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Sabine Schmidt

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Beschreibung

Marie Dähnhardt: romantische Rebellin, verliebt in die Literatur folgt sie ihrem Vorbild, der französischen Schriftstellerin George Sand Doktor Friedrich Zabel: Casanova und Verführer Maries Gustav Julius: heimliche große Liebe Maries, Schöngeist, tragische Figur Max Stirner: Ehemann Maries, brillanter Intellektueller, im Leben ein Gescheiterter Fanny: Maries 15jährige Cousine, an die ihre Briefe gerichtet sind Wer Jane Austen liebt, wird auch dieses Buch mögen! 1838 reist die 20jährige Marie Dähnhardt gegen den Willen ihrer Familie nach Berlin, um dort ein unabhängiges Leben zu führen. Sie verkehrt in einem Debattierzirkel von liberalen und sozialistischen Geisteswissenschaftlern, Schriftstellern und Journalisten. Auf diese Weise verwirklicht sie ihr Recht auf Bildung, von dem die Frauen offiziell noch ausgeschlossen waren. Sie trägt gerne Männerkleidung, raucht Zigarren und treibt sich mit den Männern in Bordellen herum. Ein Universitätsstudium kann sie leider noch nicht in Angriff nehmen, weil Frauen davon noch bis 1900 ausgeschlossen sind. Um sich ihr Recht zu verschaffen, schreckt sie auch vor spektakulären Aktionsformen nicht zurück. Maries skandalumwitterte Verheiratung mit dem Philosophen Max Stirner zieht damals sogar eine Denunziation beim König nach sich und würde heute sicherlich sämtliche Titelseiten der Regenbogenpresse zieren.

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Sabine Schmidt

Der Mai war gekommen

Ein historischer Briefroman

Wir können nicht eine Seite aus dem Buche unsres Lebens reißen, aber wir können das ganze Buch ins Feuer werfen. George Sand BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Verführung

                                                                                                                        

Berlin, Juli 1838

Meine liebste Fanny!

 

In Kürze feierst Du Deinen fünfzehnten Geburtstag. Nein, ich habe es nicht vergessen, wie Du siehst. Zu Deinem Ehrentag wünsche ich Dir von ganzem Herzen das Allerbeste! Bleib’ gesund und behalte Deine unbekümmerte Art, die den Umgang mit Dir so erfrischend macht.

Du fehlst mir schrecklich, Fanny! Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht traurig an Dich denke. Ich vermisse besonders jenen Moment, wo ich nachmittags immer am Weg vor Eurem Landhaus heimlich auf Dich wartete. Hasso, Euer alter Hofhund, bemerkte mich jedes Mal sofort und sprang wie verrückt vor seiner Hütte hin und her. Damit sein lautes Bellen mich nicht verriet, warf ich ihm immer einen Happen hin. Dann erschienst Du, und für einen Augenblick ging es mir wieder gut. Dein Lachen, Deine Zärtlichkeit machten sogar Gadebusch erträglich. Ach, es ist so lange her! Ich war damals furchtbar überdreht und provozierte Tag für Tag neue Skandale. Wenn Dein Vater mich in der Nähe Eures Hauses erblickte, jagte er mich mit erhobenem Stock davon. Wenn er gewusst hätte, dass wir uns trotz seines Verbots täglich sahen!

Erinnerst Du Dich an jenen heißen Sommer, als ich fünfzehn war und Du zehn, wo unsere Freundschaft ein so dramatisches Ende gefunden hat? Ein bisschen nackte Haut hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Es erstaunt mich heute noch, wie wenig genügt, um ein paar Spießbürger auf die Palme zu bringen. Hinter Eurem Haus, im Obstgarten, hatte Deine Mutter einen großen Holztisch mit Stühlen hingestellt, wo wir nach wilden Verfolgungsjagden bei frischer Brause Erholung suchten.

Sie zeigte uns damals mit einer Engelsgeduld wie man Strümpfe strickt. Zur Fleißaufmunterung schenkte sie uns Wunderknäuel. Zwischen der Wolle hatte sie Belohnungen verborgen: goldene Fingerringe aus Messing mit bunten Glasdiamanten, Zuckerherzchen und andere Süßigkeiten. Doch ich hatte nicht die geringste Lust, mich für die Schweißfüße des Onkels abzumühen. Ich brachte die arme Tante fast zur Verzweiflung, indem ich alle paar Sekunden eine Masche fallen ließ. Wenn sie es dann endlich aufgab, uns das Handarbeiten beizubringen, stürmten wir los in den herrlichen Wald. Dort waren wir ganz uns selbst überlassen, und niemand hemmte unsere Freude. Vorwürfe wie „ so etwas tut ein anständiges Mädchen nicht!“ verhallten in alle Himmelsrichtungen.

Nachmittags begaben wir uns immer zu unserem kleinen leuchtenden See. Er war selbst in der stärksten Sommerhitze angenehm frisch und lag da, als würde er sich unter den Weiden verstecken wollen. Wir haben unsere hochgeschlossenen Kleider, die am Körper klebten, in unserem Ruderboot abgelegt. Dann haben wir uns in das klare Wasser gestürzt, das am Ufer im grünen Schilf noch sehr flach war. Dort habe ich Dich das Schwimmen gelehrt. Am Anfang hast Du Dich ängstlich an mich geklammert wie eine Ertrinkende. Dabei haben uns die Rohrdommeln äußerst argwöhnisch beobachtet. Sehr schnell hast Du begriffen, wie man sich mit den Beinen und den Armen rudernd fortbewegt. Der Rest ist dann ein Kinderspiel gewesen. Du hast von Tag zu Tag erstaunliche Fortschritte gemacht.

Ich liebe die Gegend um Gadebusch während der heißen Jahreszeit über alles: Wo man hinsieht ein gelbes Meer von Rapsblüten. Ab und zu taucht eine grüne Insel von Pappeln, Birken und Eichen auf mit einem zauberhaften See. Deine Haut ist von Tag zu Tag brauner geworden, eine nahtlose Bräune wie sie nur Eva im Garten Eden gehabt hat. Als wir wieder einmal ausgelassen und nackt, wie Mutter Natur uns hervorgebracht hat, uns in den Fluten erfrischten, hat uns Dein Vater erspäht. Der reine Zufall hatte ihn in unser herrliches Paradies verschlagen. Er hat eine drohende Haltung eingenommen und uns vom Ufer aus angedonnert: “Ich befehle euch strengstens, sofort das Wasser zu verlassen und eure Kleider anzulegen! So ein unzüchtiges Verhalten verdient die härteste Bestrafung. “

Erschrocken hast Du hinter meinem Rücken Schutz gesucht, um den bohrenden Blicken Deines Vaters auszuweichen. Ich habe keinerlei Furcht verspürt, sondern großen Verdruss. Du hast vor Angst angefangen zu zittern. Ich habe mit meinem großen diplomatischen Geschick versucht einen Ausweg zu finden.

„Onkel Franz, ich bitte Dich, hab’ doch ein bisschen Verständnis für unser harmloses Spiel! Diese Schwüle heute macht die Hitze besonders unerträglich. Deswegen suchen wir im Wasser etwas Kühlung. Ich glaube, es wird bald ein Gewitter geben. Leiste uns doch Gesellschaft! Ein erfrischendes Bad würde dir auch gut tun! Warum lässt du nicht auch ein paar überflüssige Hüllen fallen?“

Nur mit Mühe habe ich mir das Lachen verkneifen können.

 „Marie, Du hältst Dich wohl für ganz schlau. Aber ich bin nicht länger bereit, Deine Frivolitäten zu dulden. Ich habe zwar Deinem seligen Vater versprochen, mich um Dich zu kümmern, doch das Maß ist voll. Du kommst jetzt sofort aus dem Wasser und lässt Dich dann nie mehr bei uns blicken. Wenn ich Dich noch einmal erwische, wie Du Fanny auf die schiefe Bahn bringen willst, dann gnade Dir Gott!! Ich zähle bis drei. Eins...zwei...drei!“

Ich muss heute noch lächeln, wenn ich daran denke, wie er sich die Hände vor die Augen gehalten hat und wartete, bis wir uns die Kleider übergestreift hatten. Wahrscheinlich hätte er beim Anblick eines unbekleideten Frauenkörpers einen Herzanfall bekommen. Er hat Deine Hand gepackt und Dich mit großen Schritten nach Hause geschleppt. Nachts habe ich mich aus dem Haus meiner Mutter geschlichen und bin unter Dein Fenster gelaufen. Ich habe mit unterdrückter Stimme Deinen Namen gerufen, bis Du noch vom Schlaf benommen am Fenster erschienen bist.

„Eines verspreche ich Dir, Fanny, ich werde nicht dulden, dass sie uns auseinanderbringen. Ohne Deine Nähe halte ich es in diesem Nest nicht aus. Wer soll mich denn sonst daran erinnern, dass ich noch nicht tot bin?“

„Ich darf dich nie wieder sehen!“ hast Du mit weinerlicher Stimme erwidert!

„Papa hat geschworen, mich nicht mehr aus den Augen zu lassen.“

„Dann werde ich Dir eben schreiben. Du musst nur aufpassen, dass sie meine Briefe nicht finden. Schwörst Du, dass wir ewig Freundinnen bleiben werden?“

„Ja, hoch und heilig!“

Ich bin sehr stolz darauf, dass sie uns nicht entzweit haben. Zu wissen, dass Du stets an mich denkst, ist mir äußerst wichtig. Auch wenn es nur Briefe sind, die ich in der Hand halte. Denn hier in Berlin habe ich nur Dich, an die ich voller Sehnsucht denken kann. Glaube ja nicht, dass die ersten vier Wochen hier nur voller Sonnenschein gewesen sind. Ich habe Gadebusch nach einem hässlichen Streit mit meiner Mutter Hals über Kopf verlassen. Ich denke, Du wirst es erfahren haben. Meine Mutter hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, dass ich Hubert von Braunau heiraten sollte. Der Gutsbesitzer von Braunau würde am liebsten die Leibeigenschaft wieder einführen. Du kannst Dir vorstellen, wie ich auf diesen Sklavenhalter reagiert habe. Die zukünftige Frau von Braunau wird ihm vor Dankbarkeit die plumpen Füße küssen müssen, wenn er darauf verzichtet, ihr den Keuschheitsgürtel anzulegen! Dass so ein Relikt aus dem finsteren Mittelalter bei meiner Mutter um meine Hand angehalten hat, ist an sich schon eine Frechheit. Dein Vater bestärkte meine Mutter auch noch in der Hoffnung, dass die braunauschen Zuckerrüben ihren Lebensabend erheblich versüßen könnten. Denn die von meinem Vater hinterlassene Apotheke wirft nicht genügend ab für ihre „bescheidenen“ Ansprüche. Sie träumt seit Jahren von einem repräsentativen Haus mit Dienerschaft und eigener Equipage. Dass mir Junker Hubert überhaupt nicht gefallen wollte, hat sie mir sehr übel genommen. Das bisschen Unterwerfung sei ich ihr schuldig, nach dem, was sie alles für mich getan habe. Da blieb mir nichts anderes übrig, als ihr ins Gesicht zu sagen, dass sie den von Braunau doch selbst heiraten soll, wenn er ihr so gefällt. Daraufhin hat sie mich „verstoßen“. Ich habe die Auszahlung meiner Mitgift verlangt und habe Gadebusch verlassen.

„Von heute an habe ich keine Tochter mehr!“ rief sie hinter der Kutsche her.

 

Ich kann Dir gar nicht beschreiben, wie aufgeregt ich war, als wir durch das Brandenburger Tor in Berlin einfuhren.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, sie schimmerte durch die belaubten Zweige uralter Bäume und ließ den Boulevard Unter den Linden fast wie einen Hain wirken. Ich habe noch nie im Leben eine so prächtige Straße gesehen.

Hier in Berlin fiel die Vergangenheit wie eine Fessel von mir.

Ich habe bei der liebenswürdigen Familie eines Goldschmieds mit dem Namen Hintze eine billige Unterkunft gefunden. Sie besitzen ein geräumiges zweigeschossiges Haus in der Nähe des Schlosses. Ich teile das Zimmer mit der ältesten Tochter Gudrun. Zum Glück ist es auf die belebte Straße gerichtet. So liegen Gudrun und ich nicht selten Schulter an Schulter in dem hohen Fenster und beobachten aufmerksam das Treiben der Leute. Vor dem Fenster ist ein Blumenerker angebracht mit hellroten Geranien. Es ist eine Pracht am Morgen nach dem Aufstehen, die Gardinen zur Seite zu ziehen und die reichen Blüten im hellen Sonnenlicht zu bewundern.

Auch von außen wirkt das Haus sehr ansehnlich. An der Fassade ist ein stilisierter Rankenfries angebracht, der bei vielen Passanten Beachtung findet. Die Wohnräume befinden sich im ersten Stock, während die Werkstatt des Goldschmieds im Parterre liegt.

Neben Gudrun, die bereits achtzehn Jahre alt ist, besitzen die Hintzes noch zwei Töchterchen von drei und vier Jahren, die tagsüber von der Großmutter in Spitzenhäubchen beaufsichtigt werden, während die Goldschmiedin ihrem Mann im Geschäft hilft. Mein Liebling ist jedoch der kleine Engelbert, ein reizender Knabe von fünf Jahren. Ach ja, beinahe hätte ich den wichtigsten Hausbewohner vergessen: Polyphem, der furchterregende Menschenfresser. Keine Angst, es handelt sich nur um einen wunderschönen getigerten Kater, der den Hintzes eines Tages zugelaufen ist. Das Kätzchen hatte nur noch ein Auge, das andere war durch eine Infektion verloren gegangen. Daher der originelle Name. Polyphem ist ein niedlicher Zeitvertreib. Er schmiegt sich auf meinen Schoß, während ich in Oma Hintzes Lehnstuhl sitze, und lässt sich den ganzen Abend lang von mir das Fell kraulen. Sein Schnurren erfüllt die ganze Wohnstube wie eine entspannende Serenade.

Auch der Goldschmied ist mir äußerst sympathisch, wenn er in seinem Schlafrock zigarrerauchend die Zeitung liest und hin und wieder etwas Unverständliches zwischen den Zähnen hervorbrummelt.

Frau Hintze ist keine Schönheit, doch hat sie ein so angenehmes Wesen, dass sich jeder in ihrer Nähe gleich wohlfühlt. Vor dem Zubettgehen gegen 23 Uhr bringt sie Gudrun und mir fast jeden Abend eine Tasse dampfende Schokolade, und wünscht uns „süße“ Träume. Dann nähert sie sich mit ihrem frischen Gesicht und drückt auch mir einen Gutenachtkuss auf die Wange. Es ist als hätte mich eine gute Fee mit Frohsinn beschenkt. Nachdem wir die Kerzen auf unserem Nachttisch ausgeblasen haben, tuscheln Gudrun und ich noch lange miteinander. Du weißt gar nicht, wie viel Ablenkung diese herrliche Stadt bietet. Am Anfang war ich hauptsächlich damit beschäftigt, mich zurechtzufinden in dem verzweigten Straßenlabyrinth. Jetzt klappt es schon sehr gut und es kommt kaum noch vor, dass mir ein wichtiges Monument oder eine größere Straße unbekannt sind. Am liebsten gehe ich einfach ganz allein spazieren ohne ein richtiges Ziel. Die Berliner sind immer in Eile. Rasch müssen sie noch einige Einkäufe erledigen und hasten ohne nach links oder rechts zu sehen durch das Menschengewühl. Manchmal ruft mir einer zu: „Na, Frolleinchen, hamse Wurzeln jeschlajen? Was jibts denn da zu kieken?“ Ich glaube sie halten mich für jemanden, der dem lieben Gott den Tag stiehlt.

Dabei will ich doch nur den ersten Blick auf meine neue Heimat so lange es geht ausdehnen. Denn ich fürchte, dass beim zweiten Hinsehen die ganze Magie verschwindet, und sich mein Arkadien an der Spree als eine bloße Fata Morgana erweist. Ich habe nämlich leider feststellen müssen, dass hier größter Reichtum und äußerste Armut wie selbstverständlich nebeneinander existieren. Blickst Du nach links, siehst Du die feinsten Herrschaften in Brokat in ihrer vergoldeten Karosse eine halbe Million vergeuden, während rechts ein verkrüppelter Bettler nichts zu beißen hat.

Gestern traf ich auf eine arme Blumenfrau, die in Lumpen, doch mit einem freundlichen, rosigen Gesicht an einer staubigen Straßenecke stand. Sie bot für wenig Geld bunte Wiesensträuße an. Sie riefen in mir sofort eine liebe Erinnerung wach. Ich sah Dich ganz lebendig vor mir. Wenn sich demnächst ein Schmetterling auf Deine Schulter setzen sollte, dann tut er dies, weil er Dir eine Botschaft von mir zu überbringen hat: Fanny, ich hab’ Dich sehr lieb!

Einer meiner Lieblingsplätze ist der Lustgarten mit dem Blick auf das alte Museum und das königliche Schloss. Es tummelt sich ein buntes Gemisch aus allen Klassen, von gemeinen Soldaten über Kindermädchen mit ihren Kleinen bis zu Herrschaften im Galakleid. Unter der Woche gibt es jedoch Momente, wo keine Menschenseele zu sehen ist. Wenn ich mich einsam fühle, umarme ich einfach den kräftigen Stamm einer Eiche und denke an die Wipfel, die unseren See beschützen.

Gudrun ist bis über beide Ohren in einen jungen Leutnant verliebt. Die beiden treffen sich jeden Nachmittag in jenem erwähnten Lustgarten, wobei ich die Anstandsdame spielen muss. Ich tue so, als läse ich in einem Buch, doch in Wirklichkeit ist mein Blick voller Neugier auf das Tun der beiden Verliebten geheftet. Der Leutnant hat eine sagenhafte Technik beim Küssen, die mir die Röte ins Gesicht treibt, so dass ich verschämt den Blick noch tiefer in mein Buch versenke. Wenn der Leutnant wieder in die Kaserne zurückgekehrt ist, sehnt sich Gudrun immer ganz schrecklich nach ihm und drückt als Ersatz meine Hand an ihre Wange.

„Ach Marie, wenn du wüsstest.....“ haucht sie in mein Ohr! Ich stelle mir jedes Mal vor, wie es wäre, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Doch ich habe noch keinen Verehrer, mit dem ich durch den Lustgarten wandeln könnte.

Wenn Du das sehen könntest! Vor mir eröffnet sich eine herrliche Aussicht auf die Spree, während die Abenddämmerung heran naht. Am liebsten würde ich mich in einen Schwan verwandeln und mich von der Dämmerung zu Dir tragen lassen. Ich würde durch Dein Fenster hereinfliegen. Dann würden wir uns in die Arme sinken.

Oh, ich muss Schluss machen, denn vom Dom her ertönt das Zwanziguhrläuten. Die Hintzes erwarten mich sicher schon zum Abendessen, und ich habe wie immer einen Bärenhunger.

 

In Liebe Deine Marie

 

 

 

 

                                                                               Berlin, September 1838

 

Liebe Fanny!

 

Ich liege seit Stunden schlaflos im Bett und schreibe Dir beim schwachen Licht eines Kerzenstummels, der jeden Moment zu verlöschen droht. Gudrun schläft bereits tief und fest. Ich schicke Dir mit diesem Brief ein interessantes Buch. Ich hoffe, Dir bereitet Gutzkows „Wally, die Zweiflerin“ ebenso große Freude wie mir.  Die WALLY muss als der erste moderne deutsche Frauenroman angesehen werden und brachte dem Autor drei Monate Gefängnis ein! Ganz Deutschland spricht von dem Buch, doch es erwies sich als äußerst schwierig ein Exemplar davon zu erwerben, da es von der Zensur verboten wurde. Nachdem ich das Buch in allen Buchhandlungen vergeblich gesucht hatte, erhielt ich von einem Philosophiestudenten den Rat, es doch einmal bei einem Buchhändler in der Friedrichstraße zu versuchen. Dort entdeckte ich das heißbegehrte Meisterwerk. Ein zweites Exemplar erwarb ich sofort in der Absicht, Dir damit eine Freude zu machen. Hab’ nur Acht, dass Dich keiner damit erwischt, denn die Lektüre ist strafbar, was ihren Reiz natürlich verdoppelt! Ich trage das Buch überall mit hin und habe mir wichtige Passagen unterstrichen.

Ich wäre selig, wenn Wally auch für Dich zu einer lieben Freundin würde. Sie ist es wert, denn sie ist rebellisch und verliert trotzdem nicht ihre Würde.

Als ihr Vater sie gegen ihren Willen mit einem ungeliebten Mann vermählt, reagiert Wally mit Verwegenheit: Sie brennt mit ihrem Geliebten Cäsar durch, um fortan mit ihm in wahrer Leidenschaft des Herzens zu leben. Urteile selbst! Dass der Verfasser noch dazu ständig durch Polizei und Gerichte verfolgt wird und ruhelos von Ort zu Ort hetzt, erhebt das Buch zu einem wahren Denkmal der Literatur. Ach, könnten wir nur wieder einmal zusammen sein und unter unserem Lieblingsbaum lesen. Jene Gegend, ja auch Gadebusch werde ich wohl so bald noch nicht wiedersehen!

 

 Mögen alle Deine Wünsche in Erfüllung gehen!

 Deine treue Freundin Marie