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Sabine Schmidt

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Beschreibung

Die Lehrer Der Seeadler (Altgriechisch) suchte das Land der Griechen mit der Seele Pinselohr (Latein): knarzte schrecklich mit seinen italienischen Lederschuhen Der Koboldmaki: Weltmeister im "nun" Sagen Studienrätin Kauz: sah aus wie Anne Frank als Erwachsene Der Rotfuchs (Kunsterziehung): kein Bastelonkel Der Himbär (Katholische Religionslehre): warf am Nikolaustag mit Nüssen und Mandarinen um sich Frau Fischotterrr (Sport): rumänische Meisterin im Kugelstoßen Der Bismarckhering: einziger Lehrer mit Doktortitel Der Apoll-Dog (Latein2): Sein Motto "Man darf nicht zwei Mal denselben Fehler machen!" Der Kaffernbüffel (Mathe):  Gehirnschüttler Mister Nightingale (Englisch): sprach Deutsch, so als wäre es Englisch Frau Geiß (Musik): hatte wenig Taktgefühl Frau Marabu (Deutsch): stelzte auf Krücken ins Klassenzimmer   Die Schüler Das Rotkehlchen: sah aus wie die junge Romy Schneider Die Spottdrossel: Expertin für den Film "Der Exorzist" Der Schlaufuchs: Klassenbester – wurde schon mit Abitur geboren Der Büschelohrmaki: genialer Frank-Zander-Imitator Trampeltreu: Champion im Köttelkugelstoßen Die Gazelle: ist wegen dem Kettenhund beim Abitur durchgefallen Der Albatross: der erste Rocker mit Lederjacke in der Klasse Die Welpe: verschickte Kieler-Sprotten in einem Briefumschlag Der Mufflon: hat noch nicht in den Spiegel gesehen Der Klunkerkranich: trug eine Betonfrisur wie Victoria Principal in "Dallas" Der Domspatz: das attraktivste Mädchen der Klasse  

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Sabine Schmidt

Alle Vögel waren schon da

Eine Gymnasialzeit in den 1970er Jahren

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Vorwort

Was macht man mit einem Mittfünfzigergedächtnis, wenn einem die Namen von 30 ehemaligen Mitschülern und 25 Lehrern am Gymnasium partout nicht mehr einfallen wollen?

Spitznamen sind da eine einfache Lösung. Da ist der Lateinlehrer Pinselohr, der immer wieder erklärt, mit seinem Latein am Ende zu sein oder der Griechischlehrer Seeadler, der ständig das Land der Griechen mit der Seele suchte und nicht fand. Aber am Wichtigsten sind die Klassenkameraden Spottdrossel, Rotwangenschildkröte und Blauflügel-Prachtlibelle, ohne die der Schulalltag sehr eintönig ausgesehen hätte. Sie schafften es, dass bei mir der Eindruck entstand, neun Jahre lang auf einer Art Arche Noah die sieben Weltmeere des Wissens  befahren zu haben, um schließlich im Hafen der Selbstfindung des europäischen Menschen vor Anker zu gehen. Die von Wind und Wetter abhängigen Tugenden der Gerechtigkeit, der Tapferkeit, der Klugheit und der Selbstbeherrschung wurden dabei von einigen mehr, von anderen weniger verinnerlicht. Doch vor allem erzogen uns die Enge der Schulaula und der Mangel an Komfort zu einer vernunftgesteuerten Stallliebe, eine Eigenschaft, die sich für den Dienst an der Humanität als unerlässlich erweist. Folgen Sie also meinen elegischen Erinnerungen an die prägenden Oberschulerlebnisse in der 1970er Jahren und erwerben sie dabei mühelos das kleine Latinum und Graecum der Prämiumklasse!

 

 

 

Schulranzige Erinnerungen

 

Mir fehlt meine Schultasche mit all den Dingen drin, die zum Schulalltag gehörten: zerlesene Bücher, Hefte, Stifte, Taschentücher, das Pausenbrot, der Regenschirm von Knirps. Mir fehlt so viel aus der damaligen Zeit. Meine Mitschüler, einige Lehrer, der Schulweg, der Wandertag, die Klassenfahrt. "Ich habe all das Meinige bei mir", hatte Sokrates gesagt. Heute befindet sich alles für mich Wichtige in meinem Laptop, aber der ist lange nicht so schön wie mein Ranzen.

3285 Tage oder 78840 Stunden oder 4730400 Minuten, das kann doch nicht einfach so an mir vorbeigegangen sein. Zu vieles ist in meiner Erinnerung wegretuschiert. Nur der Gestank nach Ammoniak im Ausweichquartier Scharrerschule, der mich zum Brechen reizte, ist mir noch heute so gegenwärtig, dass ich ihn malen könnte. Warum erinnere ich mich kaum an etwas anderes? Irgendwann in jenen Jahren sind mir meine Erinnerungen abhandengekommen. Ich schreibe, weil ich hoffe, mich auf diese Weise wiederfinden zu können. Was ist damals vorgefallen? Genügt es, sich den Kopf zu zerbrechen, um das Vergangene wiederherzustellen? Ist es noch irgendwo abrufbar wie eine aus Versehen gelöschte Datei?

Ich bin in Worzeldorf, einem kleinen Ort im Süden von Nürnberg, geboren und aufgewachsen. Da meine Eltern hoch hinaus mit mir wollten, schickten sie mich auf eine höhere Schule nach Nürnberg. Das Heinz-Sielmann-Gymnasium hatte das Image, aus jedem Aal einen guten Kletterer zu machen, weswegen es meine Eltern für mich ausgewählten.

"Dort wird man dir endlich beibringen, wie das komplizierte Wiederkäuen funktioniert!" sagte mein Vater voller Optimismus.

1972 schickten mich also meine Eltern aufs Gymnasium nach Nürnberg. Dort blieb ich neun Jahre. Lern was, damit was aus dir wird! Der Gorilla Fritz im Nürnberger Tiergarten ist im gleichen Jahr wie ich im Kamerun geboren, sieht aber wesentlich vitaler aus. Heute denke ich, dass das Wort "lernen" keinen Imperativ besitzen sollte, denn lernen ist etwas Wunderschönes und man sollte es bis ans Lebensende gern und ohne Zwang tun.

Ich sollte also das Heinz-Sielmann-Gymnasium besuchen, mir war es Recht, Hauptsache ich musste nicht viel sprechen, weil mir ja sowieso keiner zuhörte. Um dieses Gymnasium zu erreichen, musste man am Dutzendteich vorbeifahren, ein beliebtes Ausflugsziel, das durch das Aufstauen mehrerer Bäche im Südosten Nürnbergs entstanden war. Im Sommer fuhren wir dort manchmal mit dem Ruderboot, das unser Vater für uns mietete. Am Rand war der See sehr flach und im dort gedeihenden Schilfrohr nisteten Rohrammern und Rohrdommeln, die ihre Jungen gegen den Angriff von Zwergbiebern verteidigen mussten.  An der Strandpromenade bekamen wir dann jedes Mal im "Park-Café-Wanner" ein Eis. Ich verband also durchaus positive Erinnerungen mit diesem Areal. Ich habe mich entschlossen, das kleine Mädchen aufzuspüren, das seinerzeit abhandengekommen ist. Was war der Grund für mein Verschwinden? Ich hatte mich in einen larvenartigen Zustand verpuppt. Warum? Ich weiß es nicht, möchte es aber herausfinden. Inzwischen ist mir nämlich klar geworden, dass meine damaligen Lehrer und Mitschüler einen ziemlich unvollständigen Eindruck von mir gehabt haben müssen. Dem möchte ich mit diesem Machwerk entgegenwirken und einiges ins rechte Licht rücken, was eventuell missverstanden worden ist.

Auf den Fotos aus der damaligen Zeit blicke ich wie eine griechische Tragödie drein. Immer mit verschränkten Armen, als würde ich etwas nicht an mich heranlassen wollen. Das gefällt mir jetzt. So traut sich keiner mehr, bei einem Selfie ins Objektiv zu blicken. Meine Augen gleichen schwarzen Löchern hinter den Brillengläsern. Eine Schaufensterpuppe, die man in die Ecke gestellt hatte, weil sie nicht gefallen wollte. Mager, eckig, freudlos. Ich könnte eigentlich stolz auf mich sein, den Mut gehabt zu haben, mich so fotografieren zu lassen. Ja, was war in jener Zeit in mir vorgegangen? Es gibt Personen, die auf jedem Foto einen gebührenden Platz zu haben scheinen, ich dagegen passte nicht ins Bild wie ein Mühlstein, der sich auf einem Schachbrett verirrt hatte. Ich war damals jedenfalls nicht Sabine Schmidt.

 

Ob ich auch heute noch alle meine Klassenkameraden vom Gymnasium aufsagen könnte? Das war ein kleines Wettspiel, das ich im Alter von 12 oder 13 Jahren mit meiner Schwester austrug: Wer mehr Namen in einer Minute aufzählen konnte. Meistens gewann meine Schwester. Mein Namensgedächtnis ließ schon damals sehr zu wünschen übrig. Mal sehen, was ich noch zustande bringe, ich muss mir wohl mit Spitznamen weiterhelfen, aber das ist ja auch viel sympathischer. Es war ein alles andere als monotoner zoologischer Garten, der eine Vielfalt an seltsamen Lebewesen hervorbrachte, nämlich meine Klassenkameraden und Lehrer: Da waren die Spottdrossel, das Thermometerhuhn, der Tapir, der Tigerwürger, die Aprileule, die Blauflügel-Prachtlibelle, das Trampeltier, der Schweinshirsch, die Rotwangen-Schildkröte, der Klunkerkranich, der Marabu, das Reh, die Eulenkopfmeerkatze und die Trottellumme. Für den Anfang gar nicht schlecht.

 

 

 

Das Biotop der Studienräte

 

Ich bin zwar nicht gern zur Schule gegangen, doch habe ich das Wissen, die Geschichten aus der Antike, das Entwickeln von Gedanken geschätzt, wobei ich mich wie eine Auserwählte fühlte, die daran teilhaben durfte, was große Denker vor Jahrhunderten der Nachwelt weitergeben wollten. Ich habe mich alldem über die Hintertreppen genähert, was mir auch heute noch der liebste Zugang zu allem ist, nicht durch den weihungsvollen Haupteingang.

Der erste Schultag am Heinz-Sielmann-Gymnasium war der 19. September 1972, der Tag, an dem die palästinensische Terrororganisation "Schwarzer September" einen israelischen Diplomaten in London durch eine Briefbombe tötete. Uns allen saß noch der Schreck vom Massaker in München bei den XX. Olympischen Spielen in den Knochen, als bewaffnete Mitglieder derselben Terror-Organisation elf Sportler der israelischen Mannschaft als Geiseln nahmen und später dann töteten. Aber wenigstens war es nach dem chinesischen Horoskop das Jahr der Wasser-Ratte, was sicherlich kein schlechtes Omen war.

Das Heinz-Sielmann-Gymnasium gehörte mit 1.600 Schülerinnen und Schülern zu den größten Gymnasien in Bayern und hatte einen guten Ruf. Es hatte sich nämlich zum Ziel gesetzt, den Schülern das Aufwachsen mit der Natur zu vermitteln. Außerdem die vom Aussterben bedrohten Sprachen Altgriechisch und Latein am Leben zu erhalten. Besonders Studienrat Seeadler sah seine Aufgabe darin, das Altgriechische zu retten, das bereits in freier Wildbahn so gut wie verödet war. Am Sielmann-Gymnasium läuteten die Alarmglocken und man gab sogar den Altphilologen neue Überlebenschancen.

Das Schönste an meiner neuen Schule war die große Aula Magna. Dort waltete in den Pausen die Klangherrschaft eines Affenhauses. Dem Architekten hatte die Errichtung eines beeindruckenden Musentempels vorgeschwebt: Man betrat das Gebäude durch einen langen überdachten Laufsteg, der direkt in die große Halle führte, die an ein Opernhaus mit drei holzverschalten Rängen erinnerte, und hatte den Eindruck in die gewaltige und mitreißende "Eroica" von Beethoven einzutauchen.

Hier sollte sich also in Zukunft die Oper "Der Widerspenstigen Zähmung" abspielen. Neun endlose Jahre des Ackerns erwarteten mich an dieser Werkstätte, wie das eine Schulszene darstellende Relief am Schulportal ahnen ließ:

"Scholae sunt officinae humanitatis" (Die Schulen sind Werkstätten der Menschlichkeit). Jeden Morgen war das der Eingang zum Olymp. Mal sehen, wie hoch ich heute springen kann, dachte ich fast optimistisch.

Ich trat mit einem abgebrochenen Schneidezahn an und beschloss deswegen, meinen Mund nie mehr aufzumachen. Das war beim Rollerfahren im Sommer passiert. Man teilte mich der Klasse 1C zu, die nicht im Hauptgebäude der Schule untergebracht war, sondern in einem Fertigflachbau, der Pavillon genannt wurde. Doch hat man sich darunter keinesfalls einen schimmernden Saal vorzustellen, dessen Dach auf Säulen ruht, sondern der schmucklose Fertigflachbau wurde scherzhaft so genannt – glaube ich. Diese aus Sparsamkeit errichtete Zusatzeinrichtung mit dem verglasten Eingangsbereich war durch einen überdachten Gang mit dem Hauptgebäude verbunden, so dass sich die Schüler bei Regen oder Schnee ohne nass zu werden hin- und herbewegen konnten. Praktisch war auch die unmittelbare Nähe zum Pausenhof, zu den beiden Turnhallen und zum Sportplatz. Die Schüler des Sielmann-Gymnasiums hatten also genügend Auslauf. Mein Lieblingsort war in den ersten Jahren die Aschenbahn mit innerem Fußballfeld und die Weitsprunganlage. An meinem Pausenbrot kauend ließ ich gern den Blick über die große Grünfläche schweifen, beobachtete die Form und die Farbe der vorbeiziehenden Wolken, sog den Geruch des frisch geschnittenen Rasens tief in die Lunge ein. Auf diese Weise verging die große Pause wie im Flug.   

 

Nachdem alle dreißig Schüler Platz genommen hatten, stellte sich uns der Klassleiter, Herr Pinselohr, vor. Er werde uns in Latein unterrichten. Er riet uns dringend zu einem Diarium. Darunter verstand man ein in Wochen und Unterrichtsstunden unterteiltes Minihausaufgabenheft, wo man die für jedes Fach anfallenden Hausaufgaben eintragen konnte. Noch am selben Nachmittag zogen meine Mutter und ich los, um im Herpersdorfer Schreibwarengeschäft dieses Kleinod der höheren Bildung einzukaufen. Das wurde nun Tag für Tag bis zur letzten Zeile von mir ausgefüllt. Und nicht nur das, ich arbeitete jedes Fach mit großem Pflichteifer Stunde für Stunde ab.

Herr Pinselohr war ein freundlicher, ironischer und souveräner Pädagoge. Er trug immer perfekt sitzende meist braune Anzüge und italienische Lederschuhe. Genauso elegant war seine Ausdrucksweise: "Wir lernen die Hin- und Herübersetzung, passt also im Unterricht auf!"