Die Lügen der Frauen - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Die Lügen der Frauen E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Shenja ist eine Frau, zu der man rasch Zutrauen fasst. Ireen, eine englische Ferienbekanntschaft, erzählt ihr sofort ihre ganze (erfundene) Lebensgeschichte, und bei einer Dokumentation über russische Prostituierte in der Schweiz bemerkt sie verblüfft, dass jedes Mädchen die gleiche Kindheit hinter sich hat. Eine literarische Erkundung der weiblichen Lügen, ein Zyklus gewitzter und weiser Geschichten, die alle von der Kunst zu leben handeln.

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Shenja ist eine Frau, zu der man rasch Zutrauen fasst. Ireen, eine englische Ferienbekanntschaft, erzählt ihr gleich ihre ganze tragische Lebensgeschichte. Eine Kartenlegerin habe ihr prophezeit: "Du fängst mit dem fünften an", und so sei es gekommen, keines ihrer ersten vier Kinder habe überlebt. Shenja ist voller Mitgefühl, bis sie erfährt, dass kein Wort davon wahr ist. Als sie für eine Dokumentation über das Leben russischer Prostituierter in der Schweiz recherchiert, ist sie verblüfft, dass jedes der Mädchen fast die gleiche Geschichte erzählt: vom frühen Tod des Vaters und dem Stiefvater, der sie vergewaltigte, von dem Freund, der sie in den Westen brachte und an einen Zuhälter verriet, und von dem reichen Bankier, der sie nun bald heiraten werde – ein Traum, so hollywoodschön, dass man beschließt, statt einer Dokumentation einen Film fürs Kino zu drehen. Zu Shenja kommen sie alle, die Mühseligen und Beladenen, mit ihren Träumen und märchenhaften Phantasien, in denen das bescheidene Leben zu dramatischer Größe und Schönheit erblüht. Bis Shenja eines Tages selbst ein schweres Schicksal ereilt und sie nach einem Autounfall gelähmt im Rollstuhl sitzt. Nun muss auch sie die "Kunst zu leben" neu erlernen.

Ljudmila Ulitzkajas literarische Erkundung der weiblichen Lügen hat uns einen Zyklus gewitzter und weiser Geschichten beschert und zugleich das Porträt einer hinreißenden Frau, Shenja, die nach und nach von der Zuhörerin zur eigentlichen Hauptfigur avanciert.

Hanser E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

Die Lügen der Frauen

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Diana

Bruder Jurotschka

Ende der Geschichte

Eine Naturerscheinung

Der Glücksfall

Die Kunst zu leben

Diana

Das Kind hatte Ähnlichkeit mit einem Igel: störrisches, stachliges dunkles Haar, eine neugierige lange, spitze Nase, das amüsante Gebaren eines selbständigen Geschöpfs, das ständig an allem herumschnüffelte, und schließlich eine totale Unzugänglichkeit für Zärtlichkeiten, Berührungen, geschweige denn mütterliche Küsse. Doch auch seine Mama war allem Anschein nach ein Igelwesen – sie berührte es kaum, reichte ihm nicht einmal auf dem steilen Pfad vom Strand hinauf zum Haus die Hand. Der Junge kletterte vor ihr her, sie lief langsam hinter ihm, ließ ihn allein an Grasbüscheln Halt suchen, sich hochziehen, abrutschen und wieder hinaufsteigen, den kürzesten Weg zum Haus anstelle der sanft aufsteigenden Straße, die normale Urlauber benutzten. Er war noch keine drei Jahre alt, doch bereits von so ausgeprägtem Charakter, so unabhängig, daß auch seine Mutter manchmal vergaß, daß er noch ein Kleinkind war, und ihn behandelte wie einen erwachsenen Mann, von dem sie Schutz und Hilfe erwartete; dann besann sie sich, nahm den Jungen auf den Schoß, ließ ihn aufhüpfen, sang »Hoppe, hoppe, Reiter …«, und er juchzte, wenn er in den aufgespannten Rock zwischen den Knien der Mutter rutschte.

»Fällt er in den Graben …« sagte die Mutter.

»Fressen ihn die Raben!« erwiderte er freudig.

So lebten sie eine ganze Woche zu zweit in dem großen Haus, in dessen kleinstem Zimmer – die übrigen warteten blitzblank geputzt auf ihre Bewohner. Es war Mitte Mai, die Saison begann gerade erst, zum Baden war es noch zu kühl, aber dafür war das subtropische Grün noch frisch, voller Saft, und die Morgen waren so klar und rein, daß Shenja, seit sie eines Tages zufällig im Morgengrauen erwacht war, keinen Sonnenaufgang mehr versäumte, das tägliche Schauspiel, das sie bislang nur vom Hörensagen gekannt hatte. Sie lebten hier wunderbar friedlich, so daß Shenja sogar Zweifel kamen an den Diagnosen, die Kinderpsychologen ihrem lebhaften, zappeligen Sohn gestellt hatten. Er war nicht bockig, bekam keine Tobsuchtsanfälle, man hätte ihn sogar als artig bezeichnen können, wenn Shenja eine Vorstellung davon gehabt hätte, was genau »artig« bedeutete.

In der zweiten Woche hielt eines Tages zur Mittagszeit vor dem Haus ein Taxi, und ihm entquoll ein ganzer Haufen Leute: erst der Fahrer, der ein sonderbares Eisengestänge unbekannter Bestimmung aus dem Kofferraum nahm, dann eine große schöne Frau mit einer Löwenmähne aus rotem Haar, dann eine krumme Alte, die unverzüglich in das Vehikel verfrachtet wurde, das aus dem flachen Gestänge entstanden war, dann ein Junge, etwas älter als Sascha, und schließlich die Hausherrin Dora Surenowna, festlich herausgeputzt und noch hektischer als sonst.

Das Haus stand an einem Hang, windschief und ganz für sich; die Chaussee verlief unterhalb, eine zweite, unbefestigte Straße oberhalb des Anwesens, und ein Stück abseits davon lag ein Pfad – der kürzeste Weg zum Meer. Dafür war das Grundstück selbst wunderbar angelegt: In der Mitte stand ein großer, von Obstbäumen umringter Tisch, und zwei einander gegenüberstehende Häuser, Dusche, Toilette und ein kleiner Schuppen waren darum gruppiert wie eine Theaterkulisse. Shenja und Sascha saßen am Ende des Tisches und aßen Makkaroni, doch als die ganze Gesellschaft in den runden Hof einfiel, verging ihnen der Appetit.

»Hallo, ihr beiden!« Die Rothaarige warf Koffer und Tasche ab und ließ sich auf die Bank fallen. »Euch habe ich hier noch nie gesehen!«

Damit war sofort klargestellt: Die Rothaarige war hier Stammgast, also die Hauptperson, Shenja und Sascha dagegen waren neu und damit zweitrangig.

»Wir sind das erste Mal hier«, sagte Shenja beinahe entschuldigend.

»Einmal ist immer das erste Mal«, erwiderte die Rothaarige darauf philosophisch und ging in das große Zimmer mit der Terrasse, auf das Shenja anfangs spekuliert hatte, das ihr aber von der Gastgeberin entschieden verweigert worden war.

Der Taxifahrer schleppte die Alte in ihrem Käfig herunter, und die Alte quiekte mit schwacher Stimme etwas, das nicht russisch klang.

Sascha stand vom Tisch auf und entfernte sich mit stolzer, unabhängiger Miene. Shenja räumte die Teller ab und trug sie in die Küche: Ein Kennenlernen war ohnehin unvermeidlich. Die Rothaarige verlieh diesem Sommer schlagartig einen neuen Akzent.

Der weißblonde Junge mit der Stupsnase und dem unglaublich schmalen Schädel wandte sich eindeutig auf englisch an die Rothaarige, doch was er sagte, konnte Shenja nicht verstehen. Sehr wohl dagegen die Worte der rothaarigen Mama, die ihn unterbrach: »Shut up, Donald.«

Shenja hatte noch nie leibhaftige Engländer gesehen. Und diese Rothaarige und ihre Familie entpuppten sich als echte Engländer.

Das eigentliche Kennenlernen geschah am für südliche Begriffe späten Abend, als die Kinder im Bett lagen, das Abendbrotgeschirr abgewaschen war und Shenja unter der Tischlampe, über die sie ein Tuch gebreitet hatte, damit der schlafende Sascha nicht geblendet wurde, »Anna Karenina« las, um einige Ereignisse ihres zerbröckelnden Privatlebens zu vergleichen mit dem echten Drama einer richtigen Frau – die einen schneeweißen Hals hatte, Ringellöckchen, weibliche Schultern, Spitzenbordüren am Negligé und ein handbesticktes rotes Täschchen in der schmalen Hand.

Shenja hätte nicht gewagt, zur neuen Nachbarin auf die Terrasse hinauszugehen, doch diese pochte mit ihren kräftigen polierten Fingernägeln ans Fenster, und Shenja ging hinaus, nachdem sie einen Pullover über den Schlafanzug gezogen hatte – nachts war es noch empfindlich kalt.

»Was habe ich wohl gemacht, als ich am Bonzenladen vorbeikam?« fragte die Rothaarige streng. Shenja schwieg irritiert, ihr fiel nichts Geistreiches ein. »Ich habe zwei Flaschen Krimwein gekauft. Oder magst du vielleicht keinen Portwein, trinkst du lieber Sherry? Na, komm schon!«

Shenja legte »Anna Karenina« beiseite und folgte wie hypnotisiert dieser prachtvollen Frau, die in eine Art Poncho oder Plaid gehüllt war, jedenfalls etwas Flauschiges, grün-rot Kariertes.

Auf der Terrasse herrschte ein wildes Durcheinander. Koffer und Tasche waren ausgepackt, und Shenja staunte, welche Unmenge an bunten Klamotten sie dabei hatten – alle drei Stühle, das Klappbett und der halbe Tisch waren damit überhäuft. In dem Rollstuhl saß die Alte, ein offenbar vor langer Zeit vergessenes entschuldigendes Lächeln im bleichen, etwas schiefen Gesicht.

Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, goß die Rothaarige den süßen Rotwein in drei Gläser; in das letzte etwas weniger – das reichte sie ihrer Mutter.

»Zu Mutter kannst du Susan Jakowlewna sagen, aber du kannst es auch lassen. Sie versteht kein Wort Russisch, vor dem Schlaganfall konnte sie ein bißchen, aber danach hat sie alles vergessen. Englisch auch. Sie kann nur noch Holländisch. Die Sprache ihrer Kindheit. Sie ist ein reiner Engel, aber völlig ohne Verstand. Trink, Granny Susi, trink.«

Zärtlich reichte sie ihr das Glas, und die Greisin nahm es mit beiden Händen. Voller Interesse. Es schien, als habe sie doch noch nicht alles auf der Welt vergessen.

Der erste Abend war der Familiengeschichte der Rothaarigen gewidmet – sie war beeindruckend. Der geistesschwache Engel holländischer Abstammung hatte eine kommunistische Jugend gehabt und sein Schicksal mit einem irischstämmigen Untertanen des Vereinigten Königreichs verbunden, einem Offizier der britischen Armee und sowjetischen Spion, der gefaßt, zum Tode verurteilt, schließlich gegen etwas Gleichwertiges ausgetauscht und in die Heimat des Weltproletariats gebracht wurde.

Shenja hörte mit offenem Mund zu und merkte gar nicht, wie sie sich betrank. Die Alte im Rollstuhl schnarchte leise, dann rann ein diskreter Strahl an ihren Beinen herab.

Ireen Leary – was für ein Name! – klatschte in die Hände.

»Ach, jetzt hab ich nicht aufgepaßt, hab vergessen, sie auf den Topf zu setzen. Na, nun ist es sowieso egal.«

Sie erzählte noch eine weitere Stunde lang ihre beneidenswerte Familiengeschichte, und Shenja wurde immer berauschter, nicht mehr vom Wein, den sie bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken hatten, sondern weil sie so hingerissen und begeistert war von ihrer neuen Bekannten.

Sie trennten sich erst nach zwei, nachdem sie die vom Schlaf ganz benommene und absolut nichts begreifende Susi flüchtig gewaschen und umgezogen hatten.

Am nächsten Tag ging es laut und geschäftig zu – am Morgen machte Shenja Frühstück, fütterte alle mit Haferbrei und ging dann mit den beiden Jungen spazieren. Der englische Junge Donald, dessen Stammbaum ungeachtet seiner Geburt in Rußland ebenfalls beachtlich war – sein Großvater väterlicherseits war ein richtig berühmter, allerdings ebenfalls enttarnter Spion gewesen und gegen etwas noch Wertvolleres ausgetauscht worden als der Großvater mütterlicherseits –, erwies sich als wahrer Schatz: freundlich, wohlerzogen, und, was Shenja für ihn nicht weniger einnahm als für seine rothaarige Mutter, er behandelte den zappeligen, nervösen Sascha liebevoll und großmütig, wie ein Älterer einen Jüngeren. Er war ja auch älter als Sascha, immerhin schon fünf. Er offenbarte sofort eine irgendwie erwachsene Großzügigkeit: Er überließ Sascha ohne zu zögern sein raffiniertes Spielzeugauto und zeigte ihm, wie man die Karosserie hochklappen konnte. Als sie den Getränkekiosk erreichten, wo Sascha jedesmal nörgelte und ihm Shenja meist ein Wasser in einem trüben Glas kaufte, schob der fünfjährige Junge das ihm hingehaltene Glas beiseite und sagte:

»Nach Ihnen. Trinken Sie erst.«

Ein richtiger kleiner Lord. Als Shenja nach Hause kam, saß Ireen mit der Vermieterin am Tisch im Hof, und die Art, wie die stolze Dora um die neue Urlauberin herumscharwenzelte, offenbarte, daß Ireen hier hoch geschätzt wurde. Dora bewirtete sie alle mit Hammelsuppe, die heiß und zu scharf war. Der englische Junge aß langsam und sehr gesittet. Vor Sascha stand eine Schüssel, und Shenja machte sich darauf gefaßt, gleich leise auf Sascha einreden zu müssen, der beim Essen sehr eigen war: Er aß nur Kartoffelbrei mit Buletten, Makkaroni und Haferbrei mit gezuckerter Kondensmilch. Sonst nichts. Niemals.

Doch Sascha sah den kleinen Lord an und tauchte seinen Löffel in die Suppe. Und aß, wohl zum ersten Mal in seinem Leben, etwas, das nicht auf seiner Liste stand.

Dann hielten die Kinder Mittagsschlaf, die Frauen blieben am Tisch sitzen. Dora und Ireen schwatzten über die vorige Saison, erzählten Lustiges über Leute, die Shenja nicht kannte, und lange zurückliegende Urlaubsgeschichten. Susi saß im Rollstuhl, auf den Lippen ihr ständiges Lächeln, das ebenso unverrückbar und fehl am Platz wirkte wie das braune Muttermal zwischen Nase und Mund. Shenja blieb noch eine Weile sitzen, trank eine Tasse von Doras ausgezeichnetem Kaffee und zog sich zurück – sie legte sich neben Sascha und wollte zu ihrer »Anna Karenina« greifen. Doch am hellichten Tag zu lesen erschien ihr irgendwie ungehörig – sie legte den zerfledderten Band beiseite und nickte ein, wobei sie sich im Halbschlaf vorstellte, wie sie am Abend mit Ireen auf der Terrasse sitzen würde, ohne Dora. Und Wein trinken. Und wie schön das sein würde. Und hoch oben, wie die Wolken am Himmel, schwebte plötzlich der Gedanke, daß sie schon den zweiten Tag, seit Ireens Ankunft, kein einziges Mal an das verheerende Unglück in ihrem Leben gedacht hatte, die Katastrophe – diese bucklige, schwarzbraune Krabbe, die sie von innen aushöhlte. Ach, zum Teufel damit, so spannend war das nun auch wieder nicht, dieses ganze Theater um Liebe-Triebe. Dann sank sie tief in den Schlaf hinab.

Als sie erwachte, schwebte sie noch immer ein wenig auf der Wolke, denn plötzlich verspürte sie eine Heiterkeit wie schon lange nicht mehr; sie weckte Sascha, zog ihm Hosen und Sandalen an, und sie gingen in die Stadt, wo ein Karussell stand, das Sascha sehr liebte, und gegenüber davon befand sich der Bonzenladen.

Warum eigentlich Bonzenladen? Das muß ich Ireen fragen, dachte Shenja. Zwei Flaschen Portwein. Mit Wein sah es in diesem Jahr gut aus: den hatte noch kein Gorbatschow angerührt, und Kolchose, Sowchose und ein paar alte Bauern stellten Krimwein her – roten und weißen, Portwein und Sherry, trockenen und halbtrockenen, reinen und verschnittenen, teuren und billigen. Zucker, Butter und Milch dagegen gab es nicht. Aber das vergaß man, das war unwesentlich. Denn wesentlich war das Leben selbst.

Am Abend tranken sie auf der Terrasse erneut Wein. Nur die Mutter brachten sie heute früher ins Bett. Sie widersetzte sich nicht. Überhaupt nickte sie immer nur, bedankte sich in einer fremden Sprache und lächelte. Hin und wieder rief sie plötzlich: »Ireen!«, doch wenn ihre Tochter kam, lächelte sie verlegen, weil sie inzwischen nicht mehr wußte, warum sie nach ihr gerufen hatte.

Ireen hatte den linken Arm auf den Tisch gestützt und die Wange in die Hand. In der Rechten hielt sie das Glas. Spielkarten lagen über den ganzen Tisch verstreut – Reste einer zerstörten Patience.

»Seit einem Monat probiere ich daran herum. Sie will einfach nicht aufgehen. Was hältst du eigentlich von Karten, Shenja?«

»Ich weiß nicht. Als Kind habe ich mit Großvater Schafskopf gespielt …« Shenja wunderte sich über die Frage.

»Ist vielleicht auch besser. Aber ich mag Karten. Zum Spielen und zum Wahrsagen. Als ich siebzehn war, da hat eine Wahrsagerin mir etwas prophezeit. Ich hätte es vergessen sollen. Habe ich aber nicht. Und tatsächlich läuft alles haargenau so, wie sie damals gesagt hat.« Ireen nahm ein paar Karten, streichelte ihre bunte Rückseite und warf sie auf den Tisch – zuoberst lag die Kreuzneun.

»Die kann ich nicht leiden, aber sie drängt sich dauernd auf … Hau ab! Die macht mich ganz schwach.«

Shenja überlegte eine Weile und fragte dann: »Das heißt, du weißt immer, wie es ausgeht? Ist das nicht langweilig?«

Ireen hob ihre gelben Augenbrauen.

»Langweilig? Du hast ja keine Ahnung. O nein, keine Spur langweilig. Ach, wenn ich dir erzählen würde …«

Ireen verteilte den Rest der ersten Flasche. Sie trank einen Schluck, dann schob sie das Glas beiseite.

»Du hast bestimmt schon mitgekriegt, Shenka, daß ich schwatzhaft bin, oder? Ich plaudere alles aus, behalte kein Geheimnis für mich. Auch fremde nicht, denk dran, ich warne dich für alle Fälle. Aber eins habe ich noch nie jemandem erzählt. Das erzähle ich nur dir. Ich weiß auch nicht, warum, aber mir ist plötzlich danach …«

Sie lachte spöttisch, zuckte die Achseln.

»Ich staune selbst.«

Shenja stützte ebenfalls den Ellbogen auf den Tisch und die Wange auf die Hand.

Sie saßen sich gegenüber und starrten sich nachdenklich und versonnen an, als sähen sie in einen Spiegel. Auch Shenja staunte, daß Ireen ausgerechnet sie zur Vertrauten für ihre Offenbarung erkoren hatte. Und fühlte sich geschmeichelt.

»Meine Mutter war eine Schönheit, sie sah aus wie Deanna Durbin, wenn dir das was sagt. Und sie war schon immer eine Idiotin. Das heißt, keine Idiotin, aber schwachsinnig. Ich liebe sie sehr. Aber in ihrem Kopf herrschte immer ein heilloses Durcheinander: einerseits ist sie Kommunistin, andererseits Protestantin, und dann schwärmt sie auch noch für den Marquis de Sade. Sie konnte jederzeit ohne Zögern alles hergeben, was sie besaß, und zugleich meinem Vater eine Szene machen, weil sie auf der Stelle den Badeanzug haben wollte, den sie neunzehnhundertdreißig auf dem Boulevard Saint-Michel gekauft hatte, an der Ecke, die ganz nahe am Luxembourg liegt. Als Vater starb, war ich sechzehn, von da an waren wir beide allein. Sie war – ich bewundere meinen Vater und verstehe bis heute nicht, wie er das bei ihrem unglaublich schweren Leben ausgehalten hat – von geradezu triumphaler Hilflosigkeit: Sie ging nicht einen Tag arbeiten, denn sie beherrschte zwar zwei Muttersprachen, Englisch und Holländisch, hat aber nie Russisch gelernt. In vierzig Jahren! Vater arbeitete beim Rundfunk, man hätte auch sie eingestellt. Aber selbst dort, wo Russisch im Grunde nicht nötig war, hätte sie zumindest ›Guten Tag!‹ sagen oder das Schild ›Ruhe! Aufnahme!‹ lesen müssen. Das konnte sie nicht. Vater starb, und ich ging sofort arbeiten, ohne jede Ausbildung, aber ich kann erstklassig Maschine schreiben, in drei Sprachen.

Also. Zur Wahrsagerei. Ich hatte eine alte Freundin, eine Engländerin, die in den zwanziger Jahren in Rußland hängengeblieben war. Es gibt bei uns eine kleine Kolonie russischer Engländer. Die kenne ich natürlich alle. Das sind entweder Kommunisten oder Techniker, die in den zwanziger Jahren, noch in der NÖP-Zeit, nach Rußland gekommen sind und hier Wurzeln geschlagen haben. Diese Anna Kork also, die war wegen ihrer Liebe hiergeblieben. Die Liebe wurde erschossen, aber sie hatte Glück und überlebte. Hat natürlich gesessen, klar. Und ein Bein verloren. Sie ging fast nie aus dem Haus. Sie gab Englischunterricht. Und betätigte sich als Wahrsagerin. Fürs Wahrsagen nahm sie kein Geld. Nur Geschenke, die nahm sie. Ich habe einiges von ihr gelernt, aber ich bin ihr auch nützlich gewesen.

Einmal, als ich gerade bei ihr war, kam so eine Schönheit zu ihr, die Frau von einem General oder einem Parteiboß. Sie konnte wohl keine Kinder kriegen oder wollte einen Rat, ob sie ein Kind adoptieren sollte. Meine Anna redete mit ihr in ihrer üblichen Art, radebrechte, was das Zeug hielt, mit unglaublichem Akzent. Dabei sprach sie nicht schlechter Russisch als du und ich, das kannst du mir glauben – Kunststück, nach acht Jahren Lager. Aber wenn sie es für nötig hielt, legte sie einen heftigen Akzent auf. Und fluchen konnte sie – dagegen ist das Künstlertheater gar nichts! Sie erklärt also dieser Schönen – nicht ja, nicht nein, verschnörkelt und vielsagend, wie es sich für eine Wahrsagerin gehört: ›Du wirst vielleicht ein Kind haben, aber besser, du hättest keins …‹

Dann dreht sie sich plötzlich zu mir um und sagt: ›Und du fängst mit dem fünften an, denk daran. Mit dem fünften.‹

Mit dem fünften? So ein Quatsch. Ich habe es sofort wieder vergessen. Doch als die Stunde kam, fiel es mir wieder ein.«

Ireen ließ das Kinn wieder in die Hand sinken. In ihren Augen saß ein leises animalisches Funkeln, wie bei einer Katze. Sanft, behaglich und ein wenig gefährlich.

Shenja hatte Freundinnen aus der Studienzeit, mit denen sie über wichtige und substantielle Dinge sprach, über Kunst und Literatur oder über den Sinn des Lebens. Sie hatte eine Diplomarbeit über die russischen Dichter der Moderne geschrieben, und ihr Dissertationsthema war für die damalige Zeit äußerst elitär: »Poetische Gemeinsamkeiten von Dichtern modernistischer Strömungen und die Symbolisten«. Shenja hatte großes Glück: Ihre Diplombetreuerin war eine bejahrte Professorin, die sich in der russischen Literatur so heimisch fühlte wie in ihrer eigenen Küche. Diese von den Studenten und namentlich den Studentinnen vergötterte Anna Weniaminowna kannte alle diese Dichter nicht nur vom Hörensagen, sondern persönlich: Sie war so gut wie befreundet mit Anna Achmatowa, hatte Tee getrunken mit Majakowski und Lilja Brik, sie hatte Mandelstam lesen gehört und sogar Kusmin noch kennengelernt. Durch Anna Weniaminowna lernte auch Shenja renommierte Leute kennen, sie verkehrte in bedeutenden intellektuellen Kreisen und hoffte, mit der Zeit selbst etwas Bedeutendes zu werden. Wenn sie ehrlich war, hatte sie derart banales Geschwätz wie an diesem Abend noch nie gehört. Doch merkwürdigerweise steckte in dieser Banalität etwas Wichtiges, Substantielles und sehr Lebendiges. Womöglich sogar der vielbeschworene Sinn des Lebens?

Shenja freute sich am leichten Weinrausch, an der Stille und der Dunkelheit draußen, in der das Licht der Lampe als heller Fleck in den Blättern des Feigenbaumes zitterte, und genoß zugleich die, wie sie ahnte, kurzzeitige Freiheit von den ungelösten wichtigen – waren sie wirklich so wichtig? – Problemen ihres Lebens.

Ireen fegte die Karten vom Tisch – ein Teil fiel zu Boden, ein Teil landete auf einem Stuhl.

»Susi lag von morgens bis abends auf dem Sofa und lutschte Bonbons. Heute weiß ich, das waren Depressionen, aber damals sah ich nur, daß sie zu meinem Kind wurde. Wie gesagt, das war noch vor ihrem Schlaganfall. Füttern mußte ich sie natürlich nicht direkt, aber hätte ich ihr die Suppe nicht auf den Teller gefüllt, hätte sie glatt drei Tage lang nichts gegessen. Ich beschloß, mir sofort ein Kind anzuschaffen, ein eigenes, richtiges Kind, denn ich hatte absolut keine Lust, zur Mutter meiner eigenen Mutter zu werden. Dann würde sie vielleicht wenigstens Großmutter spielen, den Kinderwagen schieben. Ich heiratete Hals über Kopf, den erstbesten. Einen Jungen aus dem Nachbarhaus. Er sah gut aus, war aber ein absoluter Schwachkopf. Ich wurde schwanger und trug meinen Bauch neun Monate rum wie einen Orden. Von wegen Übelkeit, Unwohlsein, Kreislaufprobleme und was Schwangere noch so haben sollen! Bei mir – keine Spur davon. Ich bin direkt von der Schreibmaschine in den Kreißsaal gegangen. Ich war gerade mitten in einer Arbeit. Macht nichts, hab ich gedacht, ich krieg erst mal schnell mein Kind, dann tipp ich das Zeug zu Ende. In zwei Tagen bin ich fertig. Aber es kam alles anders. Nabelschnurumschlingung. Mein Kind starb – die Hebamme war ein blutjunges Ding, der Arzt ein Volltrottel. Sie haben mein Kind draufgehen lassen. Dabei wäre nur eine erfahrene Hebamme nötig gewesen. Und ich Idiotin war gerade achtzehn. Zähl mit: So starb mein erster, David sollte er heißen, zum Gedenken an Vater. Die Milch lief aus mir raus wie verrückt, und ich hab Sturzbäche geheult.«

Aufmerksam, die Augen zu Schlitzen verengt, sah Ireen Shenja abschätzend an, als überlege sie, ob sie weiterreden sollte.

»Saschka hatte auch die Nabelschnur um den Hals«, sagte Shenja leise. Sie wußte, wie gefährlich das war fürs Kind, begegnete aber zum ersten Mal einer Frau, die ihr Kind verloren hatte wegen dieser dummen Schlinge, die dem Baby neun Monate lang treu gedient hatte, um es dann plötzlich zu erwürgen.

»Zwei Monate später wurde ich wieder schwanger. Du kennst mich nicht: Wenn ich etwas will, dann kriege ich es auch. Ich war also wieder schwanger. Nicht mehr ganz so heiter – Übelkeit, Blähungen, taube Glieder. Aber ich war trotzdem guter Dinge. Mein Mann, der Hornochse, war Autoschlosser. Wie gesagt, ich hab den erstbesten geheiratet. Alles, was er verdient hat, das hat er gleich versoffen. Ausgesehen hat er wie Alain Delon, nur größer war er. Ich hab also an meiner Schreibmaschine gesessen und emsig getippt. Für Susis Bonbons hat’s gereicht.

Beim ersten Mal wußte ich genau, daß es ein Junge wird. Diesmal hatte ich ein Mädchen geplant. Mein Bauch wurde immer dicker, und ich kannte nur eine Freude: Sobald ich ein paar Kopeken verdient hatte, bin ich sofort ins Kinderkaufhaus gerannt, Strampler kaufen, Jäckchen, Hemdchen, Strümpfchen. Alles so richtig sowjetisch – grob und häßlich. Ich bin ja als Hofkind aufgewachsen, hab immer draußen rumgehangen. Meine Eltern wurden anfangs unter fremdem Namen in Wolshsk angesiedelt. Erst mit zehn erfuhr ich meinen richtigen Familiennamen. Dann wurde die Geheimhaltung aufgehoben, und Mutters Schwester schickte das erste Paket. Da war auch eine Puppe drin. Aber ich konnte Puppen nicht ausstehen, ich wollte auch kein Mädchen sein. Ich hab geheult, wenn ich in einen Rock gesteckt wurde. Und als mir Brüste wuchsen, hätte ich mich beinahe aufgehängt.« Ireen reckte die Schultern, ihr üppiger Busen bebte vom Hals bis zur Hüfte.

Shenja betrachtete sie mit stillem Neid: was für eine Biographie! Und Ireen war sich ihrer Bedeutsamkeit unverkennbar bewußt.

»Das Mädchen war schon bei der Geburt eine Schönheit, vom ersten Augenblick an. Anders als Neugeborene sonst, die Haut nicht schmierig, nicht rot, nicht rauh. Blaue Augen, lange, schwarze Haare. Das hatte sie vom Autoschlosser. Ansonsten kam sie äußerlich nach mir: meine Nase, mein Kinn, mein ovales Gesicht.«

Shenja betrachtete Ireen, als sähe sie sie zum ersten Mal: Hinter der markanten Rothaarigkeit nahm man nicht gleich wahr, daß sie schön war. Ja, das ovale Gesicht, die Nase, das Kinn … Sogar die Zähne, die bei einer anderen wie ein Pferdegebiß gewirkt hätten, waren bei ihr einfach englisch: lang, weiß, ein wenig vorstehend, genau so weit, daß die Lippen nicht ganz geschlossen waren, sondern stets einladend, erwartungsvoll geöffnet.

»Ich sah sie und wußte sofort, daß sie Diana heißt. So und nicht anders. Sie war klein und wohlproportioniert – eine weibliche Figur und lange Beine. Und ein Knuddelpo. Sie war das schönste Mädchen der Welt. Nein, das ist keine mütterliche Übertreibung. Alle waren von ihr entzückt. Den Autoschlosser hab ich rausgeschmissen, zwei Tage nachdem ich aus der Klinik entlassen war. Er war einfach eine Beleidigung für meine Augen. Als er sie das erste Mal auf den Arm nahm, war mir sofort klar: Diana braucht einen anderen Vater. Nicht meinetwegen. Ich war noch gar keine richtige Frau. Mit dem Autoschlosser funktionierte es nicht, aber das war mir nicht einmal bewußt. Er nahm sie auf den Arm, und da sah ich, wie primitiv er war. Das hat meine Tochter mir demonstriert. Sie war klug und ruhig. Noch nie habe ich so eine – ja, lach nicht –, so eine Frau getroffen. Sie wußte genau, wie sie mit wem umgehen mußte, was sie von jemandem erwarten konnte. Stell dir vor, sie behandelte Susi mit Nachsicht. Sie weinte nicht, wenn ich sie mit der Oma allein ließ. Sie wußte, daß das keinen Sinn hatte. Sie war vier Monate alt, als ich anfing, ihr vorzulesen. Wenn es ihr gefiel, sagte sie ›Ja-ja-ja‹, wenn nicht – ›Nein-nein-nein‹. Mit einem halben Jahr verstand sie absolut alles, mit zehn Monaten fing sie an zu sprechen. Einen Monat lang hat sie gelallt, dann sagte sie: ›Mama, da, Fliege.‹ Da war wirklich eine Fliege.