Fotoateliers

mit dem Alter geht es bei den Juden immer durcheinander sie wussten nie wie sie einen Jungen eintragen lassen sollten um zwei Jahre älter oder um drei Jahre jünger

es gibt viele Sofias in der Familie außer dieser Ururgroßmutter noch die Mutter meines Großvaters Jakow die in den fünfziger Jahren bei ihrer Tochter Raja in Leningrad lebte — sie aß nie Konfekt sammelte es aber um es ihrem Sohn Jakow meinem Großvater ins Straflager zu schicken ich weiß nicht ob es ihn je erreichte

am Ende ihres Lebens wohnte diese Urgroßmutter in der Ostoshenka bei ihrem Enkel Sanja Rewsin einem der besten Linguisten des Landes

die familiären Linien verwirren sich … nur noch Bruchstücke

es gab noch eine weitere Sofia genannt Sonetschka eine komplizierte Verwandtschaftslinie — eine Tante von Großmutter Jelena jünger als ihre Nichte — das kommt vor wenn die Tochter mit dem Kinderkriegen anfängt ehe die Mutter damit aufgehört hat

die Nichte und die Tante heirateten zwei Brüder und wohnten fast ihr Leben lang in einer gemeinsamen Wohnung

Sonetschka war hochgewachsen vollbusig hatte lange Beine und ging ein bisschen gekrümmt … die Haushälterin sagte Jelena Markowna hat die Figur einer Städterin und Sofja Lwowna die einer Dörflerin … eine rätselhafte Bemerkung … ich würde es genau umgekehrt sagen

Haushälterinnen waren meist aus Kolchosen geflohene Mädchen vom Land … Großmutter Jelena hatte ihre eigene Lebensregel: jede neue Haushälterin wurde in die Abendschule geschickt wo sie den Siebenklassenabschluss machte … später heiratete sie einen Milizionär oder Hauswart also einen Provinzler mit Moskauer Wohnrecht und schickte als Ersatz für sich ihre jüngere Schwester oder ein anderes Mädchen aus ihrem Dorf …

ich erinnere mich an vier solche Mädchen

am Tisch in der Kaljajewskaja im großen Esszimmer das noch nicht durch eine Wand geteilt war — wie viele Personen saßen da bei wachsender Familie mittags abends an Feiertagen zu Pessach und Neujahr: Urgroßvater Chaim und seine Söhne Boba und Julik die Schwiegertöchter Lenotschka und Sonetschka und ihre Kinder Miruscha Vitja und Schurik drei Kinder von zwei Paaren

als Vitja und Schura erwachsen waren kamen dazu ihre russischen Ehefrauen Tanja und Tamara meine Mutter Marianna mit ihrem Mann meinem Vater Shenja und ich — meine Cousins waren noch nicht geboren — also zwölf

die zwölfte war ich Ljussja

am Pessachtisch regierte mein Urgroßvater Chaim ein kleiner Mann mit weißlichen blassblauen tränenden Augen … er las Verse in einer fremden Sprache wie mir schien aus der Tora eine geheimnisvolle Sprache

die Pessach-Matze — ein besonderes Stück Matze (Afikoman?) wurde versteckt ich musste es suchen fand es und bekam ein Geschenk dafür ich weiß nicht mehr genau was — doch an ein Geschenk erinnere ich mich eine Uhr — Onkel Vitja hatte mich überredet mir eine Uhr zu wünschen bist du verrückt widersprach ich erstaunt eine Uhr ist doch zu wertvoll für Kinder aber die Idee kam von Urgroßvater also wünschte ich mir eine Uhr und Urgroßvater band sie mir um ein kleines längliches Kästchen an einem schmalen Armband

Urgroßvater war Uhrmacher er hatte aus verschiedenen alten Teilen eine Uhr gebastelt die sogar tickte … sie tickte nicht lange ich ging mit der Uhr hinaus auf den Hof wir spielten Kreisvolleyball ein Junge zielte mit dem Ball genau auf die Uhr sie fiel auseinander nur das offene Gehäuse mit dem Armband hing noch an meinem siebenjährigen Arm alle Federn und Rädchen lagen auf dem Boden samt dem Glas

nach mir wurden in der Familie nur noch Jungen geboren meine Cousins Jura und Grischa und Oleg ein Cousin dritten Grades — und diese Jungen zeugten wieder vier Jungen dazu kamen meine beiden Aljoscha und Petja … Aljoscha hat drei Söhne Mark Lukas und Lawrik insgesamt zwölf Jungen und danach ein einziges Mädchen Petjas Tochter Marianna sie trägt den Namen meiner Mutter die ihre Enkel nicht mehr erlebt hat

die Frauen der Familie waren starke Frauen

das Geschlecht wird vom Y-Chromosom bestimmt also vom Mann

ich glaube bei Völkern die in schweren Kriegszeiten leben werden mehr Jungen als Mädchen geboren

aber in unserer Familie waren es immer mehr Jungen

wie konnte ich das vergessen und wie gut dass ich mich nun daran erinnere

beim Pessachfest gingen irgendwann immer alle zur Wohnungstür und öffneten sie ein Stück um einen Engel einzulassen … das muss ich nachlesen den genauen Ablauf des Pessachfestes

nach all den Worten eine sehr schöne Handlung — still kommt ein Engel herein

mit Geld kauft man Petroleum und Eis das wusste ich genau denn ich ging mit Urgroßvater Chaim oft in den Petroleumladen er mit einer großen Kanne ich mit einer kleineren … danach kaufte er mir Eis

ich wusste noch nicht dass man Geld braucht damit Essen auf dem Tisch steht aber ich wusste schon dass man Nachbarn Geld leihen muss

zu Großmutter kamen die Nachbarn und liehen sich Geld auch zu meiner Mutter und seit ich erwachsen bin kommen sie auch zu mir …

wir Juden gelten als reich und geben gern — ein Luxus des Reichtums

später begriff ich dass man Geld braucht um Leben zu retten … und noch später dass es Dinge gibt die man für kein Geld der Welt kaufen kann

und wieder eine Zeit später erklärten mir kluge Leute alle Probleme die sich mit Geld lösen ließen seien keine Probleme sondern Ausgaben

in diesem Zusammenhang habe ich eine Entdeckung gemacht

wenn du Geld verleihst rechne nicht damit es zurückzubekommen darum gib nur so viel wie du entbehren kannst

ich gebe Geld lieber einfach so als es zu verleihen

Geld macht mir Angst ich kann nicht damit umgehen aber das Geld mag mich ich habe meist mehr oder weniger genug und werde wohl auch in Zukunft welches haben … Lebenszeit bleibt mir weniger als Geld

ich habe gern Geld in der Tasche und auf dem Konto das gibt Sicherheit

mein Geld wird nicht alle es kommt immer welches dazu geht weg dann kommt wieder neues

für Reiche ist das was ich an Geld besitze wenig für Arme ist es viel

zurück zu der kaputten Uhr

ich kam verheult nach Hause legte die Überreste der Uhr auf den Tisch und ging weiter weinen … auf Großmutters Sofa mit der runden Rückenlehne dort schlief ich unter Tränen ein

mein Urgroßvater der Uhrmacher war fast blind … er holte ein längliches Porzellankästchen hervor darin lagen winzige Metallteilchen er bastelte damit herum und legte die reparierte Uhr wieder auf den Tisch nur den Riss im Glas konnte er nicht reparieren als ich aufwachte tickte die Uhr

Urgroßvater galt als blind aber ich wusste dass er alle an der Nase herumführte am meisten beeindruckte mich nicht die reparierte Uhr sondern meine Entdeckung: Urgroßvater du bist ja gar nicht blind …

ich habe eine vage Vorstellung von dem was danach kommen wird

etwas von meinem »Ich« wird bleiben … aber nur der beste der redigierte Teil der Rest wird hinweggefegt weggepustet wie Staub äußerlich werde ich mir noch ähneln aber ebenfalls in redigierter Form

bleiben wird mein kindlicher Gesichtsausdruck den ich lange hatte fast bis zum Ende

meine Hände werden bleiben und die Ungezwungenheit der Bewegungen die bei mir erst im Alter erwacht ist — normalerweise ist es umgekehrt aber ich habe jede Unbeholfenheit mit den Jahren verloren nach und nach wie ich jetzt das Gedächtnis verliere für Dinge die vor kurzem geschehen sind

und je mehr sich das Gedächtnis auflöst desto besser wird mein Gehör aber nur für Musik die ich im Alter viel höre

hohe Stimmen von Kindern und Frauen nehme ich schlecht wahr

mein Enkel Lawrik ruft jeden Tag an seine Piepsstimme kann ich kaum verstehen

mein erster Mann Jura hat nach unserer Scheidung das Model Katja geheiratet sie hat ihm Sacharka geboren Sacharka ist altersmäßig genau zwischen meinen beiden Söhnen … Sacharka ist mein Patensohn Jura hat sich kurz vor seinem Tod taufen lassen

wir waren damals alle gefangen vom Christentum keine besonders süße Gefangenschaft aber sehr reizvoll

in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts traten die Kinder von Intellektuellen aus diesem Grund in den Komsomol ein — zur Parteilosigkeit musste man erst heranwachsen

vor etlichen Jahren ging ich mit Katja über den Hof und uns entgegen kam Ljuda — ich sage: macht euch bekannt das ist Katja die zweite Frau meines ersten Mannes und das ist Ljuda die fünfte Frau meines zweiten Mannes … eine Formel der achtziger Jahre … unsere Eltern trennten sich noch anders — auf Nimmerwiedersehen