Aller Heiligen Fluch - Elly Griffiths - E-Book
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Aller Heiligen Fluch E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Manche Geheimnisse lassen sich nicht begraben – Dr. Ruth Galloways vierter Fall. Ruth Galloway, forensische Archäologin und alleinerziehende Mutter, will nur bei der feierlichen Öffnung des Sarges des legendären Bischofs Augustin im Museum von King's Lynn dabei sein. Doch als sie ein wenig vor der Zeit den Ausstellungsraum betritt, findet sie neben dem Sarg eine Leiche: den Museumskurator. Wurde er ermordet? Schon steckt Ruth mitten in den Ermittlungen, obwohl sie doch eigentlich den Geburtstag ihrer Tochter vorbereiten muss. Da ist es wirklich keine Hilfe, dass auch ihre große Liebe DCI Harry Nelson auf den Fall angesetzt ist. Bald verstricken sich die beiden in einem undurchdringlichen Geflecht aus Intrigen, Seilschaften und Legenden. Und Ruth muss sich einmal mehr für oder gegen Harry entscheiden – nur dass diesmal ihr Überleben davon abhängt. «Elly Griffiths hat es verstanden, eine ganz neue Figur zu erschaffen, die vorzüglich zur Serienheldin taugt.» NDR

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Seitenzahl: 481

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Elly Griffiths

Aller Heiligen Fluch

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Über dieses Buch

Ruth Galloway, forensische Archäologin und alleinerziehende Mutter, will nur bei der feierlichen Öffnung des Sarges des legendären Bischofs Augustin im Museum von King’s Lynn dabei sein. Doch als sie ein wenig vor der Zeit den Ausstellungsraum betritt, findet sie neben dem Sarg eine Leiche: den Museumskurator. Wurde er ermordet? Schon steckt Ruth, die eigentlich die Geburtstagsparty für ihre kleine Tochter organisieren muss, mitten in den Ermittlungen. Da ist es wirklich keine Hilfe, dass auch ihre große Liebe DCI Harry Nelson auf den Fall angesetzt ist, den sie nach dem Willen seiner Frau eigentlich gar nicht mehr treffen darf. Bald verstricken sich die beiden in einem undurchdringlichen Geflecht aus Intrigen, Seilschaften und Legenden. Und Ruth muss sich einmal mehr für oder gegen Harry entscheiden – nur dass diesmal ihr Überleben davon abhängt …

Vita

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind drei Krimis mit der forensischen Archäologin Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus» und «Gezeitengrab».

Für Nancy und Anita

Prolog

31. Oktober 2009

Der Sarg verstößt gegen jede Gesundheits- und Sicherheitsvorschrift. Er nimmt die ganze Eingangshalle ein und versperrt die Sicht auf den ausgestopften Alk, die Karte von King’s Lynn aus dem 19. Jahrhundert sowie das recht verschmutzte Ölgemälde, das Lord Percival Smith zeigt, den Gründer des Museums. Die hölzernen Seitenwände des Sargs sind aufgequollen und faulig und wirken, als wollten sie jeden Moment bersten und ihren Inhalt auf schauerlichste Weise hervorspeien. Jeder Besucher hätte sich an dem Ding mit Sicherheit gestört, wenn nicht sogar ernsthaft davor geekelt. Doch wie an den meisten Tagen sind auch heute keine Besucher im Smith-Museum. Neil Topham, der Museumsdirektor, steht ganz allein am hinteren Ende des Eingangsbereichs und mustert ein wenig hilflos die unheilschwangere Kiste, die da vor ihm steht. Die beiden Polizisten, die sie bis hierher geschleppt haben, machen nicht den Eindruck, als wollten sie sie noch viel weiter schleppen. Schwitzend und entnervt stehen sie in ihrer Schutzkleidung unter dem verstaubten Kronleuchter, einer Schenkung von Lady Caroline Smith (1884–1960).

«Hier können Sie den aber nicht lassen», sagt Neil.

«Es hat geheißen, wir sollen ihn ins Smith-Museum bringen», gibt der Jüngere der beiden, Police Constable Roy «Rocky» Taylor, zurück.

«Aber Sie können ihn doch nicht hier in der Eingangshalle stehen lassen!», protestiert Neil. «Er muss in den Saal für Lokalgeschichte.»

«Ist das oben?», fragt der Ältere, Sergeant Tom Henty.

«Nein.»

«Gut, oben ist nämlich bei uns nicht drin. Verbietet uns die Gewerkschaft.»

Neil weiß nicht genau, ob das ein Witz sein soll. Sind Polizisten überhaupt in einer Gewerkschaft? Trotzdem tritt er beiseite, während die beiden Männer ihre Last erneut schultern und sie, unter den Blicken zahlloser Glasaugen, durch die naturgeschichtliche Abteilung in einen kleineren Saal tragen, den ein Wandgemälde von Norfolk im Wandel der Jahrhunderte ziert. Mitten im Raum wartet ein aufgebockter Tisch, und die Polizisten stellen den Sarg darauf ab.

«Er gehört Ihnen», sagt Taylor schwer atmend.

«Aber machen Sie ihn bloß nicht auf», warnt Henty, «solange die Obermuftis noch nicht da sind.»

«Natürlich nicht», sagt Neil, obwohl er die Holzkiste, deren rissiger Deckel winzige Einblicke in das darin verborgene Grauen gewährt, fasziniert, fast schon gierig betrachtet.

«Superintendent Whitcliffe ist schon auf dem Weg.»

«Kommt der Boss auch?», fragt Taylor. Whitcliffe mag zwar der Polizeichef von Norfolk sein, doch für Taylor und seine direkten Kollegen ist der «Boss» auf immer und ewig Detective Inspector Harry Nelson.

«Nee», meint Henty. «So was ist nicht sein Ding. Reporter und das ganze Gesumse. Du weißt doch, der Boss kann Presse nicht ausstehen.»

«Es kommt auch jemand von der Universität», wirft Neil ein, «Doktor Ruth Galloway, die Leiterin des Fachbereichs Forensische Archäologie. Sie soll die Sargöffnung überwachen.»

«Die kenn ich», sagt Henty. «Die versteht ihr Geschäft.»

«Das ist alles sehr aufregend», sagt Neil und misst den Sarg verstohlen mit einem weiteren begehrlichen Blick.

«Wenn Sie’s sagen», meint Henty. «Auf geht’s, Rocky. Zurück an die Arbeit. Kein Frieden für die Gottlosen.»

1

Doktor Ruth Galloway, die Leiterin des Fachbereichs Forensische Archäologie an der University of North Norfolk, verschwendet gerade keinen Gedanken an Särge oder Reporter oder auch nur an die Frage, ob sie im Smith-Museum auf DCI Harry Nelson treffen könnte. Stattdessen rast sie in King’s Lynn durch den örtlichen Supermarkt und überlegt, ob Schokokekse sie als schlechte Mutter dastehen lassen könnten und wie viel Wein vier Mütter nebst allfälligen Lebenspartnern wohl trinken. Ruths Tochter wird morgen ein Jahr alt, und Ruth hat sich, ganz gegen ihre eigene Überzeugung, überreden lassen, eine Geburtstagsparty für sie zu geben. «Sie wird sich doch gar nicht daran erinnern», hat Ruth ihrer besten Freundin Shona gegenüber gejammert, die im fünften Monat schwanger ist und der das künftige Mutterglück aus jeder Pore strahlt. «Aber du», erwiderte Shona. «Außerdem ist es doch ein schöner Anlass. Kates erster Geburtstag. Es gibt Kuchen, sie kann ihre Geschenke auspacken und mit ihren kleinen Freunden spielen.»

«Kate spielt aber nicht mit ihren Freunden», gab Ruth zurück. «Meistens haut sie ihnen nur Bauklötze auf den Kopf.» Trotzdem hat sie sich schließlich überzeugen lassen. Und etwas in ihr glaubt tatsächlich, dass es ein schöner Anlass werden könnte, eine seltene Gelegenheit, sich einfach zurückzulehnen, Kate zuzuschauen, wie sie Geschenkpapier zerreißt und sich mit ungesunden Zusatzstoffen vollstopft, und dabei zu denken: Eigentlich habe ich das mit dem Muttersein doch gar nicht so schlecht hingekriegt.

Während sie an den Getränkeregalen vorbeirennt, fällt Ruth zum ersten Mal auf, dass der ganze Supermarkt den Mächten der Finsternis anheimgefallen ist. Hexenbesen und -kessel machen Plastikkürbissen und Vampirgebissen, die im Dunkeln leuchten, den Regalplatz streitig. Von der Decke hängen Fledermäuse, und als Ruth um die letzte Ecke biegt, findet sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer lebensgroßen Gestalt mit Hexenumhang, Hexenhut und einer Maske, die (recht überzeugend, das muss man ihr lassen) auf Edvard Munchs Schrei basiert. Ruth unterdrückt ihrerseits einen Schrei. Natürlich, es ist ja Halloween. Kate hat es um Haaresbreite vermieden, am 31. Oktober zur Welt zu kommen, was, nachdem sie bereits einen heidnischen Patenonkel hat, auch wirklich ein Omen zu viel gewesen wäre. Stattdessen ist Ruths Tochter am 1. November geboren, an Allerheiligen, wie der katholische Priester sagen würde, den Ruth zu ihrem eigenen anhaltenden Erstaunen gewissermaßen als Freund betrachtet. Sie selbst glaubt weder an Gott noch an den Teufel, aber es kann sicher nicht schaden, überlegt sie sich, während sie ihre Einkäufe auf das Kassenband türmt, den einen oder anderen Heiligen auf seiner Seite zu haben. Komisch, dass der Tag der Heiligen direkt auf den Tag der Toten folgt. Oder vielleicht auch nicht. Im Grunde sind Heilige ja nichts anderes als Tote. Und Ruth weiß selbst nur zu gut, wie schmal der Grat zwischen Heiligen und Frevlern oft sein kann.

Sie lädt die Einkäufe in ihr treues, klappriges Auto. Zwei Uhr. Um drei muss sie im Museum sein, es bleibt also keine Zeit, vorher noch heimzufahren. Hoffentlich schmelzen die Schokokekse nicht im Kofferraum. Aber es ist ja nicht heiß heute, wenn auch sehr mild für Oktober. Ruth trägt eine schwarze Hose und einen schwarzen Blazer. Dazu schlingt sie sich noch einen langen grünen Schal um den Hals und vertraut auf ihr Schicksal. Natürlich werden im Museum auch Fotografen sein, aber wenn sie Glück hat, kann sie sich vielleicht hinter Superintendent Whitcliffe verstecken. Unter normalen Umständen hätte sie gar keine Chance gehabt, zu einer solchen Veranstaltung zu gehen. Phil, ihr Chef, liebt das Rampenlicht und ist jedes Mal ganz vorne mit dabei, wenn sich irgendwo die Presse ankündigt. Vor zwei Jahren, als die Sendung Time Team von einer römischen Ausgrabungsstätte in der Nähe berichtete, hat Phil sich vor jede Kamera gedrängelt, während Ruth im Graben hocken blieb. «Das war unfair», kommentierte Shona, die zwar mit Phil liiert, sich aber seiner Fehler durchaus bewusst ist. «Schließlich warst du doch die Expertin, nicht er.» Aber Ruth hat es nicht weiter gestört. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt; sie forscht lieber, hält sich im Hintergrund und sichtet sorgfältig die Beweise. Außerdem sieht man vor der Kamera angeblich drei Kilo schwerer aus, und darauf kann Ruth mit ihren fast 82 Kilo nun wirklich verzichten.

Doch jetzt ist Phil bei einer Konferenz, und deshalb muss Ruth der feierlichen Sargöffnung beiwohnen. Sonst würde sie so etwas meiden wie der Teufel das Weihwasser. Sie mag keine öffentlichen Auftritte und hat ein ausgesprochen ungutes Gefühl dabei, zur besten Sendezeit live im Fernsehen (nun ja, im Regionalfernsehen) einen Sarg zu öffnen. Wie hat Erik immer gesagt? «Hüte dich davor, die Ruhe der Toten zu stören.» Erik Anderssen, Erik der Wikinger, Ruths Doktorvater an der Universität und noch Jahre später ihr Mentor und großes Vorbild. Inzwischen sind ihre Gefühle für Erik deutlich ambivalenter, doch das hindert sie nicht daran, in erschreckend regelmäßigen Abständen seine Stimme im Ohr zu haben. Für Archäologen gehört es natürlich zum Berufsrisiko, die Ruhe der Toten zu stören, aber Ruth legt großen Wert darauf, Knochen immer mit Respekt zu behandeln, ganz gleich, wie lange sie schon tot sind. Einen albtraumhaften Sommer lang hat sie Kriegsgräber in Bosnien untersucht, Stätten, an denen die häufig nur wenige Monate zuvor getöteten Leichen einfach in Gruben geworfen worden waren, um in der Sonne zu verwesen. Sie hat die Leiche eines kleinen Mädchens ausgegraben, das vor mehr als zweitausend Jahren, in der Eisenzeit, gestorben war und um dessen gut erhaltenes Handgelenk noch ein aus Gras geflochtenes Armband lag. Sie hat römische Leichen unter Hausmauern entdeckt, Opfergaben an Janus, den zweigesichtigen Gott, und sie hat die Skelette von Soldaten freigelegt, deren Ermordung erst siebzig Jahre zurücklag. Aber nie hat sie sich gestattet zu vergessen, dass sie es mit Menschen zu tun hatte, die einmal gelebt haben, einmal geliebt wurden. Ruth glaubt nicht an ein Jenseits, und umso wichtiger ist es ihrer Ansicht nach, menschlichen Überresten im Diesseits Respekt entgegenzubringen. Sie sind schließlich alles, was bleibt.

Der Holzsarg, in dem man den Bischof Augustine Smith vermutet, kam bei den Bauarbeiten für einen neuen Supermarkt in King’s Lynn zum Vorschein. Auf dem Grundstück, einem seit Jahren vernachlässigten Industriegelände, hatte früher einmal eine Kirche gestanden. Das Gotteshaus, das den recht romantischen Namen St. Mary Outside the Walls trug, war im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden, und in den Fünfzigern hatte man es ganz abgerissen, um Platz für eine Fischkonservenfabrik zu schaffen. Auch die Fabrik verfiel schließlich, und nun wird dort ein nagelneuer Supermarkt gebaut. Da es sich aber um ein historisches Grundstück handelt, mussten die Bauarbeiter zunächst die Feldarchäologen hinzuziehen, und die haben erwartungsgemäß die Grundmauern einer mittelalterlichen Kirche entdeckt. Durchaus nicht erwartungsgemäß war allerdings der weitere Fund unter dem einstigen Hochaltar: ein Sarg, der aller Vermutung nach die sterblichen Überreste besagten Bischofs aus dem 14. Jahrhundert enthält.

Die Entdeckung war gleich aus mehreren Gründen spektakulär: Die Kirche ist im Domesday Book verzeichnet, und Bischof Augustine spielt seinerseits eine große Rolle in einer Chronik aus dem 14. Jahrhundert, die in der Kathedrale von Norwich aufbewahrt wird. Eigentlich war man immer davon ausgegangen, Augustine, einer der ersten Bischöfe überhaupt, liege dort in der Kathedrale beerdigt. Was hatte er also unter einer relativ unbedeutenden Gemeindekirche in King’s Lynn verloren? Doch sowohl die Inschrift auf dem Sarg als auch die Datierung des Holzes weisen eindeutig auf Augustine hin. Der nächste Schritt wäre eine Radiokarbondatierung der Knochen, und irgendwann wurde beschlossen, den Sargdeckel öffentlich zu lüften – vor den Augen der versammelten Lokalprominenz, darunter auch einiger Mitglieder der Familie Smith.

Und das ist der andere Grund. Die Familie Smith ist immer noch wohlauf und bester Dinge und in Norfolk ansässig. Im Lauf der Jahrhunderte hat sie katholische Märtyrer und protestantische Verräter hervorgebracht, sie wurde von Elisabeth I. geadelt und unternahm den glücklosen Versuch, King’s Lynn im Bürgerkrieg für die Königstreuen zu halten. Lord Danforth Smith, der derzeitige Träger des Titels, trainiert Rennpferde und ist, wenn auch nicht ganz freiwillig, eine örtliche Berühmtheit. Sein Sohn Randolph, der sich nie ohne eine amerikanische Schauspielerin oder einen russischen Tennisstar im Arm sehen lässt, geht deutlich entspannter mit der öffentlichen Aufmerksamkeit um und macht regelmäßig die Klatschspalten unsicher. Die Smiths früherer Zeiten waren da schon von ernsthafterer Gesinnung, überall in Norfolk finden sich sichtbare Zeichen ihrer Nächstenliebe. Neben dem Museum gibt es einen Smith-Flügel im Krankenhaus sowie die Sammlung Smith oben auf der Burg. An Ruths Universität gibt es sogar eine Smith-Professur für Lokalgeschichte, deren Träger allerdings seit Jahren nicht mehr gesichtet wurde. Ruth hat den Verdacht, dass er längst verstorben ist.

Sie stellt ihre Rostlaube vor dem Museum ab. Der Parkplatz neben dem Gebäude ist völlig leer. Ruth ist früh dran; es ist erst Viertel nach zwei, doch die Zeit reicht trotzdem nicht, um nach Hause und wieder zurück zu fahren. Da kann sie auch ins Museum gehen und sich dort noch ein bisschen umschauen. Ruth liebt Museen – zum Glück, denn als Archäologin verbringt sie mehr als genug Zeit damit, in verstaubte Glasvitrinen zu schauen. Sie weiß noch, wie sie als Kind das Horniman-Museum in Forest Hill besucht hat. Das war ein magischer Ort voller Masken und ausgestopfter Vögel. Wenn sie es recht bedenkt, war das Horniman-Museum wahrscheinlich sogar der Ort, der ihr Interesse für die Archäologie geweckt hat: Es gab dort nämlich eine Sammlung von Werkzeugen aus Feuerstein, darunter auch einige aus Grimes Graves in Norfolk. Sie erinnert sich, wie erschüttert sie war, als ihr klarwurde, dass diese merkwürdig geformten Steinstücke tatsächlich einmal von jemandem verwendet worden waren, einem Menschen, der vor mehreren tausend Jahren gelebt hat. Der Gedanke, dass man tatsächlich hingehen und etwas ausgraben konnte, was so alt war, dass dieses rätselhafte Geschöpf namens Steinzeitmensch es hergestellt und zurechtgeklopft hatte – dieser Gedanke verursacht ihr bis heute Gänsehaut und hat ihr über zahllose langwierige und erfolglose Ausgrabungen hinweggeholfen. Da ist immer die Hoffnung, unter dem nächsten Erdklumpen könnte es sich finden, das Objekt – verwittert und nur für die Augen der Expertin erkennbar –, das das Denken der Menschheit auf immer verändern wird. Ruth kann selbst ein paar glückliche Funde für sich verzeichnen. Und doch ist da immer die verlockende Vorstellung von der einen, der ganz großen Entdeckung, von der Tafel neben der Glasvitrine: «Entdeckt von Doktor Ruth Galloway», von den Artikeln, den Büchern … Sie steht vor dem Museum.

Das Horniman-Museum ist klein und doch auf seine Weise eindrucksvoll, mit einem Uhrenturm vor und einem gläsernen Treibhaus hinter dem Gebäude. Das Smith-Museum jedoch ist ganz anders, ein niedriger Backsteinbau, eingezwängt zwischen zwei Bürohäusern. Das vorstehende mattrote Giebeldach sieht aus, als hätte sich das Haus einen Hut tief in die Stirn gezogen. Ein paar Stufen führen zu einer rot gestrichenen Tür hinauf, an der ein vielversprechendes Schild den Besucher «Willkommen!» heißt. Ruth öffnet die Tür und findet sich in einer kleinen Eingangshalle wieder, die von einem ausgestopften Vogel im Käfig und dem Porträt eines sichtlich missgelaunten Herrn mit Perücke dominiert wird. An einer Pinnwand hängen ein paar vergilbte Prospekte, und auf einem Tisch liegt ein Stapel Kopien nebst dem vielleicht etwas optimistischen Hinweis «Für Schulklassen». Doch nichts weist darauf hin, dass hier demnächst ein Medienereignis stattfinden soll. Keine Häppchen, kein Wein (dabei erinnert sich Ruth genau, dass von «Bewirtung» die Rede war), keine Pressemappen, noch nicht einmal ein Plakat, das die große Eröffnung des Bischofssargs ankündigt. Der halbvergilbte Kronleuchter an der Decke klirrt noch leise im Luftzug, den Ruth mit sich hereingebracht hat. Sonst ist es völlig still.

 

Ruth tritt durch die Schwingtür und steht in einem langgezogenen Saal, der zu beiden Seiten bis an die Decke mit Glasvitrinen bestückt ist. Fenster gibt es nicht, und die einzige Beleuchtung kommt von den Vitrinen, die in einem schaurigen Phosphorlicht erstrahlen. Ruth bleibt vor einem Schaukasten stehen. «Uhu», erklärt das Hinweisschild, und drinnen sitzt ein großer ausgestopfter Vogel, der Ruth vorwurfsvoll mustert. Rasch geht sie weiter, wird aber das Gefühl nicht los, dass der Blick des Uhus ihr weiterhin folgt. Die nächste Vitrine, «Mantelmöwen», zeigt einen Möwenschwarm, der gerade über ein Lamm herfällt. Die Schnäbel der Vögel sind mit künstlichem Blut beschmiert, und das Lamm blickt mit resigniert-zynischer Miene zu ihnen empor. Ein paar Meter weiter steht man plötzlich mitten im Wald: Verstaubte Füchse spähen in braun ausgemalte Erdlöcher, Eichhörnchen sind an Baumstämmen befestigt, Dachse mustern mit glasigem Blick mottenstichige Kaninchen, und an einem Pappfelsen lehnt ein dreibeiniges Reh. Unwillkürlich geht Ruth immer schneller. Fell und Federn fließen ineinander, ihre Schritte hallen auf den Bodenfliesen.

Sie geht quer durch den Saal, um in die Vitrinen auf der anderen Seite zu schauen. Hier weicht die Taxidermie dem Halloween-Feeling. Die Tiere auf dieser Seite sind nur Skelette, ihre zarten Knochen hängen wie Mobiles vor blau gestrichenen Wänden, die den Himmel darstellen, weiße Wölkchen und V-förmige Vogelschwärme inbegriffen. Die Große Otterspitzmaus, die Zwergspitzmaus, der Riesengoldmull, der Westeuropäische Igel. Sie sehen alle gleich und ziemlich traurig aus, wie sie da neben ihren kleinen getippten Namensschildern hängen. Die größte Vitrine beherbergt ein Skelett, das sich im Vergleich zu den anderen gewaltig ausnimmt. Ruth ist erstaunt, dass es sich dem Schild zufolge nur um ein Hauspferd handelt. Der längliche Schädel mit seinen großen Zähnen grinst sie aus dem Dämmerlicht an. Ruth, die eine Schwäche für Pferde hat, lächelt mitfühlend zurück und eilt weiter.

Am Ende der Galerie hat sie statt Fliesen plötzlich Teppich unter den Füßen und stellt überrascht fest, dass sie sich in einem rot tapezierten viktorianischen Schreibzimmer befindet. Über einem aufgemalten Kamin hängt ein Hirschkopf, und am Schreibtisch sitzt ein Mann, der mit missbilligend gerunzelter Stirn seine Feder ins Tintenfass taucht.

«Oh, Verzeihung …», sagt Ruth und merkt erst dann, dass die Augen des Mannes verstaubt sind und ihm ein Arm fehlt. Ein Absperrseil trennt sie von der Puppe an ihrem Schreibtisch, doch Ruth beugt sich darüber, um die Hinweistafel zu lesen:

Lord Percival Smith, 1830–1902, Abenteurer und Tierpräparator. Die meisten Exponate des Museums wurden von Lord Smith im Lauf seines ereignisreichen Lebens selbst erworben. Seine Liebe zur Welt der Natur offenbart sich in seiner großartigen Sammlung von Tieren und Vögeln, die er größtenteils eigenhändig geschossen und ausgestopft hat.

Eigenartige Methode, seine Liebe zur Welt der Natur zu zeigen, indem man auf sie schießt. Ruth registriert die beiden Gewehre, die über der Wachsfigur von Lord Smith an der Wand hängen. Lebendig oder tot, mit dem ist nicht zu spaßen.

Zwei Wege führen aus Lord Smiths Studierzimmer heraus. Über dem einen steht «Sammlung Neue Welt», über dem anderen «Lokalgeschichte». Ruth zögert, fühlt sich ein bisschen wie Alice im Wunderland. Ein leises Geräusch, wie ein Flüstern oder Flattern, lockt sie schließlich zur Lokalgeschichte. Eine tröstliche Sammlung von Kunstgegenständen aus Norfolk, genau das braucht sie jetzt. Sie kann nur hoffen, dass dort keine Wachsfiguren und ausgestopften Tiere mehr warten.

Der Wunsch wird ihr erfüllt. Der Saal für Lokalgeschichte ist weitgehend leer, bis auf einen Sarg auf einem aufgebockten Tisch. Neben dem Sarg, auf dem Boden, liegt ein Mann. Durchs offene Fenster weht ein Luftzug herein und blättert in den Seiten eines Museumsführers, der ebenfalls auf dem Boden liegt. Es klingt wie das Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels.

2

Der Mann liegt mit angezogenen Beinen auf der Seite, in einer Art Embryohaltung. Ruth fasst nach seiner Hand: noch warm. Ist ein Puls zu spüren? Sie kann keinen finden, doch ihre eigene Hand ist mit einem Mal schweißnass, und sie weiß nicht mehr genau, wo sie eigentlich suchen soll. Warum hat sie diesen Erste-Hilfe-Kurs bloß nie belegt? Sie merkt, dass sie die Luft anhält, und zwingt sich weiterzuatmen, ein und aus, durch Mund und Nase. Wenn sie jetzt umkippt, ist auch niemandem geholfen. Vorsichtig dreht sie den Mann um und ist gleich doppelt geschockt, so sehr, dass sie fast wieder zu atmen aufhört.

Das Gesicht ist voller Blut, und es ist ein Gesicht, das sie kennt.

Neil Topham, der Museumsdirektor, der einmal bei einem ihrer Vorträge zur Konservierung von Knochen war. Der höfliche, bescheidene Neil, der sie hin und wieder wegen eines Exponats um Rat gefragt hat. Und der jetzt hier, mitten in seinem Museum, auf dem Boden liegt, Nase und Mund blutverschmiert.

Mit zitternden Händen tastet Ruth nach ihrem Handy. Großer Gott, wenn sie es bloß nicht im Wagen gelassen hat! Nein, da ist es. Sie wählt die Notrufnummer und bestellt einen Krankenwagen. Als sie nach der Anschrift gefragt wird, ist ihr Kopf plötzlich völlig leer, und sie kann nur noch quäken: «Smith-Museum. Bitte kommen Sie schnell!» Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt gelassen und ruhig, fast schon ein wenig gelangweilt. «Ein Wagen ist unterwegs.» Ruth beugt sich näher an Neils Mund heran. Sie hört und fühlt keinen Atem. Doch als sie ihm eine Hand auf die Brust legt, spürt sie einen Herzschlag, schwach und unregelmäßig zwar, aber doch unverkennbar. Halt durch, Neil, ermahnt sie ihn stumm. Ob sie ihn vielleicht anders hinlegen soll? Aber in den Büchern steht doch immer, das solle man gerade nicht tun. Verzweifelt sieht sie sich um. Über ihnen ragt dunkel und dräuend der Bischofssarg auf. Sonst ist nichts im Raum, bis auf einen kleinen Schaukasten in einer Ecke und einen einzelnen Männerschuh, direkt neben dem Fenster.

Was ist bloß mit Neil passiert? Hatte er etwa einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall? Aber er ist doch noch jung! Junge Männer fallen nicht so einfach tot um. Erst jetzt kommt Ruth auf den Gedanken, dass Neils Unfall womöglich keiner natürlichen Ursache geschuldet ist. Wieder sieht sie sich um. Die Seiten des Museumsführers flattern immer noch hin und her. Durch das offene Fenster hört sie den Straßenverkehr, die gedämpften Rufe von Kindern im Park. Wieso steht das Fenster überhaupt offen?

Wieder greift Ruth nach dem Handy und wählt mit immer noch zitternden Händen die Nummer der Polizei.

 

«Es ist im Smith-Museum, Boss.»

«Was?»

DCI Nelson sitzt am Steuer, und sein Mitarbeiter, Detective Sergeant Clough, telefoniert. Das entspricht nicht ganz der üblichen Rollenverteilung: Normalerweise fährt der rangniedrigere Beamte. Aber Nelson hält es auf dem Beifahrersitz nicht aus. Bei dieser unerwarteten Nachricht dreht er sich zu Clough um, und der Wagen schlingert von der Fahrbahn und verfehlt nur um Haaresbreite ein Motorrad und einen Rollstuhl. Clough nimmt sich vor, sich beim nächsten Mal selbst ans Steuer zu setzen. Die Fahrkünste seines Chefs bzw. ihr Nichtvorhandensein sind längst legendär.

«Die Leiche. Die ist im Smith-Museum.»

Nelson und Clough waren gerade auf dem Rückweg von Felixstowe, wo sie einem letztlich unergiebigen Hinweis auf einen Drogenschmuggler-Ring nachgegangen sind, als der Notruf kam, in King’s Lynn sei eine Leiche gefunden worden. Die Umstände deuteten auf Fremdeinwirken hin, und Nelson, der im Landkreis für Mordermittlungen zuständig ist, hat sich gleich auf den Weg gemacht. Erst als sie bereits am Stadtrand sind, hat Clough endlich alle Einzelheiten zusammenbekommen. Jetzt brummt er nur nervtötend in sein Telefon, und Nelson bringt den Wagen erneut ins Schlingern.

«Was denn? Was?»

«Es ist der Museumsdirektor, Boss. Im Museum sollte doch diese Riesensause steigen, mit Sargöffnung und so. Wo Sie nicht hinwollten, wissen Sie noch?»

«Und ob ich das noch weiß», knurrt Nelson.

«Also, etwa eine Stunde bevor die ganzen Würdenträger anrücken sollten, war jemand von der Archäologie zu früh dran und hat den Direktor gefunden, Neil Topham, wie er neben dem Sarg auf dem Boden lag, mausetot.»

«Und wer von der Archäologie?», fragt Nelson. Dabei kennt er die Antwort eigentlich. Er hat es bereits gewusst, als Clough das Smith-Museum erwähnt hat.

Clough wiederholt die Frage für seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.

«Es war Ruth, Boss. Ruth Galloway.»

Der Wagen schlingert wieder über die Fahrbahn.

 

Als Nelson am Museum ankommt, steht dort Rocky Taylor vor der Tür – ein Detail, das nicht gerade dazu beiträgt, Nelsons erschütterten Seelenfrieden wiederherzustellen. Rocky, ein Junge aus dem Ort, ist für ihn der Inbegriff des unterbelichteten Landeis. Nelson selbst stammt aus Blackpool und betrachtet sich immer noch als Nordengländer, was für ihn gleichbedeutend ist mit schneller Auffassungsgabe und einem ordentlichen Humor. Als er in die Eingangshalle tritt, sieht er zu seiner Erleichterung, dass auch Tom Henty da ist. Tom ist zwar ebenfalls in Norfolk geboren und aufgewachsen, verkörpert für Nelson aber trotzdem den perfekten Sergeant: bodenständig, hartnäckig und durch nichts aus der Ruhe zu bringen. All diese Eigenschaften wird er heute dringend brauchen. Tom steht neben einem Käfig, in dem ein auffallend scheußlicher ausgestopfter Vogel hockt. Und auf einem Stuhl daneben, bleich, aber doch gefasst, sitzt Ruth Galloway.

«Ruth.» Nelson nickt ihr zu.

«Hallo, Nelson.»

Clough, der gleich hinter Nelson eintritt, ist da schon zuvorkommender. «Ruth! Lange nicht gesehen! Wie geht’s Ihrer Kleinen?»

«Sehr gut. Sie wird morgen ein Jahr alt.»

«Ein Jahr! Nicht zu fassen! Kommt mir vor wie gestern, dass sie auf die Welt gekommen ist.»

«Genug geplaudert, Sergeant», unterbricht Nelson, ohne Ruth eines Blickes zu würdigen. «Das ist hier eine Mordermittlung, kein Kaffeekränzchen.» Er wendet sich an Henty. «Was ist passiert?»

«Der Notruf ist um halb drei eingegangen.» Henty blättert in seinem Notizbuch. «Über die Zentrale. Doktor Galloway war hier im Museum und hat den Direktor, Neil Topham, auf dem Boden gefunden, neben dem Sarg. Der sollte ja um drei geöffnet werden. Doktor Galloway hat die Einsatzkräfte verständigt – Polizei und Rettungsdienst. Taylor und ich sind zeitgleich mit dem Krankenwagen hier eingetroffen. Die Sanitäter haben ihn ins Krankenhaus gebracht, aber bei der Ankunft war er schon tot.»

«Mist.»

Keine gute Ausgangslage, weder für Neil Topham noch für die Ermittlungen. Die Leiche ist jetzt garantiert voller Fingerabdrücke von den eilfertigen Sanitätern. Und die Beweislage am Tatort beschränkt sich auf eine einzige Zeugin. Ruth Galloway.

«Sind die Angehörigen schon verständigt?»

«DS Johnson ist gerade im Krankenhaus.»

Ein Glück. Judy Johnson ist gut in so was. Wer dagegen je eine schlechte Nachricht von Clough erhalten hat, der erholt sich so schnell nicht wieder.

Nelson sieht auf die Uhr. Halb vier inzwischen. «Und haben Sie die Geier noch davon abhalten können, sich gleich darauf zu stürzen?»

Henty räuspert sich missbilligend. «Ich habe Superintendent Whitcliffe angerufen und die Lokalpresse informiert.»

«Whitcliffe kommt wahrscheinlich nicht her, oder?»

«Nein. Er meinte, das überlässt er Ihnen.»

Na typisch, denkt Nelson grimmig.

«Rocky hat die anderen Gäste weggeschickt», fährt Henty fort. «Ihr Freund war auch da. Dieser Zauberlehrling.»

Nelson brummt nur; er kann die Beschreibung problemlos zuordnen. «Cathbad? Das war ja klar. Eine Sargöffnung ist genau seine Sorte Nachmittagsunterhaltung.»

«Er meinte, er will mit Ihnen reden», berichtet Henty ungerührt weiter. «Irgendwas von wegen Schädeln und Toten, die keine Ruhe finden.»

Nelson brummt erneut. «Tja, das muss wohl warten. Zeigen Sie mir den Saal, wo der Tote gefunden wurde? Clough, Sie bleiben hier bei Doktor Galloway.» Damit stolziert er davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

 

Über dem Saal für Lokalgeschichte liegt eine eigentümliche Ruhe. Der Raum ist lang und schmal, die Decke für die mangelnde Breite etwas zu hoch, so als wäre der Saal früher größer gewesen. Der Boden ist, wie im ganzen Museum, schwarzweiß gefliest, die Wände sind mit einem Muster in fröhlichen Grundfarben bemalt. Das Fenster steht offen, Wind bläht die staubigen Vorhänge. Mitten im Raum steht klobig der Sarg mit seinen aufgequollenen Seitenwänden und in einer Ecke ein einzelner Glasschaukasten, in dem sich allem Anschein nach eine ausgestopfte Ringelnatter befindet. Sonst liegt nur ein Museumsführer auf dem Boden und, etwa einen halben Meter vom Sarg entfernt, ein einzelner Schuh, ein brauner Halbschuh aus Wildleder. Nelson mustert ihn ungerührt. Typischer Künstlerschuh. Echte Männer – echte Nordengländer – tragen grundsätzlich Schnürschuhe.

«Gehört der ihm? Topham?»

Henty zuckt die Achseln. «Denk ich mal.»

«Haben Sie vorher mit ihm gesprochen? Sie haben das Ungetüm da doch hergebracht, Sie und Rocky.»

«Ja, ich habe mit ihm gesprochen. Ist erst ein paar Stunden her.»

«Wie hat er da auf Sie gewirkt?»

«Keine Ahnung. Bisschen nervös. Aufgedreht. Hat sich wohl schon sehr auf das große Ereignis gefreut.»

Henty hat einen trockenen Humor, der Nelson gefällt. Der Mann könnte glatt Nordengländer sein.

«Kein Herzflattern? Keine Anzeichen, dass er demnächst tot umfällt?»

«Nein. Er war relativ jung. Schlank. Machte einen gesunden Eindruck. Wie gesagt, ein bisschen überdreht. Er hat Rocky angebrüllt, weil der an irgendwas drangestoßen ist.»

«Rocky brüllt jeder an. Das hat nichts zu bedeuten.» Nelson sieht sich im Saal um. «Sie haben hier ja nichts angefasst.» Es ist keine Frage, eher eine Feststellung.

«Nein, Sir. Die Spurensicherung ist schon unterwegs.»

Genau. So läuft moderne Polizeiarbeit. Nichts anfassen, bis die Spurensicherung anrückt mit ihren Weltraumanzügen und ihren Pinseln und ihren Kunststoffkistchen. Früher, als Nelson noch ein junger Polizist in Blackpool war, stürzten sie sich gleich auf den Tatort, bewegten die Leiche und verteilten überall ihre Fingerabdrücke. Jetzt dreht sich Nelson langsam um die eigene Achse und nimmt den Tatort von weitem in Augenschein. Falls es überhaupt ein Tatort ist.

Auf dem Boden befinden sich ein paar Schlieren, die Blut sein könnten, und die Fliesen wurden offensichtlich erst kürzlich gefegt, sind an manchen Stellen aber immer noch dreckig. Gut. Die Jungs von der Spurensicherung stehen auf Dreck, den perfekten Träger für Fingerabdrücke, DNA-Spuren und all das andere Zeugs, das sie so lieben. Die Vorhänge flattern jetzt heftiger. Der Wind frischt auf.

Nelson dreht sich zu Henty um. «War das Fenster schon offen, als ihr hier ankamt?»

«Ja.»

Merkwürdig, so ein offenes Fenster im Oktober. Nelson geht hinüber und schaut nach draußen. Sie sind im Erdgeschoss, es wäre also kein Problem, hereinzuklettern. Draußen ist der Parkplatz mit ein paar Mülltonnen und einem Altkleidercontainer. Kein praktisches Blumenbeet, in dem man Fußspuren finden könnte, aber vielleicht hat ja jemand in den umliegenden Büros etwas gesehen. Er wird Rocky auf Befragungstour schicken müssen.

Langsam umrundet Nelson den Museumsraum. Die Wände, stellt er fest, sind gar nicht gemustert, sondern mit einer Reihe von Gemälden verziert. Norfolk im Wandel der Zeit. Vor allem eine Darstellung springt ihm ins Auge: ein Kreis aus Holzpfählen am Strand und inmitten dieses Kreises eine ungelenk gezeichnete Gestalt im weißen Gewand, die Arme von sich gestreckt wie eine Vogelscheuche, während über ihr eine übertrieben gelbe Sonne strahlt. Nelson tritt näher heran. «Bronzezeit-Henge aus Holz am Strand des Salzmoors», liest er, «1997 entdeckt von Professor Erik Anderssen von der Universität Oslo.» Und von Ruth Galloway, denkt er bei sich. Das Salzmoor steht ihm vor Augen, diese trostlose Ebene aus windzerzaustem Gras, die tückischen Treibsandfelder, die Flut, die über das Watt hereinbricht und Festland in Meer verwandelt – eine tödliche Falle für Unachtsame. Einen größeren Gegensatz zu der fröhlichen blau-gelben Strandszene vor ihm an der Wand kann man sich kaum denken. Nelson wendet sich dem nächsten Wandgemälde zu. «Römische Villa in Swaffham, vermutlich früher Teil einer Garnisonsstadt.» Inmitten gepflegter Gartenanlagen prangt ein Haus mit weißen Säulen, wie aus dem Katalog eines teuren Maklerbüros. Nelson betrachtet es stirnrunzelnd. Für die Römer hat er kaum mehr übrig als für diese Spinner aus der Bronzezeit. Zwischen der römischen Villa und dem Henge befindet sich noch ein Bildchen, auf dem sich mit viel gutem Willen ein auf der Seite liegendes Mädchen erkennen lässt. «Mädchen aus der Eisenzeit, 2007 entdeckt von Doktor Ruth Galloway von der University of North Norfolk».

«Boss?»

Nelson dreht sich um. Ein Glück, dass Tom Henty keine Gedanken lesen kann!

«Wollten Sie noch mit Doktor Galloway reden? Sie meinte nämlich, sie müsste bald ihre kleine Tochter von der Tagesmutter abholen.»

Nelson seufzt. «Ist gut. Wenn die Jungs von der Spurensicherung antanzen, sagen Sie ihnen, sie sollen das Fenster unter die Lupe nehmen. Gut möglich, dass sich da einer gewaltsam Zutritt verschafft hat.»

«Dann glauben Sie also, es war Mord, Boss?»

«Keine Ahnung. Sicher kann es auch eine natürliche Todesursache gewesen sein, aber das offene Fenster gefällt mir nicht. Das sieht doch sehr nach Einbruch aus. Ist Chris Stephenson inzwischen unterwegs ins Krankenhaus?»

Chris Stephenson ist der zuständige Gerichtsmediziner. Er steht nicht allzu weit oben auf Nelsons Favoritenliste – die zugegebenermaßen ohnehin nicht sehr lang ist.

«Ja. Anscheinend war er mit seinen Kindern auf irgendeiner Halloween-Party.»

«Na, dann kann er ja gleich mit dem Besen hinfliegen.»

Nelson hat nichts übrig für Halloween. Alte Leute, die von wild gewordenen Teenies mit Horrormasken erschreckt werden, Autos, die mit Eiern bombardiert, Fensterscheiben, die mit Steinen eingeworfen werden. Klar, früher, als die Mädchen noch klein waren, ist Michelle auch mit ihnen losgezogen und hat «Süßes oder Saures» verlangt, aber damals war das alles irgendwie noch viel zahmer. Und die Mädchen haben sich immer schon geweigert, so etwas Unvorteilhaftes wie ein Hexenkostüm anzuziehen. Er hat zwei Disney-Elfen in Erinnerung, die zu den Nachbarn hinübertrippelten, um sich eine Handvoll Haribo abzuholen. Zugegeben, Rebecca hatte auch eine Vampirphase, aber die kam erst später.

«Gut», sagt er. «Gibt es hier irgendwo ein Büro oder so was, wo ich mich mit Doktor Galloway unterhalten kann?»

«Das Direktionsbüro ist gleich den Gang runter.»

«Bestens. Dann schicken Sie sie mir mal vorbei, ja?»

Er hat keine Mühe, das Büro zu finden. Es liegt am Ende eines Ganges, der auch als Kunstgalerie fungiert und eine Ansammlung düsterer Ölgemälde präsentiert. Hier stehen auch Tische mit Weinkisten und Plastikgläsern, der bisher einzige Hinweis darauf, dass im Museum heute Gäste erwartet wurden. Nelson nimmt sich im Vorbeigehen ein paar Chips aus einer Schüssel. Eigentlich ist er ja auf Diät, aber Morde machen immer so hungrig. Auf halbem Weg den Gang entlang entdeckt er eine Tür mit der Aufschrift «Notausgang». Nelson dreht den Türknauf. Abgeschlossen. Klarer Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften. Oder wollte da jemand mögliche Fluchtwege abschneiden?

Im Direktionsbüro findet Nelson ein Durcheinander aus Kisten und Ausstellungsstücken des Museums vor, die entfernt wurden, weil sie reparaturbedürftig sind oder weil sie auf irgendeine Weise den Anforderungen nicht mehr entsprechen. Er zwängt sich durch zwischen einem ausgestopften Biber und einem schielenden Wikinger, dessen Helm nur noch ein Horn hat. Auf dem Boden liegen Werkzeuge durcheinander. Vielleicht wollte Topham seine Exponate ja selber reparieren?

Der Schreibtisch liegt voll mit Papier, was Nelson nervös macht; sein eigener Schreibtisch im Polizeirevier King’s Lynn ist grundsätzlich leer, bis auf die unvermeidliche Erledigungsliste. Nelson liebt Listen, und er hat den Eindruck, dass die eine oder andere Liste auch Neil Topham gute Dienste geleistet hätte. Womöglich hätte sie sogar den Mord verhindern können. 1. Zur Arbeit gehen. 2. Büro aufräumen. 3. Nicht von messerschwingenden Psychopathen ermorden lassen. Aber da ist ja weit und breit kein Messer, und er kann nicht einmal sicher sein, dass Neil Topham wirklich ermordet wurde. Irgendwann muss er dieses Büro hier gründlich durchsuchen. Aber jetzt erst mal Ruth Galloway.

Die Tür geht auf. «Du hast nach mir geschickt?» Ruths Stimme trieft vor Sarkasmus.

«Ich dachte, hier können wir uns in Ruhe unterhalten.»

Ruths spöttische Miene wird ein wenig … wie soll man sagen? Misstrauischer? Verletzlicher?

«Also dann.» Nelson räumt ein Stück Schreibtisch frei, indem er ein paar alte Ausgaben von Museums Today beiseiteschiebt, und bedeutet Ruth, sich zu setzen. «Wann genau warst du im Museum?»

«Machst du dir denn keine Notizen?» Da ist er wieder, der sarkastische Ton.

Nelson zückt schwungvoll sein Notizbuch. Dann nickt er auffordernd.

«Ich war gegen vierzehn Uhr sechzehn hier …»

«Ziemlich früh, was? Ich dachte, die Fete sollte erst um drei losgehen.»

«Ich war noch einkaufen. Da hat es sich nicht mehr gelohnt, nach Hause und wieder zurück zu fahren.» Sie sieht ihn an. «Kate hat doch morgen Geburtstag. Ich habe für ihr Fest eingekauft.»

Für einen langen Moment herrscht Schweigen. Nelson zuckt unter ihren Worten zusammen wie unter echten, körperlichen Schmerzen. Und dann, als setzten sie eine vor langer Zeit begonnene Unterhaltung fort, fangen beide gleichzeitig an zu reden.

«Entschuldige …»

«Ich wollte dich nicht …»

Sie brechen beide wieder ab. Ruth ist rot im Gesicht, Nelson sehr bleich. Sie schaut zur Seite. Das einzige Fenster befindet sich weit oben in der Wand und ist zu klein, um im Sitzen hinauszusehen, aber Ruth hält den Blick dennoch darauf gerichtet.

«Ich wollte dich nicht aufregen. Ich weiß ja, dass du nicht über sie reden willst.»

«Das stimmt doch nicht.» Nelson betrachtet den unordentlichen Schreibtisch und fängt an, wahllos einzelne Gegenstände herumzuschieben. Einen Briefbeschwerer mit einer Versteinerung hierhin, einen Stapel ungeöffneter Rechnungen dorthin. «Es ist nur …» Er hält inne. «Ich hab’s versprochen.»

«Ich weiß. Du hast Michelle versprochen, dass du sie nicht mehr siehst.» Ruths Ton ist ausdruckslos. «Und mich auch nicht.»

«Es war die einzige Möglichkeit, meine … es wiedergutzumachen.»

«Ich verstehe das. Das habe ich dir damals doch auch gesagt.»

«Du verhältst dich toll. Ich bin das Problem.» Er greift wieder nach dem Briefbeschwerer und lässt einen Seufzer hören, der fast ein Stöhnen ist. «Ich hab’s für uns alle in den Sand gesetzt.»

«Komm, Nelson, spiel hier nicht den katholischen Sündenbock.» Ruth zieht ihr Handy aus der Tasche, um nachzusehen, wie spät es ist. Ein neues Handy, wie Nelson bemerkt. Ein ziemlich schickes. «Bringen wir’s hinter uns. Wenn mich nicht alles täuscht, hast du hier eine Ermittlung zu leiten.»

«Von mir aus.» Nelson strafft die Schultern. «Du warst also um vierzehn Uhr sechzehn hier. War sonst noch jemand da?»

«Nein. Das fand ich seltsam. Schließlich war es keine Stunde mehr bis zur Veranstaltung. Aber nachdem kein Mensch da war, dachte ich mir, ich schaue mich ein bisschen um. Ich war in der naturhistorischen Abteilung …»

«Wo die ganzen ausgestopften Viecher stehen?»

«Genau.»

«Da krieg ich ja das kalte Grausen.»

«Ich auch. Dann bin ich in den Saal für Lokalgeschichte gegangen, und da lag er, neben dem Sarg.»

«Hast du ihn erkannt?»

«Erst nicht, aber dann habe ich ihn umgedreht …» Ruth hält inne.

«Alles klar? Willst du ein Glas Wasser?»

Sie lächelt schwach. «Ist das deine Samthandschuhtaktik bei Verhören? Nein, es geht schon. Ich bin Neil nur ein-, zweimal begegnet, aber ich habe ihn erkannt.»

«Wo genau lag er?»

«Neben dem Sarg. Er lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen, einen Arm über dem Kopf.»

«War Blut zu sehen?»

«Ja. Er hatte Blut im Gesicht.»

«So, als hätte man ihm eine Kopfwunde verpasst?»

«Nein. Eher an der Nase. So, als hätte er Nasenbluten gehabt.» Sie schweigt wieder.

«Hast du ihn angefasst?»

«Klar.» Ihr Ton wird schärfer. «Natürlich habe ich ihn angefasst. Ich wollte schließlich wissen, ob er noch lebt.»

«Und, hat er noch gelebt?»

«Ich weiß es nicht genau», muss Ruth zugeben. «Er war noch warm, aber ich konnte keinen Puls finden. Nachdem ich den Krankenwagen gerufen hatte, kam es mir so vor, als würde ich einen schwachen Herzschlag spüren. Aber ich kenne mich nicht aus mit Erster Hilfe.»

«Wann hast du die Polizei gerufen?»

«Vielleicht eine Minute später. Da bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, dass jemand anders ihm das angetan haben könnte.»

«Du hast also gedacht, er könnte ermordet worden sein?»

«Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Es sah aus, als hätte er eine Art Anfall gehabt. Vielleicht war er ja Epileptiker oder so was.»

«Falls das so war, werden wir’s herausfinden. Chris Stephenson ist schon unterwegs ins Krankenhaus.»

Ruth verzieht das Gesicht. Die Abneigung gegen Stephenson teilt sie mit Nelson.

«War das Fenster offen?», will Nelson wissen.

«Wie bitte?»

«Das Fenster in dem Saal, wo du den Toten gefunden hast. War es offen?»

«Ich glaube schon, ja. Da lag ein Buch auf dem Boden, und der Wind hat die Seiten umgeblättert.»

«Ich werde den Jungs von der Spurensicherung sagen, sie sollen sich das Buch ansehen. Vielleicht sind Fingerabdrücke drauf.»

«Dann glaubst du also auch, dass er vielleicht ermordet wurde?»

Nelson setzt gerade zu einer Antwort an, da klopft es nachdrücklich, die Tür geht auf, und ein Mann kommt herein: groß, sonnengebräunt, grauhaarig und mit unverkennbar gebieterischer Ausstrahlung. Er hat eine so gewaltige Hakennase, dass sie schon ein paar Sekunden vor ihm den Raum zu betreten scheint. Und er kommt Nelson irgendwie bekannt vor. Hinter ihm drückt sich Rocky Taylor herum.

«Ich sagte doch, ich will nicht gestört werden!», bellt Nelson.

«Danforth Smith.» Der hochgewachsene Mann streckt ihm die Hand hin. Nelson ignoriert sie und hält den Blick auf Rocky gerichtet.

«Das ist Lord Smith», stellt der ebenfalls hinzugekommene Henty schuldbewusst vor. «Ihm gehört das Museum.»

«Ich bin natürlich sofort gekommen», sagt Danforth Smith mit dem selbstbewussten Oberschichtston, der Nelson jedes Mal die Zehennägel aufrollt. «Was für ein schrecklicher Vorfall. Der arme Neil. Stimmt es denn, dass er tot ist?»

Nelson hebt die Hand. «Woher wissen Sie von Mr. Topham?»

«Gerald hat es mir erzählt.»

Na klar. Gerald Whitcliffe, Nelsons Vorgesetzter und bester Freund aller Reichen und Schönen.

«Ich wollte mich gerade auf den Weg zur Sargöffnung machen, als Gerald mich anrief. Ich habe sofort versucht, Neils Eltern zu erreichen. Sie werden fassungslos sein.»

«Sergeant.» Nelson spricht über Smiths Kopf hinweg zu Tom Henty. «Ich bin hier mitten in einer Befragung.»

«Schon gut, Nelson.» Ruth erhebt sich. «Ich muss sowieso los, und wir sind hier ja fertig, oder?»

Mit leicht erhobenem Kinn sieht sie ihn an.

«Ja», sagt Nelson. «Wir sind fertig.»

 

Lord Danforth Smith setzt sich auf den Stuhl, den Ruth gerade freigemacht hat, und streckt die Beine von sich, als gehörte ihm der ganze Raum. Was ja auch stimmt. Rocky trabt auf der Stelle los, um Kaffee zu machen. Elender Arschkriecher. Wenn die Revolution erst einmal kommt, stehen solche wie er als Erste an der Wand. (Die Adligen haben sich dann eh längst davongemacht.)

«DCI Nelson», stellt Nelson sich vor.

«Ich weiß schon, wer Sie sind», erwidert Smith leutselig. «Gerald lobt Sie in den höchsten Tönen.»

«Was Sie nicht sagen. Also, Lord Smith, ich vermute, Sie wissen in etwa so viel wie wir. Doktor Galloway kam früher als geplant ins Museum und fand Mr. Topham auf dem Boden, neben dem Sarg Ihres Vorfahren. Sie hat sofort einen Krankenwagen verständigt, aber Mr. Topham ist noch auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben.»

«Wie schrecklich. Weiß man denn schon, wie er gestorben ist? Er war doch noch jung.»

«Wie jung?»

«Mitte, Ende dreißig, glaube ich. Da müsste ich noch einmal nachsehen. Mir kommt ja inzwischen alles in den Dreißigern blutjung vor.» Lord Smith lächelt und zeigt ein langes Pferdegebiss. Nelson muss daran denken, dass er Rennpferde trainiert.

«Wie lange arbeitete Mr. Topham schon für Sie?»

«Etwa fünf Jahre. Ein ganz famoser Junge. Sehr begeisterungsfähig.»

«Keine gesundheitlichen Probleme?»

«Nicht, dass ich wüsste.»

«Hatte er sonst irgendwelche Probleme? Etwas, was ihm Sorgen machte?»

Jetzt blickt Lord Smith zum ersten Mal ein wenig unbehaglich drein. Er schlägt die Beine übereinander. Handgefertigte Schuhe, darauf würde Nelson wetten. Schnürschuhe.

«Als ich zuletzt mit ihm gesprochen habe, ging es nur um die Sargöffnung. Er machte einen guten Eindruck, freute sich sehr auf die Veranstaltung. Er hoffte, Bischof Augustine dauerhaft hier im Museum behalten zu können.»

«Es war sicher sehr anstrengend, so eine Veranstaltung zu organisieren?»

«Sicher, aber das gehörte ja zu Neils Aufgaben. Er machte das gerne. Es machte ihm Spaß, Leute ins Museum zu holen. Wir haben hier eine sehr schöne Sammlung, aber sie bekommt einfach nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Hören Sie, Inspector, worum geht es hier eigentlich? Ist irgendetwas verdächtig an Neils Tod?»

«Das kann ich noch nicht genau sagen.» Nelson mustert ihn ausdruckslos. «Aber falls doch, erfahren Sie es natürlich als Erster.» Jetzt fällt ihm wieder ein, wo er diese Nase schon einmal gesehen hat. Sie ist auf mindestens der Hälfte der bescheuerten Ölgemälde draußen verewigt.

 

Nachdem Lord Smith gegangen ist, diensteifrig flankiert von Rocky und Tom Henty, tut Nelson, was er schon die ganze Zeit tun wollte: Er öffnet die verschlossene Schublade an Neil Tophams Schreibtisch. Der Schlüssel lag – nur mäßig originell, wie Nelson findet – unter dem steinernen Briefbeschwerer versteckt.

Der Blick in die Schublade erweist sich als lohnend. Nelson findet darin einen Plastikbeutel mit weißem Pulver und einen Stoß handgeschriebener Briefe. Keine Umschläge, doch alle auf demselben Papier geschrieben, cremefarbenes, sichtlich teures Briefpapier. Liebesbriefe vielleicht? Na, Liebe ist immer ein gutes Mordmotiv. Nelson faltet den ersten Brief auf und liest die schwungvoll in Blau geschriebenen Zeilen:

Sie sind unserer Aufforderung nicht nachgekommen.

Nun müssen Sie die Konsequenzen tragen.

3

Ruth fährt auf direktem Weg zur Tagesmutter, um Kate abzuholen. Sandra kümmert sich immer um Kate, wenn Ruth bei der Arbeit ist, aber heute ist Samstag, und Ruth hat ein schlechtes Gewissen. Sandra allerdings scheint es nichts weiter auszumachen, und Kate, die bis zu den Ellbogen im Mehl steckt und beim Kuchenbacken hilft, hat offensichtlich einen Heidenspaß. Wie immer hat Sandra mehrere Kinder bei sich, die alle mit sinnvollen Tätigkeiten beschäftigt sind: Sie backen Kuchen, machen Klebebilder oder spielen im Wohnzimmer ein übergroßes (abwaschbares) Leiterspiel. Sandras eigene Kinder sind bereits erwachsen, es muss sich also um die Sprösslinge anderer Mütter handeln, die ebenfalls zu chaotisch sind, um sich eine Kinderbetreuung fürs Wochenende zu organisieren. Ruth kann ja auch unmöglich die Einzige sein. Immerhin bezahlt sie Sandra dafür, es ist also eine ganz saubere Geschäftsbeziehung und keines dieser schwammigen Arrangements mit Freunden. Kannst du mir einen Gefallen tun? Macht es dir auch wirklich nichts aus? Ich schulde dir was, versprochen. So ist es doch viel besser: Bezahlung bar auf die Hand.

Ruth findet Sandra sympathisch, weiß aber nie, worüber sie mit ihr reden soll, und so bedankt sie sich nur, nimmt Kate auf den Arm – Mehlfinger auf ihrem besten Blazer – und verlässt das kleine Reihenhaus. Sandra winkt zum Abschied, ein Kleinkind auf jedem Arm.

«Geschlafen hat sie nicht, sie hat den ganzen Nachmittag durchgehalten», ruft sie noch. «Vielleicht haben Sie heute Nacht ja Glück.»

Es gab Zeiten, da hätte Ruth einen solchen Satz gar nicht verstanden. Inzwischen ist sie klüger. Kate hat nicht geschlafen. Wenn es Ruth also gelingt, sie die Heimfahrt über wach zu halten, schläft sie womöglich um sechs ein und wacht erst am Morgen wieder auf. Kate und Ruth haben die Sache mit dem Schlafen immer noch nicht richtig im Griff. Rituale etablieren, so steht es in allen Büchern, doch Ruths Tochter akzeptiert nur ein einziges Einschlafritual: dass Ruth stundenlang bei ihr bleibt, ihr vorliest, Schlaflieder singt oder einfach nur neben ihr liegt und ihre Hand hält. Sobald Ruth versucht, sich aus dem Zimmer zu schleichen, fängt Kate an zu brüllen. Schreien lassen, sagen die Bücher, aber das hält Ruth nicht aus. Vielleicht wäre es ja anders, wenn noch ein zweiter Elternteil da wäre, jemand, der ihr ein Glas Wein einschenkt und sie ermahnt, stark zu bleiben; doch allein knickt Ruth immer wieder ein. Sie kommt bestenfalls bis zur Treppe, dann ist sie schon wieder im Einsatz mit Singen, Vorlesen und Händchenhalten. Meistens schläft sie dabei selber ein, auf dem Boden neben Kates Kinderbett, wo sie gegen Mitternacht mit steifen Gliedern und trockenem Mund wieder aufwacht. Wenn es dann schrecklich bald Morgen wird, ist eine von ihnen ausgeschlafen und tatendurstig, und das ist nicht Ruth.

«Mum», sagt Kate. «Mum Mum Mum Mum.»

Das ist neu, und Ruth bekommt regelmäßig einen Kloß im Hals. Es gefällt ihr, dass Kate nicht «Mummy» zu ihr sagt, sondern «Mum», als wäre sie bereits ein kleiner Teenager. Ruth fühlt sich sehr viel wohler mit «Mum». «Mummy» klingt so affektiert, nach Landadel. Sie ist sich sicher, dass Shula und David aus der Radioserie The Archers «Mummy» zu ihrer Mutter sagen.

Etwas verstörender ist es da schon, dass Kate neuerdings auch «Dada» sagt, die Kleinkind-Variante von «Daddy». Da es aktuell kein männliches Wesen gibt, das die Vaterposition für sie besetzen würde, verfolgt sie einen flächendeckenden Ansatz und hat bislang den Kater Flint, ihren Großvater, Cathbad sowie den Postboten mit dieser Anrede bedacht. Ruths Vater und Cathbad waren entzückt, Flint und der Postbote zeigten sich eher weniger begeistert.

Auf der Fahrt durch die Straßen von King’s Lynn, vorbei am Kai, dem Zollhaus und dem Marktplatz, plappert Ruth ununterbrochen fröhlich drauflos, um ihre Tochter wach zu halten. «Schau mal, Kate, schau mal, der Hund! Hat der aber viele Tupfen! Fast wie bei den einhunderteins Dalmatinern. Das Buch liest Mum dir dann mal vor, wenn du größer bist. Es ist toll. Viel besser als der Film. Schau mal, die Kinder sind als Hexen verkleidet! Und da sind noch mehr! Und die da drüben haben sich als Massenmörder verkleidet. Wie niedlich!» Je weiter der Nachmittag in den Abend übergeht, desto mehr dieser Miniatur-Teufel bevölkern die Straßen. Wann ist die «Süßes oder Saures»-Sitte eigentlich so ausgeartet? Das wird sie Kate niemals erlauben. Aber da, wo sie wohnen, gibt es ja auch keine Nachbarn, nur das Meer und kilometerweit raschelndes Sumpfland. Vielleicht sollten sie doch umziehen. Ruth kurbelt das Fenster herunter, in der Hoffnung, dass die kühle Luft Kate am Einschlafen hindert. Sie nimmt die Bruce-Springsteen-Kassette aus der Anlage und legt stattdessen eine mit Kinderliedern ein. «My bonnie is over the ocean, my bonnie is over the sea …» Keine Chance. Kate sinkt der Kopf auf die Brust.

Ruth findet sich rasch damit ab. Sie weiß zwar, dass sie es später büßen wird, doch im Moment kann sie etwas Ruhe gut brauchen. Vielleicht schläft Kate ja weiter, wenn sie zu Hause sind, und Ruth kann sie nach oben in ihr Bettchen tragen. Mum muss nachdenken, erklärt sie ihrer Tochter im Stillen. Sie ist ein bisschen durcheinander, weil sie heute deinen Dad getroffen hat. Dad. Zu Nelson hat Kate noch nie «Dada» gesagt, aber sie hat ihn auch seit einem halben Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. In den ersten Monaten nach Kates Geburt kam Nelson häufig zu Besuch, zwar zerfressen von Schuldgefühlen Michelle gegenüber, aber doch auch bezaubert von dieser unvorhergesehenen neuen Tochter. Kate kam zur Welt, nachdem Ruth und Nelson eine einzige Nacht miteinander verbracht hatten, ein paar wenige Stunden, einer Reihe schrecklicher Ereignisse abgerungen, an deren Anfang der Mord an einem Kind stand. Ruth hat immer gewusst, dass Nelson seine Frau und seine anderen Töchter nicht verlassen wird, und sie ist stolz darauf, dass sie nichts von ihm verlangt. Doch Nelson konnte das nicht auf sich beruhen lassen, er wollte Ruth Geld geben, ein Teil von Kates Leben sein. Er hat sogar darauf beharrt, dass Ruth die Kleine taufen lässt und Michelle und er Taufpaten werden. Und bei der Taufe hat Michelle es gemerkt.

Ruth weiß bis heute nicht, wie es dazu kommen konnte, doch zwei Tage nach der kurzen Zeremonie in einer katholischen Kirche stand Nelson bei ihr vor der Tür, so kreidebleich, dass sie ihn im ersten Moment gar nicht erkannt hat. Michelle wusste jetzt, dass er Kates Vater war. «Sie hat mich ganz direkt gefragt, da konnte ich doch nicht lügen.» Dazu hatte Ruth durchaus ihre eigene Meinung, sie war aber so klug, die nicht zu äußern. Nelson jedenfalls hatte alles zugegeben, und Michelle und er hatten «reinen Tisch gemacht». Sie hatten sich fürchterlich gestritten («Es war schrecklich, Ruth, wir haben uns zwei Tage lang gestritten. Wir streiten sonst nie.» – «Ach?»), mit dem Ergebnis, dass Nelson versprochen hatte, weder Ruth noch Kate jemals wiederzusehen. «Es war die einzige Möglichkeit, unsere Ehe zu retten. Es tut mir leid.» Und was, wollte Ruth mit versteinerter Miene wissen, wenn sie sich bei der Arbeit begegneten? «Falls das passieren sollte, akzeptiert sie das natürlich.» Nelson wollte «finanzielle Vorsorge treffen», ihr jeden Monat Geld zukommen lassen, doch das lehnte Ruth ab. Ihr war nicht klar gewesen, wie weit Nelson gehen würde, um seine Ehe zu retten. Und auch nicht, wie weh ihr das tun würde.

Es war schlimm gewesen, Nelson heute im Museum zu begegnen, viel schlimmer noch, als den bedauernswerten Neil Topham tot und zusammengekrümmt neben dem Bischofssarg liegen zu sehen. Ruths Gefühle für Nelson sind derart kompliziert, dass sie längst aufgehört hat, sie verstehen zu wollen. Immer, wenn sie ihn sieht, empfindet sie in rascher Folge: Ärger (weil er der rechthaberischste Mensch ist, den sie kennt), Achtung (weil er seine Arbeit wirklich gut macht), Freude (weil er sie zum Lachen bringt) und eine nicht zu leugnende Anziehung. Liebt sie ihn? Auch diese Frage stellt sie sich längst nicht mehr. Sie weiß, dass sie nie wieder mit einem Mann zusammenleben will. Zu genau erinnert sie sich, wie vor sieben Jahren, als Peter auszog, sogar das Haus vor Erleichterung aufzuatmen schien. Endlich waren sie unter sich: Ruth und die Katzen und der wilde Horizont. Heute sind sie zu dritt unter sich: Ruth und Kate und der Kater Flint. Und trotzdem war es schön, Nelson in der Nähe zu wissen. Er ist zwar ein Mann und ein Chauvi-Schwein, aber in Notlagen konnte er doch ganz nützlich sein.

Bring back, bring back, oh bring back my bonnie to me …

Sie hat das Salzmoor erreicht. Es ist längst dunkel, doch sie hört das Meer in der Ferne seufzen. Die Straße erhebt sich ein gutes Stück über die sumpfige Ebene, und an einem Tag wie heute hat man das Gefühl, am Ende der Welt angelangt zu sein. Ruth mag die Plastikmonster und Zwerghexen hinter sich gelassen haben, doch hier ist es wahrhaft unheimlich. Das Dunkel, das Unbekannte. Ruth hat im Salzmoor schon echte Ängste ausgestanden, und dennoch liebt sie es. Neben ihrem Häuschen gibt es noch zwei weitere, doch eines davon steht leer, und das andere ist ein Ferienhaus, in dem nur selten jemand ist. Es ist ein einsamer Wohnort, doch alles in allem schätzt Ruth die Einsamkeit. Und so verspürt sie jetzt, als sie vor ihrem Haus hält und das Licht des Bewegungsmelders, den Nelson vor zwei Jahren installiert hat, auf das «Verkauft»-Schild vor dem Haus nebenan fällt, den gewohnten Unwillen, fast schon Zorn. Sie weiß, dass der neue Eigentümer das Haus vermietet hat, und rechnet jeden Moment damit, dass ein hippes Pärchen über den Gartenzaun späht und sie auf ein paar Sushi einlädt oder irgendein vollbärtiger Einzelgänger ihr seine Sammlung getrockneter Algen zeigen will. Oder aber ein … Schluss jetzt, ruft sie sich zur Ordnung, während sie die Tür aufschließt und Kate ins Haus trägt. Es kann ja schließlich auch ein Seelenverwandter sein oder jemand mit Kindern in Kates Alter, mit denen sie spielen kann. Doch in Wahrheit will Ruth gar keine neuen Freunde. Die vorhandenen machen ihr schon genug Ärger.

 

Nelson ist in ähnlich aufgewühlter Verfassung unterwegs zum Krankenhaus. Das Wiedersehen mit Ruth war genau so schlimm, wie er es sich ausgemalt hat. Und als sie dann auch noch von Katie gesprochen hat! Was Nelson für Ruth empfindet, ist so sehr mit Ängsten und Schuldgefühlen versetzt, dass er das alles unmöglich auseinanderklamüsern kann. Seine Gefühle für Katie hingegen sind glasklar. Er liebt sie, obwohl er sie überhaupt nur dreimal im Arm gehalten hat, und er will ihr Vater sein. Aber das ist nicht möglich.

Die Ereignisse bei der Taufe vor einem halben Jahr schmerzen immer noch so sehr, dass Nelsons Gedanken automatisch zurückschrecken, sobald er der Erinnerung auch nur nahekommt. Jetzt zwingt er sich, daran zu denken. Anfangs gab es keinerlei Probleme mit Michelle. Sie freute sich darauf, Patin zu werden; sie hatte Ruth und Kate sogar ganz besonders ins Herz geschlossen, ein Umstand, der Nelson, wenn er darüber nachdachte, vor lauter Schuldgefühlen und düsteren Ahnungen fast Übelkeit verursachte. Und doch war er so blöd gewesen, diese Befürchtungen zu ignorieren. Er hatte auf einer katholischen Taufe bestanden, weil er selbst katholisch aufgewachsen ist und weil er sich mit Cathbads heidnischer Namensweihe, die ein paar Monate zuvor stattgefunden hatte, ausgesprochen unwohl fühlte. Mehr noch, er fürchtete, dass sie Kate damit Böses mit auf den Weg gaben, indem sie die gesichtslosen, blutrünstigen Götter anriefen, die Cathbad so verehrt. Er wollte ihr den Schutz der Engel und Heiligen seiner eigenen Kindheit sichern. Und so hatte er Ruth überredet, Kate taufen zu lassen, und Pater Hennessey, den katholischen Priester, den er von einem früheren Fall kannte, gebeten, die Messe zu halten. Und Ruth hatte eingewilligt, weil Patrick Hennessey auch bei ihr tiefen Eindruck hinterlassen hatte, und nicht zuletzt auch, vermutet Nelson, weil sie selbst wenige Wochen zuvor nur knapp dem Tod entronnen war.

Zunächst war es auch ein freudiger Anlass gewesen. Es war ein wunderschöner Maitag, das weiß er noch, die Bäume blühten, und in der Luft lag schon ein Vorgeschmack des Sommers. Er hielt Kate im Arm (das dritte Mal), und Michelle, die eine Schwäche für Babys hat, war ganz in ihrem Element. Cathbad und Shona, die anderen Paten, benahmen sich nicht durchgeknallter als sonst auch. Hinterher waren sie in ein Pub auf dem Land gefahren und hatten Ruth und Kate auf dem Rücksitz mitgenommen. Während der Fahrt hatte Michelle noch fröhlich mit Ruth geplaudert, doch als Ruth ausgestiegen war, hielt Michelle Nelson mit herrischer Geste zurück. Sosehr er sich auch dagegen sträubt, er sieht ihr Gesicht immer noch vor sich. Ihre Miene war so eiskalt vor Zorn, dass ihm dafür nur die Beschreibung «furchterregend» einfällt.

«Sie ist von dir, stimmt’s?»

«Was?»

«Kate. Sie ist von dir. Ich habe sie mir vorhin angeschaut, und sie hat einen kleinen Wirbel im Haar, der in eine ganz andere Richtung weist als der Rest. So einen Wirbel hast du auch. Und Rebecca.»

Erst stritt er alles ab. Sie standen auf dem Parkplatz vor dem Phoenix und keiften sich an, während lauter glückliche Familien an ihnen vorbeimarschierten, um sich ein Mittagessen in der Sonne zu gönnen.

«Du spinnst doch!», sagte er. «Was redest du denn da von einem Haarwirbel?»

Michelle musterte ihn abschätzig. «Du brauchst dir gar nicht die Mühe zu machen, es zu leugnen. Es passt alles zusammen. Ich hatte mich sowieso schon gefragt, warum du immer so besorgt um Ruth bist. Ich dachte, du wirst auf deine alten Tage noch ein netter Mensch. So kann man sich täuschen.»

Er versuchte, verständnislos zu wirken. «Was meinst du denn bloß, Schatz?»

«Nenn mich nicht ‹Schatz›. Du hast mit Ruth geschlafen, sie hat ein Kind von dir gekriegt, und jetzt willst du alles abstreiten. Ich hatte keine Ahnung, Harry, dass du so feige sein kannst.»

Und er ist tatsächlich feige. Das weiß er inzwischen. Sie mussten schließlich doch noch ins Pub gehen, auf Kates Wohl trinken und über Cathbads Späßchen lachen. Michelle, von spröder Schönheit in ihrem selbstgerechten Zorn, hat das Baby sogar auf den Arm genommen und nachdenklich den verräterischen Wirbel im dunklen Haar gestreichelt. Als sie wieder zu Hause waren, stellte Michelle ihm ein Ultimatum. Er dürfe Ruth und Kate nicht wiedersehen. «Aber wir arbeiten doch zusammen», protestierte er. – «Du weißt schon, was ich meine. Beruflich darfst du mit ihr sprechen, aber es darf nie, nie darüber hinausgehen.» Und er hatte eingewilligt.