Ein fröhliches Begräbnis - Ljudmila Ulitzkaja - E-Book

Ein fröhliches Begräbnis E-Book

Ljudmila Ulitzkaja

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Beschreibung

Lange hat der Maler Alik nicht mehr zu leben, doch er versteht es wie kein Zweiter, den Widrigkeiten des Lebens mit Heiterkeit zu begegnen. In seinen letzten Tagen ist er in seinem Atelier umringt von seinen Liebsten – alle auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Lebensglück. Ein eindrückliches Portrait russischer Emigranten im New York Anfang der 90er Jahre.

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Das ist das Cover des Buches »Ein fröhliches Begräbnis« von Ljudmila Ulitzkaja

Über das Buch

Lange hat der Maler Alik nicht mehr zu leben, doch er versteht es wie kein Zweiter, den Widrigkeiten des Lebens mit Heiterkeit zu begegnen. In seinen letzten Tagen ist er in seinem Atelier umringt von seinen Liebsten — alle auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Lebensglück. Ein eindrückliches Portrait russischer Emigranten im New York Anfang der 90er Jahre.

Ljudmila Ulitzkaja

Ein fröhliches Begräbnis

Roman

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt

Hanser

1

Die Hitze war entsetzlich, bei einer Luftfeuchtigkeit von fast hundert Prozent. Es schien, als stünde die ganze riesige Stadt mit ihren unmenschlichen Häusern, ihren prächtigen Parks und ihren vielfarbigen Menschen und Hunden kurz vor dem Übergang in einen anderen Aggregatzustand, als würden jeden Augenblick halbflüssige Menschen in der bouillonartigen Luft schwimmen.

Die Dusche war ständig besetzt; alle verschwanden abwechselnd dort. Sie zogen sich schon lange nicht mehr an, nur Valentina legte ihren BH nicht ab, denn wenn sie ihre gewaltigen Brüste frei baumeln ließ, bildeten sich darunter von der Hitze wunde Stellen. Bei normalem Wetter trug sie nie einen BH. Alle waren klitschnass, das Wasser verdunstete auf dem Körper nicht mehr, die Handtücher blieben feucht, und die Haare bekam man nur mit dem Föhn trocken.

Durch die halbgeschlossenen Jalousien fiel das Licht streifig in den Raum. Die Klimaanlage war schon seit Jahren kaputt.

Im Zimmer waren fünf Frauen. Valentina im roten BH. Nina mit langem Haar und einem goldenen Kreuz um den Hals, so abgemagert, dass Alik zu ihr sagte:

»Nina, man kann schon durch dich durchgucken und deine Rippen zählen, wie bei dem Korb da.«

Er meinte den Schlangenkorb, der in einer Ecke stand. Alik war in seiner Jugend mal in Indien gewesen, auf der Suche nach uralter Weisheit, hatte aber von dort nichts weiter mitgebracht als diesen Korb.

Dann war da noch die Nachbarin Joyka, eine verrückte Italienerin, die hier hängengeblieben war und sich diesen seltsamen Ort ausgesucht hatte, um Russisch zu lernen. Sie nahm ständig jemandem etwas übel, aber da sich niemand darum scherte, wenn sie eingeschnappt war, musste sie allen großmütig verzeihen.

Irina Pirson, früher Zirkusakrobatin und jetzt teure Rechtsanwältin, glänzte mit kunstvoll rasiertem Schamhaar und einer völlig neuen Brust, die nicht schlechter war als ihre alte — ein Werk amerikanischer Chirurgen, die keine Skrupel kennen; ihre Tochter Maika mit Spitznamen T-Shirt, fünfzehn Jahre alt, plump und unförmig, mit Brille, war als Einzige angezogen. Sie trug dicke Bermudas und dazu ein T-Shirt. Darauf prangte eine Glühlampe und in Leuchtschrift ein Wort in einem komischen Kauderwelsch: ПIZДЕЦ!1 Das hatte Alik ihr voriges Jahr zum Geburtstag bedruckt, als er seine Hände noch bewegen konnte.

Alik selbst lag auf einer breiten Liege und wirkte so klein und jung, als wäre er sein eigener Sohn. Aber er und Nina hatten keine Kinder. Und würden nun auch keine mehr haben, das war klar. Denn Alik starb. Eine allmähliche Lähmung fraß die letzten Reste seiner Muskulatur auf. Seine Arme und Beine lagen still und leblos da und fühlten sich nicht tot und nicht lebendig an, sondern wie etwas Unheimliches dazwischen, wie erstarrender Gips. Am lebendigsten war sein leuchtend rotes Haar, das in dichten Borsten nach vorn fiel, und sein abstehender Schnauzbart, der für sein abgemagertes Gesicht nun ein bisschen zu groß war.

Seit zwei Wochen war er wieder zu Hause. Den Ärzten hatte er gesagt, er wolle nicht im Krankenhaus sterben. Es gab noch einen anderen Grund, von dem die Ärzte nichts wussten und nichts wissen sollten. Dabei hatten sie ihn liebgewonnen, die Ärzte in diesem Fließbandkrankenhaus, die kaum dazu kamen, einem Patienten ins Gesicht zu sehen, die ihm nur in den Mund blickten, in den After oder wo er sonst Schmerzen hatte.

Sein Zuhause war der reinste Durchgangshof. Von morgens bis abends Trubel, und irgendwer blieb immer über Nacht. Für Besuch war der Raum ideal, für normales Leben unmöglich. Es war ein umgebautes Loft mit einem abgeteilten Alkoven, in den die winzige Küche, das Klo mit Dusche und das schmale Schlafzimmer mit einem Stück Fenster gepfercht waren. Der Rest war ein riesiges Atelier mit Fenstern auf zwei Seiten.

In der einen Ecke auf dem Teppich übernachteten späte Gäste und zufällige Besucher. Manchmal bis zu fünf. Eine richtige Eingangstür gab es nicht, in die Wohnung gelangte man direkt aus dem Lastenaufzug; früher, vor Aliks Einzug, war damit Tabak befördert worden, und dessen Geruch hing geisterhaft noch immer in der Luft. Alik wohnte schon lange hier, fast zwanzig Jahre; er hatte damals unbesehen einen Mietvertrag unterschrieben, der sich später als ungeheuer günstig erwies. Bis heute zahlte Alik eine geradezu lächerliche Miete. Im Übrigen zahlte gar nicht er. Er besaß schon lange kein Geld mehr, nicht das kleinste bisschen.

Die Aufzugtür klappte. Fima Gruber kam herein und zog sich dabei ein derbes hellblaues Hemd vom Leib. Die nackten Frauen beachteten ihn nicht, und auch er zuckte nicht mit der Wimper. Er hatte eine Arzttasche bei sich, uralt, ein Erbstück von seinem Großvater, noch aus Charkow. Fima war Arzt in dritter Generation, vielseitig gebildet und originell, aber es ging ihm nicht gerade glänzend: Er hatte die erforderlichen amerikanischen Prüfungen noch nicht abgelegt und arbeitete vorübergehend — bereits das fünfte Jahr — als eine Art hochqualifizierter Assistent in einer teuren Klinik. Er kam jeden Tag her, als hoffe er, doch noch Glück zu haben und etwas für Alik tun zu können. Er beugte sich zu Alik hinunter.

»Wie geht’s, Alter?«

»Ach, du … Bringst du den Fahrplan?«

»Was für einen Fahrplan?«, fragte Fima erstaunt.

»Für die Fähre«, antwortete Alik mit einem schwachen Lächeln.

Es geht zu Ende, dachte Fima. Das Bewusstsein trübt sich schon.

Er ging in die Küche und klapperte im Eisfach des Kühlschranks mit festgefrorenen Kühlakkus.

Idioten, was sind das alles für Idioten. Ich hasse sie, dachte T-Shirt. Sie hatte vor Kurzem die griechische Mythologie durchgenommen und ahnte als Einzige, dass Alik nicht die South Ferry meinte. Mit bösem, hochmütigem Gesicht ging sie zum Fenster, bog die Jalousie ein Stück hoch und sah hinunter. Dort war immer was los.

Alik war der erste Erwachsene, den sie nicht ignorierte. Wie viele amerikanische Kinder war sie ihre ganze Kindheit von einem Psychologen zum anderen geschleppt worden, und das nicht ohne Grund. Sie sprach nur mit Kindern, machte lediglich für ihre Mutter äußerst widerwillig eine Ausnahme, andere Erwachsene existierten für sie einfach nicht. Die Lehrer nahmen ihre Antworten in schriftlicher Form entgegen; sie waren immer exakt und lakonisch. Sie gaben ihr die besten Zensuren und zuckten die Achseln. Psychologen und Psychoanalytiker entwickelten komplizierte und höchst phantastische Hypothesen über den Grund ihres sonderbaren Verhaltens. Sie mochten Kinder, die nicht der Norm entsprachen — davon lebten sie schließlich.

Kennengelernt hatten sich Alik und T-Shirt auf einer Vernissage, wohin die Mutter ihre linkische Tochter mitgeschleppt hatte. Sie waren damals gerade von Kalifornien nach New York gezogen, und T-Shirt, die alle ihre Freunde mit einem Schlag verloren hatte, war bereit mitzukommen. Alik und ihre Mutter kannten sich aus ihrer Zirkuszeit, noch aus Moskau, hatten sich aber in Amerika seit Jahren nicht gesehen. So lange, dass Irina schon nicht mehr darüber nachdachte, was sie zu ihm sagen würde, sollten sie sich je wiedersehen. An dem Tag, als sie sich auf der Vernissage begegneten, griff er mit der linken Hand einen ihrer Jackettknöpfe mit den hühnerdicken Adlern, riss ihn mit einer abrupten Drehung ab, warf ihn hoch und fing ihn wieder auf. Dann öffnete er die Hand und blickte flüchtig auf den blitzenden Adler.

»Na, dann muss ich es dir wohl sagen.«

Seine rechte Hand hing leblos herab. Mit der Linken zog er ihren tiefblonden, sorgfältig frisierten Kopf mit dem schwarzen, perlenbesetzten Seidenband an sich und flüsterte ihr ins Ohr:

»Irina, ich werde bald sterben.«

Sie hätte sich sagen können: Na und, stirb doch. Für mich bist du schon lange tot. Aber sie spürte, wie eine dünne, schmale Klinge ihr ganz langsam tief in die Brust drang, und ein heftiger Schmerz durchbohrte sie bis zur Wirbelsäule. Neben ihr stand ihre Tochter und sah sie mit großen Augen an.

»Komm, wir gehen zu mir«, schlug Alik vor.

»Ich bin mit meiner Tochter hier. Ich weiß nicht, ob sie Lust hat.« Irina sah T-Shirt an.

Das Mädchen begleitete sie schon lange nirgends mehr hin. Irina hatte sie mit Mühe überredet, zu dieser Ausstellung mitzukommen. Sie fragte die Tochter, vollkommen sicher, dass diese ablehnen würde:

»Hast du Lust, mit zu meinem Bekannten ins Atelier zu gehen?«

»Zu dem Rothaarigen? Ja.«

Sie gingen hin. Seine neuen Bilder, obwohl offenkundig erst vor Kurzem gemalt, erinnerten sehr an seine früheren.

Ein paar Tage später gingen sie noch einmal zu ihm, mehr zufällig — sie waren gerade in der Gegend. Irina wurde überraschend zu einer dringenden geschäftlichen Besprechung gerufen und ließ T-Shirt für etwa drei Stunden im Atelier, und als sie zurückkam, fand sie eine unglaubliche Szene vor: Die beiden kreischten aufeinander ein wie zwei zornige Vögel. Alik fuchtelte mit dem linken Arm herum — der rechte war schon verkrüppelt und gehorchte ihm kaum noch — und hüpfte federnd auf und ab.

»Ist dir denn nie in den Sinn gekommen, dass nur die Asymmetrie zählt? Das ist der Dreh- und Angelpunkt! Symmetrie ist der Tod! Totaler Stillstand! Kurzschluss!«

»Schrei nicht so!«, rief T-Shirt, deren sämtliche Sommersprossen rot leuchteten, und ihr Akzent war dabei stärker als sonst. »Und wenn’s mir gefällt? Einfach gefällt! Warum müsst ihr immer, immer recht haben?«

Alik ließ den Arm sinken.

»Na, weißt du …«

Irina wäre beinah neben dem Lift in Ohnmacht gefallen. Alik hatte, ohne es zu ahnen, mit einem Schlag die sonderbare Form von Autismus zerstört, an der das Mädchen seit seinem fünften Lebensjahr litt. Eine alte böse Flamme flackerte in ihr auf, erlosch aber sofort wieder: Statt ihre Tochter von Psychiater zu Psychiater zu schleppen, sollte sie ihr vielleicht lieber die elementare menschliche Kommunikation ermöglichen, die ihr so fehlte.

2

Wieder klappte der Aufzug. Nina erblickte eine neue Besucherin in der Tür und rannte ihr entgegen, wobei sie sich einen schwarzen Kimono überzog.

Eine kleine, ungeheuer dicke Matrone setzte sich schnaufend in einen niedrigen Sessel und stellte eine prall gefüllte Einkaufstasche sorgsam zwischen ihre Knie. Sie war himbeerrot im Gesicht, dampfte, und ihre Wangen glänzten wie ein heißer Samowar.

»Marja Ignatjewna! Ich warte seit zwei Tagen auf Sie!«

Die Matrone saß auf der äußersten Sesselkante, die rosigen Beine gespreizt. Sie trug Füßlinge — etwas, das es auf diesem Kontinent gar nicht gab.

»Ich vergesse euch nicht, Ninotschka. Ich arbeite die ganze Zeit mit Alik. Gestern habe ich ihn von sechs Uhr abends an besprochen …« Sie hielt Nina ihre dreieckigen Finger mit den dystrophischen grünlichen Fingernägeln hin. »Glaub mir, das ist ganz schön anstrengend — mein Blutdruck, ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Und dann diese verfluchte Hitze. Hier, ich hab den Rest mitgebracht.«

Sie holte aus ihrer Stofftasche drei dunkle Flaschen mit einer zähen Flüssigkeit.

»Da. Ich hab etwas Neues zum Einreiben gemacht und was zum Inhalieren. Das hier ist für die Beine. Du tauchst einen Lappen rein und legst ihm den auf die Füße, darüber eine Zellophantüte, und dann zubinden. Etwa zwei Stunden. Wenn die Haut abgeht, das macht nichts. Wenn du’s abnimmst, gleich abwaschen.«

Nina blickte ehrfürchtig auf diese Vogelscheuche und ihre Mixturen. Sie nahm die Flaschen. Eine kleinere presste sie an die Wange — sie war kühl. Sie trug alles ins Schlafzimmer, ließ die Jalousie herunter und stellte die Flaschen auf das schmale Fensterbrett. Dort stand bereits eine ganze Batterie.

Marja Ignatjewna setzte inzwischen den Teekessel auf. Sie war der einzige Mensch, der bei dieser Hitze Tee trinken konnte, und zwar nicht amerikanisch, eiskalt, sondern russisch, heiß und mit Zucker und Konfitüre.

Während Nina Alik Kompressen um die Beine wickelte und ihn mit einem leichten Laken mit pseudoschottischem Karomuster zudeckte, wobei sie ihr langes Haar schüttelte, das aussah, als sei die Vergoldung abgeblättert und habe das tiefe Silber darunter freigelegt, unterhielt sich Marja Ignatjewna mit Fima. Er interessierte sich für ihre Resultate. Sie sah ihn mit großmütiger Verachtung an.

»Jefim Issakytsch! Fimotschka! Was für Resultate! Es riecht nach Erde! Trotzdem, alles ist in Gottes Hand, das sage ich Ihnen. Ich hab schon vieles gesehn. Da liegt einer im Sterben, ist schon beinah hinüber, aber nein, Er lässt ihn nicht. Die Kräuter, die haben eine Kraft! Die sprengt jeden Stein. Besonders ihre Spitze. Und genau die nehme ich, die Spitze, und von den Wurzeln auch die Spitzen. Manchmal, da neigt einer sich schon ganz zur Erde, und plötzlich richtet er sich wieder auf. An Gott muss man glauben, Fima. Ohne Gott wächst nicht das kleinste Kraut!«

»Das ist wahr«, stimmte Fima ihr bereitwillig zu und rieb sich die linke Wange, die zerklüftet war von den Spuren jugendlicher Hormonkämpfe.

Die positive Phototaxis der Pflanzen, über die das dicke Weib mit dem weichen Stoffpuppengesicht verschwommen und geheimnisvoll orakelte, kannte er aus dem Botanikunterricht der fünften Klasse, aber da er immerhin Fachmann war, wusste er auch, dass es für Aliks teuflische Krankheit keinen Ausweg gab: Der letzte noch arbeitende Muskel, das Zwerchfell, setzte bereits aus, und in den nächsten Tagen würde der Tod durch Ersticken eintreten. Der Frage, die sich in diesem Land üblicherweise stellte — wann die Apparate abgeschaltet werden sollten —, war Alik zuvorgekommen: Er hatte das Krankenhaus kurz vor dem Ende verlassen und damit auf die klägliche Zusatzration künstlichen Lebens verzichtet.

Fima bedrückte nun der Gedanke, dass wohl oder übel er Alik zu gegebener Zeit ein Beruhigungsmittel spritzen müsste, das die Qual des Erstickens lindern und ihn durch seine Nebenwirkung, die Lähmung des Atemzentrums, töten würde. Aber es war nichts zu machen — Alik mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus zu bringen, wie sie es schon zweimal getan hatten, war jetzt kaum noch möglich. Und wieder eine gefälschte Krankenversicherung aufzutreiben, das war nun vorbei und zu gefährlich.

»Viel Glück«, sagte Fima sanft, griff nach seiner berühmten Tasche und ging, ohne sich zu verabschieden. Auf solche Kleinigkeiten legte hier niemand Wert.

Ist wohl beleidigt oder was, dachte Marja Ignatjewna.

Sie verstand nicht viel vom Leben in Amerika. Vor einem Jahr war sie aus Weißrussland gekommen, auf Bitte einer kranken Verwandten, aber als sie die Papiere zusammenhatte und endlich hier eintraf, gab es schon niemanden mehr zu heilen. So war sie umsonst mit ihrer Wunderheilkraft und ihren geschmuggelten Kräutern über den Ozean gekommen. Das heißt, nicht ganz umsonst, denn auch hier fanden sich Anhänger ihrer Kunst, die sie nun ohne Genehmigung und ohne Furcht vor Unannehmlichkeiten praktizierte. Sie wunderte sich nur: Was ist das hier bei euch für eine Ordnung, ich heile doch, hole Menschen sozusagen aus dem Jenseits zurück, wovor soll ich denn Angst haben? Vergebliche Mühe, ihr etwas von Lizenzen und Steuern zu erklären. Nina hatte sie in einer kleinen orthodoxen Kirche in Manhattan aufgegabelt und gleich entschieden, dass Gott ihr diese Wunderheilerin für Alik geschickt hatte. In den letzten Jahren, noch bevor Alik krank wurde, war Nina orthodox geworden, womit sie den Mächten der Finsternis einen empfindlichen Schlag versetzte: Ihre Lieblingsbeschäftigung, ihre Tarot-Karten, hielt sie nun für Sünde und schenkte sie Joyka.

Marja Ignatjewna winkte Nina mit dem Finger heran. Nina rannte in die Küche, goss Orangensaft in ein Glas, dann Wodka und warf eine Handvoll Eiskugeln dazu. Sie trank schon lange auf amerikanische Art: stark verdünnt, süß und stetig. Mit einem Strohhalm rührte sie um und trank einen Schluck. Auch Marja Ignatjewna rührte um — mit dem Löffel im Tee — und legte den Löffel auf den Tisch.

»Hör zu, was ich dir sage«, begann sie streng. »Er muss getauft werden. Sonst hilft nichts mehr.«

»Aber er will nicht, er will nicht, wie oft soll ich dir das noch sagen, Marja Ignatjewna!«, jaulte Nina.

Marja Ignatjewna runzelte die brauenlose Stirn. »Schrei nicht so. Ich muss weg. Mein Papier, das ist schon lange zu Ende.« Sie meinte ihr abgelaufenes Visum, konnte aber kein einziges Fremdwort behalten. »Das Papier ist zu Ende. Ich fahr zurück. Ich hab schon einen Flug gebucht. Wenn du ihn nicht taufen lässt, dann mach ich nicht weiter mit ihm. Aber wenn du ihn taufen lässt, Nina, dann werd ich weiter mit ihm arbeiten, auch von dort aus, egal wie. Aber so, so geht das nicht.«

Sie breitete theatralisch die Arme aus.

»Ich kann nichts tun. Er will nicht. Er lacht nur. Dein Gott, sagt er, soll mich als Parteilosen aufnehmen.« Nina senkte ihren schwachen kleinen Kopf.

Marja Ignatjewna riss die Augen auf.

»Was redest du da, Nina? Ihr lebt hier wie hinterm Mond. Was soll der liebe Gott denn mit Parteimitgliedern?«

Nina winkte ab und leerte ihr Glas. Marja Ignatjewna schenkte sich noch Tee ein.

»Um dich tut’s mir leid, Kindchen. Gott hat viele Wohnungen. Ich hab schon viele gute Menschen gesehen, Juden und alle möglichen. Es ist für jeden eine Stätte bereitet. Mein Konstantin, der getötet wurde, der ist getauft, und er wartet auf mich da, wo alle hinkommen. Ich bin natürlich keine Heilige, und wir haben ja auch nur zwei Jahre zusammengelebt, mit einundzwanzig war ich schon Witwe. Ich hatte schon hin und wieder mal was, das will ich nicht leugnen, ich bin sündig. Aber einen anderen Ehemann, den hab ich nie gehabt. Und er wartet dort auf mich. Verstehst du, worum ich mich sorge? Ihr werdet sonst getrennt sein, dort. Tauf ihn wenigstens so, wenigstens schwarz«, mahnte Marja Ignatjewna.

»Wie — schwarz?«, fragte Nina.

»Komm weg hier, nicht vor den anderen«, zischte Marja Ignatjewna bedeutungsvoll, und obwohl sich alle um Alik drängten und in der Küche niemand war, schob Marja Ignatjewna Nina ins Bad, setzte sich auf die Toilette mit dem rosa Deckel und drückte Nina auf einen Wäschekorb aus Plastik. Hier, am unpassendsten Ort, erhielt Nina alle notwendigen Unterweisungen.

Bald darauf kam Faina — kräftig wie ein Nussknacker, mit hölzernem Gesicht und drahtigem, weißlichem Stroh auf dem Kopf. Sie war noch nicht lange hier, hatte sich aber schnell eingelebt.

»Ich hab mir einen Fotoapparat gekauft«, verkündete sie schon auf der Schwelle und schwenkte die nagelneue Schachtel über Aliks reglosem Kopf. »Eine Polaroid! Mit Sofortbild! Los, machen wir ein Foto!«

Für sie gab es in diesem Land vieles, das sie noch nicht probiert hatte, und sie wollte möglichst schnell alles kaufen, kosten, beurteilen und darüber mitreden können.

Valentina wedelte Alik mit dem Laken Luft zu. Aber ihm war als Einzigem nicht heiß. Valentina warf das Laken hin, kroch hinter Alik und setzte sich, den Rücken an das Kopfende des Bettes gelehnt. Sie zog Alik ein Stück höher und legte seinen dunkelroten Schopf direkt auf ihr Sonnengeflecht, dorthin, wo nach den Worten ihrer verstorbenen Großmutter die »Seele« saß. Und plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, aus Mitleid mit Alik, mit seinem armen Kopf, der so hilflos unter ihrer Brust lag. Wie ein Kind, das seinen Kopf noch nicht halten kann. Noch nie während der ganzen Zeit ihrer kurzen Romanze hatte sie ein so heftiges, lebhaftes Bedürfnis verspürt, ihn in den Armen zu halten, auf den Armen, ja, ihn am liebsten in der Tiefe ihres Körpers zu bergen, ihn zu verstecken vor dem verfluchten Tod, der seine Arme und Beine schon in der Gewalt hatte.

»Mädchen, rückt zusammen, der Hahn hat schon lange gekräht!«, rief sie lächelnd und wischte sich den Schweiß von der Stirn und die Tränen von der Wange. Sie hängte ihre berühmten Brüste in der roten Verpackung auf Aliks Schultern; neben Alik auf dem Bett saß Joyka, die Aliks Bein anwinkelte und es mit ihrer Schulter abstützte. Auf die andere Seite setzte sich um der fotografischen Symmetrie willen T-Shirt.

Faina drehte den Fotoapparat lange hin und her, weil sie den Sucher nicht finden konnte, und als sie dann hineinsah, prustete sie los.

»Oh, Alik, die Klöten sind ganz vorn im Bild. Decken Sie was drüber.«

In Wirklichkeit waren ganz vorn im Bild die Schläuche der Urinflasche.

»So weit kommt’s noch, so eine Pracht verdecken«, protestierte Valentina, und Alik verzog einen Mundwinkel.

»Bringt bloß nichts, diese Pracht«, bemerkte er.

»Faina, warte«, bat Valentina, stopfte Alik zwei große russische Kissen aus Ninas Generalsmitgift in den Rücken, lief übers Bett zum Fußende und zog von seinem zarten Teil das rosa Pflaster ab, mit dem die ganze Ausrüstung befestigt war.

»Soll er sich ein bisschen erholen, sich ein bisschen frei bewegen.«

Alik mochte Witze aller Art, er lächelte auch über zweitklassige. Valentina agierte schnell, mit geübter Hand. Es gibt Frauen, deren Hände alles von allein beherrschen; sie brauchen nichts zu lernen, sie sind geborene Krankenschwestern.

T-Shirt konnte es nicht mehr ertragen und verließ das Zimmer. Obwohl sie schon im vorigen Jahr erst mit Jeffry Leshinsky und dann mit Tom Cane alles ausprobiert hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass ihr der ganze Sex gestohlen bleiben konnte, wurde ihr von der Manipulation mit dem Katheter schlecht. Wie Valentina ihn angefasst hatte … Wieso hingen sie bloß alle wie die Kletten an ihm?

Die Dusche war gerade frei. Sie zog ihre Shorts aus. Durch den Stoff fühlte sie die flache kleine Schachtel. Sie rollte ihre Sachen ordentlich zusammen, damit sie nicht rausfiel. Die Anweisung wusste sie auswendig. Sie hatte die letzte Nacht bei Alik verbracht. Nicht die ganze, aber ein paar Stunden. Nina war betrunken und schlief im Atelier, Alik lag noch wach. Er hatte eine Bitte an sie, die sie ihm erfüllte, und diese kleine längliche Box war nun der Beweis dafür, dass sie diejenige war, die ihm am allernächsten stand.

Das Wasser war nicht kalt, die Rohre waren bei dieser Hitze ganz warm. Alle Handtücher waren nass. Sie trocknete sich mehr schlecht als recht ab, zog sich die Sachen über den feuchten Körper und schlüpfte aus der Wohnung: Sie wollte nicht mit den anderen fotografiert werden, das wusste sie nun.

Sie ging zum Hudson, bog zur Fähre ab und dachte die ganze Zeit an den einzigen normalen Erwachsenen, der nun aber starb, als wollte er sie damit ärgern, um sie wieder mit diesen ganzen Idioten alleinzulassen: den Russen, Juden und Amerikanern, von denen sie seit ihrer Geburt umgeben war.

3

Mit Aliks Sehvermögen ging etwas Sonderbares vor sich: Es ließ nach und wurde zugleich schärfer. Alles wurde ein wenig größer und veränderte seine Dichte. Die Gesichter seiner Freundinnen verschwammen plötzlich, und die Gegenstände zerflossen leicht, doch dieses Zerfließen war eher angenehm und setzte zudem die Gegenstände in ein neues Verhältnis zueinander. Eine Ecke des Raumes wurde aufgeschnitten von einem einzelnen alten Ski, die weißen Wände strebten vor ihm rasant zu beiden Seiten auseinander. Diese Dynamik der Wände wurde gedämpft von der Figur einer Frau, die im Schneidersitz auf dem Boden saß, den Kopf an die Wand gelehnt. Der ruhigste Teil des Bildes war der Punkt, an dem der Kopf der Frau die Wand berührte.

Jemand hatte die Jalousie ein Stück hochgezogen, Licht fiel auf die dunkle Brühe in den Flaschen, und sie leuchtete grün und dunkelgolden. Die Flaschen waren unterschiedlich voll, und in diesem Flaschenxylophon erkannte Alik plötzlich seinen Jugendtraum wieder. Damals hatte er viele Stillleben mit Flaschen gemalt. Tausende Flaschen. Vielleicht mehr, als er geleert hatte. Nein, geleert hatte er doch mehr. Er lächelte und schloss die Augen.