Maschas Glück - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Maschas Glück E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Das Licht erlischt im ganzen Haus - Stromausfall. Angela huscht aus der Wohnung ihres Mannes zu ihrem Geliebten, dem Elektriker. Schura klaut im Schutz der Dunkelheit das Boef Stroganoff aus der Gemeinschaftsküche. Ein Nachbar klopft vergeblich beim Elektriker. Und der blinde Kowarski stellt seinen Kassettenrecorder auf Batteriebetrieb. Er braucht kein Licht. Für Galina Andrejewna aber bedeuten die Minuten erzwungener Finsternis, schlagartig die Tragödie ihres Lebens zu erkennen. Ljudmila Ulitzkaja schreibt Geschichten aus dem wahren, ach so normalen Leben - erzählt mit lakonischem Witz und liebevoller Sympathie.

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Seitenzahl: 289

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Das Licht erlischt im ganzen Haus - Stromausfall. Angela huscht aus der Wohnung ihres betrunkenen Mannes zu ihrem Geliebten, dem Elektriker. Schura klaut im Schutz der Dunkelheit das Bœuf Stroganoff aus der Gemeinschaftsküche. Ein Hausbewohner klopft vergeblich beim Elektriker. Der blinde Kowarski stellt den Kassettenrecorder auf Batteriebetrieb und hört die Hammerklaviersonate. Er braucht kein Licht. Für Galina Andrejewna aber bedeuten die Minuten erzwungener Finsternis, schlagartig die Tragödie ihres Lebens zu erkennen und eine unwiderrufliche Konsequenz zu ziehen. Als die Hammerklaviersonate zu Ende ist, geht das Licht wieder an. Der Elektriker hat endlich reagiert.

Ljudmila Ulitzkaja beschreibt Menschen, die wir vielleicht nie bemerken würden, und lässt uns Dinge sehen, die sonst verborgen blieben. Ihre neuen Geschichten zeigen sie einmal mehr als Meisterin der kleinen Form. Sie erzählen von unglücklichen Ehen und glücklichen Mesalliancen, von falschen Müttern und untergeschobenen Söhnen, vom uralten Geschlechterkampf und von heutigen Affären - unglaublich treffend, weise und liebevoll.

Hanser E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

Maschas Glück

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Carl Hanser Verlag

Was gibt es nicht alles für Menschen

im Reich unseres Zaren!

Nikolai Leskow

Inhalt

Kurzschluß

Die Last der Schönheit

Iwan Zarewitsch

Kurzschluß

Der Weg des Esels

Die Leiter

Flurkomplex

Der große Lehrer

Tom

Blutsbande

Vaterschaftstest

Der älteste Sohn

Maschas Glück

Ein Sohn großzügiger Eltern

Sie lebten lange …

Sie lebten lange…

…und starben am selben Tag

Die große Dame mit dem kleinen Hündchen

Menage à trois

Die Tochter der Schriftstellerin

Kurzschluß

Die Last der Schönheit

Der Wehrkundelehrer Viktor Iwanowitsch mit dem Spitznamen »Pimpotschka« prüfte sorgfältig, ob die Heringe richtig eingeschlagen und die Zelte genügend straff gezogen waren, riß drei von acht wieder ein und ließ sie neu aufbauen.

Kaum war das Lager eingerichtet und eine quadratische Fläche für ein Lagerfeuer gerodet, fing es an zu regnen. Sie kochten Tee in einem großen Kessel und aßen, was sie von zu Hause mitgebracht hatten, doch das geplante Singen am Feuer fiel aus. Sie verschwanden in den Zelten, die innen trocken und außen naß waren. Das Fest war von Anfang an ein Reinfall. Mitten in der Nacht erwachten alle von einem wütenden Schrei.

»A-a-ah!« kreischte eine Frauenstimme.»Alle wollen meinen Körper, niemand will meine Seele!«

Zwischen den Zelten rannte Tanja Newolina, Schülerin der zehnten Klasse, hin und her, schüttelte in jeder Kurve ihr offenes Haar und hielt ein Kissen oder eine zusammengerollte Decke an die Brust gepreßt. Viktor Iwanowitsch lief hinterher, wollte sie stoppen und ins Zelt bugsieren, doch sie ließ sich nicht fangen und schrie weiter hysterisch: »A-a-ah! Alle wollen nur meinen Kö-ör per!«

Aber Tanja war nicht hysterisch – dieser Anfall blieb der einzige in ihrem Leben.

Ihr Körper, ihr Gesicht und ihr Haar waren tatsächlich so beschaffen, daß die ganze Straße ihr nachstarrte, wenn sie in ihrer Schulkleidung, die Mappe in der Hand, die Fahrbahn überquerte. Sie war ein stilles, bescheidenes Mädchen, stand nicht gern im Mittelpunkt und hatte bereits mit sechzehn die Blicke der Männer, die Anbändeleien und das Betatschtwerden in der Straßenbahn gründlich satt. Die zarte Mädchenseele der auffälligen Schönen sehnte sich so sehr nach erhabener Liebe, daß sie zu einem subtilen Gegengift griff: Von der fünften Klasse an war sie mit dem unscheinbaren Grinja Bass befreundet, dem Klassenbesten. Ihrer irrigen Logik nach mußte er, da er klug war, ihre Seele zu schätzen wissen, und bis zum Ende der siebten Klasse tat er das auch. Doch im darauffolgenden Sommer erlitt Grinja einen Pubertätsschub, der ihn nicht verschönerte, eher im Gegenteil, und dieser hormonelle Umschwung zerstörte das wunderbar Platonische ihrer Beziehung. Grinja unter liefen Berührungen, die Tanja zunächst als zufällig interpretierte, bis sie begriff, daß der intellektuelle Grinja ungeachtet seiner geistigen Überlegenheit nach körperlicher Nähe trachtete, genau wie ihr Nachbar Wlassow, der Idiot, wie all die Jungen auf dem Hof, in der Schule und auf der Straße, wie sogar manche erwachsenen Männer. Daß Grinja im dunklen Kino ihre Hand knetete, duldete sie noch, aber als er sie beim Nachhausebringen in eine Ecke des Hauseingangs zwängte und mit zusammengekniffenen Augen seine Pfoten auf ihre festen Brüste mit den vorstehenden Knöpfchen legte, heulte sie auf, riß die Arme hoch, hieb ihm die Handtasche ins Gesicht und rannte laut weinend in den zweiten Stock hinauf, ihm ihre unerträgliche Schönheit entziehend.

Grinja, erfüllt von Scham und Leidenschaft, stand noch lange im Hausflur, die Hände vor das brennende Gesicht gepreßt. Dann schlich er mit hängendem Kopf davon, denn er genierte sich vor den Passanten, den Wänden und der ganzen Gotteswelt, obgleich die abendliche Dunkelheit ihn vor fremden Blicken schützte.

Tanja schluchzte indessen in ihr Kissen, das die unsinnigen Mädchentränen weich aufnahm. Am nächsten Tag, einem Montag, blieben beide der Schule fern – aus Furcht davor, einander in die Augen zu sehen. Tanja erklärte ihrer Mutter, sie habe Halsschmerzen, Grinja schwänzte einfach so.

Tanja weinte den ganzen Tag, betrachtete zwischendurch im Spiegel ihr Puppengesicht, schnitt häßliche Grimassen und zog mit den Fingern die Lippen oder die Nase auseinander. Sie wollte anders aussehen – wie genau, wußte sie nicht recht, vielleicht interessant wie die Mnazakanowa mit der langen dünnen Nase, komisch wie die stupsnasige Wilotschkina oder wie die schmaläugige Walijewa mit den schiefen Zähnen, die sogar in ihrer Häßlichkeit anziehend war.

Alle Mädchen sehen normal aus, nur ich bin so eine Vogelscheuche, dachte sie und weinte mit neuer Kraft, erfüllt von der Vorahnung, wie schwer es eine schöne Frau hat, wenn sie nach Anerkennung ihrer Persönlichkeit trachtet.

Mit Grinja Bass entzweite sie sich völlig. Ein Jahr lang ging er noch in dieselbe Schule und sah sie von weitem unentwegt düster an, dann versetzten ihn seine Eltern an eine Mathematik-Spezialschule, doch er verfolgte Tanja weiter mit sehnsüchtigen Augen, lauerte ihr im Torweg oder vor der Schule auf. Er warf einen raschen, kurzsichtigen Blick auf das blendende Weiß ihres Gesichts – das er nicht in seinen Einzelheiten wahr nahm, sondern nur als weißes Leuchten – und verschwand, ohne den leisesten Versuch einer Annäherung; er sagte nie ein Wort, nicht einmal zur Begrüßung. Tanja wandte sich ab und tat, als bemerkte sie ihn nicht. Sie vertraute ihm nicht mehr. Er war genau wie die anderen – er wollte nur ihre Schönheit.

Tanjas Klassenkameradinnen, mit diversen Talenten gesegnet, strebten nach Schönheit und unternahmen da für einige Anstrengungen: Sie zupften sich die Brauen aus und malten sie an, legten sich schicke Kleider zu oder ein auffälliges Benehmen, dreist und herausfordernd. Tanja besaß außer ihrer Schönheit keinerlei Fähigkeiten – ihre Leistungen waren mittelmäßig, auch bei größter Anstrengung stand sie höchstens zwischen Zwei und Drei, selbst in zweitrangigen Fächern wie Singen, Zeichnen und Turnen erzielte sie keine Erfolge.

»Durchschnittliche Fähigkeiten«, sagten die Lehrer, doch Tanja selbst urteilte strenger: keinerlei Fähigkeiten.

In der zehnten Klasse lernten alle mit großem Eifer, die meisten strebten ein Hochschulstudium an, Tanja aber entschied sich, ihren Kräften angemessen, für die medizinische Fachschule; sie wollte Krankenschwester werden, am liebsten in einer Kindereinrichtung. Mit kleinen Kindern fühlte sie sich am wohlsten – die wollten nichts von ihrer Schönheit.

Zur Abschlußfeier erschien Tanja nicht im weißen Kleid, wie es die Mode jener Jahre verlangte – obwohl die Mutter ihr eins gekauft hatte. Sie trug Rock und Bluse, nahm ihr mittelmäßiges Zeugnis entgegen, saß in einer Ecke der Aula, während ihre Klassenkameraden tanzten, und ging nicht einmal mit ihnen auf den Roten Platz, wie es Sitte war. Übrigens forderte ohnehin niemand sie zum Tanzen auf. Ihre Schönheit war allzu unerreichbar, ihre Miene allzu verschlossen.

Tanja verließ die Feier ziemlich früh. Als Grinja Bass im Ausgehanzug, mit neuer Brille und Krawatte in seiner alten Schule vorbeischaute, war sie bereits weg. Er trottete zu ihrem Haus, blickte auf das dunkle Fenster und verschwand. Zwei Tage später fand man ihn auf dem Dachboden der Schule. Tot. Einen Abschiedsbrief hatte er nicht hinterlassen. In seiner Tasche steckte ein alter Wollhandschuh. Niemand wußte, daß er Tanja gehörte.

Als Tanja von dieser schrecklichen Geschichte erfuhr, zuckte sie zusammen. Sie wußte sofort, daß das mit ihr zu tun hatte, obwohl niemand dergleichen sagte. Der Beerdigung blieb sie fern, sie hatte Angst, ihr Gesicht und ihren Körper den Blicken auszusetzen.

Tanja bestand die Aufnahmeprüfungen für die medizinische Fachschule mit guten und befriedigenden Noten, und wieder war sie das schönste Mädchen in ihrem Studienjahr, in dem es nur einen einzigen Jungen gab, den humpelnden Serjosha Tichonow mit dem Kindergesichtchen. Er hatte als Kind Knochentuberkulose gehabt und war mit großen Bedenken aufgenommen worden – Tuberkulosekranke durften eigentlich nicht an medizinischen Einrichtungen arbeiten. Mit ihm freundete sich Tanja an. Die anderen Mädchen lachten darüber. Wie einst Grinja Bass, bot Serjosha Tanja ständig seine Hilfe an; das ganze erste Jahr lang brachte er sie Tag für Tag nach Hause, wobei er auf dem linken Bein humpelte. Im Sommer brach seine Krankheit wieder durch, und er wurde in eine Tuberkuloseklinik eingewiesen, wo Tanja ihn oft besuchte.

In der Metro und in der Straßenbahn wurde sie dauernd von jungen und reifen Männern angesprochen, aber sie durchschaute sie alle seit langem: Sie wollten ihr schönes, von dichtem dunkelblondem Haar umrahmtes Gesicht, ihre Beine unter dem unmodernen langen Rock – kurz, ihren Körper, dessen Schönheit trotz ihres Strebens nach Unauffälligkeit durch jede Kleidung hindurchzuschimmern schien.

Serjosha wollte nichts von ihr. Er hatte starke Schmerzen und mochte es nicht einmal besonders, wenn Tanja ihn besuchte.

Im Hochsommer wurde er operiert, und als Tanja ihm Äpfel auf die Wachstation mitbrachte, warf er damit, sagte, sie solle nicht mehr kommen, drehte sich zur Wand und weinte. Da küßte sie ihn.

Den ganzen Sommer und Herbst besuchte sie ihn im Sanatorium, und am Ende des Winters heirateten sie, sehr zum Ärger ihrer beider Eltern – Tanjas Mutter bekniete ihre Tochter, nicht so früh zu heiraten, noch dazu einen Invaliden; Serjoshas Mutter verabscheute Tanja vom ersten Augenblick an, denn sie war streng gläubig, und Tanjas Schönheit kam ihr verdächtig vor. Außerdem fragte sie sich argwöhnisch, wieso Tanja ausgerechnet ihren humpelnden Sohn genommen hatte: Womöglich hatte sie es auf die Wohnung abgesehen? Doch schließlich erlaubte sie ihrem Sohn die Heirat, unter der Bedingung, daß er Tanja nicht bei ihnen anmeldete, sie also keinen Anspruch auf die Wohnung erheben konnte. Tanjas Mutter, vom unerklärlichen Starrsinn der Tochter besiegt, willigte unter derselben Bedingung ein: daß Tanja ihren Mann nicht ins Haus brachte.

Serjosha mußte nach der erneut ausgebrochenen Tuber kulose die Fachschule verlassen. Er saß zu Hause und lernte für eine weitere Aufnahmeprüfung, er wollte Fernmeldetechniker werden. Als er die Lehre begann, trat Tanja ihre erste Stelle an, im Kreiskrankenhaus. Anfangs arbeitete sie im OP-Trakt, wurde aber nach einem halben Jahr auf die Station versetzt. Mit der Chirurgie kam sie irgendwie nicht zurecht, dafür fehlte es ihr an Geschick und Auffassungsgabe. Im Behandlungsraum dagegen ging ihr alles leicht von der Hand – man übertrug ihr nichts Kompliziertes, aber sie konnte sehr gut Blut abnehmen, bei ihr fürchteten sich nicht einmal Kinder davor, nur bei ihr hielten die kleinen Patienten still und zappelten nicht, wenn sie mit der Nadel in die Vene stach.

Die Ehe mit Serjosha lief nicht besonders. Zu Hause war er still und ruhig, aber sobald sie zusammen ausgingen, war er gereizt, wurde grob und ausfallend. Wenn ihm etwas nicht paßte, drehte er sich sofort um und ging nach Hause, und Tanja folgte ihm mit einigem Abstand, denn sie hatte immer ein wenig Angst um ihn. Auslöser derartiger Anfälle von Serjosha war der Umstand, daß sie von Unbekannten stets angestarrt wurden: Sie fragten sich ebenso wie Serjoshas Mutter, was diese schöne Frau an dem humpelnden, unscheinbaren Jungen gefunden hatte. Diese Blicke machten ihn rasend. Tanjas Schönheit hinderte Serjosha, sie zu lieben, deshalb begann er sie dafür zu hassen.

Am besten gefiel sie ihm, wenn sie weinte. Ihre Augen schwollen rasch an, ihre Nase wurde rot, ihre Mundwinkel fielen herab. Aber auch wenn sie weinte, sah sie aus wie Simone Signoret. In der Berufsschule legte Serjosha sich einen männlichen Freundeskreis zu, in dem er als der Älteste und der einzige Verheiratete bald eine dominierende Rolle spielte. Mit diesen neuen Freunden begann Serjosha zu trinken, und wenn er getrunken hatte, wurde er bösartig und brutal. Zweimal verprügelte er Tanja, und sie zog zu ihrer Mutter, so überstürzt, daß sie sogar ihre Wintersachen in der Wohnung ihres Mannes ließ – Mantel, Mütze und fast neue Stiefel.

Alle außer Serjosha waren sehr zufrieden mit Tanjas Auszug, sowohl Tanjas Mutter als auch ihre Schwiegermutter. Tanja selbst war überzeugt, daß sie niemanden brauchte und besser allein blieb, und trug ihre unnütze Schönheit wie andere einen Buckel.

Zweimal erschien Serjosha zum Feierabend auf Tanjas Arbeitsstelle, um sich mit ihr zu versöhnen. Einmal sah sie ihn vorher und rannte weg, beim zweiten Mal aber erwischte er sie, bat sie um Verzeihung und forderte sie auf, nach Hause zu kommen. Aber Tanja schüttelte nur wortlos den Kopf. Serjosha war angetrunken, und am Ende schlug er sie ins Gesicht. Nicht heftig, aber er selbst wäre dabei beinahe gestürzt.

Tanja fühlte sich immer mehr bestätigt darin, daß Schönheit etwas vollkommen Nutzloses sei und niemandem Glück bringe. Im Gegenteil. Inzwischen hatte sie einige Erfahrungen gesammelt: Der Chirurg Shurawski, ein reifer Mann, hatte sich wahnsinnig in sie verliebt, seine Frau war auf die Station gekommen und mit Fäusten auf Tanja losgegangen. Tanja wandte sich an den Chefarzt, und schließlich wurde sie in die Poliklinik versetzt.

Dort lebte sie sich gut ein. Ihre Chefin Jewgenija Nikolajewna, die wegen einer fortgeschrittenen Hüftgelenksarthrose auf beiden Beinen humpelte wie ein Dackel, wählte ihr Personal stets sehr sorgfältig aus. Sie war allen eine Großmutter – mal zu streng, mal zu nachsichtig, als schlüge ihr wunderbarer Charakter mitunter launische Kapriolen. Doch sie war sich dessen bewußt und suchte das ständig auszugleichen. Wie alle begegnete sie Tanja, vielmehr deren blendender Schönheit, zunächst mißtrauisch. Doch bei näherer Beobachtung kam sie rasch hinter Tanjas Geheimnis und empfand Mitgefühl mit ihr.

Die meisten Krankenschwestern waren ältere, ruhige verheiratete Frauen. Sie behandelten Tanja mütterlich, und sie fühlte sich sehr wohl unter ihnen. Besonders, nachdem Jewgenija Nikolajewna sie ins Labor versetzt hatte. Die Laborantin würde demnächst in Rente gehen und sollte ihre Kunst, aus Blutproben auf Objektträgern Leukozyten- und Prothrombingehalt zu bestimmen, an Tanja weitergeben.

Nun saß Tanja in dem kleinen Labor und hatte kaum Kontakt zu Patienten. Nur zweimal in der Woche nahm sie noch Blut ab – darin war sie einfach die Beste.

So verging ein Jahr und noch eins. Tanjas Mutter machte sich Sorgen: Ihre Tochter war schon über fünfundzwanzig, und außer dem unseligen Serjosha gab es in ihrem Leben keinen Mann. Sie mußte ja nicht gleich wieder heiraten, doch sie sollte sich wenigstens einen Mann anschaffen. Aber nein! Der Arbeitstag im Labor endete wegen der gesundheitsschädigenden Chemikalien früh, Tanja kam schon um vier nach Hause, legte sich schlafen, stand gegen sechs auf, machte sauber, kochte sich immer dasselbe Essen, Borschtsch und Buletten, und danach setzte sie sich entweder vor den Fernseher oder ging mit ihrer Freundin Mnazakanowa ins Kino. Ihre Mutter, alleinstehend, aber nie ohne Liebesabenteuer, mißbilligte diese Lebensweise. Sie versuchte sogar, Tanja Bekanntschaften zu vermitteln, mal einen Abteilungsleiter aus ihrem Betrieb, mal einen Mann, den sie im Urlaub im Süden kennengelernt, selbst aber verschmäht hatte. Tanja ärgerte sich darüber und belehrte ihre Mutter hochmütig: »Mama, Kerle, wie du sie mir unterschieben willst, treffe ich massenhaft in jedem Bus, davon könnte ich mir ein Dutzend anschaffen.«

»Na, dann tu’s doch«, empfahl die Mutter.

»Wozu denn?« fragte die Tochter kalt. »Die wollen alle nur das eine.«

Die Mutter war beleidigt und wurde wütend.

»Ach, und du bist was Besonderes, ja? Du brauchst das wohl nicht?«

Tanja sah sie mit ihren kornblumenblauen Augen an, senkte die perfekten Lider und schüttelte den Kopf: »Nein, ich brauche das nicht.«

»Na, dann bleib eben bei deiner Katze sitzen«, sprach die Mutter ihr Urteil.

Und das tat Tanja.

Die Katze schert sich nicht um Schönheit, ihr geht es um die Seele, dachte Tanja.

Allmählich wurde Tanja breiter und blasser. Sie reifte vom schlanken jungen Mädchen zur jungen Frau und zog weiterhin die Blicke der Männer auf sich: Ihre Taille war noch immer schlank, Hüften und Brust hatten sich gerundet, Arme und Beine waren kindlich grazil. Ein reifer Kelch, aber leer.

Sie wurde immer dicker, immer blasser, immer behäbiger und langsamer und sah bald aus wie Simone Signoret im Alter.

Die Männer sprachen sie nun nicht mehr jeden Tag an, und das enttäuschte sie sonderbarerweise. Im Grunde ihres Herzens hegte sie nach wie vor noch die vage Hoffnung, eines Tages einen Mann zu treffen, den nicht die Hülle aus Schönheit interessierte, der nicht so schnell wie möglich ihren Körper besitzen wollte, sondern sie um ihrer selbst willen lieben würde.

Tanja, die stets nur mittelmäßig begabt gewesen war, erwarb bei der Arbeit allmählich neue Fähigkeiten. Langsam, aber sicher erschloß sie sich nicht nur die Grundlagen ihres Berufs, sondern auch dessen subtile Geheimnisse. Sie blätterte sogar verstohlen in Biochemie-Büchern. Dafür mußte sie allerdings erst einmal das wenige wiederholen, was an der Fachschule darüber gelehrt worden war. Sie war zweifellos die beste der vier Laborantinnen. Sie arbeitete ohne Hast, sogar langsam, dennoch bewältigte sie alles schneller als die anderen. Im Blutabnehmen war sie überhaupt die anerkannte Spezialistin, man holte sie sogar auf die Stationen, wenn ein Patient besonders schwierige Venen hatte.

Boris kam an einem Montag zur Blutabnahme, es war Tanjas erster Termin am Morgen. Groß und gutaussehend, im Pullover und mit einem Stock in der Hand, kam er herein und blieb an der Tür stehen.

»Guten Tag, ich soll Blut abgeben.«

Er schaute vor sich hin. Tanja begriff nicht gleich, daß er blind war. Dann plazierte sie ihn auf einen Stuhl und bat ihn, den Ärmel hochzukrempeln. Die Nadel drang mühelos in die Vene ein. Tanja hatte sie auf Anhieb getroffen und hielt eine Ampulle darunter.

»Ja, sehr schön.«

Boris war erstaunt.

»Sie sind ja eine Meisterin! Bei mir trifft sonst keiner beim erstenmal. Es heißt immer, ich hätte schlechte Venen.«

»Wieso? Die Venen sind gut, nur ziemlich dünn.«

Er lachte.

»Genau das sagen alle – sie sind schlecht, weil sie so dünn sind.«

»Ich weiß nicht … Ehrlich gesagt, das ist das einzige, was ich gut kann«, sagte Tanja verlegen.

»Das ist gar nicht so wenig«, sagte er, wandte den Kopf in ihre Richtung und lächelte.

Vielleicht sieht er ja doch ein bißchen, dachte Tanja. Oder hat er etwa einfach so gelächelt, bloß wegen meiner Stimme?

Das bestätigte er sofort.

»Sie haben eine sehr schöne Stimme. Das hat man Ihnen bestimmt schon hundertmal gesagt, nicht?«

Dergleichen hatte ihr noch nie jemand gesagt. Man hatte ihre Augen, ihr Gesicht, ihr Haar, ihre Beine bewundert – aber noch nie ihre Stimme.

»Nein, das hat mir noch niemand gesagt.«

»Es gibt Dinge, die bemerkt man erst, wenn man blind ist«, sagte er und lächelte erneut.

Sein Lächeln war ganz eigen – irgendwie unbestimmt und nicht nach außen gerichtet, sondern nach innen.

Die Ampulle füllte sich, Tanja stellte sie in den Ständer und klebte ein Stück Mull auf die Wunde.

»Das war’s.«

»Danke.«

Er stand auf und wandte sich zur Tür. Den Stock trug er in der Linken, die Rechte hielt er angewinkelt vor der Brust, als Hindernismelder.

»Ich bringe Sie zur Treppe.« Tanja nahm seinen Arm. Sie spürte die starken Muskeln unter seinem Pullover. Er machte sich von ihr los und bot ihr seinen Arm. Er führte sie, nicht umgekehrt. Schweigend und langsam gingen sie durch den langen Flur.

»Die Treppe«, sagte Tanja. Er nickte.

Sie stiegen hinunter ins Erdgeschoß.

»Danke, daß Sie mich begleitet haben. Das war sehr nett… Als Hilfe für einen Invaliden.« Er lachte schief.

»Die Laborergebnisse sind am Donnerstag fertig. Soll ich Sie anrufen und sie Ihnen mitteilen?«

»Nicht nötig. Ich komme selbst vorbei.«

Tanja sah ihm nach: Er trug einen ausländischen Pullover von guter Qualität und die Uniformhose eines Offiziers.

Am Donnerstag erschien er mit Blumen, drei dickstängligen Hyazinthen mit betäubendem Duft.

Um eine Frau zu werben ist für einen Blinden schwierig, aber Boris schaffte es irgendwie. Und Tanja kam, nein, eilte ihm entgegen. Sie wurden rasch miteinander vertraut.

Boris hatte eine wunderbare Mutter; sie war Lehrerin. Als ihr Sohn das Augenlicht verloren hatte und bald darauf auch seine Familie, war Natalja Iwanowna in Rente gegangen und hatte ihrem Sohn geholfen, mit den neuen Gegebenheiten klarzukommen. Nach vier Jahren hatte sich Boris an sein neues Leben angepaßt und eine Arbeit gefunden – als Physiklehrer an der Berufsschule, die einst Tanjas Mann Serjosha besucht hatte.

Natalja Iwanowna liebte Tanja abgöttisch. Wahrscheinlich hatte sie Boris auch erzählt, wie schön Tanja war. Seine Hände besaßen nicht die Sensibilität, die blind Geborenen eigen ist, aber doch genug, um die Schönheit von Tanjas Körper zu erkennen. Ihre Ehe wurde sehr glücklich. Nach einem Jahr kam ihr Sohn Borja zur Welt. Auf der Straße schauten die Leute ihnen nach, so schön waren sie. Nur sehr aufmerksame Menschen bemerkten, daß der breitschultrige Mann blind war. Tanja wurde nach der Entbindung noch dicker, und ihr Körper weckte nicht mehr das Interesse junger Männer. Er gehörte ihrem blinden Mann. Genauso wie ihre ebenmäßige, reine und ausgeglichene Schönheit.

Tanjas Mutter schüttelte nur den Kopf. Natürlich war es gut, daß Tanja wieder geheiratet hatte, aber warum zog es sie immer wieder zu Invaliden? Bei ihrer Schönheit!

Iwan Zarewitsch

Neunzehnhundertfünfundvierzig absolvierte die achtzehnjährige Klawa einen Lehrgang beim Roten Kreuz und ging als Krankenschwester in die Tuberkuloseklinik – dort gab es eine Gehaltszulage. Gleich am ersten Arbeitstag verliebte sie sich in Filipp Kononow, einen Patienten aus Zimmer fünf, und heiratete ihn, sobald man ihn zum Sterben entlassen hatte. Doch entgegen den Prognosen der Ärzte starb er nicht sofort, sondern erst nach zweieinhalb Jahren.

Filipp war sehr groß, klapperdürr und so schön, daß die vierjährige Nachbarstochter Shenja sich ihr Leben lang an ihn erinnern sollte, weil er aussah wie ein Märchenprinz, wie Iwan Zarewitsch. Doch trotz seiner unglaublich blauen, tief in den Höhlen liegenden Augen war er ein wahrer Wolf. Er war zwanzig Jahre alt, die Tuberkulose war bei ihm nach einer Verwundung ausgebrochen, und obgleich sich die Ärzte redlich um seine Heilung bemühten, zerfraßen die Kavernen seine Lungen, und noch schlimmer fraß an ihm die Wut auf die ganze Welt, auf alle, die weiterleben würden, wenn er selbst bereits tot war. Und je weniger von seinen Lungen übrigblieb, um so heftiger tobte sein Zorn, dessen ganze furchtbare Energie sich meist gegen Klawa richtete. Sie tröstete sich mit der infamen Volksweisheit: Er schlägt mich, also liebt er mich.

Das erste Mal vermöbelte er seine Braut schon bei der Hochzeitsfeier. Die Freundinnen, die sämtlichen Kuchen restlos verputzt hatten, lästerten beim Verzehr der letzten Salatreste noch über die unscheinbare Bohnenstange von Braut mit der dicken Brille, als sie bereits die ersten blauen Flecke davongetragen hatte und im Nebenzimmer an der Schulter von Shenjas Mutter heulte. Shenja brachte ihr zum Trost Großmutters kostbare Luisa, eine mehrfach geklebte französische Puppe. Shenjas Mutter legte rohe Zwiebel auf den erblühenden blauen Fleck – auch diese eigenwillige Methode stammte vermutlich aus der Schatzkiste der Volksweisheiten. Und Klawa schüttelte ihr borstiges dünnes Haar mit der frischen Dauerwelle und vergoß die ersten Tränen über ihre große Liebe.

Dann klopfte Klawas Mutter Marja Wassiljewna an die Tür, weinte ebenfalls und klagte: »Das Mädchen hat sich ins Verderben gestürzt, ins Verderben. Hätte sie lieber einen Trinker geheiratet als einen solchen Schläger!«

Filipp aber liebte seine Frau Klawa mit der ganzen Kraft seiner bösen Seele. Die gesamten zweieinhalb Jahre ihrer Ehe schlug er sie erbarmungslos und heulte wie ein Tier, wenn er sie durch den langen Flur der Gemeinschaftswohnung jagte. Doch obgleich halb blind, war sie mit ihren langen Beinen sehr flink und floh über die Hintertreppe auf die Straße. Er verfolgte sie, und wenn er sie nicht einholen konnte, warf er ihr einen eisernen Schuhlöffel oder einen Hammer hinterher. Dabei schrie er immer die gleichen Worte: »Du Miststück, du wirst weiterleben und vögeln, und ich muß sterben!«

Er war Schuster, hatte das Handwerk schon als Kind vom Vater gelernt und verdiente sich damit in ihrem schmalen Kämmerchen ein bißchen Geld. Das einst große Zimmer war durch selbstgebastelte Zwischenwände in drei Räume aufgeteilt worden, und in jedem davon lebte eine Familie.

Schuhe waren damals knapp und wurden deshalb häufig repariert. Nachbarn und Fremde kamen zu Filipp und ließen sich von ihm neue Absätze machen, Sohlen flicken und Kappen beschlagen.

Der kleine Waska, im ersten Ehejahr geboren, war der erste Säugling, den Shenja zu Gesicht bekam. Er hatte die Stimme einer knarrenden Tür, die kornblumenblauen Augen seines Vaters und dessen ungünstige Erbanlagen.

Aus dem schmalen Zimmer der Kononows drangen ständig häßliche Laute: bellender Husten, vermischt mit wütenden Flüchen, Klawas Schreie und stetes Kinderweinen. Als Waska etwas älter war, kroch er in den gewundenen Flur hinaus und krabbelte, solange er noch nicht laufen konnte, unermüdlich von ihrem Zimmer bis zur Küche. Später lief er im Flur herum, bis er eines Tages einer Nachbarin vor die Füße geriet, die einen Topf frischgekochter Kohlsuppe in ihr Zimmer trug. Waska erlitt Verbrühungen, und Shenjas Mutter und Marja Wassiljewna brachten ihn ins Filatow-Krankenhaus, denn Klawa hatte an diesem Tag Vierundzwanzigstundendienst.

Der Flur war der spannendste Ort der Wohnung, vollgestellt mit Schränken, Regalen, Holz- und Metallgerümpel; an einer Wand hing sogar ein Pferdehalfter, das sich in der Stadt recht exotisch ausnahm. Doch für Shenja war der Flur verboten, wegen Filipp. Er spuckte den schaumigen grauen Auswurf seiner Lungen lieber in die Gemeinschaftstoilette als in das dafür vorgesehene Glasgefäß. In der Wohnung wimmelte es von Kochschen Tuberkelbazillen, ungeachtet der gemeinsamen Bemühungen von Klawa und Shenjas Mutter, sie mit Chlor zu vernichten.

Einmal hatte Klawa Bauchschmerzen, die eine ganze Woche anhielten, bis sie schließlich von der Arbeit aus mit dem Notarztwagen ins Jekaterina-Krankenhaus eingeliefert wurde. Es war eine akute Blinddarmentzündung – Klawa wurde sofort operiert. Nach einer Woche kam sie wieder, und an diesen Tag erinnerte sich Shenja später genau, denn Filipp verprügelte Klawa, deren Wachsamkeit und Wendigkeit ein wenig nachgelassen hatte, mit einem Stück Brennholz aus Shenjas Stapel im Flur. Der Kachelofen in Shenjas Zimmer wurde als einziger in der Wohnung vom Flur ausgeheizt.

An diesem Tag sah Filipp seine Frau zum letzten Mal im Leben: Ihre Nähte platzten auf und eiterten, sie bekam eine Blutvergiftung, und der große Chirurg Alexejew, damals noch kein Akademiemitglied, sondern einfach ein guter junger Arzt, schnitt ihr nahezu sämtliche Innereien heraus. Einen ganzen Monat schwebte sie zwischen Leben und Tod, und als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war Filipp schon begraben – er war in ihrer Abwesenheit gestorben.

War Waska der erste Säugling gewesen, den Shenja zu Gesicht bekam, so war Filipp der erste Tote in ihrem Leben. Der Sarg stand in der Küche, dem größten Raum der Wohnung, wo Hochzeiten, Mieterversammlungen und Beerdigungen stattfanden. Niemand weinte, und das Mädchen war verblüfft, weil Filipp gar nicht hustete. Und weil seine blauen Augen nicht zu sehen waren. Doch die langen, nadelspitzen Wimpern warfen einen blauen Schatten auf das Märchenantlitz von Iwan Zarewitsch. Er war dreiundzwanzig Jahre alt.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus war die Arbeit als Krankenschwester für Klawa zu schwer. Sie bewies Weitsicht und besuchte einen Diätschwesternlehrgang. Nun war sie im Tuberkulosekrankenhaus für die Ernährung zuständig und stahl Butter und Fleisch aus der Küche. Die trug sie in einer kleinen Stofftasche nach Hause, die sie im Sommer unter einer weiten Bluse und im Winter unterm Mantel verbarg. Ihr tuberkulosekranker Waska brauchte kräftigende Nahrung. Auch bei Shenja wurde in diesem Jahr Tuberkulose festgestellt, weshalb man sie noch nicht einschulte, obwohl sie schon sieben war.

In der Gemeinschaftswohnung wußte jeder alles über jeden. Auch daß Klawa Butter stahl, wußten alle. Shenjas Mutter erklärte ihrer Tochter damals, Klawa dürfe stehlen, sie beide dagegen nicht. Diese Relativitätstheorie leuchtete Shenja sofort ein. Zumal sie sich noch gut an die Geschichte mit dem Teelöffel erinnerte: Sie hatte in der Abwaschschüssel der Nachbarin unter dem schmutzigen Geschirr einen silbernen Teelöffel mit dem Monogramm ihrer Großmutter entdeckt und ihn triumphierend der Mutter gebracht.

»Sieh mal, unser Löffel, der lag in der Schüssel von Marja Wassiljewna!«

Mama hatte sie kalt angesehen.

»Leg ihn sofort wieder dahin, wo du ihn gefunden hast.«

Shenja war empört.

»Aber das ist doch unser Löffel!«

»Ja«, bestätigte die Mutter, »aber Marja Wassiljewna hat sich inzwischen an ihn gewöhnt, und darum legst du ihn jetzt dahin zurück, wo du ihn gefunden hast!«

Vierzig Jahre später traf Shenja Waska in Minsk wieder. Er sprach sie an: »Erkennst du mich nicht, Shenja?«

Shenja erkannte ihn mit der Spitze ihres linken Lungenflügels. Er sah haargenau so aus wie sein Vater, wenngleich seine Augen nicht von ganz so intensivem Blau waren. Er war um die Fünfzig, Dozent am Minsker Landwirtschaftsinstitut und hatte seinen Vater um zwei Menschenalter überlebt. Seine Mutter Klawa hatte einen Bulgaren geheiratet. Er liebte sie und schlug sie nicht. Auch Waskas Großmutter Marja Wassiljewna war noch gesund und munter. Und benutzte beim Teetrinken nach wie vor den Löffel mit dem Monogramm von Shenjas Großmutter.

Kurzschluß

Wladimir Petrowitsch schlägt die Fahrstuhltür zu, und prompt erlischt das Licht. Es wird stock finster, und ihn erfaßt Angst. Er versucht das höllische Gefühl abzuschütteln, aber es läßt nicht nach, und er bewegt sich vorsichtig in Richtung Haustür. Dorthin, wo er sie vermutet. Beide Hände an die Wand gelegt, tastet er sich daran entlang, bis er unterm Fuß eine Stufe spürt. Keuchend bleibt er stehen. Sein Herz bebt und pocht, aber das Nitroglyzerin fällt ihm nicht ein. Er kriecht an der Wand entlang die fünf Stufen hinunter und tastet mit zitternden Händen nach der Türklinke. Er greift danach, stößt gegen die Tür – sie öffnet sich nicht. Erneut überkommt ihn Furcht – unermeßliche, nächtliche Furcht, gegen die der Verstand machtlos ist. Er schlägt mit dem Körper gegen die Tür, bis er merkt, daß die Tür ihn zurückstößt, weil jemand sie von außen öffnen will. Ein Lichtviereck fällt herein – schwache Dezemberdämmerung. Eine Frau huscht an ihm vorbei und knurrt etwas von Stromausfall. Die Tür schlägt hinter ihm zu, und er steht da, an die Tür gelehnt, aber nun bereits draußen, in Freiheit, im Licht.

Es sind die dunkelsten Tage des Jahres, und er durchlebt seine übliche Dezemberdepression. Trotzdem ist er aufgestanden und aus dem Haus gegangen, zu seinem alten Lehrer, dem seit langem erblindeten Iwan Kowarski, der ihn um die Überspielung einer seiner Lieblingsplatten gebeten hatte. Die Kassette lag bereits über einen Monat bei Wladimir Petrowitsch, und er hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil er den Besuch bei dem Alten immer wieder verschob.

»Der Streß, der Streß«, klagt Wladimir Petrowitsch, er weiß selbst nicht, wem, und spürt, daß er dringend einen Kognak braucht, um den aus dem Takt geratenen Rhythmus seines Lebens wiederzufinden. Geld hat ihm Kowarski gegeben, wie immer. Kowarski ist blind, aber nicht arm: Sein Sohn lebt in Amerika. Er holt seinen Vater zwar nicht zu sich, zahlt ihm aber Unterhalt.

Nach der Finsternis im Hausflur blendet das trübe Straßenlicht beinahe, doch als die Augen sich daran gewöhnt haben, verschwimmt alles allmählich zu einer undurchdringlichen Brühe; unter Wladimirs Füßen schmatzt ein Matsch aus Wasser und Schnee, und er denkt wehmütig an den langen Heimweg, der ihm bevorsteht.

Die Frau, die Wladimir Petrowitsch aus der ägyptischen Finsternis in die gewöhnliche Finsternis der Moskauer Abenddämmerung entlassen hat, ist die Moldawierin Angela, die seit vier Jahren in der Hauptstadt lebt, zusammen mit ihrem unbedeutenden Ehemann, dem sie das Moskauer Wohnrecht verdankt, und dem anderthalb jährigen Sohn Konstantin, der eine Kinderkrankheit nach der anderen durchmacht. Die Dunkelheit im Hausflur stört sie nicht im geringsten, sie findet rasch ihre Tür und tastet nach der Klingel, aber die funktioniert natürlich nicht. Sie kramt ihren Schlüssel aus der Tasche, doch statt im Dunkeln nach dem Schlüsselloch zu suchen, hämmert sie mit der Faust gegen die Tür. Ihr Mann, der auf den Sohn aufpassen sollte, erwacht aus seinem betrunkenen Schlummer und öffnet. Der Kleine schläft. Er ist ein friedliches Kind, wenn er Fieber hat, weint er nicht, ist nicht launisch, sondern liegt fast durchgehend in heißem Schlaf. Angelas Mann knurrt ein paar unverständliche Worte und legt sich wieder hin. Angela überlegt eine Weile, dann geht sie leise hinaus. Sie hat einen Freund, den Elektriker der Wohnungsverwaltung, den Armenier Rudik. Ebenfalls ein Zugezogener, aus Karabach. Ein guter Mensch. Er haust in einem Wirtschaftsraum im Keller. Sie steigt die halbe Treppe hinunter und klopft. Rudik hat ebenfalls geschlafen. Er öffnet ihr, freut sich. Und umarmt sie zärtlich. Ein netter Kerl, und noch jung. Aber er hat nur ein befristetes Wohnrecht in Moskau.

Als das Licht erlischt, steht Schura gerade in der Küche und überlegt, ob sie Bratkartoffeln machen oder Kohlsuppe kochen soll. Die plötzliche Dunkelheit bringt ihre Gedanken ins Stocken. Sie wartet eine Weile, dann tastet sie an der Wand nach dem Schalter und knipst zweimal. Es kommt kein Licht. Beide Kühlschränke, ihrer und der der Nachbarin, sind verstummt, obwohl deren elektrische Eingeweide normalerweise rund um die Uhr rumoren. Selbst das Radio hinter der Wand, das sonst ständig gurrt, schweigt. Läuft wohl auch mit Strom aus der Steckdose, denkt Schura.

Sie klopft auf dem Tisch herum, greift nach den Streichhölzern. Mit dem zweiten Streichholz zündet sie eine Gasflamme an. Der Herd ist alt, der Gasdruck schwankt, und das bläuliche Flämmchen flackert.

Schura sucht unterm Tisch nach dem Kartoffelnetz. Im Dunkeln kann ich nicht schälen, vielleicht mache ich Pellkartoffeln, überlegt sie. Sie knipst noch einmal am Lichtschalter. Dann tastet sie sich in den Flur und öffnet die Wohnungstür – im Treppenhaus scheint es ein wenig heller. Wär schön, wenn die Milowanowa im Fahrstuhl steckt, denkt sie träumerisch. Die Milowanowa lebt seit zwanzig Jahren mit ihr in dieser Wohnung. Ein ewiger Stachel im Fleisch.

Schura geht zurück in die Küche. Ihr kommt ein interessanter Gedanke. Die Kühlschränke stehen nebeneinander. Beide Marke »Saratow«, im selben Jahr gekauft. Sie öffnet den Kühlschrank der Nachbarin – es riecht nach Essen. Die Milowanowa kocht viel: für sich und ihren Mann, außerdem bringt sie ständig volle Töpfe zu ihrer Tochter Nina. Schura erklärt ihr immer wieder, daß sie eigentlich für drei Leute Gas zahlen müßte. Ihr Kühlschrank ist voller Töpfe und Vorräte: Offenbar hortet sie Konserven für ihren Sohn Dimka, der im Gefängnis sitzt. Schura nimmt einen kleinen Topf heraus. Sie steckt einen Finger hinein; scheint eine Art Brei zu sein. Sie leckt den Finger ab – mm, das schmeckt! Bœuf Stroganoff, genau. Schura stellt die Gasflamme kleiner, setzt den Topf darauf und fischt mit einem Löffel einzelne Brocken heraus, noch bevor alles warm ist. Die Milowanowa kocht gut. Schura leider nicht. Sonst hätte sie nicht ihr Leben lang als Putzfrau gearbeitet, sondern in der Küche.

Schura rührt mit dem Löffel um. Warm schmeckt es noch besser. Sie braucht sich nicht zu beeilen. Solange kein Licht brennt, kommt die Milowanowa nicht nach Hause, sie grault sich im Dunkeln. Ich werde ihr sagen, ich hätte im Finstern die Kühlschränke verwechselt. Ich hab genauso einen Topf. Entschuldige, ich hab aus Versehen deins gegessen.

Sie löffelt dort, wo es wärmer ist. Die Soße ist fett, mit Schmand, das Fleisch ist vom Rind. Aber was tut sie noch rein, daß es so gut schmeckt? Weiß der Teufel!