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Elly Griffiths

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Beschreibung

In einer mondhellen Nacht wird eine junge Frau auf den Feldern Norfolks erwürgt. Inspector Nelson und sein Team ermitteln fieberhaft, doch können einen zweiten Mord nicht verhindern. Eine Priesterin der englischen Kirche wird tot aufgefunden. Die polizeiliche Beraterin und Archäologin Dr. Ruth Galloway sieht sofort eine Verbindung zu einem Briefeschreiber, der mit anonymen Nachrichten Priesterinnen tyrannisiert. Ruth und Nelson graben in der Vergangenheit und stoßen auf alte Relikte und dunkle Geheimnisse. Dabei kommen sie dem Täter gefährlich nah auf die Spur. Der 8. Band der Ruth-Galloway-Serie.

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Elly Griffiths

Todespassion

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Stefanie Kremer

Über dieses Buch

«Eine großartige Krimi-Reihe.» (The Guardian)

 

In einer mondhellen Nacht wird eine junge Frau auf den Feldern Norfolks erwürgt. Inspector Nelson und sein Team ermitteln fieberhaft, doch können einen zweiten Mord nicht verhindern. Eine Priesterin der englischen Kirche wird tot aufgefunden. Die polizeiliche Beraterin und Archäologin Dr. Ruth Galloway sieht sofort eine Verbindung zu einem Briefeschreiber, der mit anonymen Nachrichten Priesterinnen tyrannisiert. Ruth und Nelson graben in der Vergangenheit und stoßen auf alte Relikte und dunkle Geheimnisse. Dabei kommen sie dem Täter gefährlich nah auf die Spur.

 

Band 8 der Erfolgsserie mit Archäologin Dr. Ruth Galloway.

Vita

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind sieben Krimis mit der forensischen Archäologin Dr. Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus», «Gezeitengrab», «Aller Heiligen Fluch», «Rabenkönig», «Engelskinder» und «Grabesgrund».

 

Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.

Für Giulia

Weine, oh Walsingham, weine,

Deine Tage sind Nacht,

Auf Segen folgte Blasphemie,

Auf Heiligkeit Niedertracht.

Die Sünde erklomm den Marienthron,

Aus Himmel ward Höllenschlund;

Satan hockt dort, wo Unser Herr einst gebot,

Leb wohl, verderbter Walsinghamer Grund!

 

Die Ballade von Walsingham, anonym, 16. Jahrhundert

Prolog

19. Februar 2014

Cathbad und der Kater beäugen einander. Den ganzen Tag haben sie damit verbracht, ihre Gefechtslinien zu sichern, und jetzt stehen sie bei Waterloo. Der Kater ist im Vorteil: Er ist hier zu Hause und kennt das Gelände. Aber Cathbad verfügt über seine druidischen Kräfte sowie über die, wie er findet, bescheidene Gabe, mit Tieren kommunizieren zu können, ein Vermächtnis seiner irischen Mutter, die mit Möwen sprach (und Nachrichten von ihnen empfing). Er hat selbst ein Haustier, einen Bullterrier namens Thing, und pflegt seit langem eine enge seelische Verbindung zu Flint, dem Kater von Ruth.

Dieses Exemplar hier, das den Namen Chesterton trägt, ist freilich von grundlegend anderer Wesensart. Während Flint, ein riesiger, fauler roter Kater, seinen Lebenszweck darin sieht, Ruth zu jeder Tages- und Nachtzeit davon zu überzeugen, dass er am Verhungern sei, ist Chesterton ein schlankes und geschmeidiges schwarzes Geschöpf, das dazu neigt, auf Schränken zu hocken und Cathbad von dort oben herab aus verstörend runden, gelben Augen anzustarren. Heute ist der dritte Tag, an dem Cathbad Haus und Kater hütet, und bislang hat Chesterton alle seine Annäherungsversuche ignoriert. Er ignoriert sogar das Futter, das Cathbad nach Justins Anweisungen sorgfältig abgewogen hat. Möglich, dass er sich von Mäusen ernährt, allerdings sieht Chesterton nicht aus wie ein Tier, das sich von seinen Gelüsten leiten lässt. Er ist ein Asket, wie er im Buche steht.

Doch Justins strengste Ermahnung lautet, in Großbuchstaben und rot unterstrichen: CHESTERTON AUF KEINEN FALL ABENDS NACH DRAUSSEN LASSEN. Und so stehen sie sich nun gegenüber, an einem Februarabend um neun Uhr, Chesterton lässt die Tür nicht aus den Augen, und Cathbad versperrt ihm den Weg mit dem Flammenschwert. Diese Anspielung auf die Bibel liegt durchaus nahe, schließlich gehört das Haus zu einer alten Pilgerstätte und ist mit Radierungen aus dem Alten Testament geschmückt. Justin, der Besitzer des Cottages, ist zu Forschungszwecken an den berühmten Marienwallfahrtsort Knock in Irland gereist, was Cathbad urkomisch findet. Das Cottage aus dem 15. Jahrhundert – plus den dazugehörigen Kater – hat er in Cathbads Obhut zurückgelassen.

Chesterton maunzt einmal gebieterisch.

«Tut mir leid», sagt Cathbad. «Ich darf nicht.»

Chesterton wirft ihm einen herablassenden Blick zu, springt auf den Schrank und schlüpft aus einem schräg offenstehenden Fenster. Deshalb also war er im Hungerstreik.

«Chesterton!» Cathbad löst den schweren Riegel und öffnet die Tür. Kalte Luft strömt herein. «Chesterton! Komm zurück!»

Das Cottage ist baulich mit dem Kirchengelände verbunden, es gibt einen ebenerdigen Durchgang unter Justins Schlafzimmer, der so etwas wie ein überdachtes Friedhofstor bildet und dessen Mauer sogar eine praktische Nische aufweist, in der die Leichenträger ihre Särge abstellen können. Um zur St. Simeon’s Church zu gelangen, müssen die Gottesdienstbesucher dort hindurchgehen. Die Hintertür des Cottages führt direkt auf den Friedhof. «Aber das macht dir bestimmt nichts aus», hat Justin gemeint, «so was ist doch genau dein Ding.» Doch obwohl Cathbad für Totenäcker und andere rituelle Kultstätten schwärmt, ist ihm etwas am St. Simeon’s Cottage in Walsingham nicht ganz geheuer. Was nicht etwa an der Anwesenheit des Katers oder dem nächtlichen Knarzen und Ächzen des alten Hauses liegt, nein, aber diesen Ort umgibt eine eigenartige Traurigkeit, derart beklemmend, dass Cathbad sich am ersten Abend gezwungen sah, einen magischen Schutzkreis zu ziehen und mehrmals mit seiner Gefährtin Judy zu telefonieren.

Jetzt aber hat er keine Angst, er macht sich nur Sorgen wegen des Katers. Den Namen des Tiers rufend, geht er den Kirchenpfad entlang, unter seinen Füßen knackt der Frost.

Und dann sieht er es. Einen Grabstein unweit der hinteren Mauer, der im Mondlicht weiß schimmert, und daneben eine Frau. Eine Frau in weißem Kleid und wallendem blauem Umhang. Als Cathbad auf sie zugeht, blickt sie ihn an, und ihr Gesicht, erhellt von einer Kraft, die stärker ist als das Mondlicht, wirkt so schön und so traurig zugleich, dass Cathbad sich bekreuzigt.

«Kann ich Ihnen helfen?», ruft er. In der Dunkelheit hallt seine Stimme zwischen den Grabsteinen wider. Die Frau lächelt – ein so trauriges, liebliches Lächeln –, schüttelt den Kopf und tritt den Rückzug an. Sie schlängelt sich geschwind zwischen den Grabsteinen durch und eilt auf das Tor am anderen Ende des Friedhofs zu.

Cathbad will ihr hinterher, doch im selben Augenblick wird er von Chesterton, der eigens zu diesem Zweck hinter einer Eibe auf ihn gelauert haben muss, mit einem präzisen Sprung zu Boden gestreckt.

1

Detective Chief Inspector Harry Nelson erfährt die Neuigkeit auf dem Weg zur Arbeit. «Frauenleiche in Graben außerhalb Walsingham gefunden. SCU angefordert.» Während er mitten auf der Straße mit Hilfe der Handbremse eine Hundertachtzig-Grad-Wende hinlegt, prasseln widerstreitende Gefühle auf ihn ein. Dass jemand ums Leben gekommen ist, tut ihm natürlich leid, doch ganz spontan verspürt er noch etwas anderes, einen leichten Schauder der Erregung und auch eine gewisse Erleichterung, weil ihm die für diesen Vormittag angesetzte Besprechung mit Superintendent Gerald Whitcliffe mitsamt der Diskussion über die Zielvorgaben der vergangenen Monate nun erspart bleibt. Nelson leitet die SCU, die Serious Crimes Unit, allerdings sind Kapitalverbrechen in King’s Lynn und Umgebung eher rar gesät. Was gut ist – das räumt Nelson bereitwillig ein, als er die Sirene einschaltet und durch den morgendlichen Verkehr rast –, aber eben auch dazu führt, dass die Arbeit ziemlich eintönig sein kann. Nicht, dass Nelson im Verlauf seiner Karriere sein gerüttelt Maß an Kapitalverbrechen vorenthalten geblieben wäre – erst vor wenigen Monaten wurde auf ihn geschossen, und er hätte jetzt tot sein können, hätte sein Sergeant nicht zurückgeschossen –, aber auf seinem Tisch landen eben auch jede Menge Bagatelldiebstähle, geringfügige Drogendelikte und Beschwerden von Leuten, deren geklautes Fahrrad nicht bei Crimewatch erwähnt wurde.

Er ruft seine Sergeants Dave Clough und Tim Heathfield an und erteilt ihnen die Order, am Tatort zu ihm zu stoßen. Obwohl beide nur «Jawohl, Boss» sagen, kann er auch in ihren Stimmen die Aufregung hören. Wäre Sergeant Judy Johnson jetzt dabei, würde sie bestimmt alle daran erinnern, dass sie es mit einer menschlichen Tragödie zu tun hatten, aber Judy ist in Mutterschaftsurlaub, weshalb die Atmosphäre auf dem Revier gegenwärtig reichlich testosteronhaltig ist.

Als er um die Ecke biegt, sieht er das Blaulicht. Die Leiche wurde an der Fakenham Road gefunden, etwa eine Meile außerhalb von Walsingham. Die beidseitig von hohen Hecken gesäumte Straße ist sehr schmal und wird durch die zwei Streifenwagen und den Leichenwagen zusätzlich verengt. Sowie Nelson aus dem Auto steigt, packt ihn die Klaustrophobie, was häufig passiert, wenn er auf dem Land ist. Die hohen grünen Laubwände geben ihm das Gefühl, am Grund eines Brunnens zu hocken, während von oben der graue Himmel auf ihn niederdrückt. Er bevorzugt Gehsteige und Straßenlaternen.

Die örtlichen Beamten machen ihm Platz. Chris Stephenson, der polizeiliche Gerichtsmediziner, ist schon bei der Leiche im Graben. Jetzt blickt er hoch und grinst Nelson an, als wäre dies der lauschigste Treffpunkt der Welt.

«Na, wenn das nicht Admiral Nelson höchstpersönlich ist!»

«Hallo, Chris. Was haben wir?»

«Weibliche Leiche, vermutlich Anfang bis Mitte zwanzig, sieht aus, als wäre sie erdrosselt worden. Leichenstarre hat bereits eingesetzt, aber die Nacht war auch kalt. Ich würde sagen, dass sie seit etwa acht bis zehn Stunden hier liegt.»

«Was hat sie denn da bloß an?» Aus Nelsons Warte sieht es aus wie ein Faschingskostüm, ein langes weißes Kleid und so eine Art blauer Umhang. Er muss kurz an Cathbad denken, der sich am liebsten in seinen Druidenumhang hüllt. «Das ist sowohl spirituell als auch praktisch», hat er Nelson einmal aufgeklärt.

«Nachthemd und Morgenmantel», sagt Stephenson. «Nicht gerade die beste Wahl für eine kalte Februarnacht, hm?»

«Trägt sie etwa Hausschuhe?» Nelson kann ein Stück nacktes Bein sehen, das in etwas Weißem endet.

«Ja, solche Pantoffeln, wie man sie in Wellnessbädern und dergleichen umsonst bekommt», erwidert Stephenson, der vermutlich eine Menge über solche Einrichtungen weiß. «Auch das nicht gerade das geeignete Schuhwerk, wenn man den Weg über die Felder nehmen will.»

«Wenn sie die Pantoffeln noch an den Füßen trägt, heißt das, sie wurde in den Graben gelegt, nicht geworfen.»

«Ganz recht, Häuptling. Ich würde sagen, dass die Leiche mit einiger Sorgfalt im Graben platziert wurde.» Stephenson hält eine durchsichtige Beweismitteltüte hoch. «Das hier lag auf ihrer Brust.»

«Was ist das? Eine Halskette?»

Stephenson lacht. «Ich dachte, Sie sind Katholik, Admiral. Das ist ein Rosenkranz.»

Ein Rosenkranz. Nelsons Mutter besitzt einen Rosenkranz mit Holzkugeln aus Lourdes und betet jeden Abend ein Gesätz. Nelsons Schwestern Grainne und Maeve bekamen zur Erstkommunion Rosenkränze geschenkt. Nelson bekam keinen, weil er ein Junge war.

«Tüten Sie ihn ein», sagt er, obwohl der Rosenkranz schon in der Beweismitteltüte aus Plastik versiegelt ist. «Das ist ein wichtiges Beweisstück.»

«Wenn Sie meinen, Häuptling.»

Nelson richtet sich auf. Er hat ein Auto kommen gehört und schätzt, dass es sich um Clough und Tim handelt. Davon abgesehen hat er jetzt genug von Chris Stephenson und dessen aufgekratzter Art.

Seine Sergeants kommen ihm entgegen. Beide sind groß und dunkelhaarig und werden oft (wenn auch nicht von Nelson) als gutaussehend beschrieben, womit die Ähnlichkeiten aber bereits erschöpft sind. Clough ist weiß, und Tim ist schwarz, doch das ist bei weitem nicht alles. Clough ist von bulliger Statur, gekleidet in Jeans und eine Winterjacke. Gespannt blickt er sich um, in der Hand einen halb gegessenen Bagel. Tim ist größer und schlanker als Clough, er trägt einen langen schwarzen Mantel und um den Hals einen Schal. Er könnte auch ein Politiker sein, der eine Fabrik besichtigt. Seine Miene verrät nichts.

Nelson setzt sie rasch ins Bild und ruft den örtlichen Beamten herbei, der berichtet, dass die Leiche frühmorgens von einer Spaziergängerin mit Hund entdeckt wurde. «Der kleine Hund ist glatt in den Graben gesprungen und hat … nun ja … an der Toten gezerrt.»

«Wenn sie ein Nachthemd trägt», sagt Tim, «könnte sie doch eine Patientin aus dem Sanctuary sein.»

Dieser Gedanke ist Nelson auch schon gekommen. Die Pantoffeln mit dem Waffelpiqué haben ihn darauf gebracht. Das Sanctuary ist eine Privatklinik, die sich auf Drogenentzug spezialisiert hat. Weil viele Patienten dort berühmt sind (auch wenn Nelson noch nie von ihnen gehört hat), ranken sich hohe Mauern, strikte Verschwiegenheit und Gerüchte über Drogenpartys um die Anstalt. Sie liegt nicht weit entfernt, über die Felder ist es etwa eine Meile.

«Guter Gedanke», sagt Nelson. «Sie und Cloughie können gleich mal rüberfahren und fragen, ob man dort Patienten vermisst.»

«Es heißt, Foxy O’Hara wäre gerade dort», meint Clough und schluckt den letzten Happen Bagel herunter.

«Wer?»

«Von der haben Sie bestimmt schon mal gehört. Kurz vor Weihnachten war sie bei Ich bin ein Star.»

«Sie labern Schwachsinn, Cloughie.» Nelson wendet sich an Chris Stephenson, der mittlerweile wieder aus dem Graben aufgetaucht ist und sich gerade den Schutzanzug auszieht. «Sonst noch was für uns, Chris? Ein Namensschild im Morgenrock käme uns ganz gelegen.»

«Nein, aber das Ding ist von guter Qualität. Ziemlich teuer. Von John Lewis.»

«So ein Aufenthalt im Sanctuary kostet eine hübsche Stange Geld», sagt Nelson. «Das ist wohl unsere heißeste Spur.»

«Verzeihung, Sir.» Das kommt von einem der örtlichen Beamten, höflich und respektvoll. «Aber da ist ein Mann, der Sie sprechen will. Sieht ein bisschen durchgeknallt aus, meint aber, er würde Sie kennen.»

«Cathbad», sagt Clough, ohne sich umzuschauen.

Clough hat recht. Nelson sieht Cathbad hinter dem Absperrband stehen, gehüllt in seinen unverwechselbaren Umhang. Schon komisch und auch ein klein wenig gruselig, dass Nelson noch vor wenigen Augenblicken an ihn gedacht hat. Er marschiert zu ihm hinüber.

«Cathbad. Was machst du denn hier?»

«Ich hüte ein Haus in Walsingham.»

«Und was ist mit Judy? Hast du sie etwa allein gelassen mit einem Neugeborenen?»

«Miranda ist inzwischen zehn Wochen alt und außerdem eine alte Seele. Aber nein, Judy ist mit den Kindern zu ihren Eltern gefahren.»

«Was allerdings nicht erklärt, weshalb du hier bist, an einem Tatort.»

«Die Tote, die ihr gefunden habt», fragt Cathbad. «Hat sie einen blauen Umhang an?»

Nelson tritt einen Schritt zurück. «Wer sagt denn, dass wir eine Tote gefunden haben?»

Fast erwartet er, dass Cathbad ihm jetzt irgendwas über spirituelle Energien und kosmische Schwingungen erzählt, doch der meint stattdessen: «Ich hab den Milchmann drüber reden hören. Ganz schön nützlich, so Milchmänner. Sind frühmorgens auf den Beinen und kriegen ’ne Menge mit.»

«Und die Sache mit dem Umhang? Den hat der verdammte Milchmann doch bestimmt nicht gesehen.»

Cathbad schnaubt schwer. «Dann ist sie es also.»

«Wovon redest du eigentlich?»

«Das Cottage, das ich momentan hüte, geht auf den Friedhof raus.» War ja klar!, denkt Nelson. «Jedenfalls habe ich da gestern Abend eine Frau stehen sehen, eine Frau in einem weißen Kleid mit blauem Umhang.»

«Um wie viel Uhr war das?»

«So gegen neun.»

Nelson hebt das Absperrband hoch. «Du kommst wohl besser mal mit.»

Inzwischen ist das Team der Spurensicherung eingetroffen. Mit ihren papiernen Schutzanzügen und den Gesichtsmasken sehen sie aus wie Außerirdische, die in ein verschlafenes Dorf in Norfolk einfallen. Nelson und Cathbad beobachten, wie der Körper der Toten mit einer Winde langsam aus dem Graben geborgen wird. Die Leiche ist zwar mit einem Laken bedeckt, doch als die Träger mit der Bahre an ihnen vorbeigehen, sehen beide einen Streifen schlammverkrusteten blauen Stoff herunterhängen. Cathbad bekreuzigt sich, und Nelson muss sich beherrschen, es ihm nicht nachzutun.

«Wisst ihr schon, wer sie ist?», fragt Cathbad.

«Sie war im Nachtgewand», erwidert Nelson. «Dein ‹Umhang› ist ein Morgenmantel. Ich will Clough und Heathfield zum Sanctuary schicken.»

«Glaubst du, sie war dort Patientin?»

«Ist zumindest eine Spur, der wir nachgehen.»

Die Außerirdischen haben in der Zwischenzeit ein zeltartiges Gebilde über dem Graben errichtet. Die Szene hat nun nichts mehr von einem Notfall, sondern wirkt friedlich und geschäftig.

«Hör zu, Cathbad», sagt Nelson. «Ich instruiere nur schnell die Jungs und schaue, ob ich hier noch gebraucht werde. Dann komme ich zu dir, und du kannst mir erzählen, was du gestern Abend gesehen hast. Was ist das für ein Haus, auf das du aufpasst?»

«Das St. Simeon’s Cottage. Direkt neben der Kirche.»

«Dauert bestimmt nicht lang.»

«Zeit», verkündet Cathbad, «hat keine Bedeutung.» Aber er spricht schon ins Leere.

 

Ruth Galloway erfährt erst an der Uni von der Leiche im Graben. Zwar hatte sie unterwegs das Radio an, doch das Programm verschwamm im allmorgendlichen Trubel, bis sie ihre fünfjährige Tochter Kate rechtzeitig an der Schule abgesetzt hatte, zu einem einzigen Rauschen. «Hast du deine Büchertasche?» … Und jetzt Gary mit dem Neuesten vom Sport … «Siehst du einen Parkplatz?» … Das Wort zum Tag mit Hochwürden … «Schnell, da steht schon Mrs. Mannion und wartet auf dich. Hab dich lieb. Bis später.» … Eisige Böen, vor allem an der Ostküste … Falls die Tote es schon in die Radionachrichten geschafft haben sollte, hat Ruth die Meldung jedenfalls verpasst. Erst als sie an ihrem Schreibtisch sitzt und versucht, vor dem ersten Seminar noch rasch ihre E-Mails zu lesen, spaziert, wie gewöhnlich ungebeten, der Fachbereichsleiter Phil Trent in ihr Büro und fragt, ob sie schon von dem «jüngsten Drama» gehört habe.

«Nein. Was gibt’s denn?»

«An der Straße nach Walsingham wurde eine Tote im Graben gefunden. Die Meldung kam in den Lokalnachrichten.»

«Muss ich verpasst haben.»

«Ich dachte, du hättest so einen heißen Draht zu unseren Hütern von Recht und Gesetz.»

Phil neidet Ruth ihre Rolle als Sonderberaterin der Polizei, und mitunter macht sie sich einen Spaß daraus, ihn damit aufzuziehen und Anspielungen auf Besprechungen auf höchster Ebene oder streng geheime Vermerke fallenzulassen, doch heute fehlt ihr dazu die Energie.

«Wenn in dem Graben nicht auch noch ein Skelett aus der Eisenzeit liegt, werden sie meine Beratung kaum brauchen.»

«Nein, vermutlich nicht.»

Ruth wendet sich wieder dem Bildschirm zu, und als Phil, der sich noch ein wenig im Türrahmen herumgedrückt hat, endlich Leine zieht, konzentriert sie sich auf ihre E-Mails. Die übliche Flut aus Werbung von wissenschaftlichen Verlagen, Bekanntmachungen des Fachbereichs und Bitten ihrer Studierenden um mehr Zeit für die Fertigstellung ihrer Hausarbeiten. Ruth löscht Kategorie eins und zwei und will sich gerade daranmachen, Kategorie drei zu beantworten, als ihr noch eine ganz andere Mail ins Auge fällt. Betreff: ‹Lange nicht mehr gesehen›. Was entweder verlockend klingt oder beunruhigend, je nachdem, wie man so drauf ist. Bei Ruth hält es sich wohl die Waage. Sie öffnet die Mail.

Hallo, Ruth,

erinnerst du dich noch an mich, Hilary Smithson aus Southampton? Wo sind all die Jahre bloß hin? Ich habe gehört, dass du jetzt in Norfolk arbeitest und sehr erfolgreich bist. Am Wochenende komme ich nach Norfolk, für ein Seminar in Walsingham, und da habe ich mich gefragt, ob wir uns nicht mal treffen könnten? Ich hätte gern deinen Rat in einer ziemlich verzwickten Sache. Und natürlich würde ich dich schrecklich gern wiedersehen.

Ich freue mich auf deine Antwort.

Alles Gute,

Hilary

Ruth starrt auf den Bildschirm. Das ist das zweite Mal an diesem Morgen, dass der Name Walsingham fällt, und, wie Nelson immer sagt, Zufälle gibt es nicht.

2

Das Sanctuary ist ein imposantes Bauwerk aus viktorianischer Zeit, das besser in eine verrußte Großstadt passen würde als ins ländliche Norfolk. Selbst im versöhnlichen Rahmen der Bäume und sanft gewellten Hügel wirkt es wie ein Rathaus oder Bahnhofsgebäude, dem es irgendwie gelungen ist, sich bräsig auf einer Wiese breitzumachen.

Dessen ungeachtet ist Clough schwer beeindruckt. «Schau dir das an. Sieht aus wie ein Schloss.»

«Eher wie ein Gefängnis», meint Tim.

Sie haben vor dem automatischen Tor angehalten, aber noch bevor Tim etwas in die Gegensprechanlage sagen kann, öffnen sich geräuschlos die Flügel.

«Ziemlich lasches Sicherheitskonzept für ein Gefängnis», sagt Clough.

Tim schweigt. Tatsächlich haben beide Brüder, die schon mal im Gefängnis waren, doch in der Regel unterhalten sie sich nicht über ihre Familien. Tim schaltet in den ersten Gang, und sie nähern sich dem Haus über eine ausladende Kiesauffahrt. Breite Stufen führen zur Eingangstür empor, und direkt vor ihnen erhebt sich ein steinerner Springbrunnen inmitten eines vollendet getrimmten Grasrunds. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen.

Unter Missachtung der Schilder, die zum Parkplatz für Besucher weisen, lassen sie den Wagen am Fuß der Stufen stehen. Tim läutet, und diesmal antwortet ihnen wahrhaftig eine menschliche Stimme. Er hat das Wort «Polizei» kaum ausgesprochen, als die Doppelflügel der Tür sich auch schon öffnen.

Innen erinnert das Sanctuary ganz entschieden mehr an ein Hotel als an ein Gefängnis – eine prächtige Eingangshalle mit einem gigantischen steinernen Kamin, vor dem ein runder Tisch steht, darauf ein nach Wachsblumen aussehendes Gesteck. Eine Standuhr tickt gravitätisch, und von den Wänden blicken düstere Ölgemälde auf die Besucher herab. Es gibt sogar eine Rezeption, an der eine Frau steht und ihnen strahlend entgegenlächelt.

«Was kann ich für Sie tun?»

Tim zeigt seinen Dienstausweis vor. «Kann ich bitte mit dem Leiter dieser Einrichtung sprechen?» Im Auto haben sie vereinbart, dass er die Befragung führen soll. Clough als Verstärkung weicht ihm nicht von der Seite.

Die Empfangsdame blickt die beiden beunruhigt an. «Das wäre Doktor McAllister.»

«Kann ich dann bitte mit ihm sprechen?»

«Ich frage nach, ob sie Zeit hat.» Die Empfangsdame nimmt den Telefonhörer auf, und Clough raunt: «Du solltest deine sexistischen Unterstellungen echt mal besser in den Griff kriegen, Tim.»

«Halt die Fresse», murmelt Tim, ohne die Lippen zu bewegen.

 

Doktor McAllister erscheint im Handumdrehen, eine attraktive Frau Mitte vierzig mit kurzem braunem Haar und schmalen, einschüchternd wirkenden Brillengläsern. Sie führt die beiden Beamten zu einem Ledersofa vor dem Kamin. Tim wollte eigentlich um einen Raum bitten, in dem sie unter sich wären, doch weil die Empfangshalle – abgesehen von der Dame an der Rezeption, die sie aber nicht mehr wahrzunehmen scheint – ebenso ausgestorben ist wie die Auffahrt vor dem Gebäude, fügt er sich.

«Worum handelt es, Officer?» Die Ärztin reißt das Gespräch sofort an sich, wobei sie ihren weißen Kittel glatt streicht und die Brille zurechtrückt.

«Wir wollten Sie fragen, ob Sie womöglich einen Ihrer Patienten vermissen», beginnt Tim.

«Was wollen Sie damit sagen, ‹vermissen›?»

«Das ist doch eine ganz einfache Frage», sagt Clough. «Vermissen Sie einen Ihrer Insassen?»

«Das sind keine Insassen, Officer, das sind Patienten», entgegnet Doktor McAllister.

«Und, vermissen Sie denn nun einen Ihrer Patienten?», fragt Tim.

«Unseren Patienten steht es jederzeit frei, zu kommen und zu gehen. Sie begeben sich freiwillig in Behandlung.»

«Und hat sich gestern jemand freiwillig entlassen?»

«Ich glaube nicht», gesteht sie ein.

«Dann sind also alle vollzählig in der Klinik?»

«Nun, die heutige Runde durch die Zimmer ist noch nicht abgeschlossen, mit hundertprozentiger Sicherheit kann ich Ihnen das also nicht sagen.»

«Die Sache ist die», sagt Tim und lehnt sich vertraulich nach vorn, «es wurde eine Leiche gefunden.»

«Eine Leiche?»

«Eine weibliche Leiche in Nachthemd und Morgenrock. Da hat sich uns die Frage gestellt, ob es sich vielleicht um eine Ihrer Patientinnen handelt.»

«Aber das ist ausgeschlossen.»

«Ich dachte, es steht den Leuten jederzeit frei, zu kommen und zu gehen», gibt Clough zu bedenken.

«Das stimmt», sagt Doktor McAllister und wirft ihm einen bösen Blick zu. «Aber wir würden doch niemals jemanden entlassen, der nur Nachthemd und Morgenrock trägt. Außerdem, wie ich schon sagte …»

In diesem Moment fängt die Tasche ihres weißen Kittels an zu vibrieren: Durch den Stoff kann man ein rotes Licht blinken sehen.

«Ich glaube, da will Sie jemand sprechen», sagt Tim.

Doktor McAllister holt ihr Handy hervor und führt ein kurzes, einsilbiges Gespräch. Dann steht sie auf. «Bitte entschuldigen Sie mich, meine Herren.»

Clough und Tim wechseln einen Blick, stehen ebenfalls auf und gehen ihr hinterher.

Rechts neben dem Kamin schwingt sich eine imposante Freitreppe in die Höhe. Doktor McAllister nimmt zwei Stufen auf einmal, und die Polizisten folgen ihr. Auf dem oberen Treppenabsatz öffnet sie eine Tür, und schon haben sie das luxuriöse Landhotel verlassen und betreten eine durch und durch anstaltsmäßige Welt: nummerierte Zimmertüren, Spender mit Desinfektionsgel; sogar der Teppich sieht anders aus. Neben einer Zimmertür stehen zwei Männer in weißen Kitteln (Pfleger? Ärzte? Sanitäter?). Doktor McAllister eilt auf sie zu, um sich mit ihnen zu besprechen, und Tim schnappt das Wort «vermisst» auf. Er zeigt seinen Dienstausweis vor und fragt: «Wird jetzt jemand vermisst?»

Die Ärztin schenkt ihm einen gereizten Blick, erwidert aber: «Offenbar ist eine unserer Patientinnen nicht in ihrem Zimmer.»

Einer der weiß bekittelten Männer stößt die Tür mit der Nummer 12 auf, zu einem freundlich, aber zweckmäßig eingerichteten Raum: Einzelbett, Tisch, Schrank, Sessel und ein sehr schönes altes Fenster, das für das Zimmer fast ein bisschen zu groß ist.

«Name der Patientin?», fragt Clough kurz angebunden.

Doktor McAllister bespricht sich rasch. «Jenkins. Chloe Jenkins.»

«Und wann wurde Miss Jenkins zuletzt gesehen?»

Einer der Weißkittel antwortet: «Gestern Abend, so gegen acht, als ich das Abendessen ausgeteilt habe.»

Auf dem Tischchen neben dem Bett steht ein abgedeckter Teller. Clough hebt den Deckel hoch und blickt auf einen nicht angerührten Lammeintopf, der Kartoffelbrei am Rand ist schon am Eintrocknen.

«Und danach?»

«Nein, dann nicht mehr. Sie hat nicht geläutet.»

Tim hat unterdessen den Schrank aufgemacht. «Was hatte Miss Jenkins an, als Sie sie zuletzt gesehen haben?»

Der Pfleger antwortet mit nervöser Stimme: «Sie trug ihr Nachthemd und einen Morgenrock.»

«Welche Farbe hatte der?»

«Blau.»

Tim dreht sich zu Doktor McAllister um. «Sie kommen wohl besser mit uns mit.»

 

Wie das Leben so spielt, ist es schon fast elf, als Nelson an die augenscheinlich für Hobbits gedachte Tür von St. Simeon’s Cottage klopft. Sie geht sofort auf, allerdings nur einen Spaltbreit, durch den sich Cathbads Gesicht zeigt.

«Schnell», sagt er. «Ich will nicht, dass der Kater entwischt.»

«War ja klar, dass du dich um eine verrückte Katze kümmerst», meint Nelson, während er sich durch die schmale Öffnung quetscht.

«Der ist nicht verrückt», sagt Cathbad und führt Nelson in ein Wohnzimmer mit niedriger Decke. «Der ist beängstigend gescheit.»

Der schlanke schwarze Kater sitzt neben dem Holzofen. Jetzt erhebt er sich, wirft Nelson einen verächtlichen Blick zu und stolziert aus dem Zimmer.

«Was für ein freundliches Geschöpf», bemerkt Nelson.

«Ich halte ihn für eine Reinkarnation meines alten Lateinlehrers», sagt Cathbad. «Jedenfalls schaut er mich immer mit exakt derselben enttäuschten Miene an.»

Nelson lacht und merkt erst dann, dass das womöglich gar nicht als Witz gemeint war.

«Warum darf er denn nicht raus?», fragt er.

«Tagsüber darf er schon raus, nur abends nicht», erklärt Cathbad. «Aber ich hab Angst, ihn zur Vordertür rauszulassen. Ich werde den Gedanken nicht los, dass er sich dann überfahren lässt, nur um mir eins auszuwischen.»

«Wann kommt der Hauseigentümer denn zurück?»

«Morgen. Den Göttern sei Dank.»

«Interessante Hütte», sagt Nelson, obwohl er glaubt, dass ihn all die Balken und schiefen Holzdielen nach einer gewissen Zeit deprimieren würden. Im ganzen Haus scheint es nicht eine einzige gerade Linie zu geben. Doch zu seiner Überraschung erschaudert Cathbad. «Das Cottage hat eine negative Energie», sagt er. «Eine beklemmende Atmosphäre. Spürst du das nicht? Seit ich hier bin, habe ich ununterbrochen Kopfschmerzen.»

«Wahrscheinlich nur, weil du dir ständig den Kopf an den Balken stößt.»

Cathbad muss lachen. «Ja, wahrscheinlich.»

«Dann erzähl mir mal was über die Frau, die du gestern Abend gesehen hast.»

«Ich zeig’s dir.»

Cathbad führt Nelson durch eine Tür in einen schmalen steinernen Durchgang, an dessen Ende der Kater neben dem Törchen wartet.

«Ich lasse dich raus, Chesterton», sagt Cathbad, «wenn du versprichst, auch wiederzukommen.»

Der Kater ignoriert ihn.

Das Törchen geht direkt auf den Friedhof hinaus. Einige der Grabsteine sind fast so hoch wie das niedrige Cottage; andere neigen sich recht bedrohlich in dessen Richtung.

«Verflucht noch eins.» Nelson folgt Cathbad auf dem Pfad, der zwischen den Gräbern hindurchführt. «Das nenne ich jetzt wirklich mal ausgestorben.»

«Die Kirche ist sehr alt», sagt Cathbad. «Aus der Zeit der Angelsachsen. Sie ist sogar älter als das Kloster.»

Die Erwähnung der Angelsachsen erinnert Nelson an Ruth, die für ihr Leben gern mit geschichtlichen Epochen um sich wirft, als wäre sie sich der Tatsache nicht bewusst, dass Nelson nie rausbekommen hat, ob die Bronzezeit nun vor oder nach der Eisenzeit war und wer zur Hölle eigentlich dieser Homo Heidelbergensis ist. Die Angelsachsen kamen seines Wissens nach den Römern, aber weiter aus dem Fenster lehnen würde er sich auf keinen Fall.

«Wo hast du die Frau denn nun gesehen?»

«Hier. Neben dem weißen Grabstein.»

Nelson inspiziert das Gras, das um den Stein herum wächst. Es ist tatsächlich etwas flachgetreten, aber er kann weder Fußspuren noch Anzeichen eines Kampfs erkennen.

«Um wie viel Uhr war das?»

«So gegen neun. Ich hatte gerade mit Judy telefoniert, und das versuche ich immer vor neun zu erledigen, weil sie zurzeit früh schlafen geht.»

«Und was ist dann passiert?»

«Sie hat mich angelächelt. Bei meiner Seele, Nelson, sie hatte ein geradezu himmlisches Lächeln, engelsgleich. Ich dachte …»

«Was dachtest du?»

«Walsingham ist ein Wallfahrtsort zu Ehren der Heiligen Jungfrau. Außerdem trug sie einen blauen Umhang. Na ja, wenigstens dachte ich da noch, dass es ein Umhang ist.»

«Du dachtest, du hättest eine Erscheinung Unserer Lieben Frau gesehen?»

«Unserer Lieben Frau. Du bist immer noch so was von katholisch, Nelson.»

«Versuch bloß nicht, dich über mich lustig zu machen. Was ist danach passiert?»

«Sie drehte sich um und lief auf das hintere Tor zu. Ich wollte ihr folgen, aber da sprang Chesterton mich an und brachte mich zu Fall.»

«Chesterton, der Kater?»

«Ja. Er hat was von einem bösartigen Kobold. Ich bin mir sicher, dass er das mit Absicht gemacht hat. Als ich ins Haus zurückkam, saß er in der Küche neben seinem Napf, als wäre nichts geschehen.»

«Vergiss mal kurz den Kater. Was war mit der Frau?»

«Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, war sie weg. Ich bin zum Tor und habe die Gasse hoch- und runtergeschaut, aber sie war spurlos verschwunden.»

«Zeig mir die Stelle.»

Sie gehen über den Friedhof, auf dem es ein paar wirklich beeindruckende Grabstätten gibt, mit weinenden Engeln und gewaltigen Kreuzen. Die meisten Gräber allerdings sind durch einfache Steine markiert, deren Kanten von der Zeit und den Elementen, denen sie ausgesetzt sind, abgeschliffen wurden. Einige Grabsteine sind umgefallen, andere lehnen aufgereiht an der niedrigen Ziegelmauer, und ein paar sind flach ins Gras eingesunken, als hätte sie jemand für eine makabre Partie Himmel und Hölle ausgelegt. Nelson versucht, nicht darauf zu treten. Das Tor lässt sich leicht öffnen, es führt auf ein weiteres schmales Sträßchen mit hohen Hecken. Ein ziemlich gerades Sträßchen, freilich. Die Frau muss recht schnell gelaufen sein, überlegt Nelson, wenn sie so rasch außer Sicht war.

Er blickt sich nach Cathbad um, der gerade die Inschrift eines steinernen Engels studiert. «Und der Gedanke, jemandem von deiner Vision zu erzählen, ist dir nicht gekommen?»

«Nein. Was gab’s da schon zu erzählen? Friedhof und Kirche stehen offen für jedermann.»

«War die Kirche denn offen?»

«Nein. Wenn nicht gerade ein Gottesdienst abgehalten wird, sperren sie zu. Was ich nicht gutheiße. Kirchen sollten immer geöffnet bleiben.»

«Vermutlich soll verhindert werden, dass jemand einbricht.»

«Schon möglich, aber eine Kirche sollte für die Menschen da sein. Als ein Ort der Zuflucht. Später habe ich mich gefragt, ob es wohl das war, was die Frau wollte. Zuflucht in der Kirche suchen.»

Recht viel mehr gibt es nicht zu sehen. Nelson schreitet die Ummauerung des Friedhofs ab, wobei er nach wie vor darauf achtet, nicht auf die Gräber zu treten. Dann verabschiedet er sich von Cathbad, der sich ins Cottage zurückschlängelt, darauf bedacht, den Kater nicht entwischen zu lassen. Während Nelson zu seinem Wagen geht, kontrolliert er sein Handy. Er hat eine SMS von Tim bekommen, in der steht, dass die Tote offiziell als Chloe Jenkins identifiziert wurde, fünfundzwanzig Jahre alt und Patientin des Sanctuary.

3

«Weshalb war sie dort?»

«Alkohol- und Drogensucht, so wie’s aussieht.»

«Hat sie Familienangehörige?»

«Ihre Eltern leben in Surrey. Die örtliche Polizei teilt es ihnen gerade mit. Danach kommen sie hierher.»

«Die Ärmsten.» Nelson, Tim und Clough sind zurück auf dem Revier. Die Einsatzzentrale wurde bereits für eine Mordermittlung hergerichtet. Tanya Fuller, eine leicht übermotivierte Beamtin im Rang einer Detective Constable (mit den Befugnissen einer Detective Sergeant, wie sie jedem ungefragt auf die Nase bindet), hat eine Karte von Walsingham und Umgebung aufgehängt. Auf allen Tischen liegen Notizblöcke und Stifte, und gerade werden zusätzliche Telefonverbindungen eingerichtet.

Nelson steckt am Fundort der Leiche eine Stecknadel mit rotem Kopf in die Karte.

«Haben Sie ein Foto des Opfers?», fragt er Tim.

«Die Klinik hat uns das hier gegeben.» Tim reicht ihm ein Foto von der Größe eines Passbilds. Nelson kneift die Augen zusammen; er sollte wirklich mal einen Sehtest machen. Das unpersönliche Porträt verrät nichts.

«Aber wir haben sie auch gegoogelt», ergänzt Clough. «Schauen Sie.» Er schiebt Nelson den geöffneten Laptop zu.

«Großer Gott!»

Der Bildschirm ist voller Fotos. Eine bildschöne Blondine blickt Nelson entgegen, in unendlichen Vervielfältigungen, im Badeanzug und im Hochzeitskleid, in Abschlussballkleidern und im schwarzen Gruftie-Outfit mit einer Netzstrumpfhose, die mit kunstvoll drapierten Blättern bedeckt ist.

«Sie war ein ziemlich bekanntes Model», erklärt Tim.

«Großer Gott!», wiederholt Nelson.

«Ich weiß», sagt Clough, «sieht Ihrer besseren Hälfte ganz schön ähnlich, was?»

Nelsons unmittelbare Bestürzung galt der Tatsache, dass Chloe aussieht wie Laura, seine älteste Tochter. Aber Laura sieht natürlich ihrer Mutter sehr ähnlich, und wer ihm da wirklich aus den Myriaden von Bildern entgegenblickt, ist eine jüngere Michelle. Nelsons Frau, die 1988 bei der Wahl zur Miss Blackpool den zweiten Platz errang, bekam als junges Mädchen das Angebot, als Model zu arbeiten, war aber nicht interessiert. «Da wäre es eh nur um Autowerbung und Stripclubs gegangen», sagt sie heute, «von wegen Glanz und Glamour.» Davon abgesehen lässt Michelle, auch wenn sie sich ihrer Schönheit durchaus bewusst ist, sich nicht gern fotografieren.

«Ist sie Mrs. Nelson nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?» Clough wendet sich an Tim.

«Kann schon sein», brummt Tim. «Weiß ich doch nicht.»

«Wie aus dem Gesicht geschnitten», wiederholt Clough. «Mrs. Nelson vor über zwanzig Jahren.»

«Lassen Sie das bloß nicht Michelle hören», rät Nelson. «Offiziell ist sie keinen Tag älter als dreißig.»

Er bemüht sich um einen ungezwungenen Ton, doch in Wahrheit ist er zutiefst erschüttert. Das mit der Ähnlichkeit ist schon eine komische Sache. Michelle sagt immer, die Mädchen würden aussehen wie er, aber da ist er anderer Meinung, zumal es, vor allem anderen, Mädchen sind. Doch Michelles Ähnlichkeit mit diesen Bildern hier ist bestürzend. Vielleicht wäre sie gar nicht so frappierend, wenn Chloe in Fleisch und Blut vor ihm stünde – Gesten und Stimme tragen so viel bei zu dem, was einen Menschen ausmacht –, aber auf diesen etwas unscharfen Fotos auf dem Bildschirm jagt ihm die Ähnlichkeit fast schon Angst ein. Chloe Jenkins blickt ihm aus einem Gesicht entgegen, das er seit über zwanzig Jahren kennt und liebt.

«Was wissen wir über die junge Frau?», fragt er nun.

«Sie war fünfundzwanzig», berichtet Tim, «und arbeitete seit ihrem sechzehnten Lebensjahr als Model. War früher schon zweimal in Entzugskliniken, beim ersten Entzug war sie gerade mal achtzehn. Die Eltern, Alan und Julie Jenkins, leben in Weybridge in Surrey. Der Vater ist Pilot für Linienmaschinen. Chloe wohnte in London und war liiert mit einem Schauspieler und männlichen Model namens Thom Novak. Sie ist am 27. Januar im Sanctuary eingetroffen und hat offenbar gute Fortschritte gemacht. Zuletzt gesehen wurde sie gestern Abend gegen acht Uhr, als einer der Pfleger das Abendessen brachte. Ihre Leiche wurde von Doktor Fiona McAllister identifiziert, der Chefärztin der Klinik.»

Nelson zieht einen Notizblock zu sich heran. «Zuallererst müssen wir wissen, wo Novak sich letzte Nacht aufgehalten hat.»

«Schon überprüft», sagt Clough. «Er ist auch in einer Entzugsklinik. In der Schweiz.»

«Jesses. Was für ein reizendes Pärchen.»

«Doktor McAllister behauptet, niemand könne die Klinik verlassen, ohne sich vorher schriftlich abzumelden», fährt Tim fort, «aber nach allem, was Cloughie und ich gesehen haben, ist das ein Kinderspiel. Überall Nebeneingänge und jede Menge Fluchtmöglichkeiten.»

«Irgendwelche Hinweise darauf, was sie in Walsingham gewollt haben könnte?»

«Nein. Wir wissen auch nicht, ob sie überhaupt im Dorf selbst war. Die Straße, an der sie gefunden wurde, führt zur Basilika Unserer Lieben Frau von Walsingham, einem katholischen Wallfahrtsort, der auch als Slipper Chapel bekannt ist.»

«Sie wurde im Dorf gesehen», sagt Nelson und berichtet von Cathbads Begegnung mit Chloe Jenkins auf dem Friedhof.

«Verdammter Cathbad», knurrt Clough. «Ist mal wieder typisch, dass er an eine himmlische Erscheinung glaubt und sich nicht an die Polizei wendet.»

«Wozu man fairerweise sagen muss», wirft Nelson ein, «dass er keinen Grund hatte, zu glauben, dass sie sich in Gefahr befindet. In Walsingham laufen haufenweise komische Leute rum, Pilger und dergleichen.»

«Sollen wir die Einwohner von Walsingham befragen?», schlägt Clough vor. «Um zu erfahren, ob sie gestern Abend noch von anderen Personen gesehen wurde?»

«Ja», sagt Nelson. «Und wir sollten auch versuchen, den Weg über die Felder zu rekonstruieren, den sie genommen haben könnte. Bestellen Sie einen Hundeführer zum Tatort. Tim, könnten Sie mit Chloes Freund in der Schweiz sprechen?»

«Ein männliches Model und du, ihr findet sicher ’ne Menge Gemeinsamkeiten», meint Clough.

«Das ist nicht zum Lachen», rügt Nelson.

«Das war auch kein Witz.»

«Chloes Eltern werden bald hier sein. Sie haben ihre Tochter verloren, das sollten wir nicht vergessen. Tanya, können Sie die beiden in Empfang nehmen? Ich möchte natürlich auch mit ihnen sprechen.»

«Jawohl, Boss.» Nelson hat das Gefühl, dass sie ein bisschen enttäuscht dreinschaut, weil er ihr die harmlose Rolle der Opferschutzbeamtin zugeschustert hat. Aber irgendwer muss es schließlich machen, und Tim und Clough braucht er für andere Aufgaben.

«Clough, Sie organisieren die Befragung der Einwohner von Walsingham. Versuchen Sie, auch Zeugen zu finden, die sie unterwegs gesehen haben. Und Sie, Tim, kümmern sich um die Hintergrundinformationen, sobald Sie mit Chloes Freund gesprochen haben. Wir müssen wissen, ob es in ihrem Umfeld jemanden gibt, der verdächtig sein könnte.»

«Jawohl, Boss.»

Nelson kommt langsam auf Touren, er hat das Gefühl, dass die Ermittlungen jetzt wirklich anfangen. Die ersten Stunden sind die wichtigsten. Wenn sie loslegen, solange die Spuren noch frisch sind, stehen ihre Chancen gut, herauszufinden, wer Chloe Jenkins ermordet hat. Nelson denkt an den schmalen Körper in Nachthemd und Morgenmantel und spürt grimmige Entschlossenheit in sich aufsteigen.

«Na dann, auf geht’s!»

Im selben Moment steckt Leah, Nelsons Sekretärin, den Kopf durch die Tür. «Superintendent Whitcliffe möchte mit Ihnen sprechen.»

 

Whitcliffe, dauergebräunt und aalglatt, ist Nelsons Nemesis. Ein Akademiker, der aus der Gegend stammt, im Criminal Investigation Department von King’s Lynn nur ein Sprungbrett für höhere Weihen sieht und eine Vorliebe für Phrasen wie ‹die Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert› oder ‹Dreihundertsechzig-Grad-Bewertung› hat. Zudem ist er leidenschaftlicher Verfechter einer unbedingten Einbindung der Öffentlichkeit in die Arbeit der Polizei, solange er bloß keinen Vertreter dieser Öffentlichkeit persönlich treffen muss. Nelson ist ihm ein immerwährender Stachel im Fleische. Die Methoden seines DCI sind oft unkonventionell, und tief im Herzen ist Nelson noch ein echter Polizist der alten Schule, der es vorzieht, an vorderster Front zu kämpfen, statt sich um die strategische Einsatzleitung (noch so einer von Whitcliffes Lieblingsausdrücken) zu kümmern. Whitcliffe würde Nelson gern loswerden und durch einen aufgeweckten jungen Hochschulabsolventen ersetzen, jemanden wie Tim vielleicht. Doch Nelsons Team hält loyal zu ihm, und außerdem erzielt er augenscheinlich gute Ergebnisse. Whitcliffe lebt in der Hoffnung, dass Nelson eines Tages wieder zurück nach Nordengland will, eine Gegend, die in Whitcliffes Augen ebenso entfernt und geheimnisvoll ist wie die erdabgewandte Seite des Mondes. Doch nachdem er sich damit brüstet, mit jedermann gut auszukommen, begrüßt er Nelson jetzt überschwänglich.

«Ah, Harry, setzen Sie sich doch. Wie nett von Ihnen, sich die Zeit zu nehmen. Üble Sache, das mit diesem Mädel.»

«Chloe Jenkins», sagt Nelson, der stehen bleibt. «Ich stecke mitten in einem Mordfall. Die ersten sieben Stunden sind entscheidend.»

«Natürlich, natürlich. Wie ich hörte, war das Mädel, Chloe, ein bekanntes Model?»

«Ja.»

«Nun, Sie wissen sicher, was das bedeutet?»

Nelson bleibt stumm, weshalb Whitcliffe zu Einzelheiten ausholt. «Das bedeutet ein gesteigertes Interesse seitens der Presse. Sie wissen doch, wie das läuft, Harry. Ein attraktives Mordopfer, und schon stürzen alle Zeitungen sich darauf. Wir müssen eine Pressekonferenz einberufen.»

«Aber wir können denen rein gar nichts erzählen.»

«Es geht um gute Öffentlichkeitsarbeit, Harry. Sie wissen doch, wie wichtig das ist. Außerdem können wir gleich einen Zeugenaufruf damit verbinden. Möchten Sie vielleicht, dass Tim Heathfield das übernimmt?»

«Nein, ich mach das schon», sagt Nelson. «Wann?»

«Morgen in aller Frühe.»

«Ich bin rechtzeitig da», brummt Nelson. «Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich erwarte Chloes Eltern.»

 

Diese treffen kurz nach vier in einem Zivilwagen der Polizei ein. Nelson, der beobachtet, wie Tanya sie empfängt und ins Revier führt, hat den Eindruck, dass Alan und Julie Jenkins für Tragödien nicht geschaffen sind. Das Paar ist gut aussehend, beide vermutlich Anfang fünfzig und elegant gekleidet, selbst zu diesem Anlass. Doch der Kummer hat sie tief gebeugt; Julie schlingt sich die Arme eng um den Leib, und Alan – ein Mann, der erkennbar dazu geboren ist, Befehle zu erteilen – sieht verloren und verängstigt aus.

Nelson begrüßt das Paar. «Ihr Verlust tut mir schrecklich leid.» Wann haben eigentlich alle angefangen, das zu sagen? Früher hat es bei der Polizei immer «Mein Beileid» geheißen. Diese neue Phrase stammt wahrscheinlich aus amerikanischen Fernsehsendungen. Wie auch immer, die trauernden Eltern nehmen die Worte überhaupt nicht wahr.

«Möchten Sie Ihre Tochter gern sehen?»

«O ja, bitte», sagt Julie.

«Möchten Sie, dass ich Sie begleite?»

«Nein», erwidert Alan, «wir kommen schon zurecht.» Er wendet sich an Tanya, die die beiden zur Tür führt.

«Ich warte hier auf Sie», sagt Nelson erleichtert, und auch ein wenig beschämt. Wie fühlt es sich wohl an, wenn man gefragt wird, ob man die Leiche des eigenen Kindes sehen möchte? Nelson versucht, nicht an seine drei Töchter zu denken, aber das ist unmöglich, schließlich denkt er schon den ganzen Tag über an sie.

Wenige Minuten später kommen die Jenkins zurück, beide weinen. Nelson führt sie in den Ruheraum, bietet Tee und Kaffee an und stellt ein paar einfache Fragen. Für eine richtige Vernehmung ist es noch zu früh.

«Wann haben Sie Chloe zuletzt gesehen?»

Julie holt tief Luft, sie zittert. «Vor einer Woche. In den ersten Wochen im Sanctuary dürfen die Patienten keinen Besuch bekommen. Das soll sie von allen äußeren Einflüssen reinigen oder so ähnlich. Aber Doktor McAllister – das ist die Chefärztin dort – meinte letzte Woche, dass wir Chloe jetzt besuchen könnten.»

«Und wie ging es Chloe da?»

«Es schien ihr gut zu gehen.» Julie wirft ihrem Mann einen um Bekräftigung bittenden Blick zu, doch der sieht aus, als hätte es ihm für immer die Sprache verschlagen. «Ich meine, sie war zwar noch nicht lange dort, aber ich konnte schon einen Unterschied erkennen. Als sie sich in Behandlung begab, war sie … sie hatte ihr Äußeres vollkommen vernachlässigt und war viel zu dünn. Aber als wir sie letzte Woche besuchten, da war sie, na ja, sie war immer noch dünn, aber sie hatte frisch gewaschene Haare, und auch ihre Haut wirkte frischer. Das war so schön, nicht wahr, Alan?»

«Wir waren so glücklich, als wir wieder nach Hause fuhren», sagt Alan mit vor Kummer heiserer Stimme. «Wir glaubten wirklich, sie wird wieder gesund. Und jetzt …» Er vergräbt den Kopf in den Händen.

«Es tut mir aufrichtig leid», sagt Nelson, «aber alles, was Sie mir jetzt erzählen, könnte uns helfen bei der Suche nach demjenigen, der ihr das angetan hat. Hat Chloe letzte Woche etwas gesagt, was uns einen Hinweis darauf geben könnte, weshalb sie gestern Abend in Walsingham war?»

«Nein», antwortet Julie. «Wir dachten eigentlich, dass die Patienten nachts nicht rausdürfen. Wir dachten, sie wäre in Sicherheit.»

Nun weinen beide. Nelson bringt es nicht über sich, ihnen noch weitere Fragen zu stellen.

«Draußen steht der Wagen bereit, um Sie nach Hause zu bringen», sagt er. «Darf ich nächste Woche einen Beamten bei Ihnen vorbeischicken? Nur um Sie auf dem Laufenden zu halten, was den Stand der Ermittlungen betrifft, und falls Sie zu Ihrer Aussage noch etwas hinzufügen wollen.»

Er wünschte, er könnte Judy schicken, aber es wird wohl auf Tim hinauslaufen. Der kann so etwas auch immer gut.

«Natürlich», sagt Julie. «Ich kann mir die Tage, die vor uns liegen, überhaupt nicht vorstellen. Wir müssen uns Gedanken über die Beerdigung machen. Chloes Schwester ist noch in den Staaten. Sie kommt heute Abend nach Hause.»

«Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann», meint Nelson, «haben Sie ja meine Nummer.»

«Sie sah so wunderschön aus», sagt Julie Jenkins. «Sie hat doch nicht gelitten, oder?»

«Nein», lügt Nelson. «Der Tod muss beinahe sofort eingetreten sein.»

«Wir hatten so unsere Schwierigkeiten mit Chloe», sagt Alan, «aber sie war wirklich ein gutes Mädchen.» Er sieht Nelson an, als wäre es immens wichtig, dass der Ermittler das versteht.

«Das weiß ich doch», erwidert Nelson. «Wir werden den Kerl schnappen, der das getan hat. Das verspreche ich Ihnen.»

4

Als Nelson das Revier verlässt, ist es schon fast neun. Wie immer bei einer Mordermittlung fühlt er sich angespannt und ruhelos und rast durch die stillen Straßen. Weil das Opfer diesmal ein junges Mädchen ist – und, noch schlimmer, ein junges Mädchen, das seiner ältesten Tochter verblüffend ähnlich sieht –, geht ihm der Fall persönlich unangenehm nahe. Er muss an Chloes Eltern denken, an ihren Vater, der sagte: ‹Sie war wirklich ein gutes Mädchen.› Nelsons Tochter Laura ist auch ein gutes Mädchen. Das sind natürlich alle seine Töchter, aber Laura schien immer einen besonderen Anspruch auf diesen Titel zu erheben. Laura ist schön, klug (seiner Einschätzung nach jedenfalls) und sportlich. Als Kind erinnerte sie Michelle an die Figur der Beth aus Little Women, so niedlich und artig und immer bereit, im Haushalt zu helfen. Nelson allerdings, der das Buch nie gelesen hatte, war entsetzt, als er den Film sah. Warum hatte niemand ihn gewarnt, dass Beth stirbt? Er musste aus dem Zimmer laufen und sich im Flur lautstark die Nase putzen. Danach bat er Michelle, Laura nie wieder mit Beth zu vergleichen. Am Ende ihrer Teenagerzeit legte Laura ihre Niedlichkeit und Artigkeit dann ohnehin weitgehend ab. Sie nahm sich einen Freund und entwickelte eine Vorliebe für kurze Röcke und durchfeierte Nächte. Trotzdem schaffte sie es auf die Uni von Plymouth, wo sie zu Nelsons und Michelles mit Verwirrung gespicktem Stolz Meeresbiologie studierte. Zurzeit jobbt sie als Animateurin auf Ibiza. «Ein dreijähriges Brückenjahr» nennt das Rebecca, Nelsons mittlere Tochter. Nicht unbedingt, was Nelson erwartet hatte, als er bei Lauras Abschlussfeier unter einem vom Wind gebeutelten riesigen Festzelt auf dem Plymouth Hoe saß, aber es könnte schlimmer sein. Beim Gedanken an Chloe Jenkins muss er einräumen, dass es viel schlimmer sein könnte.

Als Nelson zu Hause ankommt, steht Michelles Wagen schon in der Einfahrt. Das freut ihn. In den vergangenen Monaten war Michelle zunehmend später von der Arbeit im Salon heimgekommen. Er weiß ja, dass der Friseurladen expandiert und sie eine Menge Verantwortung übernommen hat, aber tief drinnen ist er eben doch ein Mann aus dem Norden, der möchte, dass seine Frau am Ende des Tages daheim auf ihn wartet. Und tatsächlich, als er die Tür aufsperrt, kann er bereits das Essen riechen und den Fernseher hören (Masterchef, der einzige Wermutstropfen).

«Hallo, Liebling. Ich bin zu Hause.»

«Harry.» Michelle taucht in der Tür zum Wohnzimmer auf. «Du kommst spät.»

«Ich hab dir doch ’ne SMS geschrieben. Wir haben eine Mordermittlung laufen, was richtig Großes. Hast du keine Nachrichten gehört?»

«Nein.» Michelle hat nicht viel übrig für Nachrichten. Sobald im Radio die Melodie der Nachrichtensendung ertönt, wechselt sie in der Regel den Sender.

«Kurz vor Walsingham wurde ein junges Mädchen tot aufgefunden.»

«Wie furchtbar.»

«Ja.» Nelson beschließt, Michelle nichts von der Ähnlichkeit der Toten mit Laura zu erzählen. Das erfährt sie noch früh genug, wenn Chloes Foto in den Zeitungen ist. In ihrer Fernsehkluft – Schlabberpulli und Leggins – sieht Michelle selbst kaum älter aus als Chloe.

Nelson geht in die Küche und holt sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Michelle widmet sich dem Ofen. «Ich habe dir dein Steak warm gehalten. Möchtest du einen Salat dazu?»

«Nein, danke. Hast du was von den Mädchen gehört?», fragt er.

«Rebecca hat mir eine SMS geschickt und um ein Rezept für Cupcakes gebeten.» Rebecca wohnt in Brighton und arbeitet für einen Ausbildungsbetrieb. Der Lohn ist karg, aber immerhin kann sie dort von ihrem Uniabschluss profitieren, und außerdem liebt sie ihre Wahlheimat. Sie teilt sich eine Wohnung mit drei anderen jungen Mädchen und legt seit kurzem Interesse fürs Backen an den Tag.

«Und Laura?»

«Sie wollte Samstag mit uns skypen.»

«Aber heute hast du nichts von ihr gehört?»

Michelle blickt überrascht drein. «Sie hat ein Foto auf Facebook gestellt. Offenbar war sie mit André in einem Club.»

Nelson atmet erleichtert auf. So funktioniert die Welt heutzutage. Man verlässt sich auf Facebook, um zu erfahren, dass die Tochter am Leben und wohlauf ist, auch wenn sie sich mit André rumtreibt, einem Privatschulabsolventen, der sich für den obercoolen Gangster-DJ hält.

«Alles in Ordnung, Harry?»

Nelson kippt Ketchup über sein Steak und die Pommes. «Mir geht’s gut. Ist nur dieser Fall.»

«Ich hoffe, ihr erwischt denjenigen, der’s war», sagt Michelle, aber irgendwie ist sie schon nicht mehr ganz bei der Sache, so als würde es sie mehr interessieren, wer denn nun Masterchef gewonnen hat. Sie sind jetzt seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, Mord ist sie gewohnt.

 

Ruth versucht zu schreiben. Kate ist im Bett (nachdem Ruth ihr eine gefühlte Ewigkeit aus Finchen in der Schule vorlesen musste), und nun sitzt Ruth am Schreibtisch, neben sich eine Packung Schokokekse zum Ankurbeln der Genialität. Vor drei Jahren hat sie ein Buch mit dem Titel Das Grab des Rabenkönigs geschrieben, über eine Ausgrabung in Lancashire. Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie einen Lektor und einen Verlag und ergatterte eine Vereinbarung, die sich ‹Zwei-Buch-Vertrag› nennt. Und jetzt bemüht sie sich verzweifelt, das zweite Buch zu schreiben, das eine Bronzezeitausgrabung in Norfolk zum Thema hat, die plötzlich wichtig wurde im Fall der Entdeckung einer Leiche aus dem Zweiten Weltkrieg. Das erste Buch war ihr leicht von der Hand gegangen, zum Teil, weil niemand darauf wartete, es zu lesen (inzwischen graut es Ruth vor den fröhlichen ‹Na, wie geht’s›-E-Mails ihres Lektors Javier), und zum Teil, weil die Geschichte mit einem einigermaßen denkwürdigen Fund endete. Das neue Buch, Die Schattenfelder, erweist sich als deutlich schwieriger, die Geschichte ist zersplittert und kompliziert, und die beteiligten Archäologen sind immer noch weit von einer abschließenden Entdeckung entfernt. Ruth versucht, jeden Abend eine Stunde an ihrem Buch zu arbeiten. Wenn sie täglich eintausend Wörter schreibt, hat sie sich ausgerechnet, ist sie in achtzig oder neunzig Tagen mit dem Buch fertig. Bislang hat sie 15000 Wörter geschafft.

Ruth starrt auf den Bildschirm. Bestimmt kann es nicht schaden, schnell mal ihre E-Mails zu checken. Vielleicht ist ja eine von Frank darunter, dem amerikanischen Akademiker, mit dem sie … was eigentlich hatte? Eine Affäre klingt zu verrucht, ein Techtelmechtel zu banal. Aber im letzten Jahr hat sie ein paar Wochen lang beinahe an eine gemeinsame Zukunft mit Frank geglaubt. Frank wollte nach England ziehen. Auch er schrieb an einem Buch. Sie wollten zusammen schreiben, zusammen ausgehen, zusammen schlafen, die Wochenenden zusammen verbringen. Vielleicht wären sie sogar zusammengezogen … Frank hätte einen guten Stiefvater für Kate abgegeben, die ihn anbetet. Nur eine einzige Sache hielt Ruth schließlich davon ab. Aus irgendeinem dämlichen Grund bekam sie Nelson nicht aus dem Kopf. Nelson, mit dem sie exakt zwei Nächte verbracht hat. Nelson, den Vater ihrer Tochter. Nelson, der verheiratet ist. Offenbar konnte Ruth sich nicht auf eine Zukunft mit Frank einlassen, solange es im Hintergrund noch einen Nelson gibt. Und das Problem mit Nelson ist, dass er nie im Hintergrund bleibt. Immer ist er da, nervt sie, liegt ihr ständig in den Ohren wegen Kate und macht es ihr dennoch unmöglich, ein Leben mit einem anderen Mann auch nur in Betracht zu ziehen. Ruth klickt auf das E-Mail-Symbol, um ihre Nachrichten zu öffnen.

Das erste Wort, das ihr ins Auge fällt, ist ‹Walsingham›. Flint springt auf den Schreibtisch und will sich auf die Tastatur setzen, Ruth schiebt ihn weg. Sie blickt auf eine weitere E-Mail von Hilary Smithson.

Hallo, Ruth!

Hast du meine Mail bekommen? Ich treffe am Sonntag in Walsingham ein. Vielleicht könnten wir am Montag auf einen Kaffee im Blue Lady zusammenkommen? Sagen wir, um 11? Ich würde dich wirklich gern sehen. Hilary x

Was weiß sie eigentlich noch über Hilary, diese Frau, die mit Küsschen unterzeichnet? Auch Hilary war Doktorandin in Southampton. Und wo hatte sie davor noch mal studiert? An irgendeiner beeindruckenden Uni, Oxford oder so. Ruth hat ihr Grundstudium und ihren Master am University College in London absolviert, beeindruckend genug, doch gewissermaßen das raue Leben im Vergleich zum Elfenbeinturm. Hilary war immer sehr strebsam, erinnert sich Ruth, hatte aber einen überraschend feinen Sinn für Humor. Ihr Doktorvater war der große Erik Anderssen gewesen, ein charismatischer Archäologe aus Norwegen, den Ruth einmal sehr verehrte. Hilary, denkt sie nun, bewunderte Erik auch, griff ihn aber manchmal mit rebellischer Kühnheit an. Ruth fällt das eine Mal wieder ein, als Erik über heilige Landschaften sprach, darüber, dass ein und dasselbe spezielle Fleckchen Erde Hunderte und Tausende Jahre lang eine ganz besondere Bedeutung für die unterschiedlichsten Menschen gehabt habe, und Hilary dann sagte: ‹Oder das ist alles bloß Zufall.› Ruth sieht noch immer das gefährliche Aufblitzen in Eriks hellblauen Augen vor sich, als er antwortete: ‹Und natürlich könnte das alles bloß Zufall sein, Miss Smithson, aber das ist letztlich auch nur ein anderer Ausdruck für eine Fügung des Schicksals.›

Ist es bloß ein Zufall, dass Walsingham an ein und demselben Tag gleich zweimal erwähnt wird? Und ist Cathbad zurzeit nicht auch in Walsingham, wo er für einen seiner verrückten frommen Freunde das Haus hütet? Damit wären es schon dreimal, und, wie Cathbad zu sagen pflegt, schlechte Nachrichten kommen immer zu dritt.

Obwohl sie ganz in der Nähe der berühmten Pilgerstätte wohnt, hat Ruth Walsingham noch nie besucht. Religion ist nicht so ihr Ding, was vermutlich daher rührt, dass ihre Eltern gläubige Evangelikale sind. Allerdings stehen selbst ihre Eltern Wallfahrtsorten und Pilgerfahrten äußerst argwöhnisch gegenüber. Für sie ist alles Katholische oder Anglokatholische fast schlimmer als der Teufelsglaube (wobei ein Teufelsjünger einem wenigstens noch einen anständigen Kampf bietet, mitsamt der Möglichkeit, in Zungen zu reden, und der Chance auf einen Exorzismus noch obendrein, je nachdem). Aber Ruth versucht, generell allem aus dem Weg zu gehen, was mit Kirche zu tun hat. Kate besucht eine weltliche Grundschule, und wenngleich sie sowohl heidnisch als auch katholisch getauft wurde (um Cathbad, ihrem Paten, sowie Nelson, ihrem leiblichen Vater, einen Gefallen zu tun), ist Ruth doch fest entschlossen, ihr Kind in keiner Weise religiös indoktrinieren zu lassen. Zu Weihnachten geht es um Geschenke, zu Ostern um Schokolade, und Ruth hofft, dass Geburt, Sex und Tod noch ein paar Jahre warten, bevor sie ihre hässlichen Häupter erheben.

Sie googelt Walsingham (Hauptsache, sie muss nicht zurück an ihr Buchprojekt) und findet heraus, dass es einst zwei Dörfer gab, Little Walsingham und Great Walsingham, und dass der Ort berühmt ist für seine zu Ehren der Jungfrau Maria errichteten Heiligtümer. Das größere der beiden Dörfer, in dem auch die Ruine der Abtei steht, ist verwirrenderweise Little Walsingham. Auf einer anderen Website erfährt Ruth, dass die Volkszählung von 2001 eine Einwohnerzahl in Höhe von 864 Personen in 397 Haushalten ergeben hat. Auf der Suche nach Hinweisen auf archäologische Aktivitäten scrollt sie weiter nach unten und findet einen Abschnitt über eine Ausgrabung im Jahre 1961. Damals wurde der Standort des ursprünglichen Nachbaus des Nazarether Hauses der Heiligen Familie freigelegt. Dieses Heilige Haus, das dort stand, wo sich heute das Gelände der Abteikirche befindet, war eine einfache Holzkonstruktion und beherbergte eine Statue der Maria sowie – anscheinend – eine Phiole mit ihrer Muttermilch. Lange Zeit war Walsingham einer der großen Wallfahrtsorte. Viele Könige, angefangen mit Heinrich III., machten sich auf den Pilgerweg nach Walsingham. Heinrich VIII. stattete dem Ort einen Besuch ab, nachdem Katharina von Aragon mit einem Sohn niedergekommen war, doch der kleine Prinz starb, und am Ende zerstörte Heinrich VIII. bekanntlich die englischen Klöster. Die Abtei von Walsingham entging der Auflösung der Monasterien zunächst, was dem Abt Richard Vowell zu verdanken war, der sich unterwürfig vor Thomas Cromwell in den Staub geworfen hatte. Nicholas Mileham, der Subprior, indes protestierte gegen die Zerstörung der kleineren Klöster und wurde zum Dank für seine Mühen 1537 hingerichtet. 1538 wurde die Abtei aufgelöst und auf ihren Ruinen ein privates Herrenhaus errichtet. Die Klosterschätze wurden nach London gebracht und die Statue Unserer Lieben Frau verbrannt.

Die nächsten paar hundert Jahre überspringt Ruth und klickt auf den Link ‹Walsingham heute›. Dort erfährt sie, dass Walsingham mittlerweile ein Zentrum sowohl anglikanischer als auch katholischer Marienverehrung ist. Im Ort selbst steht der anglikanische Schrein, und die römisch-katholische Wallfahrtskapelle Slipper Chapel ist nur eine Meile entfernt. Im alten Bahnhofsgebäude gibt es sogar eine russisch-orthodoxe Kapelle. Jährlich kommen Tausende Pilger in den Ort, und an Ostern finden auf dem Gelände der Abteiruine Passionsspiele statt.

Ruth erinnert sich jetzt, dass sie selbst vor einigen Jahren an einer Ausgrabung in der Nähe von Walsingham teilgenommen hat. Sie hatten gehofft, die Stätte des römischen Urschreins zu finden, doch am Ende brachte die Erde nichts weiter hervor als eine Handvoll langweiliger Keramikreste, einige Glasscherben und ein oder zwei Münzen. Was für ein Seminar ist das eigentlich, das Hilary besuchen will? Arbeitet sie immer noch als Archäologin? Und was ist diese ‹verzwickte Sache›, in der sie einen Rat braucht? Das Wort ‹verzwickt› ist typisch Hilary, denkt Ruth. Ihre Hand schwebt über der Maus. Soll sie höflich antworten, voller Bedauern, dass sie nächste Woche leider nicht kann? Hilarys Mail löschen? Schreiben, dass sie sich freuen würde, Hilary zu sehen, und es kaum erwarten kann, zu erfahren, was auch immer aus dem alten So-und-so geworden ist?

Noch während sie zögert, ploppt eine weitere Mail auf dem Bildschirm auf. Von Hilary.

Ruth – hast du meine letzte Mail bekommen? Ich würde dich wirklich gern treffen. Ich stecke in Schwierigkeiten und glaube, du bist die Einzige, die mir helfen kann.

Cathbad hat recht: Die Zahl Drei bedeutet schlechte Nachrichten. Ruth seufzt und klickt auf ‹Antworten›.

5

Cathbad feiert seinen letzten Tag in Walsingham mit einem gemeinsamen Mittagessen mit seiner Freundin Janet Meadows. Sie essen im The Bull, einem alten Pub am Market Square, dem eher an eine verzerrte Raute erinnernden Marktplatz mit einem Pumpenhaus aus Backstein in der Mitte. Cathbad mag den Pub, dessen Wände ein wahres Palimpsest aus Gebetszetteln, Schwarzweißfotografien und Artikeln aus längst vergessenen Zeitschriften zu Themen wie dem mystischen Leib Christi bilden. Ein Schild vor dem Eingang heißt Pilger aus der St. Thomas More Church in Tring willkommen, und drinnen vertilgt ein Bischof in vollem Ornat gerade einen riesigen Brotzeitteller.

Janet allerdings ist ganz und gar nicht beeindruckt. «Hätten wir nicht woandershin gehen können?»

«Nicht in Walsingham», sagt Cathbad. «Außerdem dachte ich, dir gefällt alles Religiöse.»

Womit er auf den Umstand anspielt, dass Janet nicht nur eine einheimische Historikerin ist, sondern auch ein sehr aktives Mitglied ihrer Kirchengemeinde. Sie lädt Cathbad oft ein, zu den Familiengottesdiensten im Advent oder zum Erntedankfest. Was Cathbad, der Rituale liebt, in der Regel annimmt.

«Aber Walsingham gefällt mir nicht», sagt Janet. «Hier herrscht so eine ungute Atmosphäre. Als Tom noch klein war, hatte er Freunde