Engelskinder - Elly Griffiths - E-Book
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Engelskinder E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Das Skelett der berüchtigtsten Kindsmörderin Englands – Dr. Ruth Galloways sechster Fall. Die Arme auf dem Rücken gefesselt, ein rostiger Eisenhaken statt der linken Hand, so liegt die Tote in ihrem Grab. Als Dr. Ruth Galloway unter dem Gemäuer einer Burg ein Skelett aus viktorianischer Zeit freilegt, glaubt sie, die Gebeine der berüchtigtsten Mörderin von Norfolk gefunden zu haben. Zahlreiche Schauermärchen ranken sich um «Mother Hook», die Kinder bei sich aufgenommen und dann getötet haben soll. Doch während der Untersuchung kommen der forensischen Archäologin Zweifel an ihrer Schuld. Zur gleichen Zeit verschwindet ein Kind aus der Nachbarschaft. Offenbar will jemand mit allen Mitteln ein jahrhundertealtes Geheimnis hüten. «‹Engelskinder› hat einen Twist am Ende, der Sie umhauen wird.» The Sun

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Elly Griffiths

Engelskinder

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Über dieses Buch

Die Hand an der Wiege

 

Die Arme auf dem Rücken gefesselt, ein rostiger Eisenhaken statt der linken Hand, so liegt die Tote in ihrem Grab. Als Dr. Ruth Galloway unter dem Gemäuer einer Burg ein Skelett aus viktorianischer Zeit freilegt, glaubt sie, die Gebeine der berüchtigtsten Mörderin von Norfolk gefunden zu haben. Zahlreiche Schauermärchen ranken sich um «Mother Hook», die Kinder bei sich aufgenommen und dann getötet haben soll. Doch während der Untersuchung kommen der forensischen Archäologin Zweifel an ihrer Schuld. Zur gleichen Zeit verschwindet ein Kind aus der Nachbarschaft. Offenbar will jemand mit allen Mitteln ein jahrhundertealtes Geheimnis hüten …

Vita

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind sechs Krimis mit der forensischen Archäologin Dr. Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus», «Gezeitengrab», «Aller Heiligen Fluch», «Rabenkönig» und «Engelskinder».

Für meine Kinder, Alex und Juliet

1

«Und so erbitten wir, o Herr, deinen grenzenlosen Segen für diese Ausgestoßenen unter den Verstorbenen …»

Das Grüppchen, das sich auf der Böschung unterhalb der Burgmauern versammelt hat, murmelt eine Erwiderung. Nur Ruth Galloway, die ganz weit hinten steht, schweigt. Sie trägt die höflich neutrale Miene zur Schau, die sie immer aufsetzt, wenn von Gott die Rede ist. Im Lauf der Jahre hat ihr diese Maske gute Dienste geleistet, und auch jetzt sieht sie keinen Anlass, sie abzulegen. Dabei findet sie die Andacht für die verstoßenen Toten durchaus lobenswert. Einmal im Jahr wird dieser ökumenische Gottesdienst für die namenlosen Toten von Norwich abgehalten: die in anonymen Gräbern verscharrten Leichen, die Armen, die Pestopfer – von allen vergessen und unbetrauert, wäre da nicht dieses bunt gemischte Häuflein aus Archäologen, Historikern und anderen Getreuen.

«Herr, du sagst uns, dass kein Sperling auf die Erde falle ohne Gott. Und so wissen wir, dass du auch diese Menschen gekannt hast und sie von dir geliebt wurden …»

Der Pfarrer spricht mit dünner, zögerlicher Stimme, die kaum bis zu Ruth nach hinten dringt. Jetzt hört sie ohnehin nur noch Ted, einen der Feldarchäologen, der mit dröhnendem Bass die Erwiderung intoniert: «Wir werden ihrer gedenken.»

Ruth weiß nicht, ob Ted in irgendeiner Form religiös ist. Sie weiß nur, dass er in Bolton aufgewachsen und vielleicht Ire ist, vielleicht aber auch nicht. Falls er tatsächlich Ire sein sollte, wird er wohl katholisch sein, so wie DCI Harry Nelson, der sich, sosehr er das auch bestreitet, einen Restglauben an Himmel, Hölle und alles dazwischen erhalten hat. Beim Gedanken an Nelson fühlt Ruth sich unwohl. Sie entfernt sich, geht ein Stück weiter den Hang hinauf, und eine Frau mit roter Jacke, die dicht beim Pfarrer steht, dreht sich zu ihr um und lächelt sie an. Ruth lächelt zurück. Janet Meadows, Lokalhistorikerin und Fachfrau für namenlose Tote. Zum ersten Mal ist Ruth ihr vor über einem Jahr begegnet, als sie das Skelett eines mittelalterlichen Bischofs zu untersuchen hatte, dem Wunderkräfte zugeschrieben wurden. Cathbad hatte sie damals mit Janet in Kontakt gebracht, und auch jetzt rechnet Ruth noch damit, dass ihr Druidenfreund jeden Moment im Schatten der Burg auftauchen könnte, mit wehendem lila Umhang, den sechsten Sinn auf Dauerempfang geschaltet. Doch Cathbad ist weit weg, und Zauberkräfte haben ihre Grenzen, wie Ruth nur zu gut weiß.

Der sanfte Sommerwind trägt Wortfetzen zu ihr herüber.

«Gedenken … verloren … vorausgegangen … himmlischer Vater … Allerbarmer … Gnade … Vergebung.»

So viele Worte, denkt Ruth (keineswegs zum ersten Mal), und sie sagen doch so wenig. Die Toten sind tot, und kein Wort, so klangvoll es auch sein mag, kann sie je wieder zurückholen. Ruth ist forensische Archäologin und mit Toten wohlvertraut. Sie glaubt fest daran, dass man ihrer gedenken und ihre Knochen mit Respekt behandeln muss, erwartet aber nicht, sie dereinst wiederzusehen, wenn sie auf Wolken der Herrlichkeit himmelwärts schweben. Unwillkürlich blickt sie zum blassblauen Abendhimmel hinauf. Es ist Juni, der längste Tag des Jahres steht kurz bevor.

Teds vernehmliches «Amen» zeigt an, dass der Gottesdienst zu Ende ist, und Ruth kehrt zu den anderen zurück, die dicht gedrängt auf dem in die grasbewachsene Böschung gehauenen Zuschauerrund sitzen oder stehen. Sie geht auf Ted zu, sieht dann aber, dass er mit Trace Richards redet, die ebenfalls zum Team der Feldarchäologen gehört. Ihrem plakativ alternativen Äußeren – lila gefärbtes Haar, zahllose Piercings – zum Trotz kommt Trace aus einer äußerst wohlhabenden Familie und hat sich erst kürzlich mit einem bekannten Geschäftsmann aus der Gegend verlobt. Ruth kann nicht viel mit ihr anfangen, und so dreht sie in letzter Sekunde ab und findet sich neben Janet wieder.

«Mir gefällt dieser Gottesdienst», sagt Janet. «Wir sollten wirklich viel mehr auch an die einfachen Leute denken. Nicht immer nur an Könige und Bischöfe und Leute, die reich genug sind, um sich Schlösser zu bauen.»

«Das ist mit ein Grund, warum ich Archäologin geworden bin», sagt Ruth. «Ich wollte herausfinden, wie die einfachen Leute gelebt haben.» Sie muss an Erik denken, ihren einstigen Doktorvater und Mentor, der immer zu sagen pflegte: «Wir sind ihre Chronisten. Wir halten ihr tägliches Leben, ihre Alltagsgeschäfte, ihre Hoffnungen und Träume für die Ewigkeit fest.» Doch Erik ist tot, und seine Hoffnungen und Träume sind von allen vergessen, außer von Menschen wie Ruth, deren Leben er unwiderruflich geprägt hat.

«Haben Sie nicht gerade eine Ausgrabung oben an der Burg?», fragt Janet.

«Ja», sagt Ruth. «Gleich hier drüben, neben dem Eingang zum Café.»

«Und haben Sie was gefunden?»

«Wir glauben, die Überreste von ein paar Gefangenen gefunden zu haben, die hingerichtet wurden.»

«Woher wissen Sie denn, dass es Gefangene sind?»

«Sie wurden ohne jedes Zeremoniell beerdigt, kein Leichentuch, kein Sarg. Manche hatten noch Fesseln an den Händen. Und sie wurden bäuchlings begraben, mit dem Gesicht nach unten und von Norden nach Süden.»

«Von Norden nach Süden?»

«Bei christlichen Begräbnissen wird normalerweise auf einer West-Ost-Achse beerdigt: Der Kopf zeigt nach Westen, die Füße zeigen nach Osten.»

Janet nickt nachdenklich. «Sie standen also tatsächlich außerhalb aller christlichen Nächstenliebe, oder? Womöglich haben sie noch nicht einmal besonders schlimme Verbrechen begangen. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts kam man manchmal schon als Taschendieb an den Galgen.»

«Ich weiß», sagt Ruth. Das Skelett, das sie gestern ausgegraben hat und bei dem es sich, wie sie glaubt, um eine Frau handeln könnte, die sich eines weitaus schrecklicheren Verbrechens schuldig gemacht hat, erwähnt sie nicht.

«Können Sie die Leichen datieren?», fragt Janet.

«Wir können eine Radiokarbonanalyse der Knochen vornehmen», sagt Ruth, «und die Gegenstände untersuchen, die sich im Grab finden. Außerdem wissen wir, dass verurteilte Straftäter vor allem von Mitte bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts innerhalb der Burgmauern begraben wurden. Vorher wurden sie meistens als Sektionsobjekte an Wundärzte weitergegeben. Sie zu beerdigen war sogar strafbar. Und noch früher wurden sie mit Pech übergossen und in Metallkäfigen gehenkt.»

«Am Galgen.»

«Richtig. Anscheinend konnte man noch bis in die Zeit von Königin Viktoria hinein Tote sehen, die in solchen Käfigen am Galgen ausgestellt wurden.»

«In der Innenstadt gibt es eine Gibbet Street, eine Galgenstraße», sagt Janet. «Und die Heighman Street hieß früher Hangman’s Lane, Henkersgasse. Hinrichtungen waren in Norwich immer ein großes Ereignis», fährt sie in gleichmütigem Ton fort. «Sie wurden hier vor der Burg vollstreckt. Manchmal gab es dazu auch einen Markt oder Jahrmarkt, um die Sache noch vergnüglicher zu machen, und dann erklangen die Glocken von St. Peter Mancroft, und die Verurteilten wurden nach draußen geführt, der Geistliche und der Kerkermeister vorneweg.»

Wie alle guten Historiker schafft es Janet, einem die Vergangenheit plastisch vor Augen zu rufen. Ruth schaut zur Burg hinauf, die sich schwarz und viereckig vor dem Himmel abhebt. Fast glaubt sie, die Gebete des Geistlichen zu hören, so wie zuvor die Worte des Pfarrers, die in der Sommerluft verklangen. Das Läuten der gewaltigen Glocken, das Johlen der Menge, das bleiche Gesicht des zum Tode Verurteilten, bevor ihm die Kapuze übergestülpt wurde.

«Das muss grauenvoll gewesen sein», sagt sie.

«Grauenvoll?», fragt eine Stimme hinter ihr. «Was ist grauenvoll?» Ruth dreht sich um und sieht sich ihrem Institutsleiter Phil Trent gegenüber, der aussieht, als wäre er auf dem Weg zum Kricket: Er trägt eine weiße Hose, ein Polohemd und einen Panamahut.

«Ach, nichts», sagt sie.

Phil fragt nicht weiter. Er interessiert sich selten für das, was Ruth zu sagen hat, obwohl sie zurzeit recht hoch bei ihm im Kurs steht, seit sie einen Vertrag für ihr erstes Buch abgeschlossen hat. Das Buch über eine Ausgrabung in Lancashire hat zwar weder etwas mit Phil noch mit dem Institut zu tun, was Phil aber nicht daran hindert, es sich größtenteils selbst auf die Fahne zu schreiben. Allzu viel Wert auf ihre Gesellschaft legt er normalerweise trotzdem nicht, doch heute sprüht er geradezu vor Herzlichkeit, fasst Ruth am Arm und lenkt sie von Janet weg. Ruth wirft einen entschuldigenden Blick über die Schulter, und Janet reagiert mit einem Lächeln und einem kuriosen kleinen Winken.

«Großartige Neuigkeiten, Ruth», sagt Phil.

Ruth setzt eine neutrale Miene auf. Sie bezweifelt stark, dass diese Neuigkeiten sie betreffen. Es wird sich wohl um eine Beförderung für Phil oder eine neue Geldquelle für das Institut handeln. Womöglich sind sie auch privater Natur. Phil lebt mit Ruths Freundin Shona zusammen, die beiden haben vor kurzem ein Kind bekommen. Vielleicht wollen sie ja heiraten?

«Du weißt doch, unser Fund von gestern.» Er senkt die Stimme.

Das «unser» ist nun wirklich ein starkes Stück, denn Phil war gar nicht vor Ort, als Ruth das Skelett der Frau entdeckt hat, auch wenn er schleunigst erschienen ist, als er davon erfuhr.

«Er hat einiges Aufsehen erregt», fährt er fort.

«Bei der English Heritage?» Jetzt ist Ruth tatsächlich aufgeregt. Wer weiß, was sie noch alles finden könnten, wenn sie die staatliche Förderung von English Heritage für eine richtig große Ausgrabung bekämen? Die Burg von Norwich wurde im Mittelalter erbaut, und der Boden, auf dem sie stehen, muss zahllose Schichten von Schätzen bergen.

«Viel besser.» Phil strahlt vor Freude. «Beim Fernsehen!»

 

Ruth fährt durch nicht enden wollenden Verkehr zurück nach Hause. Sie hat die anderen Archäologen am Fuß der Burg zurückgelassen, wo sie mit warmem Weißwein und den vegetarischen Snacks feiern, die Janet spendiert hat. Das ist einer der größten Nachteile des Daseins als berufstätige Mutter. Die Arbeit selbst ist nicht das Problem, das kriegt man schon alles irgendwie geregelt. Problematisch sind die anderen Sachen. Die Feierabend-Drinks, die Abschiedsfeiern, die Freitagabende, wenn jemand vorschlägt, noch einen Happen essen zu gehen. Mit anderen Worten: all die Gelegenheiten, bei denen die eigentlich wichtigen Kontakte geknüpft werden. Die muss Ruth fast immer ausfallen lassen. Sie kann schon nicht mehr zählen, wie oft sie als Letzte von einer anstehenden Ausgrabung erfahren hat, weil «gestern Abend im Pub» darüber gesprochen wurde. Phil ist besonders gut im Networking, ständig stiehlt er sich mit ein paar Kumpels davon, um bei einem Teller Pasta Pläne zu schmieden. Aber Phil ist ja auch nur berufstätiger Vater. Sein Arbeitsleben wird durch seine Kinder kein bisschen eingeschränkt.

Ruth hingegen hat keine Zeit, im Gras zu liegen und über Tote zu plaudern. Auch so wird es wohl schon nach acht sein, wenn sie Kate bei der Tagesmutter abholt. Sandra ist zwar immer sehr verständnisvoll, doch Ruth will ihre Gutmütigkeit nicht überstrapazieren. Schließlich weiß sie nie, wann sie um den nächsten Gefallen bitten muss. Und so macht sie sich auf die langwierige Fahrt von Norwich nach King’s Lynn, die stauanfälligste Strecke von ganz Norfolk. Doch während sie ständig die Spur wechselt, vor roten Ampeln festsitzt und sich immer wieder für Abkürzungen entscheidet, die den Weg letztlich nur verlängern, ihr aber wenigstens ein Vorankommen suggerieren, denkt sie weder an ihre Kollegen noch an ihre heißgeliebte Tochter. Sie denkt an die Tote von der Ausgrabungsstätte.

Sie wusste es sofort, als sie es sah. Ein Skelett, an dem noch ein paar Fetzen Kleidung hingen, das Gesicht nach unten, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Den Atem allerdings nahm ihr, was sich am Ende des einen Armes befand: ein eiserner Haken, die Spitze schon fast weggerostet, der wenig fachmännisch in den Handwurzelknochen geschraubt war. Als das Skelett vollständig ausgegraben war und Ruth anhand des Beckenknochens erkennen konnte, dass es sich um eine Frau handelte, verfestigte sich ihre Überzeugung, dass sie Jemima Green vor sich hatte, auch bekannt als Mother Hook. Selbst Ruth, die Geschichten über «wahre Verbrechen» hasst wie die Pest (wobei sie die Pest an sich natürlich sehr interessiert), hat schon von Mother Hook gehört, der vermutlich berühmtesten und berüchtigtsten Mörderin in der Geschichte Norfolks. Als sogenannte Babyfarmerin, eine viktorianische Albtraum-Version der heutigen Tagesmutter, war Jemima Green des Mordes an einem Kind angeklagt worden, das ihr zur Pflege überlassen worden war. Man vermutete damals, dass sie noch etwa zwanzig weitere Kinder umgebracht haben könnte. Sie war unter den letzten Frauen, die vor der Burg gehängt wurden, zweifellos vor ausverkauftem Haus. Doch ihr Ruf hat sie überdauert, was sicher größtenteils an dem schaurig-faszinierenden Haken lag. Seit Peter Pan steigerten solche eisernen Prothesen die Schreckenskraft von Theater-Schurken. Und die Tatsache, dass Jemima Green statt einer Hand einen Haken hatte, verstärkte die Vorstellung von einer Frau, der alle natürlichen Instinkte fehlten, einer Mutter, die tötete, anstatt zu hegen und zu pflegen. Die Hand an der Wiege wurde zum Folterinstrument. Ruth fährt unwillkürlich immer schneller und verpasst um ein Haar die Abfahrt auf die A47.

Wenn sie tatsächlich die Überreste von Mother Hook gefunden haben, wird die Öffentlichkeitswirkung enorm sein. Über Jemima Green wurden zahllose Bücher geschrieben und sogar eine recht fragwürdige Musikkomödie mit dem Titel Am Haken. Kein Wunder, dass sich jetzt auch das Fernsehen dafür interessiert. Doch jedes Mal, wenn Ruth an das Skelett denkt, an die Reste der Kapuze, die es noch über dem Kopf trug, und den im Tageslicht funkelnden eisernen Haken, wird ihr eiskalt bis ins Mark. Am liebsten würde sie künftig gar nichts mehr mit dieser Ausgrabung zu tun haben, doch wenn sie an Phils ekstatische Miene zurückdenkt, ist ihr klar, dass sie nicht entkommen kann.

Kate schläft bereits, als Ruth endlich bei Sandra eintrifft, was ihre Schuldgefühle nur noch verstärkt. Sie trägt ihre Tochter zum Wagen, doch während sie noch versucht, die Kleine in den Kindersitz zu verfrachten, wacht Kate auf. «Mum», sagt sie anklagend.

«Hallo, Kate. Wir fahren jetzt heim.»

«Heim», echot Kate und schließt die Augen wieder.

Heim. Während Ruth durch den sommerlichen Abend fährt, vorbei an den Vororten von King’s Lynn, den verführerischen Ausblicken auf das Meer und den Campingplätzen, die sich saisonbedingt allmählich füllen, denkt sie an ihr gemeinsames Heim, ihres und Kates. Ruth bewohnt ein abgelegenes Häuschen am äußersten Rand des Salzmoors. Einen Großteil des Jahres sind ihre einzigen Nachbarn die Vögel, die über das struppige Gras und die sandigen Dünen hinweg zum Meer fliegen. Hin und wieder bekommt sie Gesellschaft in Gestalt ihres nomadischen Nachbarn Bob Woolunga, seines Zeichens australischer Ureinwohner, oder in Gestalt der Wochenendurlauber, denen das Häuschen auf der anderen Seite gehört. Doch meistens ist sie mit Kate allein. Und meistens möchte Ruth das auch genau so haben. In letzter Zeit allerdings, vor allem im vergangenen Winter, als sie tagelang eingeschneit waren, fragt sie sich zunehmend, ob das wirklich der ideale Ort ist, um ein Kind großzuziehen. Sollte sie nicht doch näher an der Zivilisation leben, an Spielgruppen, Asia-Imbissen und solchen Dingen? Das Dumme ist nur, dass Ruth sich in der Regel nicht allzu viel aus der Zivilisation macht.

Es ist noch hell, als sie ihr Häuschen erreicht, doch die Schatten werden bereits dunkler. Der Bewegungsmelder, den Nelson vor drei Jahren eingebaut hat, schaltet sich ein, als Ruth die schlafende Kate ins Haus trägt. Flint, ihr rot getigerter Kater, begrüßt sie überschwänglich und streicht Ruth um die Beine, während sie mit Kate auf dem Arm die Treppe hinaufgeht. Bitte nicht wach werden!, beschwört sie ihre Tochter stumm. Sie liebt dieses Kind mehr als ihr Leben, trotzdem ist die Aussicht auf einen Abend mit Flint und einem Glas Wein vor dem Fernseher um einiges verlockender als stundenlanges Schlafliedersingen und Vorlesen der Abenteuer von Dora, der kleinen Forscherin. Kate schnauft und seufzt zwar, als Ruth sie ins Bett legt, wacht aber zum Glück nicht auf. Auf Zehenspitzen schleicht Ruth zurück nach unten. Flint hält sich dicht hinter ihr. Er will sichergehen, dass seine Abendmahlzeit auch ganz oben auf ihrer Prioritätenliste steht.

Ruth füttert Flint, macht sich ein Sandwich und schenkt sich ein Glas Rotwein ein. Dann schiebt sie einen Stapel Bücher vom Sofa, setzt sich und zappt durch die Programme. Eine Kochsendung? Bitte nicht, sie hat auch so schon genug Gewichtsprobleme, ohne in solchen Kuchen-Pornos zu schwelgen. Restoration Homes? Nein, ihr Mitgefühl für Menschen, die millionenschwere Villen erstehen und sich anschließend über den Hausschwamm in der Orangerie beschweren, hält sich in Grenzen. Die Nachrichten? Na, wenn’s denn sein muss. Sie sollte sich wirklich mehr darüber informieren, was in der Welt so vor sich geht.

Auf dem Bildschirm erscheint ein breitschultriger, dunkelhaariger Mann, der finster in die Kamera blickt.

«DCI Harry Nelson», kommentiert der Nachrichtensprecher, «verweigerte heute jeden Kommentar, doch die Polizei von King’s Lynn bestätigte, dass die siebenunddreißigjährige Liz Donaldson im Zusammenhang mit dem Tod ihrer drei Kinder vernommen wird.»

Jetzt ist das Foto einer blonden Frau zu sehen, die lachend ihr Baby auf dem Arm hält.

2

Als er endlich zu Hause ist, fühlt sich Detective Chief Inspector Harry Nelson, als hätte er mehrere Jahre nicht geschlafen. Und fast zum ersten Mal, seit er verheiratet ist, wünscht er sich beim Anblick des Wagens seiner Frau vor dem Haus, Michelle wäre mit ihren Freundinnen ausgegangen oder zu ihrer Mutter gefahren, anstatt ihn jetzt mit einem warmen Abendessen zu erwarten und einen detaillierten Bericht über seinen Arbeitstag hören zu wollen. Was soll er ihr denn erzählen? Heute habe ich eine junge Mutter verhört, eine Frau, die dir gar nicht unähnlich ist – attraktiv, unabhängig, intelligent –, und musste sie fragen, ob sie ihren drei Kindern Kissen aufs Gesicht gepresst und sie erstickt hat, bis sie tot waren. Ich musste eine Frau, die gerade ihr drittes Kind verloren hat, fragen, ob dieser Verlust womöglich keine Tragödie war, sondern schlichter Mord. Und das alles begleitet von der offenen Feindseligkeit meiner Mitarbeiter. Judy, die glaubt, Liz Donaldson leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Clough, der erklärt, keine Mutter wäre jemals zu so etwas fähig, obwohl er doch weiß, dass Mütter dazu durchaus fähig sind und es auch tun. Selbst Tim, den Nelson als Stimme der Besonnenheit und der Vernunft aus Blackpool hierher geholt hat, fühlt sich unwohl mit der Sache. «Der Untersuchungsrichter hat im Fall der ersten beiden Kinder natürliche Todesursachen festgestellt. Es wäre doch möglich, dass wir es mit einem erblichen Geburtsfehler zu tun haben.» Möglich, aus Nelsons Sicht aber nicht sehr wahrscheinlich. Er hatte schon oft mit solchen Fällen zu tun, er weiß, dass es jedem menschlichen Gefühl widerstrebt, eine Mutter des Mordes an ihren Kindern für fähig zu halten. Als hingebungsvoller Vater findet er es ausgesprochen kränkend, dass die Leute offenbar nur allzu schnell bereit sind, dem Vater die Schuld zuzuschieben. Aber die Mutter … Bei der Mutter ist das etwas anders.

Michelle kommt aus der Küche, als sie ihn die Tür aufschließen hört. Sie ist wie immer wunderschön, trägt noch ihre Arbeitskleidung, ein eng anliegendes graues Kleid und High Heels. Das blonde Haar trägt sie zu einem aufwendigen französischen Zopf geflochten, das sorgfältige Make-up ist nur um die Augen herum ganz leicht verwischt. Im ganzen Haus duftet es würzig nach Shepherd’s Pie. Es stimmt, was Nelsons Mutter ihm immer sagt: Er hat tatsächlich die perfekte Ehefrau. Wie es wohl wäre, zu Ruth nach Hause zu kommen? Sie würde wahrscheinlich mit ihrem Kater auf dem Sofa hocken, Wein trinken und sich irgendwelchen intellektuellen Mist im Fernsehen anschauen. Ärgerlich über sich selbst, schüttelt Nelson den Kopf. Warum zum Teufel denkt er jetzt an Ruth?

«Hallo, Schatz.» Michelle reckt ihm das duftende Gesicht zum Kuss entgegen. «Wie war dein Tag?»

«Absolut beschissen.»

«Deine Mutter hat angerufen und erzählt, sie hätte dich im Fernsehen gesehen.»

Nelson stöhnt auf und geht zum Kühlschrank, um sich ein Bier zu holen. Es ist auch so schon alles schlimm genug, da muss sich nicht auch noch seine Mutter einmischen.

«Es ist dieser Fall», sagt er. «Die Frau mit ihren drei toten Kindern. Ein gefundenes Fressen für die Presse. Wir hatten sogar schon Anrufe aus den Staaten. Whitcliffe ist im siebten Himmel.»

Nelsons Chef Gerry Whitcliffe liebt die Öffentlichkeit – nur einer von vielen Punkten, in denen Nelson und er sich diametral unterscheiden.

«Glaubst du denn wirklich, sie hat das getan?» Michelle holt die Teller aus dem Ofen. «Ihre drei Kinder umgebracht?»

Nelson setzt sich an den Küchentisch und drückt sich die kondenswasserfeuchte Bierdose an die Stirn. «Keine Ahnung», antwortet er müde. «Aber ich muss es in Betracht ziehen. Das ist schließlich mein Job.»

 

Das Dumme ist: Er glaubt tatsächlich, dass sie es getan hat. Liz Donaldson erschien ihm auf den ersten Blick verdächtig. Dabei war er nicht einmal als Erster am Tatort, als das Krankenhaus den plötzlichen Kindstod meldete. Diese Rolle fiel Detective Sergeant Judy Johnson zu, die in Kinder- und Opferschutz geschult ist und dazu noch in Trauerberatung und -begleitung und dem ganzen Kram. Gemäß dem Polizeiprotokoll hat Judy zusammen mit dem Hausarzt bei den Donaldsons vorgesprochen. Sie hat die heiklen Fragen gestellt und den Ort des Ablebens – ein Babybett in einem Zimmer im ersten Stock – in Augenschein genommen. Und sie hat berichtet, die Mutter lege das ruhige, fast entrückte Verhalten an den Tag, das für einen schweren Schock spricht. Nelsons innere Alarmglocken schrillten sofort. Ruhig? Entrückt? Wenn einer seiner Töchter etwas passiert wäre, würde er die Wände hochgehen. Er dachte an den letzten Sommer zurück, als Kate in großer Gefahr gewesen war, an Ruths wilden Blick, während sie sich an ihn klammerte und ihn anflehte, die gemeinsame Tochter zu retten. Von ruhigem Verhalten hätte man damals ganz bestimmt nicht reden können, weder bei ihm noch bei ihr. Doch Judy fand diese Reaktion völlig normal. «Sie empfindet das alles als unwirklich, fast so, als würde sie schlafwandeln. Sie dürfen nicht vergessen, dass sie schon zwei Kinder verloren hat. Wahrscheinlich kann sie gar nicht glauben, dass es schon wieder passiert ist.»

Doch natürlich hat genau diese tragische Tatsache Nelson dazu gebracht, selbst bei Liz Donaldson vorzusprechen. Ein totes Kind, und die fürsorgliche Opferschutzbeamtin steht vor der Tür – drei tote Kinder, dann steht dort ein Detective Chief Inspector nebst Notizbuch und einem bösen Verdacht. Judy begleitete ihn und achtete die ganze Zeit darauf, dass er auch genug Mitgefühl zeigte. Und er hatte ja auch Mitgefühl, natürlich. Herrgott, die Frau hatte schließlich gerade ein Kind verloren. Und auf den ersten Blick wirkte Liz Donaldson auch sehr sympathisch. Sie war groß und schlank, hatte kurzes blondes Haar und eine anziehend dunkle Stimme. Sie empfing Nelson und Judy ohne jede Feindseligkeit, schien die ständigen Störungen durch die Polizei nur als weitere Bürde zu empfinden, die sie zu tragen hatte. Nelson wunderte sich, dass sie allein war. Judy hatte ihm erzählt, es gebe auch einen Mann, sie lebten aber getrennt.

«Das ging ja flott. Das Kind war doch erst ein paar Monate alt.»

«David war acht Monate alt», sagte Judy mit besonderer Betonung auf dem Vornamen. «Und die Ehe lief schon seit geraumer Zeit nicht mehr besonders gut. Der Tod von Samuel und Isaac war eine gewaltige Belastung für die Eltern.»

«Lauter Jungs», bemerkte Nelson.

«Richtig. Das macht es umso wahrscheinlicher, dass wir es mit einem Gendefekt zu tun haben.»

Und lauter biblische Namen, dachte Nelson weiter, behielt den Gedanken aber für sich.

Liz bat sie herein. Das Reihenhaus war fast quälend gründlich aufgeräumt, und drinnen duftete es geradezu betäubend nach Lilien. Lilien für den Tod, wie Nelsons Mutter immer sagte. Das Wohnzimmer war voll mit Karten und Blumen. Nelson überlegte, ob Liz sich wohl an Davids Geburt vor nicht einmal einem Jahr erinnerte, als das Haus sicher auch voll Blumen gewesen war. Jetzt war die Stimmung naturgemäß sehr gedämpft. Malven- und Lilatöne herrschten vor, Fußspuren im Sand, Engel und traurige Teddybären. Aufrichtiges Beileid, wir schließen ihn in unsere Gebete ein, er ist nun geborgen im Schoße Gottes. Nelson saß auf dem äußersten Rand von Liz Donaldsons Sofa und wunderte sich über sich selbst, weil er instinktiv den fast übermächtigen Wunsch verspürte, zu fliehen, so viele Kilometer wie nur möglich zwischen sich und dieses von Tragik erfüllte Zimmer zu bringen. Doch Judy hatte sich bereits vorgebeugt und fragte Liz, wie es ihr gehe, ob sie auch genug schlafe, genug Unterstützung habe …

«Meine Mutter war bis eben hier», sagte Liz. «Gestern war Bob da, aber der Arme ist natürlich am Boden zerstört. Manchmal glaube ich, für Männer ist es schlimmer.»

Bob, registrierte Nelson. Das musste dann wohl der Exmann sein. Er glaubte, eine gewisse Selbstgefälligkeit in Liz’ Stimme zu hören. Bob war am Boden zerstört, während Liz hier saß, bleich, aber eindeutig intakt, und mit trauriger Würde ihre Fragen beantwortete.

«Es tut mir so leid, Liz», sagte Judy. «Aber wir müssen Ihnen noch ein paar Fragen zu Samuel und Isaac stellen. Ist das in Ordnung?»

«Aber ja.»

«Samuel war ein halbes Jahr alt, als er starb, und Isaac knapp über ein Jahr?»

«Richtig.»

«Haben Sie je erfahren, was die Todesursache war?»

Liz wandte den Kopf, betrachtete mit leerem Blick eine Karte, die einen kitschtriefenden Nachthimmel zeigte, darüber die Worte: «Heimgeholt zu Gott».

«Plötzlicher Kindstod. So stand es auf den Sterbeurkunden.»

Das wussten Nelson und Judy bereits aus den Unterlagen. In der Sprache der Untersuchungsrichter steht «plötzlicher Kindstod» für einen ungeklärten Todesfall, der keine weiteren Ermittlungen nach sich zieht. Nelson fragte sich, wer wohl die Obduktionen durchgeführt hatte.

«Es war sicher sehr schwer, keine Antworten zu bekommen», sagte Judy.

«Das war mit das Schwerste», sagte Liz. «Wir wussten einfach nicht, warum es passiert ist. Weder Bob noch ich haben jemals geraucht, keiner von uns hat Asthma, keiner hat Herzprobleme. Als Sammy starb, konnten wir noch glauben, dass es einfach ein schrecklicher Schicksalsschlag war. Aber als uns Isaac genommen wurde …»

Genommen wurde, dachte Nelson. Seltsame Wortwahl. Doch Judy war weiterhin mitfühlend und einfühlsam und entlockte Liz auf diese Weise geschickt den Ablauf der Ereignisse. Samuel hatten sie eines Morgens tot im Bett gefunden, Isaac hatte plötzlich schlapp und teilnahmslos gewirkt. Sie waren mit ihm ins Krankenhaus gefahren, doch er war noch in der Notaufnahme gestorben. Und David hatte, wie sein ältester Bruder, nach dem Mittagsschlaf kalt und blau angelaufen im Bett gelegen.

«Ich wusste, dass er tot ist», erzählte Liz, «aber ich habe trotzdem noch versucht, ihn wiederzubeleben. Immer wieder habe ich es versucht, auch noch, als mir die Sanitäter schon gesagt hatten, dass es nichts bringt.»

Nelson nahm sich vor, diese Geschichte zu überprüfen.

«Sie sind Krankenschwester, nicht wahr?», fragte Judy.

«Früher. Bevor ich … bevor die Jungs kamen.»

Die Jungs. Das klang nach Familie, nach einer fröhlichen Geschwisterbande. Doch Liz Donaldson hatte nie mehr als ein Kind gleichzeitig gehabt, jeder Junge war gestorben, bevor der nächste Bruder zur Welt kam. Nelson hatte versucht, sich vorzustellen, wie das wohl sein mochte, doch es gelang ihm nicht. Jetzt fällt ihm wieder ein, dass Liz sich plötzlich vorbeugte und Judy am Arm fasste.

«Haben Sie Kinder?»

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Judy nicht antworten, doch dann sagte sie ganz leise: «Ja.»

«Wie viele?»

«Einen Jungen. Er ist gerade ein Jahr geworden.»

«Passen Sie auf ihn auf», sagte Liz Donaldson. «Passen Sie gut auf ihn auf.»

3

Phil ist bereits an der Ausgrabungsstätte, als Ruth am nächsten Morgen dort eintrifft. Ursprünglich sollte die Grabung keine große Sache werden; sie war veranlasst worden, weil die Stadtverwaltung neue öffentliche Toiletten bauen lassen wollte. In solchen Fällen ist die Aufgabe der Archäologen normalerweise ganz einfach: Sie kommen vor den Bauarbeitern, suchen das Gelände nach Auffälligkeiten ab und graben ein wenig. Die stillschweigende Vereinbarung lautet, dass die Bauarbeiten danach wie geplant vonstattengehen, falls nicht mindestens die Bundeslade gefunden wurde. Den Archäologen bleibt nicht viel mehr zu tun, als ihre Entdeckung zu protokollieren und ein paar Proben für die Nachwelt zu entnehmen. Ruth denkt oft darüber nach, dass es wahrscheinlich im ganzen Land Parkhäuser und Bürogebäude gibt, die auf römischen Gehöften und den Gräbern toter Könige stehen. Doch wie bei so vielem hat auch hier das Geld das letzte Wort, und Bauunternehmer haben in aller Regel mehr Geld als Archäologen. Und Toiletten sind wichtiger als alte Knochen.

Dass sie nun aber womöglich Mother Hook gefunden haben, ändert alles. Als Ruth den Hang hinuntergeht, sieht sie dort unten nicht nur ihren Institutsleiter stehen, sondern auch den Bezirksarchäologen sowie einen Mann mit roter Brille, der mit einer Digitalkamera Fotos macht. Auch Ted ist gekommen, er trinkt Kaffee aus einer Thermosflasche und beobachtet die Szene mit süffisantem Blick.

«Da ist sie ja!», ruft Phil überschwänglich und vermittelt fast den Eindruck, als hätte Ruth sich verspätet. Dabei ist sie sogar fünf Minuten zu früh.

Sie tritt an den Graben, der zum Picknickplatz hin abgezäunt wurde. Hinter ihnen ragt das Café wie eine riesige gläserne Kugel aus der Wiese, und auf der anderen Seite, jenseits der Brücke, dräut klobig und geheimnisvoll die Burg. Die Ausgrabung des Frauenskeletts haben sie tags zuvor abgeschlossen, es wurden bereits Proben zur Radiokarbondatierung und zum DNA-Test verschickt. Heute hat Ruth die Aufgabe, den Kontext zu analysieren, den Grabstich und die aufgeschüttete Erde nach Hinweisen abzusuchen und eventuelle Gegenstände wie Glas- oder Tonscherben und Münzen ausfindig zu machen, die ihr bei der genaueren Datierung der Bestattung helfen können. Das würde sie jetzt auch gern in Ruhe tun, doch Phil sitzt ihr weiterhin aufgeregt im Nacken. Er hat sich in sein bestes Indiana-Jones-Outfit geworfen: Safari-Shorts und ein kurzärmeliges Hemd. Ruth kann sich allerdings kaum erinnern, wann sie ihn zuletzt aktiv graben gesehen hat.

«Mark, darf ich vorstellen? Das ist Doktor Ruth Galloway, die Leiterin der Abteilung für Forensische Archäologie. Ruth, das ist Mark Gates.» Er senkt ehrfürchtig die Stimme. «Er recherchiert fürs Fernsehen.»

Verflixt, denkt Ruth, das ging aber schnell. Phil muss sich gleich nach der Begutachtung der Knochen ans Telefon gehängt haben. Sie gibt Mark Gates die Hand, und der mustert sie eingehend, als überlegte er bereits, wie sie sich im Fernsehen machen würde. Wahrscheinlich fragt er sich, wo er ein Weitwinkelobjektiv herbekommt.

«Sie sind also die Dame, die die Knochen gefunden hat», sagt er.

Ruth lässt sich nur ungern als Dame bezeichnen, aber solche Diskussionen eignen sich nicht für eine erste Begegnung, und sie will Phil auch keine Gelegenheit geben, sich mit scherzhaftem Blick gen Himmel in die Pose des Mannes zu werfen, der den allgegenwärtigen Feministinnen hilflos ausgeliefert ist. Also lächelt sie nur und bestätigt, das Skelett ausgegraben zu haben; es gebe allerdings noch etliche Tests durchzuführen.

«Aber Sie sind sich einigermaßen sicher, dass es Jemima Green ist? Mother Hook?»

«Also, zeitlich kann es ungefähr hinkommen …», setzt Ruth an, doch Phil fällt ihr ins Wort. «Aber ja, absolut. Eine Frau mit einem Haken am Arm. Wer soll das denn sonst sein?»

«Captain Hook im Fummel?», lässt sich Ted aus dem Graben vernehmen. Phil geht nicht darauf ein.

«Falls sie es nämlich tatsächlich ist», sagt Mark, immer noch an Ruth gewandt, «wäre unser Format sehr daran interessiert. Wirklich sehr. Das würde sich perfekt für eine unserer Sondersendungen eignen.»

Ruth fragt sich, für welches Fernsehformat er wohl arbeitet. Er sieht nicht aus, als wäre er bei Time Team.Wahrscheinlich eine akademische Archäologen-Serie. Auf dem Geschichtssender.

«Von welchem Format reden wir?», fragt Ted.

«Mordende Frauen», antwortet Mark und legt dabei einen gewissen makabren Genuss in seine Stimme.

 

Auch Nelson spricht gerade über mordende Frauen. Dummerweise ist seine Gesprächspartnerin Madge Hudson, ihres Zeichens Fallanalytikerin und die Queen des Superoffensichtlichen, wie Nelson sie insgeheim nennt. Außerdem sind DS Judy Johnson, DS Dave Clough und DS Tim Heathfield anwesend. Tim ist Anfang des Jahres zum Team gestoßen, er hat sich aus Blackpool versetzen lassen, wo er eng mit Nelsons altem Freund Sandy MacLeod zusammengearbeitet hat. Bisher hat er sich als gute Ergänzung der Truppe erwiesen: Er ist besonnen und professionell, behandelt seine Kollegen mit Respekt und verlässt sich auf ihre Ortskenntnis. Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass sowohl Judy als auch Clough ihn argwöhnisch beäugen. Clough misstraut Neuzugängen aus Prinzip, und wenn es dann auch noch Männer mit Universitätsabschluss sind, die sportlicher und attraktiver sind als er, wird aus dem Misstrauen schnell offene Feindseligkeit. Und Judy, von der Nelson eigentlich gedacht hat, sie würde sich gut mit Tim verstehen, ist sogar noch zurückhaltender. Immerhin hat die gemeinsame Abneigung Judy und Clough einander nähergebracht, was an sich schon an ein Wunder grenzt. Nelson weiß nicht, was Tim von seinen neuen Kollegen hält. Bis auf die leicht zynische Bemerkung, er sei anscheinend der «einzige schwarze Polizist in ganz Norfolk», weist bisher nichts darauf hin, dass Tim sich in der neuen Umgebung unwohl fühlt. Seine glatte, höfliche Fassade macht es seltsam schwer, ihm persönliche Fragen zu stellen, doch Nelson hat das Gefühl, dass er es zumindest einmal versuchen sollte.

Madge lächelt in die Runde, in seliger Unkenntnis der diversen Antipathien im Raum.

«Wir haben es hier also mit einer Frau zu tun», erklärt sie und schwingt sich damit zu ganz neuen Höhen des Superoffensichtlichen auf. «Eine Frau, die verdächtigt wird, ihre drei Kinder umgebracht zu haben. Nun leiden Frauen, die ihre Kinder umbringen, häufig an Depressionen.»

Sag bloß, denkt Nelson. Und ich dachte die ganze Zeit, Kindsmord ist ein Zeichen, dass alles prima läuft.

«Oft tragen sie aber auch eine höchst intakte Fassade zur Schau. Ein perfektes Äußeres kann sehr wichtig für sie sein.»

Nun muss Nelson doch an Liz Donaldsons makelloses Haus denken. Sie trug sogar Hausschuhe, fällt ihm ein, um den Teppich zu schonen.

«Reden wir hier vom Münchhausen-Syndrom?», fragt Tim.

Cloughs finsterer Blick entgeht Nelson nicht. Cloughie wird jedes Mal sauer, wenn Tim Wörter mit mehr als zwei Silben benutzt.

«Vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom», berichtigt Madge. «Ich halte das für durchaus denkbar. Das Münchhausen-Syndrom», fährt sie fort, an Clough gewandt, «ist eine psychische Störung, bei der die Betroffenen Krankheiten vortäuschen, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Im Fall des Münchhausen-Stellvertreter-Syndroms wird die Krankheit bei anderen vorgetäuscht, häufig bei leiblichen Kindern, was in manchen Fällen dann tatsächlich zu der Krankheit führt.»

«Ich weiß, was das ist», faucht Clough. «Da gab es doch den Fall mit dieser Krankenschwester.»

«Liz Donaldson ist auch Krankenschwester», entfährt es Nelson, bevor er sich zurückhalten kann.

«Beverley Allitt», bestätigt Madge, «wurde des Mordes an vier Kindern angeklagt, die sich in ihrer Obhut befanden, und des versuchten Mordes an drei weiteren. Eine Theorie besagt, dass sie am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt.»

«Aber sie hat trotzdem lebenslänglich bekommen», sagt Clough.

«Ja, sie sitzt ihre Strafe im Rampton Maximum Security Hospital ab, einer Klinik für psychisch kranke Straftäter. Der Richter hat eine Haftempfehlung von mindestens vierzig Jahren ausgesprochen. DCI Nelson hat übrigens nicht unrecht mit seiner Bemerkung.»

Das hätte Nelson nun wahrhaftig nicht erwartet.

«Patienten mit Münchhausen-Syndrom verfügen oft über medizinisches Wissen. Liz Donaldson war als Krankenschwester tätig. Sie muss über Symptome und Behandlungsmethoden Bescheid wissen. Also weiß sie auch genau, worauf Ärzte und Pflegepersonal achten.»

«Das liegt aber schon länger zurück», wirft Judy ein. «Seit der Geburt ihres ersten Kindes hat sie nicht mehr gearbeitet.»

«Auch das kann in sich bereits bedeutsam sein», sagt Madge. «Vielleicht fehlt ihr ja die Anerkennung in ihrem Beruf. Vielleicht wollte sie beweisen, dass sie mindestens so schlau, wenn nicht sogar schlauer ist als das medizinische Personal, das sich um ihre Kinder gekümmert hat.»

«Indem sie die Kinder umbringt?» Nelson kann nicht verhindern, dass Skepsis in seiner Stimme mitklingt. Er verdächtigt Liz Donaldson zwar, aber der Gedanke, dass sie ihre Kinder umgebracht haben soll, um intelligent zu wirken, erscheint ihm dann doch als gefährliche Vereinfachung. Er kann sich richtig vorstellen, wie die Verteidigung reagieren würde, wenn ihr die Staatsanwaltschaft vor Gericht damit käme.

Madge lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie hat Nelson einmal erklärt, seine ablehnende Haltung ihr gegenüber beruhe in Wahrheit auf Bewunderung, womöglich sogar erotischer Anziehung. Seither meidet Nelson sie so weit wie möglich. Dummerweise wird Madge bei allen großen Fällen hinzugezogen. Nelsons Chef, Superintendent Whitcliffe, hält sie für brillant.

«Frauen morden aus den merkwürdigsten Gründen», entgegnet sie jetzt mit engelsgleichem Lächeln.

«Männer aber auch», sagt Judy. «Und am Münchhausen-Syndrom leiden doch nicht nur Frauen. Was ist mit ihrem Mann?»

«Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom befällt vorwiegend Frauen», erwidert Madge. «Und soweit ich weiß, war der Mann bei keinem der Todesfälle anwesend. Was im Übrigen auch ein Faktor sein könnte. Vielleicht hat Liz ja versucht, die Aufmerksamkeit ihres Mannes zurückzugewinnen. Womöglich war es ihr auch ein Dorn im Auge, dass Bob beruflich so gut vorankam, während sie selbst auf der Stelle trat.»

Madge ist offenbar schon auf Du und Du mit den Donaldsons, obwohl sie ihnen nie begegnet ist. Und beruflichen Neid findet Nelson grundsätzlich ein sehr fragwürdiges Motiv. Michelle hat ihre Stelle als Friseurin schließlich auch aufgegeben, als die Kinder kamen. Und als die Mädchen auf der weiterführenden Schule waren, hat sie wieder angefangen zu arbeiten. Nelson kann sich nicht erinnern, dass das eine große Lebenskrise ausgelöst hätte. So machte man das eben einfach.

«Das sind aber doch alles nur Spekulationen», sagt Clough. «Es gibt schließlich keine Beweise.»

Und genau da liegt das Problem. Es gibt tatsächlich keine echten Beweise. Sie warten immer noch auf das Ergebnis von Davids Obduktion. Der Tod der beiden anderen Kinder gilt zwar als «ungeklärt», doch Nelson hat ein ganzes Heer von Experten aufgefahren, denen zufolge die Berichte durchaus auf Ersticken hindeuten könnten. Das hat ihn auch bewogen, Liz Donaldson zur weiteren Befragung einzubestellen. Irgendwie ist das aber an die Presse durchgesickert, und in Ermangelung weiterer Beweise musste er die Frau ohne Anklage wieder gehen lassen. Er weiß genau, dass er sich auf dünnem Eis bewegt. Die Zeitungen schwanken in ihren Artikeln zwischen böser Kindsmörderin und zu Unrecht verfolgter Mutter. Ein falscher Schritt, und Nelson steht als der größte Bösewicht von allen da. Dann wird Whitcliffe ihn feuern, und er selbst wird immer noch nicht wissen, wer Samuel, Isaac und David umgebracht hat.

Angesichts der Namen sagt er: «Kann es vielleicht einen religiösen Zusammenhang geben? Die drei Jungen hatten alle biblische Vornamen.»

«Liz Donaldson ist nicht religiös», erwidert Judy. «Sie hat ihre Söhne zwar anglikanisch taufen lassen, aber sie ist keine Kirchgängerin. Und sie ist auch keine Wiedererweckte oder …» – das mit einem raschen Seitenblick auf Nelson – «… katholisch.» Genau wie Nelson ist auch Judy katholisch aufgewachsen.

«Wieso dann die religiösen Namen?», beharrt Nelson.

«So was ist doch jetzt modern», meint Clough, der selbst David mit Vornamen heißt. «Heutzutage heißen alle Kinder Noah und Joshua oder so. Das hat nichts zu sagen.»

«Isaak wäre beinahe von seinem Vater geopfert worden», sagt Tim. «Samuel wurde von Gott gerufen. Und David war der Erwählte. Alle drei sind Propheten aus dem Alten Testament.»

«Kennst dich ja gut aus», bemerkt Clough.

«Ich bin in einem sehr religiösen Haushalt groß geworden», entgegnet Tim sanft. «Selbst bin ich allerdings Agnostiker.»

Das passt ja, denkt Nelson. Ihm ist bereits häufiger aufgefallen, dass Tim sich gern alle Möglichkeiten offenhält.

«Aber es ist ein interessanter Gedankengang.» Madge lächelt Tim wohlwollend zu. «Das Kind als Bußopfer.»

Nelson muss daran denken, was Ruth ihm einmal von den Kindern erzählt hat, die unter Türschwellen beerdigt wurden, als Opfer an Janus, den römischen Gott des Anfangs und des Endes. Laut sagt er: «So kommen wir nicht weiter. Wir warten jetzt erst mal das Ergebnis von Davids Obduktion ab. Falls es dann irgendwelche Hinweise auf verdächtige Umstände gibt, holen wir Liz Donaldson wieder aufs Revier. Irgendwann wird sie schon mürbe werden.»

«Da wäre ich mir nicht so sicher», sagt Madge. «Vergessen Sie nicht, sie hat wahrscheinlich sogar Freude daran, ihre Intelligenz an der Ihren zu messen.»

Judy schnaubt nur, als wollte sie andeuten, dass Nelson in einem Kampf des Intellekts zwangsläufig den Kürzeren ziehen muss.

 

Zurück im Büro, wird Nelson von seiner Assistentin Leah mit der Nachricht empfangen, sein Zauberer-Freund habe angerufen.

«Cathbad?», fragt Nelson.

Judy, die noch in der Tür steht, gibt einen unwillkürlichen Laut von sich.

Nelson dreht sich zu ihr um. «War noch was, Judy?»

«Nein.» Sie entfernt sich.

Als Nelson allein ist, ruft er seinen Freund zurück, der streng genommen Druide ist und kein Zauberer. Cathbad fehlt ihm, seit er vor einiger Zeit nach Lancashire gezogen ist. Er mag zwar zweifellos ein gewaltiger Spinner sein, aber er ist doch immer für hochinteressante Gespräche gut.

Cathbad redet nicht lange um den heißen Brei herum. «Liz Donaldson ist unschuldig.»

«Was weißt denn du darüber?»

«Ich weiß es einfach», erwidert Cathbad, nervtötend kryptisch wie immer.

«Ach so, na dann. Ich werde die Ermittlungen gleich abbrechen. Nett, dass du angerufen hast.»

«Sarkasmus ist nur ein Verteidigungsmechanismus, Nelson.»

«Ich brauche auch alles an Verteidigung, was ich kriegen kann.»

Cathbad gibt ein wenig nach. «Ich kenne Liz Donaldson. Sie ist ein wunderbarer Mensch. Es ist völlig undenkbar, dass sie zu so etwas fähig sein soll.»

Aber auch das Undenkbare passiert, antwortet Nelson im Stillen. Daran denkt er ständig. Laut sagt er: «Ich kann diesen Fall nicht mit dir besprechen, Cathbad.»

Cathbad seufzt – dort oben im Norden, in Nelsons Territorium. «Sei bloß vorsichtig, Nelson», sagt er.

«Inwiefern vorsichtig?»

«Wenn du eine Unschuldige verurteilst, rufst du einen Fluch auf dich herab.»

Und Nelson weiß, das ist nicht als Scherz gemeint.

4

In ziemlich aufgewühlter Verfassung tritt Ruth den langen Heimweg an. Sie hatte sich auf einen friedlichen Ausgrabungstag gefreut, doch Phil hat ihn ihr verdorben, weil er die ganze Zeit mit seinem neuen Freund vom Fernsehen dort herumgelungert hat, und der stellte lauter dumme Fragen.

«Haben Sie was Interessantes gefunden?» Mark schaute neugierig in den Graben und zertrampelte dabei mit seinen hippen roten Converse die perfekt abgezirkelten Ränder.

«Glasscherben.» Ruth deutete auf die Fundstücke, die, ordentlich aufgereiht, auf der Plane lagen. «Allem Anschein nach viktorianisch.»

«Und warum sind hier Glasscherben vergraben?»

Ruth seufzte. «Das kann alle möglichen Gründe haben. Sie befinden sich im Oberboden, der ist meist einfach nur eine Ansammlung von Gegenständen, Abfall, Bauschutt und dergleichen. Womöglich haben sie gar nichts mit der Toten zu tun.»

«Und wenn Sie jetzt was richtig Aufregendes fänden? Ihr Tagebuch zum Beispiel?»

Ruth hat ihn nicht gefragt, wieso er glaubt, Jemima Greens Tagebuch könnte mit ihr begraben worden sein. Wahrscheinlich konnte die Frau nicht einmal lesen, geschweige denn Tagebuch über ihre Verbrechen führen. 8. Februar 1866. Heute war ein geschäftiger Tag. Ich war auf dem Markt, habe den Boden geschrubbt und ein Kind umgebracht. Stattdessen erwiderte sie bloß trocken: «Das wäre tatsächlich ein sagenhafter Fund. Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss hier weitermachen.»

Als Mark sah, wie sie mit einem Pinsel Erde von einem Knochenfragment entfernte, kannte seine Begeisterung keine Grenzen mehr.

«Ist der von einem Menschen? Könnte von einem Kind sein.»

«Er stammt von einem Tier», sagte Ruth. «Höchstwahrscheinlich von einem Schaf.»

«Ich hätte wirklich gern ein paar Einstellungen, wie Ruth Knochen säubert», sagte Mark zu Phil. «Haben Sie vielleicht ein paar Knochen übrig, die wir dafür nehmen können?»

«Oh, wir haben massenhaft Knochen», antwortete Phil eifrig. «Bei uns im Institut ist alles voller Knochen. Stimmt’s, Ruth?»

Ruth schenkte ihm keine Beachtung.

Dabei hat sie sogar tatsächlich etwas Interessantes im Graben gefunden. Zum Glück machte sie die Entdeckung, als Phil und Mark beim Mittagessen waren (sie hat die Einladung, mitzukommen, abgelehnt, Ted hingegen ließ sich, als er das Wort «Pub» hörte, nicht zweimal bitten). Gerade hatte sie beschlossen, sich kurz hinzusetzen und ihr einsames Sandwich zu verzehren, als sie in dem kalkhaltigen Boden etwas glitzern sah. Nachdem sie es sorgfältig freigelegt hatte, sah sie, dass es ein Amulett war, vermutlich eine Silberlegierung, jetzt aber angelaufen und vom Alter grünlich verfärbt. Ruth betrachtete den Anhänger und versuchte, das Bild darauf zu erkennen. Es schienen zwei Köpfe zu sein. Die Muttergottes mit dem Kind? Der heilige Christophorus? Hatte der das Jesuskind nicht irgendwo hingetragen (in einen Indoor-Spielplatz zum Beispiel)? Ruth musste an Janus denken, den zweiköpfigen Gott, und an Hekate, die Göttin der Zauberkunst, die manchmal mit drei Köpfen dargestellt wird. Oder zeigte das Bild womöglich etwas weniger Alltägliches, Unheilvolleres? Nachdenklich hockte sie sich hin. Es war nicht gesagt, dass dieses Medaillon Jemima Green gehört hatte, obwohl es ungefähr auf der richtigen Höhe lag. Auf jeden Fall war es aber ein besonderer Fund. Sie konnte sich Marks frenetische Begeisterung nur zu gut vorstellen: «War Mother Hook eine Teufelsanbeterin?» Aus einem Impuls heraus schob sie das Amulett in die Hosentasche.

Jetzt, auf dem Heimweg, fragt sie sich, warum sie diesen Fund vor den anderen verheimlicht hat. So etwas geht gegen alles, was sie im Archäologiestudium gelernt hat. Jeder Fund muss erfasst, dokumentiert, fotografiert und Teil des Ausgrabungsberichts werden. Das mache ich alles morgen, sagt sie sich. Wenn dieser Mark nicht mehr dabei ist. Wahrscheinlich hat es mit dem Amulett ohnehin nichts auf sich. Der Christophorus-Anhänger, den ein Bauarbeiter verloren hat, als der Parkplatz gebaut wurde. Tief drinnen weiß Ruth allerdings, dass das nicht stimmen kann. Die Bodenschichten über Jemima Greens Leiche waren völlig intakt. Hier ist seit über hundert Jahren nicht mehr gegraben worden.

Sie muss an Erik denken, der an der Universität ihr Betreuer war und früher einmal der Mensch, den sie mehr bewunderte als jeden anderen. Erik war es auch, der am Strand unweit des Salzmoors den Henge aus der Bronzezeit entdeckt hat. Die Henge-Ausgrabung vor dreizehn Jahren gehört bis heute zu Ruths schönsten Erinnerungen. Die weiten, unberührten Sandflächen im frühen Morgenlicht, die Flut, die sich über das Sumpfland ergoss, der erste Anblick des hölzernen Henges, eines auch nach viertausend Jahren noch völlig intakten heiligen Kreises. Etliche Anwohner, darunter auch Cathbad, wollten den Henge an Ort und Stelle belassen, dem Wind und den Gezeiten ausgesetzt. Erik hatte Verständnis dafür. «Manchmal können wir gar nichts Besseres tun, als etwas dort zu lassen, wo es hingehört.» Doch die Behörden setzten sich durch, und die Holzpfähle wurden in ein Museum gebracht. Ob Erik es wohl richtig gefunden hätte, dass Ruth Jemima Greens Amulett an sich nimmt? Er wäre vermutlich der Ansicht gewesen, dass es, als einzige, armselige Grabbeigabe, bei der Toten bleiben müsse. Andererseits wäre er aber ganz sicher gegen die Mordenden Frauen gewesen und hätte das Amulett bei Ruth besser aufgehoben gewusst als bei Mark oder Phil.

Die Gedanken an Erik machen Ruth unruhig. Zu Hause angekommen, geht sie nicht nach drinnen, sondern macht sich mit Kate auf den Weg durch die Dünen, hin zum Meer. Es ist so ein schöner Abend, die Tümpel aus klarem Wasser schimmern blau und golden, die Möwen fliegen tief über dem Wasser. Der Weg über das Moor ist zwar nicht ungefährlich, doch Ruth folgt einem Pfad, der schon vor langer Zeit entstanden ist, genauer gesagt, vor zweitausend Jahren. Ein Dammweg aus der Eisenzeit, der zwar erst Jahre nach dem Henge angelegt wurde, nach Eriks Ansicht aber mit ihm in Verbindung stehen muss. «Dies ist heiliger Boden, Ruthie. Ein Übergang. Eine Brücke zwischen Land und Meer, zwischen Leben und Tod. Das wussten die Menschen schon vor vielen tausend Jahren.» Inzwischen sind von dem Dammweg nur noch ein paar halb versunkene Holzpfähle übrig. Ihnen folgt Ruth jetzt, während Kate neben ihr herhüpft, und denkt daran, wie sie den Weg damals entdeckt hat, als sie sich bei Dunkelheit im Moor verirrt hatte. Cathbad hatte natürlich immer schon davon gewusst. Ruth ist so tief in der Vergangenheit versunken – der jüngeren wie der sehr viel ferneren –, dass sie regelrecht erschrickt, als ihr Handy klingelt. Doch als sie auf das Display schaut, ist sie kein bisschen überrascht. Es ist Cathbad.

«Hallo, Cathbad. Ich bin gerade mit Kate auf dem Salzmoor unterwegs.»

Eigentlich hat sie damit gerechnet, dass er darauf reagieren wird – das Salzmoor gehört schließlich zu seinen Lieblingsorten und Kate zu seinen Lieblingsmenschen. Doch Cathbads Stimme klingt hart und geschäftsmäßig.

«Ruth. Hast du das mit Liz Donaldson gehört?»

«Mit wem?»

«Liz Donaldson. Die Frau, der vorgeworfen wird, ihre drei Kinder umgebracht zu haben.»

Erst weiß Ruth immer noch nicht, wen er meint, doch dann sieht sie plötzlich das Gesicht einer Frau vor sich, einer lachenden blonden Frau mit einem Baby auf dem Arm.

«Das war doch gestern in den Nachrichten», sagt sie.

«Ja. Es wurde viel darüber berichtet. Und es ist Nelsons Fall.»

«Ich weiß.» Ruth fällt etwas ein. «Ich dachte aber, sie ist gar nicht angeklagt. In dem Bericht, den ich gesehen habe, hieß es nur, dass sie vernommen wurde. Nelson hat jeden Kommentar verweigert.»

Cathbad lacht bitter auf. «Ja, das kann er gerade ziemlich gut. Sie haben sie tatsächlich verhört und mussten sie wieder gehen lassen, aus Mangel an Beweisen. Aber es liegt doch auf der Hand, was sie denken. Für die Polizei hat sie es getan.»

«Und du glaubst das nicht?»

«Nein. Ich weiß, dass sie es nicht war. Ich kenne Liz. Sie ist mit Delilah befreundet, hat früher auf die Kinder aufgepasst. Sie ist wirklich wunderbar. Sie könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.»

Ruth schweigt. Delilah ist Cathbads Exfreundin, sie haben eine gemeinsame Tochter, die inzwischen schon fast erwachsen sein muss. Herzklopfen bekommt Ruth jetzt aber aus einem anderen Grund, denn Delilah ist auch die Mutter von Scarlet Henderson, dem kleinen Mädchen, dessen Verschwinden zu Ruths erster Zusammenarbeit mit DCI Harry Nelson geführt hat. Durch Scarlets Tod ist sie überhaupt erst in diese entsetzliche Welt geraten, in der Kinder getötet werden und das Grauen ganz dicht unter der Oberfläche lauert. Manchmal würde Ruth alles dafür geben, wieder in das Leben vor Scarlet zurückzukehren, doch sie weiß, dass das nicht möglich ist. Kate heißt mit zweitem Namen Scarlet.

«Ich wusste gar nicht, dass du noch Kontakt zu Delilah hast», sagt sie. Nach Scarlets Tod hat Delilah mit ihrer Familie Norfolk verlassen.

«Wir telefonieren hin und wieder», sagt Cathbad. «Maddie studiert jetzt in Leeds.»

«Hast du schon mit Nelson gesprochen?», fragt Ruth. «Wegen Liz Donaldson?»

«Allerdings», sagt Cathbad. «Ich habe ihm gesagt, wenn er Liz nicht in Ruhe lässt, muss er mit einem schweren Rückschlag für sein Karma rechnen.»

«Und was hat er dazu gesagt?»

«Er meinte, er lässt es drauf ankommen.»

Ruth kann sich das Gespräch lebhaft vorstellen. Sie haben jetzt eine schmale Kiesbank erreicht, die an beiden Seiten von Wasser umgeben ist. Kate zieht an Ruths Hand, will in die Tümpel springen. «Nein, Kate. Du hast keine Gummistiefel an.»

«Ist das Hekate?» Cathbads Ton wird weicher. «Gib ihr einen Kuss von mir.»

«Sie heißt Kate», sagt Ruth. Doch auch ihre Stimme klingt weicher.

«Ruthie», sagt Cathbad, «ich möchte, dass du mit Nelson redest.»

«Ich?»

«Ja. Ihr habt doch eine besondere Verbindung. Ich möchte, dass du ihn von Liz’ Unschuld überzeugst.»

Schweigend folgt Ruth dem Pfad durch die schöne, gefährliche Moorlandschaft. Hat sie wirklich eine besondere Verbindung zu Nelson? Er ist Kates Vater, doch Ruth weiß, dass er seine Frau nie verlassen wird. Damit hat sie sich abgefunden, und auch wenn es manchmal noch weh tut, behält sie diesen Schmerz doch für sich. Als forensische Archäologin hat sie die Polizei bei diversen Gelegenheiten unterstützt, und Nelson respektiert ihre berufliche Meinung, aber sie hört förmlich, wie er reagieren wird, wenn sie sich in einen Fall einmischt, mit dem sie nichts zu tun hat.

«Er wird nicht auf mich hören», sagt sie. «Er wird mir nur erklären, dass mich das nichts angeht. Und damit hätte er auch recht.»

«Ruthie …»

«Sag nicht immer Ruthie zu mir.» So durfte sie nur Erik nennen.

«Denk drüber nach», sagt Cathbad. «Die Frau hat drei Kinder verloren. Sie hat den schlimmsten Albtraum durchlebt, den man sich vorstellen kann, hat in die dunkelsten Winkel des menschlichen Herzens geschaut. Und jetzt behauptet die Polizei auch noch, sie hätte ihre eigenen Kinder getötet.»

Vielleicht hat sie das ja auch getan, denkt Ruth. Doch sie weiß, es hat keinen Sinn, das auszusprechen. Cathbad ist auf einem seiner Kreuzzüge. Das hört sie ihm an.

«Ich werd’s versuchen», sagt sie schließlich.

«Danke, Ruthie.»

5

«Noch mal ganz langsam zum Mitschreiben. Cathbad glaubt, sie war es nicht, und darum soll ich mich jetzt zurückziehen? Fall erledigt?»

Allzu gut läuft es nicht. Es ist Sonntagnachmittag, und Ruth, Nelson und Michelle sind mit Kate zu einem Gnadenhof für Pferde in der Nähe von Yarmouth gefahren. Eigentlich dachte Ruth, es könne keinen harmloseren Ort geben, um das Thema Liz Donaldson anzuschneiden. Nelson und sie schauen Kate dabei zu, wie sie auf einem Esel reitet, und auf den Weiden ringsum stehen lauter allerliebste Ponys, die dem Tod und Schlimmerem entronnen sind. Doch so idyllisch die Umgebung auch sein mag, die Gesamtlage ist doch durchaus spannungsgeladen. Infolge einer Abmachung, die zwei Jahre zuvor eher zähneknirschend ausgehandelt wurde, darf Nelson seine Tochter etwa einmal alle zwei Wochen sehen. Michelle weiß über Kates Herkunft Bescheid und begleitet Nelson häufig zu diesen Treffen. Es wäre sicher übertrieben, zu behaupten, sie hätte Ruth vergeben, doch sie verhält sich ihr gegenüber immer ausgesucht höflich und hat Kate wirklich gern. Trotzdem steht die Zukunft nach wie vor in den Sternen. Nelsons Rolle in Kates Leben ist nicht allgemein bekannt, nicht einmal seine beiden älteren Töchter wissen, dass sie eine Halbschwester haben. Ruth sieht Unwetter heraufziehen. So zeigt Nelson bereits erste Tendenzen, sich an der Wahl von Kates Schule beteiligen zu wollen. Was geschieht, wenn er mit zum Elternabend will? Und wenn Kate einmal alt genug ist, um zu fragen, in welchem Verhältnis sie eigentlich genau zu diesem Mann steht, der sie zu Tagesausflügen abholt und ihr aufwendige Geschenke mitbringt? Sie sagt «Dada» zu ihm, aber so spricht sie jeden Mann an, selbst den Postboten. Ruth möchte gar nicht genauer darüber nachdenken, was das bedeutet.

Heute allerdings ist der Himmel klar. Es ist ein weiterer schöner Juni-Tag, und Kate jauchzt vor Freude, während ihr Esel rund um die Koppel geführt wird. Für Ruth bergen die vergangenen Sommerferien, die sie in Blackpool verbracht haben, düstere Erinnerungen, doch Kate ist davon vor allem die dauerhafte Liebe zu Eseln geblieben. Und die Angst vor Achterbahnen. Michelle ist Kaffee holen gegangen – sie lässt Ruth und Nelson immer wieder taktvoll allein, auch wenn sie diese Zeitspannen streng rationiert –, und Ruth hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Doch Nelson setzt eine finstere Miene auf.

«Hat Cathbad dich darauf angesetzt?»

Klar, würde Ruth am liebsten brüllen. Dieser gottverdammte Cathbad. Wie schafft er es bloß immer, sie auch noch aus mehr als dreihundert Kilometern Entfernung zu manipulieren? Doch sie erwidert nur: «Er meinte, dass er Liz Donaldson gut kennt.»

«Das kann ich mir vorstellen. Er kennt ja alle möglichen Wahnsinnigen.»

«Ist sie denn wahnsinnig?»

Am Abend zuvor hat Ruth sich mit dem Fall beschäftigt. Das Internet wimmelt von Experten, die alle eine Meinung zu der Frage haben, wie wahrscheinlich es ist, dass drei Kinder aus derselben Familie am plötzlichen Kindstod sterben. Die Artikel reichen vom «Grauen der mordenden Mutter» bis hin zum «schlimmsten Albtraum einer Mutter». Weitere Fälle werden herangezogen: Mütter, die wegen Mordes an ihren Kindern ins Gefängnis kamen und wieder entlassen wurden, als neue medizinische Beweise ans Licht kamen, Mütter, die ihre Kinder selbst vergiftet und vor der Kamera die Verzweifelte gespielt haben. Ruth sieht sie alle vor sich, die Mütter und die Kinder, wie ein endloses, sich ständig wiederholendes Muster auf einer Tapete. Auch Mother Hook steht ihr vor Augen, so wie das einzige Foto, das von dieser schlimmsten Mörderin Norfolks existiert. Ein kantiges Gesicht mit dichten Brauen blickt finster aus dem Sepia-Bild hervor. Sogar ein schauerliches Wiegenlied wurde damals erfunden: Weine nicht, mein Schätzchen, weine nicht, mein Kind. Weine nicht, mein Schätzchen, sonst kommt Mother Hook geschwind.

Kate winkt. Ruth und Nelson winken zurück.

«Hör mal, Ruth», sagt Nelson in dem Ton, den er immer einsetzt, wenn er sich vernünftig zeigen will. «Ich habe ja wirklich für alle Eltern Verständnis, die ein Kind verlieren, aber hier sind drei Kinder tot, und ich muss für alle Möglichkeiten offenbleiben. Mehr tue ich gar nicht. Ich bleibe nur für alles offen.»

«Sie ist mit Delilah befreundet», sagt Ruth.

Nelson reagiert nicht auf den Namen. Er blickt weiter starr geradeaus, doch Ruth weiß, dass er jetzt nicht mehr Kate auf ihrem Esel einherschaukeln sieht. Stattdessen sieht er das Salzmoor im ersten Morgenlicht, hört die Schreie der Möwen und die plötzliche Stille, als der Sand sein Geheimnis preisgab. Seine Hand krallt sich fest um den Torpfosten. Ruth verspürt das unsinnige Verlangen, danach zu greifen.

«Delilah war eine verantwortungslose Hippie-Frau», sagt Nelson mit rauer Stimme. «Nicht gerade das beste Zeugnis, mit ihr befreundet zu sein.»

«Liz hat auf Delilahs Kinder aufgepasst», sagt Ruth. Den Satz «Vielleicht kannte sie auch Scarlet» sagt sie nicht. Das ist auch gar nicht nötig. Sie weiß, dass Nelson genau wie sie an Scarlet denkt, an ihre Familie. Auch dort gab es drei Kinder.

«Wenn sie unschuldig ist, hat sie nichts zu befürchten.»

«Glaubst du denn, dass sie unschuldig ist?»

«Wie gesagt, ich muss für alles offenbleiben.»

«Was glauben Judy und Clough?»

«Judy hält sie für die Jungfrau Maria höchstpersönlich. Und Clough glaubt eh immer alles, was in der Sun steht.»

«Was ist mit Tim?» Auch Ruth ist Tim gegenüber eher zurückhaltend. Sie haben sich unter recht unglücklichen Umständen kennengelernt, und Ruth wird das Gefühl nicht los, dass Tim sie irgendwie ablehnt, so wie Sandy, sein früherer Chef.

«Tim macht einfach seine Arbeit. Er ist ein guter Polizist.»

Nelson scheint noch mehr sagen zu wollen, doch da ist Kates Eselsritt zu Ende. Der Zaun wird von aufgeregten Kindern gestürmt, die als Nächste drankommen wollen. «Dada!», ruft Kate, als sie aus dem Sattel gehoben wird. «Guck mal, Dada!» Michelle kommt gerade noch rechtzeitig zurück, um den Ausdruck reinster Freude auf Nelsons Gesicht zu sehen.

 

Kurz danach brechen Nelson und Michelle auf. Ruth vermutet, dass Michelle für heute wahrhaftig genug hat, vor allem, nachdem ihr das alte Zugpferd auf die rosa Strickjacke gesabbert hat. Doch Ruth selbst kann erst fahren, wenn Kate Ranger besucht hat. Letztes Jahr hat sie sich in einem schwachen Moment darauf eingelassen, eine Patenschaft für Ranger zu übernehmen, ein übellauniges Shetlandpony, und seither zieren zahllose Fotos seines missmutigen, haarigen Pferdegesichts den Kühlschrank. Ranger schreibt Kate nette Briefe, in denen er begeistert davon berichtet, wie er Karotten mampft und mit seinen Freunden auf der Weide spielt, doch wenn sie sich persönlich begegnen, zeigt er sich immer auffallend unbeeindruckt. So ist es auch heute. Die Besucher dürfen die Pferde nicht füttern, und als Ranger klar wird, dass er keine Karotten von ihnen bekommt, dreht er Ruth und Kate den Rücken zu.

«Guck mal, sein Schwanz!», ruft Ruth verzweifelt. «Ist der nicht schön buschig?»

Aus dem Augenwinkel bemerkt sie ein Elternpaar, das sich ebenfalls nach Kräften bemüht, sein Kind für die Pferde zu interessieren.

«Schau mal», sagt der Vater. «So schöne Hottehüs. Schau, Michael.»

Michael. Ruth dreht sich um. Ein rothaariger Vater hält sein Kleinkind über den Zaun. Die Mutter steht mit dem leeren Sportwagen daneben und sieht ziemlich gelangweilt aus.

«Judy?»

«Ruth! Das ist ja ein Zufall!»

«Oh, Kate und ich, wir lieben Pferde», sagt Ruth leichthin. Was wohl passiert wäre, wenn Judy sie hier mit Nelson angetroffen hätte? Was, wenn sie gehört hätte, wie Kate «Dada!» rief …

«Ranger ist unartig», sagt Kate.

«Er sieht auch unartig aus», pflichtet Judy ihr bei. «Ich bin bei der Polizei, ich kann das beurteilen.»

Kate mustert sie skeptisch. Der Polizist in ihrem Berufe-Bilderbuch sieht ganz anders aus als Judy.

«Darren kennst du ja, oder?», sagt Judy jetzt.

«Wir haben uns auf eurer Hochzeit gesehen», sagt Ruth.