Medea und ihre Kinder - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Medea und ihre Kinder E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Jedes Jahr im April herrscht wildes Chaos im Haus von Medea, wenn ihre Verwandtschaft aus aller Welt zu ihr auf die Krim strömt. Ljudmila Ulitzkajas beeindruckendes Epochengemälde zeigt die Halbinsel so, wie sie schon immer war: weltoffen und vielfältig. Ein Familienroman, der die unerschütterliche Hoffnung offenbart, Zerwürfnisse überwinden zu können.

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Das ist das Cover des Buches »Medea und ihre Kinder« von Ljudmila Ulitzkaja

Über das Buch

Jedes Jahr im April herrscht wildes Chaos im Haus von Medea, wenn ihre Verwandtschaft aus aller Welt zu ihr auf die Krim strömt. Ljudmila Ulitzkajas beeindruckendes Epochengemälde zeigt die Halbinsel so, wie sie schon immer war: weltoffen und vielfältig. Ein Familienroman, der die unerschütterliche Hoffnung offenbart, Zerwürfnisse überwinden zu können.

Ljudmila Ulitzkaja

Medea und ihre Kinder

Roman

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Mit einer Vorbemerkung der Autorin

Hanser

Vorbemerkung der Autorin

Geboren wurde ich im Ural, wohin die Familie meiner Mutter im Zweiten Weltkrieg evakuiert worden war, aber noch vor meinem ersten Geburtstag kehrten wir nach Moskau zurück, in meine eigentliche Heimatstadt, die ich seitdem nur verlassen habe, um zu verreisen. Es gibt jedoch noch einen weiteren Ort, der mir zur Heimat geworden ist — die Krim. Als Kind verbrachte ich jeden Sommer dort. Die Schwester meiner Großmutter lebte in Feodossija, sie hatte ein sehr schönes altes Haus und kannte die Krim seit ihrer frühen Jugend. Von ihr erfuhr ich viel über die Geschichte der Halbinsel, auch über die Zwangsumsiedlungen ihrer ursprünglichen Bewohner, der Esten, Griechen, Deutschen, Genueser und natürlich der Krimtataren. An ihrer Stelle wurden Menschen aus den zentralen Regionen Russlands auf die Krim gebracht. Dieser Teil der Vergangenheit war damals ein absolutes Tabu und wurde nur von den Alten weitererzählt, die all das miterlebt hatten. Ich selbst habe noch die letzten Alteingesessenen der Krim kennengelernt. Und diese tragische Geschichte setzt sich bis heute fort.

Für mich als Großstadtkind hatte die Krim mit ihrer einzigartigen Landschaft, mit ihren Farben und betörenden Düften, ihren Bergen und Buchten, vor allem aber mit ihren wilden Stränden, der Sonne und dem Meer von Anfang an eine ungeheure Anziehungskraft. Ich verliebte mich in sie und blieb ihr über viele Jahre treu. Als junges Mädchen kam ich zum ersten Mal mit der reichen Kultur der Krim in Berührung. Ich besuchte die Witwe von Maximilian Woloschin, einem großartigen Dichter, Übersetzer und Kulturvermittler, in dessen Haus in Koktebel fast die gesamte russische Literatur des 20. Jahrhunderts zu Gast gewesen war: Ossip Mandelstam und Andrej Bely, Marina Zwetajewa und Ilja Ehrenburg, Maxim Gorki und Nikolai Gumiljow.

Später, mit meinen Kindern, wohnte ich während der Sommerurlaube in der kleinen Stadt Sudak. Meine Gastgeberin dort war die Tochter von Konstantin Balmont, einem berühmten Dichter des Silbernen Zeitalters. Sie war mit einem pythagoreischen Gedächtnis gesegnet, erinnerte sich buchstäblich an jeden einzelnen Tag ihres Lebens und erzählte abends von ihren Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten früherer Jahre.

Nach dem Tod meiner Verwandten fuhr ich nur noch selten auf die Krim, und heute sieht dort alles ganz anders aus. Die Küste ist zugebaut mit Villen und Kurhäusern, es gibt keine wilden Strände mehr, keine menschenleeren Buchten. Aber die Bilder von damals haben sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt.

Als ich Ende der achtziger Jahre zu schreiben begann, wurde mir bewusst, dass das Schicksal mir unendlich viele wunderbare Menschen und spannende Erlebnisse geschenkt hatte, und diesen Lauf des Lebens wollte ich festhalten. Die Krim war für mich ein Ort der Erinnerung, der mich nicht losließ, und er bot sich als Schauplatz meines ersten Romans geradezu an. Für meine Hauptfigur, die Krimgriechin Medea Sinopli, standen meine Verwandten und Freundinnen auf der Krim Pate, aber auch viele andere ältere Frauen, die ich in meinem Leben kennen- und lieben gelernt hatte. Diese Frauen hatten ein schweres Schicksal, sie erlebten Emigration, Lager und Verbannung. Ihre Treue, ihre Standhaftigkeit und die ihnen eigene Würde sind für mich bis heute Musterbeispiele an Mut und Geduld. Ich danke dem Schicksal, das mir die Freundschaft dieser großartigen Frauen der älteren Generation geschenkt hat. Allein durch ihre Gegenwart veredelten sie die triste Sowjetzeit, in der auch dieser Roman spielt.

Der Mittelmeerraum ist die Wiege der europäischen Kultur, und die Krim ist ein entlegener Teil dieses Raums, seine Provinz. Die Griechen und die Römer gründeten Siedlungen auf der Krim, durch sie gelangte die europäische Kultur auch nach Russland. Seit jeher lebten Menschen der verschiedensten Völker auf der Krim, und meine Romanheldin Medea verkörpert dieses friedliche Miteinander. Sie ist für mich eine Weltbürgerin, die in ihrem Leben alle Vorurteile gegenüber dem Fremden überwunden hat. Aus diesem Grund ist es für mich gerade heute besonders wertvoll, dass dieser Roman noch einmal erscheint, und ich wünsche ihm möglichst viele Leser.

2022

1

Medea Mendez, geborene Sinopli, war, abgesehen von ihrer Ende der zwanziger Jahre nach Moskau verzogenen jüngeren Schwester Alexandra, die letzte echte Griechin in ihrer Familie, die sich vor Urzeiten an den mit Hellas verwandten taurischen Gestaden angesiedelt hatte. Sie war auch die Letzte in der Familie, die noch eine Art Griechisch sprach, vom Neugriechischen ebenso tausend Jahre entfernt wie das Altgriechische von der nur in den taurischen Kolonien erhaltenen mittelalterlichen pontischen Mundart.

Unterhalten konnte sie sich seit Langem mit niemandem mehr in dieser verschlissenen klangvollen Sprache, aus der die meisten philosophischen und religiösen Begriffe stammen und die eine erstaunliche Buchstäblichkeit und einen ursprünglichen Wortsinn bewahrt hat: Noch heute heißt Wäscherei in dieser Sprache Katharistirio und Transport Metaphora.

Die taurischen Griechen in Medeas Alter waren entweder ausgestorben oder ausgesiedelt worden, sie aber war auf der Krim geblieben, was sie, wie sie meinte, Gottes Gnade verdankte, zum Teil aber auch ihrem spanischen Witwennamen, ihr verblieben von ihrem verstorbenen Mann, einem fröhlichen jüdischen Dentisten, einem Mann mit kleinen, aber auffälligen Fehlern und großen, aber tief verborgenen Vorzügen.

Sie war vor langer Zeit verwitwet, hatte aber nicht wieder geheiratet, sondern blieb dem Stand der schwarz gekleideten Witwe treu, der ihr sehr zusagte.

Die ersten zehn Jahre trug sie ausschließlich Schwarz, später abgemildert durch kleine weiße Tupfen oder Punkte, stets auf schwarzem Grund. Ein schwarzer Schal umschlang auf unrussische und unländliche Weise turbanartig ihren Kopf; einer der beiden Knoten lag genau über der rechten Schläfe. Links fiel das lange Ende in antiken kleinen Falten auf ihre Schulter und verdeckte ihren runzligen Hals. Ihre Augen waren hellbraun und trocken, und auch ihr hageres dunkles Gesicht war voller welker Fältchen.

Wenn sie im weißen, hinten geknöpften Chirurgenkittel im weiß gestrichenen Rahmen des Aufnahmeschalters des kleinen Ortskrankenhauses saß, sah sie aus wie ein Porträt von Goya.

Schwungvoll und mit großen Buchstaben schrieb sie jeden Krankenhauseintrag, ebenso schwungvoll und mit großen Schritten durchmaß sie die Gegend; es machte ihr nichts aus, sonntags vor dem Morgengrauen aufzustehen, zwanzig Kilometer bis Feodossija zurückzulegen, dort die ganze Messe über zu stehen und gegen Abend wieder nach Hause zu laufen.

Für die Einheimischen war Medea Mendez längst ein Teil der Landschaft. Wenn sie nicht auf ihrem Hocker hinter dem weiß umrahmten Fenster des Aufnahmeschalters saß, tauchte ihre schwarze Figur entweder auf den östlichen Hügeln auf oder an den steinigen Hängen westlich vom Ort.

Sie ging nicht müßig spazieren, sie sammelte Salbei, Thymian, Bergminze, Berberitze, Pilze und Hagebutten, hatte aber auch ein Auge für Karneole, für ebenmäßige, mehrschichtige kleine Bergkristalle oder dunkle alte Münzen, von denen der matte Boden dieses bescheidenen Schauplatzes der Weltgeschichte voll war.

Der gesamte nahe und entfernte Umkreis war ihr vertraut wie der Inhalt ihrer eigenen Anrichte. Sie wusste nicht nur, wo und wann man eine bestimmte Pflanze fand, sie bemerkte auch, wie sich im Laufe der Jahrzehnte das grüne Gewand langsam veränderte: Die Bergminzesträucher stiegen neben den Schmelzwasserrinnen den Osthang des Kijan-Berges hinunter, die Berberitze starb an einer ätzenden Krankheit, die ihre unteren Zweige auffraß, die Zichorie dagegen rückte unterirdisch vor, und ihre Wurzeln erstickten die zarten Frühlingsblumen.

Die Krimerde war immer großzügig zu Medea und beschenkte sie mit ihren Raritäten. Dafür erinnerte sich Medea dankbar an jeden einzelnen Fund mitsamt allen, auch den unbedeutendsten Umständen von Zeit, Ort und allen Nuancen einstiger Empfindungen, angefangen vom ersten Juli neunzehnhundertsechs, als sie als kleines Mädchen mitten auf dem verwilderten Weg zur Ak-Moschee einen »Hexenring« aus neunzehn kleinen, völlig gleich großen Pilzen mit blassgrüner Kappe, einer Unterart des Steinpilzes, gefunden hatte. Die Krönung ihrer Funde ohne Nährwert war ein flacher goldener Ring mit einem stumpf gewordenen Aquamarin, den ihr das nach einem Sturm zur Ruhe kommende Meer auf dem kleinen Strand bei Koktebel am zwanzigsten August neunzehnhundertsechzehn vor die Füße geworfen hatte, an ihrem sechzehnten Geburtstag. Diesen Ring trug sie noch heute, er war tief in den Finger eingewachsen und seit dreißig Jahren nicht mehr abzustreifen.

Mit den Fußsohlen spürte sie, wie gewogen ihr diese Erde war. Gegen keinen anderen Ort würde sie dieses langsam verfallende Land tauschen, und verlassen hatte sie die Krim in ihrem ganzen Leben nur zweimal, für insgesamt sechs Wochen.

Sie stammte aus Feodossija, genauer gesagt, aus einem großen, einst wohlproportionierten Haus in der griechischen Kolonie, die längst mit der Vorstadt von Feodossija verschmolzen war. Als sie geboren wurde, hatte das Haus seine einstige Ebenmäßigkeit bereits eingebüßt, war umwuchert von Anbauten, Terrassen und Veranden, entsprechend der stürmischen Vergrößerung der Familie im ersten Jahrzehnt des so fröhlich begonnenen Jahrhunderts.

Das stürmische Anwachsen der Familie ging einher mit dem allmählichen Ruin des Großvaters Charlampi Sinopli, eines reichen Kaufmanns und Besitzers von vier Handelsschiffen, die im damals neuen Hafen von Feodossija registriert waren. Der alte Charlampi, dessen Unersättlichkeit sich im Alter gelegt hatte, konnte sich nur wundern, warum das Schicksal, das ihn mit langjährigem Warten auf einen Erben, sechs tot geborenen Kindern und unzähligen Fehlgeburten seiner beiden Frauen gequält hatte, seinen einzigen Sohn Georgi, den er nach dreißigjährigem Mühen zustande gebracht hatte, so reich mit Nachkommenschaft segnete. Doch vielleicht war das ein Verdienst seiner zweiten Frau Antonida, die bis Kiew gepilgert war und, nachdem sie ihren Sohn geboren und gestillt hatte, bis zu ihrem Tode aus Dankbarkeit fastete. Vielleicht kam der reiche Kindersegen seines Sohnes auch von der dürren rothaarigen Schwiegertochter Matilda, die dieser aus Batumi mitgebracht hatte. Sie war skandalöserweise offenkundig keineswegs unfruchtbar ins Haus gekommen und brachte seitdem alle zwei Jahre, zum Sommerende, mit unfassbarer Präzision einen rundköpfigen Säugling zur Welt.

Der alte Charlampi wurde, je mehr Enkel kamen, immer schwächer und gütiger und verlor am Ende seines Lebens zusammen mit seinem Reichtum sogar die Züge des herrschsüchtigen, grausamen und begabten Kaufmanns. Doch sein Blut erwies sich als stark, löste sich nicht auf in anderen Strömen, und diejenigen seiner Nachkommen, die nicht von der blutrünstigen Zeit zermalmt wurden, erbten seine starke Natur und sein Talent, und seine allgemein bekannte Unersättlichkeit entwickelte sich in der männlichen Linie zu großer Energie und einer Leidenschaft fürs Bauen und bei den Frauen, wie bei Medea, zu Sparsamkeit, besonderer Akkuratesse und praktischer Findigkeit.

Die Familie war so segensreich groß, dass sie ein wunderbares Objekt für einen Genetiker abgegeben hätte, der sich für die Verteilung von Erbanlagen interessiert. Ein Genetiker fand sich nicht, aber Medea mit ihrem angeborenen Bestreben, alles zu ordnen, in ein System zu bringen, von den Teelöffeln auf dem Tisch bis zu den Wolken am Himmel, ließ so manches Mal in ihrem Leben aus Spaß ihre Brüder und Schwestern nach zunehmender Rothaarigkeit antreten, natürlich nur in ihrer Phantasie, denn sie konnte sich nicht erinnern, dass die Familie einmal vollzählig versammelt gewesen wäre. Immer fehlte einer der älteren Brüder. Der Kupferton von mütterlicher Seite war bei allen mehr oder weniger ausgeprägt, doch nur Medea selbst und der jüngste Bruder Dimitri waren radikal rothaarig. Das Haar von Alexandra, die in der Familie Sandra oder Sandrotschka hieß, hatte den nuancenreichen, schimmernden Ton von Mahagoni.

Hin und wieder tauchte der zu kurze kleine Finger des Großvaters auf, seltsamerweise nur bei Jungen, sowie Großmutters angewachsenes Ohrläppchen und ihre außerordentlich gute Nachtsichtigkeit, die übrigens auch Medea besaß. Alle diese Erbmerkmale und noch einige weniger auffällige fanden sich in Charlampis Nachkommenschaft.

Selbst in Sachen Fruchtbarkeit gab es in der Familie zwei Linien: Die einen brachten, wie Charlampi, jahrelang nicht ein einziges winziges Kind zustande, die anderen streuten ihre rothaarigen Sprösslinge nur so in die Welt, ohne dem besondere Bedeutung beizumessen. Charlampi selbst lag seit neunzehnhundertzehn auf dem griechischen Friedhof in Feodossija, auf dessen höchstem Punkt, mit Blick auf die Bucht, wo bis zum zweiten Krieg seine letzten beiden Dampfer herumschipperten, noch immer registriert im Hafen von Feodossija.

Viele Jahre später versammelte die kinderlose Medea in ihrem Haus auf der Krim ihre zahlreichen Nichten und Neffen und deren Kinder und unterzog sie ihrer stillen unwissenschaftlichen Beobachtung. Es hieß, sie liebe sie alle sehr. Wie die Liebe einer kinderlosen Frau zu Kindern aussieht, ist schwer zu sagen, aber sie empfand für sie ein lebhaftes Interesse, das im Alter sogar zunahm.

Der Ansturm der Verwandten in der Saison störte Medea nicht, ebenso wenig wie ihre Herbst-und Winter-Einsamkeit. Die ersten Neffen und Nichten kamen gewöhnlich Ende April, wenn nach den Februarregen und den Märzwinden der Krimfrühling mit lila blühenden Glyzinien, rosa Tamarisken und chinagelbem Ginster aus dem Boden spross.

Der erste Besuch war gewöhnlich kurz, die paar freien Tage zum Ersten Mai, der eine oder andere blieb bis zum neunten. Dann eine kurze Pause, und um den zwanzigsten Mai kamen die Mädchen — die jungen Mütter mit ihren Vorschulkindern.

Weil es an die dreißig Neffen und Nichten waren, wurde bereits im Winter ein Saisonplan aufgestellt — mehr als zwanzig Personen verkraftete das Vier-Zimmer-Haus nicht.

Die Kraftfahrer von Feodossija und Simferopol, die vom Urlaubertransport lebten, kannten Medeas Haus sehr gut und räumten ihren Verwandten manchmal einen kleinen Rabatt ein, wiesen aber darauf hin, dass sie bei Regen nicht bis nach oben fahren, sondern die Fahrgäste im Unteren Ort absetzen würden.

Medea glaubte nicht an Zufälle, obwohl ihr Leben voller bedeutsamer Begegnungen, sonderbarer Zusammentreffen und wie bestellter Überraschungen war. Jemand, dem sie einmal begegnet war, kam nach vielen Jahren wieder, um ihr Schicksal zu verändern; Fäden liefen weiter, verknüpften sich, wanden sich in Schlingen und bildeten ein Muster, das mit den Jahren immer deutlicher wurde.

Mitte April, als das Wetter beständiger geworden schien, zog ein düsterer Tag auf, es wurde kälter, es fiel schwerer Regen, der in Schnee überzugehen versprach.

Medea zog die Vorhänge zu, schaltete ziemlich früh das Licht ein, warf eine Handvoll Reisig und zwei Holzscheite in ihr kluges Öfchen, das wenig Brennstoff nahm, aber viel Wärme gab, breitete ein zerschlissenes Laken auf dem Tisch aus und überlegte, ob sie es zu Geschirrtüchern zerschneiden oder die löchrige Mitte heraustrennen und aus dem Rest ein Kinderlaken nähen sollte.

Da wurde heftig an die Tür geklopft. Sie öffnete. Vor ihr stand ein junger Mann in nassem Mantel und mit einer Pelzmütze auf dem Kopf.

Medea hielt ihn für einen der seltener auftauchenden Neffen und ließ ihn ins Haus.

»Sind Sie Medea Georgijewna Sinopli?«, fragte der junge Mann, und Medea begriff, dass er nicht zur Verwandtschaft gehörte.

»Ja, das bin ich, obwohl ich schon seit vierzig Jahren einen anderen Namen trage«, sagte Medea lächelnd.

Der junge Mann sah sympathisch aus, hatte helle Augen und einen herabhängenden, schütteren schwarzen Schnurrbart.

»Legen Sie doch ab.«

»Entschuldigen Sie, dass ich hier so hereinschneie. Ravil Jussupow, aus Karaganda.«

Alles Weitere, das an diesem Abend und in dieser Nacht geschah, schilderte Medea in einem Brief, den sie wahrscheinlich am nächsten Tag schrieb, aber nicht abschickte.

Viele Jahre später fiel er ihrem Neffen Georgi in die Hände und erklärte ihm das Rätsel des überraschenden Testaments, das er in demselben Packen Papiere fand, datiert vom elften April neunzehnhundertsechsundsiebzig. In dem Brief stand:

»Liebe Jelenotschka! Ich habe zwar erst vor einer Woche einen Brief an Dich abgeschickt, aber nun ist ein wirklich außergewöhnliches Ereignis eingetreten, und davon möchte ich Dir erzählen. Es ist eine der Geschichten, deren Anfang weit zurückliegt. Du erinnerst Dich natürlich noch an den Kutscher Jussim, der Dich und Deine Mutter im Dezember achtzehn nach Feodossija brachte? Stell Dir vor, sein Enkel hat mich über Bekannte in Feodossija ausfindig gemacht. Erstaunlich, dass man in einer großen Stadt heute noch ohne Adressbuch jemanden finden kann. Die Geschichte ist für unsere Gegend ziemlich alltäglich: Die Familie wurde nach dem Krieg aus Aluschta ausgesiedelt, als Jussim nicht mehr lebte. Ravils Mutter wurde nach Karaganda verbannt, und das, obwohl der Vater der Kinder an der Front gefallen war. Der junge Mann kennt die Geschichte seit seiner Kindheit — ich meine die Evakuierung — und erinnert sich sogar an den Saphirring, den Du Jussim damals aus Dankbarkeit geschenkt hast. Ravils Mutter hatte ihn viele Jahre getragen, in der schlimmsten Hungerzeit jedoch ein Pud Mehl dafür eingetauscht. Doch das war nur die Einleitung des Gesprächs, das mich offen gesagt zutiefst berührt hat. Aus der Erinnerung tauchten Dinge auf, an die wir nicht so gern zurückdenken, das Leid jener Jahre. Dann verriet mir Ravil, er sei Mitglied der Bewegung für die Rückkehr der Krimtataren, und sie hätten bereits seit Langem offizielle und inoffizielle Schritte unternommen.

Er fragte mich begierig über die alte tatarische Krim aus, holte sogar ein Tonbandgerät hervor und nahm alles auf, damit seine usbekischen und kasachischen Tataren meine Worte hören können. Ich erzählte ihm, was ich noch wusste von meinen Nachbarn im Ort, von Galija, Mustafa, von Großvater Achmet, dem Arykwart, der von früh bis spät die Aryks, die Wassergräben, hier sauberhielt, jeden kleinen Splitter so sorgsam daraus entfernte wie aus einem Auge; davon, wie die hiesigen Tataren deportiert wurden, innerhalb von zwei Stunden, sie hatten nicht einmal Zeit zum Packen, und wie Schura Gorodnikowa, die Parteichefin, sie selbst hinaustrieb, ihnen beim Packen half und Sturzbäche weinte; am nächsten Tag traf sie der Schlag, und dann war sie nicht mehr Chefin, humpelte aber noch an die zehn Jahre über ihren Hof, mit schiefem Gesicht und unverständlichem Gebrabbel. In unserer Gegend hat es so etwas selbst unter den Deutschen, das heißt, bei uns waren ja nicht die Deutschen, sondern die Rumänen, selbst da hat es so etwas nicht gegeben. Obwohl, das weiß ich, die Juden haben sie verhaftet, aber nicht in unserer Gegend.

Ich habe ihm auch erzählt, wie siebenundvierzig, Mitte August, angeordnet wurde, die von den Tataren angepflanzten Nusshaine zu roden. Wie sehr wir auch bettelten, die Tölpel kamen und hackten die wunderbaren Bäume um, nicht einmal abgeerntet durften sie werden. So lagen die erschlagenen Bäume, die Äste voller halbreifer Früchte, am Wegesrand. Dann kam der Befehl, sie zu verbrennen. Tascha Lawinskaja aus Kertsch war damals bei mir zu Besuch, und wir haben dagesessen und geweint angesichts dieses barbarischen Feuers.

Mein Gedächtnis ist Gott sei Dank noch gut, es behält alles, und wir redeten bis nach Mitternacht, haben sogar etwas getrunken. Die alten Tataren, weißt du noch, die tranken keinen Wein. Wir verabredeten, dass ich ihn am nächsten Tag durch die Gegend führen würde, ihm alles zeigen. Da äußerte er seine heimliche Bitte: Ich solle ihm ein Haus auf der Krim kaufen, auf meinen Namen, denn Tataren dürfen hier keine Häuser kaufen, darüber gibt es eine besondere Anordnung noch aus Stalins Zeit.

Erinnerst Du Dich, Jelenotschka, wie die Ostkrim unter den Tataren aussah? Und die Innere Krim? Die Gärten in Bachtschissarai! Heute steht an der Straße nach Bachtschissarai kein Baum mehr, alles weg, alles haben sie vernichtet … Ich hatte Ravil gerade das Bett in Samuels Zimmer gemacht, da hörte ich, wie ein Auto vor dem Haus hielt. Eine Minute später klopfte es. Er sah mich ganz traurig an — die kommen mich holen, Medea Georgijewna.

Sein Gesicht wirkte plötzlich unendlich müde, und ich begriff, dass er gar nicht mehr so jung war, bestimmt schon über dreißig. Er nahm das Tonband aus dem Gerät und warf es in den Ofen. Sie werden Unannehmlichkeiten haben, verzeihen Sie mir. Ich werde ihnen sagen, dass ich nur eine Übernachtung gesucht habe, sonst nichts. Das Tonband, meine ganze lange Erzählung, war im Nu verzischt.

Ich ging öffnen — zwei Männer standen da. Der eine war Petka Schewtschuk, der Sohn des hiesigen Fischers Iwan Gawrilowitsch. Er erklärte mir frech, das sei eine Meldekontrolle, ob ich etwa illegal Quartiere vermiete?

Na, ich habs ihm erst mal gegeben: Wie kannst du es wagen, mitten in der Nacht in mein Haus einzudringen? Nein, ich vermiete nicht, aber im Augenblick habe ich einen Gast im Haus; sie sollten verschwinden, wohin sie wollen, und mich bis zum Morgen in Ruhe lassen. So ein Schwein, der wagt sich in mein Haus. Du erinnerst Dich bestimmt, ich hab doch den ganzen Krieg über allein das Krankenhaus betrieben, hier gabs außer mir kein medizinisches Personal. Wie oft hab ich seine Furunkel behandelt, eins hatte er im Ohr, das musste aufgeschnitten werden. Ich wäre vor Angst fast gestorben, das war schließlich keine Kleinigkeit, ein fünfjähriges Kind und alle Anzeichen einer möglichen Betroffenheit des Gehirns, und ich war doch bloß Feldscherin! Die Verantwortung … Sie drehten sich um und gingen, aber der Wagen fuhr nicht weg, er stand oben am Haus, mit ausgeschaltetem Motor.

Und mein tatarischer Junge Ravil lächelte ganz ruhig — danke, Medea Georgijewna, Sie sind ein außergewöhnlich mutiger Mensch, das trifft man selten. Schade, dass Sie mir morgen weder das Tal noch die Hügel im Osten zeigen werden. Aber ich komme wieder, die Zeiten werden sich ändern, da bin ich sicher.

Ich holte noch eine Flasche Wein, und wir gingen nicht mehr schlafen, sondern unterhielten uns. Dann tranken wir Kaffee, und als es hell wurde, wusch er sich, ich buk ihm einen Fladen, wollte ihm Moskauer Konserven mitgeben, die ich noch vom Sommer hatte, doch er lehnte ab, sagte, die nehmen sie mir sowieso weg. Ich brachte ihn bis zur Pforte, bis nach oben. Der Regen hatte aufgehört, es war wunderschön. Petka stand neben dem Wagen und der zweite Mann auch. Ravil und ich verabschiedeten uns, und die Wagentür stand schon offen. Ja, Jelenotschka, so eine Geschichte ist mir passiert. Ach, seine Mütze hat er hier vergessen. Na, ich denke, das ist vielleicht ganz gut so. Vielleicht kommt er ja wieder, vielleicht kommen die Tataren zurück, und dann geb ich ihm die Mütze? Wirklich, das wäre gerecht. Nun, wie Gott will. Dass ich Dir so schnell schreibe, hat einen Grund: Ich war zwar nie in irgendwelche politischen Geschichten verwickelt, das war Samuels Spezialität, aber stell Dir vor, wenn sie nun plötzlich am Ende meines Lebens, wo die Zeiten doch weniger streng sind, mir alter Frau zusetzen? Damit Du weißt, wo Du mich suchen musst. Ach ja, im letzten Brief hab ich vergessen zu fragen, ob Du mit dem neuen Hörapparat zufrieden bist. Obwohl ich ehrlich gesagt glaube, das meiste von dem, was so geredet wird, ist es nicht wert, gehört zu werden, und Dir entgeht nicht viel. Ich küsse Dich. Medea.«

Es war Ende April. Medeas Weinberg war sauber beschnitten, der Gemüsegarten protzte mit seinen bestellten Beeten, und im Kühlschrank lag eine riesige zerlegte Scholle, die ihr Fischer aus der Nachbarschaft gebracht hatten.

Als Erster kam ihr Neffe Georgi mit seinem dreizehnjährigen Sohn Artjom. Georgi stand mitten auf dem Hof, warf seinen Rucksack ab, blinzelte gegen die kräftige Sonne, die ihm direkt ins Gesicht schien, und sog den schweren süßen Duft ein.

»Ach, direkt zum Reinbeißen«, sagte er zu seinem Sohn, doch der begriff nicht, was er meinte.

»Da ist Medea, sie hängt Wäsche auf«, sagte Artjom.

Medeas Haus stand im höchsten Teil des Ortes, das Grundstück war in Terrassen angelegt, mit einem Brunnen auf der untersten Ebene. Dort war zwischen einem großen Nussbaum und einem alten Essigbaum eine Leine gespannt, und Medea, die ihre Mittagspause gewöhnlich mit Hausarbeit verbrachte, hängte in reichlich Waschblau gespülte Wäsche auf. Dunkelblaue Schatten huschten über die himmelblaue Fläche geflickter Laken, die Laken blähten sich gemächlich wie Segel, als wollten sie sich jeden Augenblick entfalten und in den tiefblauen Himmel entschwinden.

Ich sollte alles hinschmeißen und mir hier ein Haus kaufen, dachte Georgi, während er zu seiner Tante hinunterstieg, die die beiden noch immer nicht bemerkt hatte. Soll Soja doch machen, was sie will. Ich würde mit Artjom und Sascha …

Das war seit zehn Jahren stets sein erster Gedanke in Medeas Haus auf der Krim. Medea hatte Georgi und seinen Sohn endlich bemerkt, warf das letzte ausgewrungene Laken in die leere Schüssel und richtete sich auf.

»Ach, da seid ihr ja. Ich warte schon seit gestern auf euch. Gleich, Georgius, ich komme gleich hoch.«

Nur Medea nannte ihn so, auf griechische Art. Er küsste die alte Frau, sie strich mit der Hand über sein vertrautes Haar, schwarz mit einem kupfernen Schimmer, streichelte auch den Jungen.

»Du bist gewachsen.«

»Wollen wir nachsehen, an der Tür?«, fragte der Junge.

Der Türrahmen war rechts und links voller Kerben — dort markierten die Kinder ihr Wachstum.

Medea hängte das letzte Laken auf, es flog hoch und verdeckte die Hälfte eines Wölkchens, das sich an den leeren Himmel verirrt hatte.

Georgi nahm die leeren Wäscheschüsseln, und sie gingen hinauf: die schwarze Medea, Georgi in einem zerknitterten weißen Hemd und Artjom in einem roten Pulli.

Vom Nachbargrundstück aus, hinter dem mickrigen, krummen Weinberg der Sowchose, wurden sie beobachtet von Ada Krawtschuk, ihrem Mann Michail und deren Sommergast aus Leningrad, dem weißen Mäuschen Nora.

»Hier versammeln sich jede Menge Leute! Die Mendez-Sippe. Eben ist Georgi gekommen, er ist immer der Erste«, erklärte Ada ihrem Gast, halb wohlwollend, halb ärgerlich.

Georgi war nur ein paar Jahre jünger als Ada, als Kinder hatten sie zusammen Ringelreihen gespielt, doch jetzt nahm Ada ihm übel, dass sie selbst alt und schlaff geworden, er dagegen noch immer jung war und gerade erst graue Haare bekam.

Nora blickte wie gebannt dorthin, wo die Schlucht und der kleine Berg zusammentrafen und sich eine lange Erdfalte schlängelte; dort stand ein ziegelgedecktes Haus und begrüßte mit frisch geputzten Fenstern freundlich die drei sich nähernden schlanken Figuren — die schwarze, die weiße und die rote. Sie bewunderte das Bild und dachte traurig: Das müsste man malen. Nein, das schaffe ich nicht.

Sie war Malerin, hatte die Fachschule nicht gerade glänzend abgeschlossen, aber manches gelang ihr durchaus: federleichte Aquarellblumen, Phlox, Flieder und luftige Feldblumensträuße. Auch jetzt, gerade erst angekommen, um Urlaub zu machen, betrachtete sie die Glyzinien und stellte sich vor, wie sie ein paar Zweige, ganz ohne Blätter, in eine Glasvase stellen würde, auf ein rosa Tischtuch, um sich, während ihre Tochter Mittagsschlaf hielt, in den hinteren Hof zu setzen und zu malen. Doch diese Krümmung des Raumes, seine geheimnisvolle Wendung, erregte sie, lockte sie an eine Arbeit, der sie sich eigentlich nicht gewachsen fühlte. Die drei Figuren hatten nun das Haus erreicht und waren nicht mehr zu sehen.

Auf dem kleinen Platz zwischen Vortreppe und Sommerküche packte Georgi die beiden mitgebrachten Pakete aus, und Medea ordnete an, was er wohin tragen sollte. Das war ein Ritual. Jeder Gast brachte Geschenke mit, und Medea nahm sie nicht in ihrem Namen entgegen, sondern quasi im Namen des Hauses.

Vier Kissenbezüge, zwei ausländische Fläschchen mit Geschirrspülmittel, Kernseife, die es im vorigen Jahr nicht gegeben hatte, die in diesem Jahr aber plötzlich zu haben war, Konserven, Kaffee — das alles versetzte die alte Frau in freudige Erregung. Sie verteilte die Sachen in Schränke und Kommoden, untersagte den Gästen, das zweite Paket zu öffnen, solange sie nicht da war, und lief zur Arbeit. Ihre Mittagspause war zu Ende, und zu spät zu kommen gestattete sie sich nicht.

Georgi stieg auf den höchsten Punkt des Grundstücks seiner Tante, wo wie ein Wachturm das vom verstorbenen Mendez gezimmerte Toilettenhäuschen emporragte, ging hinein und setzte sich ohne die geringste Notwendigkeit auf den blankgescheuerten Holzsitz. Er sah sich um. Dort stand der Eimer mit Asche samt der abgebrochenen Schöpfkelle, an der Wand hing das ausgeblichene Pappschild mit der Benutzungsordnung für die Toilette, geschrieben noch von Mendez mit dem ihm eigenen naiven Witz. Sie endete mit den Worten: »Wenn du gehst, sieh dich um, ob auch dein Gewissen rein ist.«

Georgi blickte nachdenklich über die niedrige, nur den unteren Teil der Toilette verdeckende Tür durch die quadratische Öffnung oben und sah eine doppelte Gebirgskette, die ziemlich steil abfiel, zu einem entfernten Fetzen Meer und der Ruine einer alten Festung, die nur mit scharfem Auge und bei klarem Wetter auszumachen war. Er mochte dieses Land, seine verwitterten Berge und ebenen Vorberge; es war skythisch, griechisch, tatarisch, und obwohl es nun seit Langem in Sowchosebesitz war, menschlicher Liebe entbehrte und durch die Stümperhaftigkeit seiner Herren allmählich ausstarb, blieb ihm dennoch die Geschichte, sie schwebte in der Frühlingswonne und rief sich mit jedem Stein, mit jedem Baum in Erinnerung. Darin waren sich die Neffen und Nichten einig — den besten Ausblick der Welt hatte man von Medeas Abort.

Vor der Tür trat Artjom von einem Bein aufs andere, um dem Vater eine Frage zu stellen, die er jetzt — das wusste er selbst — lieber nicht stellen sollte, doch als der Vater herauskam, fragte er trotzdem:

»Papa, wann gehen wir ans Meer?«

Bis zum Meer war es ziemlich weit, und darum wohnten gewöhnliche Urlauber weder im Unteren noch gar im Oberen Ort. Von hier fuhr man entweder mit dem Bus nach Sudak, zum städtischen Strandbad, oder man ging zu den entlegenen Buchten, zwölf Kilometer weit, eine richtige Expedition, manchmal für mehrere Tage, mit Zelten.

»Benimm dich nicht wie ein Kleinkind«, sagte Georgi ärgerlich. »Jetzt ans Meer! Mach dich fertig, wir gehen auf den Friedhof.«

Auf den Friedhof wollte Artjom nicht, aber er hatte keine Wahl und ging die Turnschuhe anziehen. Georgi nahm seine Leinentasche, legte seinen deutschen Pionierspaten hinein, überlegte kurz, ob er eine Büchse Silberbronze mitnehmen sollte, entschied aber, sich diese aufwendige Arbeit für das nächste Mal aufzuheben. Von einem Kleiderhaken im Schuppen nahm er den ausgebleichten Tropenhut aus der Mittelasienausrüstung, den er selbst mal hergebracht hatte, schlug ihn gegen sein Knie, wobei eine Wolke feinsten Staubs aufflog, schloss das Haus ab, legte den Schlüssel unter einen bestimmten Stein und erfreute sich dabei kurz an diesem dreieckigen Stein mit der gespaltenen Ecke — er kannte ihn seit seiner Kindheit.

Georgi, der frühere Geologe, lief mit leichten, professionellen Schritten, hinter ihm trippelte Artjom; Georgi blickte sich nicht um, er spürte in seinem Rücken, wie sich Artjom beeilte, vom Laufen ins Rennen fiel.

Er wächst nicht, er kommt nach Soja, dachte Georgi mit der gewohnten Enttäuschung.

Der jüngere Sohn, der dreijährige Sascha mit seiner trotzigen Furchtlosigkeit und seinem unbezwingbaren Starrsinn, war ihm bedeutend lieber, er versprach zweifellos, männlicher zu werden als der unsichere und mädchenhaft geschwätzige Erstgeborene. Artjom aber vergötterte den Vater, war stolz auf dessen offensichtliche Männlichkeit; er ahnte bereits, dass er selbst nie so stark, ausgeglichen und selbstsicher werden würde, und seine Sohnesliebe war bittersüß.

Doch nun war Artjoms Stimmung großartig, als hätte er den Vater überredet, mit ihm ans Meer zu gehen. Ihm war nicht bewusst, dass es ihm nicht so sehr um das Meer ging, sondern darum, sich zu zweit mit dem Vater auf den Weg zu machen, der noch nicht staubig war, sondern jung und frisch; mit ihm zu laufen, egal wohin, und sei es auf den Friedhof.

Der Friedhof stieg vom Weg aus an. Oben lag der zerstörte tatarische Teil mit Resten einer Moschee, der Osthang war christlich, doch nach der Deportation der Tataren drängten die christlichen Grabstätten auch auf die tatarische Seite, als setzten sogar die Toten das Unrecht der Vertreibung fort.

Eigentlich lagen die Vorfahren der Sinoplis auf dem alten Friedhof von Feodossija, doch der war damals bereits geschlossen, zum Teil auch abgerissen, und so hatte Medea ihren jüdischen Mann leichten Herzens hier begraben, möglichst weit entfernt von ihrer Mutter. Die rothaarige Matilda, eine in jeder Hinsicht gütige Christin, eine eifrige Orthodoxe, mochte die Moslems nicht, fürchtete die Juden und mied die Katholiken.

Auf dem Grab von Medeas Mann stand ein Obelisk mit einem Stern an der Spitze und einer krakeligen Inschrift auf dem Sockel: »Samuel Mendez, Soldat der Kommunistischen Kampftruppen, Parteimitglied seit 1914. 1890—1952«.

Die Inschrift entsprach dem Willen des Verstorbenen, den dieser lange vor seinem Tod geäußert hatte, kurz nach dem Krieg; den Stern aber hatte Medea ein wenig abgewandelt, indem sie auch die Spitze, auf der er saß, mit Silberbronze gestrichen hatte, sodass er eine zusätzliche, sechste Zacke bekam und aussah wie der Weihnachtsstern auf alten Postkarten und auch andere Assoziationen weckte.

Links neben dem Obelisken stand eine kleine Stele mit dem Foto des rundgesichtigen, mit klugen schmalen Augen lächelnden Pawlik Kim, eines Neffen Georgis, ertrunken neunzehnhundertvierundfünfzig am Strand von Sudak, vor den Augen von Mutter, Vater und Großvater — Medeas älterem Bruder Fjodor.

An der Grabstätte konnte Georgis kritisches Auge keinerlei Mängel erkennen — Medea war ihm wie immer zuvorgekommen: Der Zaun war gestrichen, die Erde umgegraben und mit wilden Krokussen von den Osthügeln bepflanzt.

Georgi klopfte der Ordnung halber den Rand fest, dann wischte er den Spaten ab, klappte ihn zusammen und warf ihn in die Tasche. Schweigend saßen Vater und Sohn eine Weile auf der niedrigen Bank, Georgi rauchte eine Zigarette. Artjom unterbrach das Schweigen des Vaters nicht, und Georgi legte ihm dankbar eine Hand auf die Schulter.

Die Sonne sank auf den westlichen Bergrücken, direkt in der Ausbuchtung zwischen zwei runden Berggipfeln, den Zwillingen, wie eine Billardkugel ins Loch. Im April ging die Sonne zwischen den Zwillingen unter; die Septembersonne verschwand hinterm Horizont, schlitzte sich den Bauch auf am Zipfel des Kijan-Berges.

Von Jahr zu Jahr trockneten mehr Quellen aus, starben Weinberge, verfiel das Land, das er schon als Kind durchwandert hatte, und nur die Umrisse der Berge bewahrten die Form dieses Gebiets, und Georgi liebte sie, wie man das Gesicht seiner Mutter oder den Körper seiner Frau lieben kann, sah sie auch mit geschlossenen Augen vor sich, für alle Zeit.

»Komm«, forderte er seinen Sohn auf und begann den Abstieg zum Weg, querfeldein, ohne auf die Bruchstücke alter Platten mit den verschnörkelten arabischen Schriftzeichen zu achten.

Artjom hatte von oben den Eindruck, der graue Weg unten bewege sich wie eine Rolltreppe in der Metro; er blieb vor Staunen sogar stehen.

»Papa!« Dann lachte er: Es waren Schafe, deren graubraune Masse den ganzen Weg ausfüllte und darüber hinausschwappte. »Ich hab gedacht, der Weg bewegt sich.«

Georgi lächelte verstehend.

Sie betrachteten das langsame Fließen des Schafstroms und waren nicht die Einzigen, die den Weg beobachteten: Etwa fünfzig Meter entfernt saßen auf einem kleinen Hügel zwei Mädchen, eine Halbwüchsige und ein Kind.

»Komm, wir gehen an der Herde vorbei«, schlug Artjom vor.

Georgi nickte zustimmend. Als sie ganz nah bei den Mädchen waren, sahen sie, dass diese gar nicht die Schafe betrachteten, sondern etwas, das sie auf dem Boden gefunden hatten. Artjom reckte den Hals: Zwischen zwei trockenen Ranken eines Kapernstrauchs stand aufrecht eine Schlangenhaut von der Farbe eines Greisenfingernagels, halbdurchsichtig, stellenweise zusammengerollt oder aufgeplatzt, und das kleine Mädchen, das sich fürchtete, sie anzufassen, berührte sie misstrauisch mit einem Stock. Das zweite Mädchen entpuppte sich als erwachsene Frau, es war Nora. Beide hatten helles Haar, trugen leichte Kopftücher, lange bunte Röcke und die gleichen Pullis mit aufgenähten Taschen.

Auch Artjom hockte sich neben die Schlangenhaut.

»Papa, war die giftig?«

»Eine Ringelnatter«, sagte Georgi und betrachtete sie genauer. »Davon gibts hier viele.«

»Wir haben so etwas noch nie gesehen.« Nora lächelte. Sie erkannte in ihm den Mann im weißen Hemd vom Morgen.

»Ich hab als Kind hier mal ein Schlangennest gefunden.« Georgi nahm die raue Haut und glättete sie. »Noch ganz frisch.«

»Trotzdem ein scheußliches Ding.« Nora schüttelte sich.

»Ich hab Angst davor«, flüsterte das Mädchen, und Georgi bemerkte, dass Mutter und Tochter eine geradezu lächerliche Ähnlichkeit mit Kätzchen hatten — runde Augen und spitzes Kinn.

Was für niedliche Mädchen, dachte Georgi und legte ihren gruseligen Fund auf die Erde. »Bei wem wohnen Sie?«

»Bei Tante Ada«, antwortete die kindliche Frau, ohne den Blick von der Schlangenhaut zu wenden.

»Aha.« Er nickte. »Dann sehen wir uns ja noch. Besuchen Sie uns mal, wir wohnen dort.« Er winkte zu Medeas Grundstück hinüber und lief bergab, ohne sich umzusehen. Artjom rannte ihm hüpfend hinterher.

Die Schafherde war inzwischen weg, nur der Hütehund, der die Menschen völlig ignorierte, trabte über den mit Schafskot bedeckten Weg.

»Er hat Beine wie ein Elefant«, sagte das Mädchen missbilligend.

»Unsinn, er sieht doch nicht aus wie ein Elefant«, widersprach die Mutter.

»Ich sag ja nicht, er, sondern seine Beine«, beharrte das Mädchen.

»Wenn du es genau wissen willst, er sieht aus wie ein römischer Legionär.« Nora trat entschieden auf die Schlangenhaut.

»Wie wer?«

Nora lachte über ihre dumme Gewohnheit, mit ihrer fünfjährigen Tochter zu reden wie mit einer Erwachsenen, und korrigierte sich:

»Nein, nein, er sieht nicht aus wie ein römischer Legionär, die waren ja glattrasiert, und er hat einen Bart!«

»Aber Beine wie ein Elefant.«

Am späten Abend dieses Tages, als Nora und Tanja schon in ihrem gemieteten Häuschen schliefen und Artjom sich wie eine Katze in Samuels Zimmer zusammengerollt hatte, saßen Medea und Georgi in der Sommerküche. Gewöhnlich zog sie erst Anfang Mai dorthin, aber in diesem Jahr war der Frühling zeitig gekommen, Ende April war es bereits ziemlich warm, und sie hatte die Küche schon vor der Ankunft der ersten Gäste aufgeschlossen und saubergemacht. Am Abend wurde es allerdings kühl, deshalb trug Medea ihre abgewetzte, mit Samt bezogene Fellweste und Georgi einen alten tatarischen Kaftan, der schon seit vielen Jahren Medeas Sippe diente.

Die Küche war aus Feldsteinen gemauert, wie eine Bauernhütte, eine Wand stieß an den behauenen Berghang, und die niedrigen, unregelmäßigen Fenster waren in die Seitenwände geschlagen. Eine hängende Petroleumlampe warf trübes Licht auf den Tisch; in dem runden Lichtfleck standen die von Medea eigens für diesen Zweck aufbewahrte letzte Flasche vom selbstgemachten Wein und eine angebrochene Flasche Apfelwodka, den sie besonders mochte.

Im Haus herrschte seit Langem eine seltsame Ordnung: Zu Abend gegessen wurde gewöhnlich zwischen sieben und acht, gemeinsam mit den Kindern, die früh ins Bett gebracht wurden, und nachts versammelte man sich dann noch einmal zu einem späten Mahl — so schädlich für die Verdauung und so angenehm für die Seele. Auch jetzt, zu später Stunde, als die meisten häuslichen Arbeiten erledigt waren, saßen Medea und Georgi beim Licht der Petroleumlampe und erfreuten sich aneinander. Sie hatten viel gemeinsam: Beide waren agil, leichtfüßig, schätzten angenehme Kleinigkeiten und duldeten keine Einmischung in ihr Innenleben.

Medea stellte einen Teller mit kleinen Happen gebratener Schollen auf den Tisch. Ihre großzügige Natur war auf kuriose Weise mit Geiz gepaart, ihre Portionen waren immer etwas kleiner, als man sie gern gehabt hätte, und sie konnte einem Kind seelenruhig einen Nachschlag verweigern mit den Worten:

»Das reicht vollkommen. Wenn du noch nicht satt bist, nimm noch ein Stück Brot.«

Die Kinder gewöhnten sich schnell an die strenge Gleichmacherei bei Tisch, und diejenigen Verwandten, denen die Sitten ihres Hauses nicht passten, kamen nicht her.

Den Kopf in eine Hand gestützt, beobachtete sie, wie Georgi in das offene Feuer, eine Art primitiven Kamin, ein kleines Holzscheit nachlegte.

Auf dem oberen Weg fuhr ein Auto vorbei, hielt und hupte zweimal heiser. Nächtliche Post. Ein Telegramm. Georgi ging hinauf. Die Postbotin kannte er, der Fahrer war neu. Sie begrüßten sich. Sie gab ihm ein Telegramm.

»Na, kommen wieder alle?«

»Ja, es ist schon so weit. Was macht Kostja?«

»Was schon? Mal trinkt er, mal ist er krank. Ein schönes Leben.«

Im Licht der Scheinwerfer las er das Telegramm. »Kommen dreizehnten Nika Mascha Kinder.«

Er legte das Telegramm vor Medea auf den Tisch. Sie las es und nickte.

»Was ist, Tantchen, trinken wir was?« Er öffnete die angefangene Flasche und schenkte ein.

Schade, dachte er, dass sie so bald kommen. Es wäre schön, noch eine Weile hier mit Medea allein zu sein.

Jeder der Neffen und Nichten war gern allein mit Medea.

»Morgen früh zieh ich eine Leitung.«

»Wie?« Medea begriff nicht.

»Ich leg Strom in die Küche«, erklärte er.

»Ja, ja, das hast du schon lange vor«, erinnerte sich Medea.

»Mutter hat mir aufgetragen, mit dir zu reden«, begann Georgi, doch Medea bog das ihr seit Langem bekannte Gespräch ab:

»Auf deine Ankunft, Georgius.« Sie griff nach ihrem Glas.

»Nur hier fühle ich mich zu Hause«, sagte er, als wolle er sich beklagen.

»Hm, und darum belästigst du mich jedes Jahr mit diesem dummen Gerede«, sagte Medea.

»Mutter hat mich darum gebeten.«

»Ich hab ihren Brief erhalten. Das ist natürlich Unsinn. Der Winter ist vorbei, jetzt kommt der Sommer. Ich werde nicht in Taschkent leben, weder im Winter noch im Sommer. Ich lade ja auch Jelena nicht hierher ein. In unserem Alter bleibt man, wo man ist.«

»Ich war im Februar dort. Mutter ist alt geworden. Telefonieren kann man mit ihr nicht mehr. Sie hört kaum noch etwas. Sie liest viel. Sogar Zeitungen. Und sieht fern.«

»Dein Urgroßvater hat auch dauernd Zeitung gelesen. Aber damals gabs noch nicht so viele.« Dann schwiegen sie lange.

Georgi warf noch etwas Reisig ins Feuer, es gab ein trockenes Knistern, und in der Küche wurde es heller.

Wie schön wäre es, wenn er hier auf der Krim leben würde, wenn er sich entschließen könnte, auf die verlorenen zehn Jahre zu pfeifen, auf die nicht gemachte Entdeckung, die nicht beendete Dissertation, die ihn einsog wie ein böser Sumpf, sobald er sich ihr näherte, doch wenn er wegfuhr aus Akademgorodok, weg von diesem fauligen Haufen Papier, beschäftigte der ihn kaum noch und verwandelte sich in einen dunklen Klumpen. Er sollte sich hier ein Haus bauen. Die Natschalniks in Feodossija waren alles Bekannte, Kinder von Medeas Freunden. Vielleicht in Atusy oder an der Straße nach Nowy Swet, dort stand eine halbverfallene Datscha, er müsste sich erkundigen, wem die gehört.

Medea dachte an dasselbe. Sie wünschte sich, er, Georgi, möge hierher zurückkehren, damit wieder Sinoplis in dieser Gegend lebten.

Gemächlich tranken sie den Wodka, die alte Frau schlummerte ein, und Georgi überlegte, wie er einen artesischen Brunnen anlegen könnte; er müsste einen Erdbohrer auftreiben.

2

Jelena Stepanjan, Georgis Mutter, kam aus einer angesehenen kultivierten armenischen Familie und dachte zunächst nicht im Traum daran, einen einfachen Griechen aus der Vorstadt von Feodossija zu heiraten, den älteren Bruder ihrer Busenfreundin vom Gymnasium.

Medea Sinopli war der strahlende Stern des Mädchengymnasiums; ihre mustergültigen Hefte wurden allen nachfolgenden Generationen von Gymnasiastinnen gezeigt. Die Freundschaft der beiden Mädchen begann mit heimlicher, glühender Rivalität. In jenem Jahr — neunzehnhundertzwölf — war die Familie Stepanjan wegen einer Lungenerkrankung von Jelenas jüngerer Schwester Anahit nicht wie sonst für den Winter nach Petersburg gefahren. Die Familie überwinterte in ihrer Datscha in Sudak, und Jelena lebte mit ihrer Gouvernante das ganze Jahr in Feodossija, in einem Hotel, und besuchte das Mädchengymnasium, wo sie der Bestschülerin Medea heftige Konkurrenz machte.

Die pummelige, freundliche Jelena nahm das ganz unaufgeregt und schien sich am Wettbewerb gar nicht zu beteiligen. Das konnte entweder aus engelhafter Großzügigkeit herrühren oder aber aus teuflischem Hochmut. Für Jelena waren ihre Erfolge keinen Pfifferling wert: Die Schwestern Stepanjan erhielten eine gute häusliche Erziehung, Französisch und Deutsch lernten sie bei ihrer Gouvernante, außerdem hatten sie ihre frühe Kindheit in der Schweiz verbracht, wo ihr Vater in diplomatischen Diensten stand.

Beide Mädchen, Medea und Jelena, beendeten die dritte Klasse ausschließlich mit Bestnoten, doch diese Bestnoten waren verschieden — sicher und mit Leichtigkeit erworben bei Jelena und mit Schweiß und Schwielen erarbeitet bei Medea. Bei allem unterschiedlichen Gewicht ihrer Noten erhielten beide zum Schuljahresabschluss das gleiche Geschenk: eine dunkelgrüne einbändige Nekrassow-Ausgabe mit einer Widmung.

Am Tag nach der Abschlussfeier, gegen fünf Uhr, traf überraschend die Familie Stepanjan vollzählig im Haus der Sinoplis ein. Die Frauen des Hauses, allen voran Matilda, das stumpf gewordene Haar unter einem weißen Kopftuch verborgen, rollten an einem großen Tisch im Schatten zweier alter Maulbeerbäume Teig für Baklawa aus. Der einfachste Teil der Operation, der auf dem Tisch stattfand, war bereits getan, und nun zogen sie den Teig mit den Händen auseinander. Auch Medea und ihre Schwestern beteiligten sich daran.

Jelenas Mutter, Armik Tigranowna, schlug die Hände zusammen — genau so wurde seit ihrer Kindheit in Tiflis Baklawa gemacht.

»Meine Großmutter konnte das am besten!«, rief sie und bat um eine Schürze.

Herr Stepanjan strich sich mit einer Hand über den grau melierten Schnurrbart und beobachtete mit wohlwollendem Lächeln die feiertägliche Arbeit der Frauen, bewunderte, wie ihre ölglänzenden Hände im scheckigen Schatten flink hin und her huschten, wie sie leicht und zärtlich das Teigblatt berührten.

Dann bat Matilda sie auf die Terrasse, sie tranken Kaffee mit eingezuckerten Früchten, und wieder schwelgte Armik Tigranowna in Kindheitserinnerungen angesichts dieser dicken Konfitüre. Die gemeinsamen kulinarischen Neigungen, die im Türkischen wurzelten, nahmen die berühmte Dame noch mehr für die freundliche, arbeitsame Familie ein, und sie fand die Idee ihrer Tochter, ein ihr kaum bekanntes Mädchen aus der Familie eines Schiffsmaschinisten als Feriengast einzuladen, die ihr zunächst fragwürdig erschienen war, nun sehr gut.

Der Vorschlag kam für Matilda überraschend, schmeichelte ihr aber, und sie versprach, sich noch heute mit ihrem Mann zu beraten, und dieser Beweis ehelichen Respekts in einer so einfachen Familie nahm Armik Tigranowna noch mehr für sie ein.

Vier Tage später fuhr Medea zusammen mit Jelena nach Sudak, in ein wundervolles Sommerhaus direkt am Meer, das noch heute an dieser Stelle steht, umgebaut zu einem Sanatorium, gar nicht weit entfernt vom Oberen Ort, den viele Jahre später die gemeinsamen Nachkommen von Armik Tigranowna und der rothaarigen Matilda, die den Teig für die Baklawa so geschickt zu bereiten verstand, besuchen würden.

Die Mädchen hielten einander für vollkommen: Medea schätzte die vornehme Schlichtheit und strahlende Güte Jelenas, und Jelena war begeistert von Medeas Furchtlosigkeit, Selbstständigkeit und der besonderen weiblichen Begabung ihrer Hände, die Medea teils geerbt, teils von ihrer Mutter angenommen hatte.

Nachts, auf gesunden, harten deutschen Klappbetten liegend, führten sie lange bedeutsame Gespräche, und seit jener Zeit bewahrten sie ein Gefühl tiefer seelischer Verbundenheit, obwohl sie später nicht mehr hätten sagen können, was sie so Vertrauliches in jenem Sommer bis zum Morgengrauen besprochen hatten.

Medea erinnerte sich genau an Jelenas Erzählung darüber, wie sie einmal während einer Krankheit einen Engel vor einer plötzlich durchsichtigen Wand gesehen hatte, hinter der sie einen jungen, noch sehr lichten Wald erkannte; und Jelena waren Medeas Berichte über deren unzählige Funde im Gedächtnis geblieben, an denen ihr Leben so reich war. Diese Gabe offenbarte Medea in jenem Sommer übrigens allen zur Genüge, indem sie eine ganze Sammlung von Halbedelsteinen der Krim zusammentrug.

Eine weitere im Gedächtnis gebliebene Episode hing mit einem Lachanfall zusammen, der die beiden eines Nachts überkam, als sie sich vorstellten, der Musiklehrer, ein humpelnder, affektierter junger Mann, würde die Leiterin des Gymnasiums heiraten, eine riesige, strenge Dame, vor der selbst die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett zitterten.

Im Herbst wurde Jelena nach Petersburg gebracht, und da begann der Briefwechsel der beiden, der mit einigen Unterbrechungen nun schon über sechzig Jahre andauerte. In den ersten Jahren schrieben sie sich ausschließlich auf Französisch, das Jelena damals bedeutend besser beherrschte als Russisch. Medea unternahm einige Anstrengungen, um die gleiche Freiheit darin zu erlangen, wie die Freundin sie bei ihren ausgedehnten Spaziergängen mit der Gouvernante am Ufer des Genfer Sees erworben hatte. Die Mädchen, der geistigen Mode jener Jahre folgend, bekannten einander böse Gedanken und böse Absichten (»… und ich verspürte den heftigen Wunsch, sie auf den Kopf zu schlagen! … die Geschichte mit dem Tintenfass war mir bekannt, aber ich schwieg, ich glaube, das war eine richtige Lüge von mir … und Mama ist noch immer überzeugt, dass Fjodor das Geld genommen hat, und mich hat es richtig gejuckt zu sagen, dass es Galja war …«). Das alles ausschließlich auf Französisch!

Diese rührenden Selbstenthüllungen endeten abrupt mit Medeas Brief vom zehnten Oktober neunzehnhundertsechzehn. Dieser Brief war auf Russisch geschrieben, hart und kurz. Darin teilte sie mit, dass am siebten Oktober neunzehnhundertsechzehn vor der Sewastopoler Bucht das Schiff »Kaiserin Maria« explodiert war und sich unter den Toten der Schiffsmaschinist Georgi Sinopli befand. Man vermutete Sabotage. Durch die Umstände der Kriegszeit, die nahtlos überging in die Revolution und einen chaotischen Krieg auf der Krim, konnte das Schiff nicht sofort geborgen werden, und erst drei Jahre später, bereits in sowjetischer Zeit, bewies ein Expertengutachten, dass die Explosion durch einen im Schiffsmotor angebrachten Sprengsatz verursacht worden war. Einer der Söhne Georgis, Nikolai, war als Taucher an der Bergung des gesunkenen Wracks beteiligt.

In jenen Oktobertagen trug Matilda ihr vierzehntes Kind, das nicht im August zur Welt kommen sollte wie alle ihre anderen Kinder, sondern Mitte Oktober. Beide, Matilda und das rosaköpfige Mädchen, folgten Georgi neun Tage nach dessen Tod.

Medea war die Erste, die vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Sie erschien am Morgen im Krankenhaus, und Schwester Fatima kam ihr entgegen, hielt sie auf der Treppe an und sagte in der Sprache der Krimtataren, die damals viele Bewohner der Krim beherrschten:

»Mädchen, geh nicht dahin, geh zum Doktor, er erwartet dich.«

Doktor Lesnitschewski kam ihr mit nassem Gesicht entgegen. Er war ein kleiner, dicker Greis, Medea überragte ihn um Haupteslänge. Er sagte: »Mein Goldstück!«, und reckte die Arme, um ihren Kopf zu streicheln. Matilda und er hatten im selben Jahr angefangen, sie mit dem Gebären und er mit der Leitung der Entbindungsstation; alle ihre Kinder hatte er selbst geholt.

Nun waren sie noch dreizehn. Dreizehn Kinder, die gerade ihren Vater verloren und noch nicht die Zeit gehabt hatten, an die Realität seines Todes zu glauben. Die symbolische Beisetzung der umgekommenen Seeleute mit Orchester und Gewehrsalven erschien den jüngeren Kindern wie ein militärisches Vergnügen, eine Art Parade. Neunzehnhundertsechzehn wütete der Tod noch nicht so wie neunzehnhundertachtzehn, als die Toten in Gräben beerdigt wurden, kaum bekleidet und ohne Särge. Der Krieg dauerte zwar schon lange, fand jedoch irgendwo in der Ferne statt, hier auf der Krim war der Tod noch Stückware.

Matilda wurde angekleidet, das leuchtende Haar wurde mit schwarzer Spitze bedeckt und das ungetaufte Mädchen zu ihr gelegt. Die ältesten Söhne trugen den Sarg zuerst in die griechische Kirche und von dort auf den alten Friedhof, neben Großvater Charlampi.

An die Beerdigung der Mutter erinnerte sich sogar der Jüngste, der zweijährige Dimitri. Vier Jahre später erzählte er Medea von zwei Ereignissen dieses Tages, die ihn erschüttert hatten. Die Beerdigung fand an einem Sonntag statt, und kurz davor war in der Kirche eine Trauung angesetzt. Auf dem engen Weg, der zur Kirche führte, trafen Hochzeits- und Trauerzug zusammen. Es gab eine Stockung, die Sargträger mussten ausweichen, um das Auto durchzulassen, auf dessen Rücksitz, wie eine Fliege in Sahne, die erschrockene dunkelhäutige Braut in der schneeweißen Wolke ihres Hochzeitsgewandes thronte, neben dem glatzköpfigen Bräutigam. Es war eines der ersten Autos in der Stadt und gehörte der reichen Familie Murusi, und es war grün — von diesem Auto erzählte Dimitri Medea. Das Auto war tatsächlich grün gewesen, erinnerte sich Medea. Die zweite Episode war rätselhaft. Der Junge fragte sie, wie die beiden weißen Vögel hießen, die neben Mamas Kopf gesessen hätten.

»Möwen?«, fragte Medea verwundert.

»Nein, einer war größer, der andere ein bisschen kleiner. Und ihre Gesichter sahen anders aus, nicht wie bei Möwen«, erklärte Dimitri.

An mehr konnte er sich nicht erinnern. Medea war damals sechzehn. Fünf Geschwister waren älter als sie, sieben jünger. Zwei fehlten an diesem Tag, Filipp und Nikifor, sie waren an der Front. Beide fielen später, der eine durch die Roten, der andere durch die Weißen, und Medea schrieb ihr Leben lang beide Namen nebeneinander in ihre Totengedenkliste.

Matildas jüngere Schwester Sofja, zur Beerdigung aus Batumi angereist, wollte zwei der älteren Jungen zu sich nehmen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie einen großen Hof zu versorgen, und mit ihren drei Töchtern schaffte sie das kaum. Der vierzehnjährige Afanassi und der zwölfjährige Platon versprachen in absehbarer Zeit Männer zu werden, und die wurden im Haus dringend gebraucht.