Totenpfad - Elly Griffiths - E-Book
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Totenpfad E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Alte Rituale und alte Leichen – Dr. Ruth Galloways erster Fall. Vor zehn Jahren verschwand die fünfjährige Lucy Downey. Seitdem schreibt ein Unbekannter verstörende Briefe, die Detective Chief Inspector Harry Nelson von der Norfolk Police um den Schlaf bringen. Als an einem nebligen Herbsttag in den Salzwiesen nahe der Küste Mädchenknochen gefunden werden, ist er sich sicher, dass es Lucys sind. Doch die forensische Archäologin Ruth Galloway sieht auf den ersten Blick, dass es sich um einen Fund aus vor-geschichtlicher Zeit handelt. Damals opferte man Menschen in heidnischen Ritualen – an Plätzen, wo Land und Wasser aufeinandertreffen. Aber was hat das mit Lucy zu tun? Harry bittet Ruth um ihre Mithilfe. Als dann ein weiteres Mädchen verschwindet, muss Ruth erkennen, dass sie den Täter besser kennt, als sie glaubt. Und er sie … «Ein fesselnder Pageturner mit großartigen Figuren.» Kirkus Reviews

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Seitenzahl: 430

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Elly Griffiths

Totenpfad

Roman

 

 

Übersetzt von Tanja Handels

 

Über dieses Buch

Die Knochen sind alt, das ist der forensischen Archäologin Ruth Galloway sofort klar. Das Mädchen hingegen konnte noch nicht so alt gewesen sein. Wie sie zu Tode gekommen ist, kann Ruth nicht mehr ermitteln, aber die Faserreste an ihren Handgelenken lassen vermuten, dass sie gefesselt und der Flut ausgesetzt worden ist. Doch das war schon vor 2000 Jahren geschehen. Es hat nichts mit dem Fall der vermissten Lucy Downey zu tun. Oder? In den anonymen Briefen, die Detective Chief Inspector Harry Nelson von der Norfolk Police seit dem Verschwinden der Fünfjährigen bekommt, ist immer wieder vom Moor die Rede, von Opferungen und heidnischen Ritualen.

Darum bittet Harry Ruth um ihre Mithilfe. Als kurz darauf ein weiteres Mädchen verschwindet, muss Ruth entdecken, dass sie den Täter besser kennt, als sie glaubt. Und er sie ...

Vita

Elly Griffiths ist Autorin. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Die Idee zur Figur von Ruth Galloway hatte sie, als ihr Mann seinen Job als Banker aufgab, um Archäologe zu werden. Dazu kamen die Mythen und Legenden, die ihre in Norfolk lebende Tante früher immer erzählte. «Totenpfad» ist Elly Griffiths' erster Krimi mit Ruth Galloway und DCI Harry Nelson, weitere Bände sind in Vorbereitung.

Für Marge

Prolog

Sie warten die Ebbe ab und brechen auf, als es hell wird.

Es hat die ganze Nacht geregnet, jetzt am Morgen dampft der Boden leicht, Nebel steigt auf und mischt sich mit den tiefhängenden Wolken. Nelson holt Ruth mit einem Zivilwagen ab. Er sitzt vorne neben dem Fahrer, Ruth hinten, wie im Taxi. Schweigend fahren sie zu dem Parkplatz, in dessen Nähe die ersten Knochen gefunden wurden. Auf der Straße, die zum Salzmoor führt, hört man kaum ein Geräusch, bis auf das unvermittelte, abgehackte Knistern des Polizeifunks und die schweren, verschnupften Atemzüge des Fahrers. Nelson sagt nichts. Es gibt auch nichts zu sagen.

Sie steigen aus und stapfen durch das regenschwere Gras bis zum Moor. Der Wind flüstert im Schilf, hier und da sehen sie trübe, stehende Tümpel, in denen sich der graue Himmel spiegelt. Am Rand des Sumpflands bleibt Ruth stehen und sucht den ersten eingesunkenen Pfahl, den Kiesweg, der sich zwischen den tückischen Wasserlöchern hindurch bis ins Watt windet. Als sie ihn schließlich findet, halb verdeckt vom brackigen Wasser, marschiert sie ohne Zögern los.

Schweigend überqueren sie das Moor. Auf dem Weg zum Meer löst sich der Nebel langsam auf, schwaches Sonnenlicht fällt durch die Wolken. Die Ebbe hat den Henge-Ring freigelegt, der Sand glitzert im frühen Morgenlicht. Ruth kniet sich hin, wie sie es damals, vor Jahren, Erik tun sah. Behutsam macht sie sich daran, mit dem Spatel im nachgiebigen Schlamm zu stochern.

Mit einem Mal ist es ganz still, selbst die Seevögel über ihr haben ihr wildes Pfeifen und Kreischen eingestellt. Vielleicht nimmt sie es auch nur nicht mehr wahr. Hinter sich hört sie Nelson schwer atmen, doch Ruth ist merkwürdig ruhig. Selbst als sie ihn sieht, den schmalen Arm mit dem Taufarmband – selbst da empfindet sie nichts.

Sie hat ja gewusst, was sie finden würde.

1

Aufwachen hat etwas von Auferstehung. Sich mühsam aus dem Schlaf wühlen, Umrisse erkennen, die sich aus der Dunkelheit lösen, das Klingeln des Weckers hören, wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Ruth streckt den Arm aus und fegt den Wecker zu Boden, wo er vorwurfsvoll weiterklingelt. Stöhnend richtet sie sich auf und zieht die Jalousie hoch. Immer noch dunkel draußen. Das ist doch nicht normal, denkt sie und zuckt zusammen, als sie die kalten Bodendielen unter den Füßen spürt. In der Steinzeit gingen die Leute bei Sonnenuntergang schlafen und erwachten bei Sonnenaufgang. Wie kommen wir eigentlich darauf, dass wir es richtig machen? Man nickt auf dem Sofa vor den Spätnachrichten ein und schleppt sich irgendwann nach oben, nur um dann mit einem Rebus-Krimi wach zu liegen, den BBC World Service zu hören und Grabstätten aus der Eisenzeit zu zählen, damit man doch noch irgendwie einschläft. Und dann wacht man am nächsten Morgen im Stockdunkeln auf und fühlt sich wie tot. Das ist doch einfach nicht normal.

Unter der Dusche gehen die verklebten Augen auf, und das Haar fließt ihr nass den Rücken hinunter. Das wäre dann wohl eine Art Taufe. Ruths Eltern sind Christen, Wiedererweckte Christen, und eifrige Verfechter der Ganzkörpertaufe für Erwachsene. Ruth kann den Reiz daran durchaus verstehen, sie hat nur das kleine Problem, dass sie nicht an Gott glaubt. Trotzdem beten ihre Eltern täglich für sie (täglich!), was allerdings bisher nicht allzu viel genützt hat.

Sie rubbelt sich energisch mit dem Handtuch trocken und starrt mit leerem Blick in den beschlagenen Spiegel. Was sie dort sehen würde, weiß sie, aber dieses Wissen ist kaum tröstlicher als die Gebete ihrer Eltern. Schulterlanges braunes Haar, blaue Augen, helle Haut. Und ganz egal, wie sie sich auf die Waage stellt (die seit kurzem ohnehin in den Besenschrank verbannt ist), sie wiegt doch immer dieselben 79 Kilo. Ruth seufzt – ich definiere mich nicht über mein Gewicht, man ist immer nur so dick, wie man sich fühlt – und drückt Zahnpasta auf die Zahnbürste. Sie hat ein wunderschönes Lächeln, doch im Augenblick lächelt sie nicht, und so ist auch das heute Morgen kein Trost.

Fertig geduscht geht sie auf feuchten Sohlen ins Schlafzimmer zurück. Heute hat sie Vorlesungen und muss sich deshalb etwas offizieller kleiden. Schwarze Hose, weites, schwarzes Oberteil. Fast ohne hinzusehen, nimmt sie die Kleider aus dem Schrank. Dabei mag sie Farben und Stoffe und hat eine ausgesprochene Vorliebe für Pailletten, Glasperlen und Strass. Ihrem Kleiderschrank sieht man das allerdings nicht an: eine einzige düstere Reihe dunkler Hosen und weiter Blazer in gedeckten Farben. Die Schubladen ihrer Kiefernholzkommode sind mit schwarzen Pullovern, langen Strickjacken und blickdichten Strumpfhosen gefüllt. Früher hat sie Jeans getragen, aber seit sie bei Größe 44 angelangt ist, trägt sie lieber Cordhosen, selbstverständlich in Schwarz. Jeans sind ohnehin zu jugendlich für sie. Nächstes Jahr wird sie vierzig.

Als sie angezogen ist, steigt sie die Treppe hinunter. Die Treppe in ihrem Häuschen ist ausgesprochen steil, eigentlich eher eine Leiter. «Da komme ich nie im Leben hoch», hat ihre Mutter bei ihrem ersten und einzigen Besuch verkündet. Und Ruth dachte sich im Stillen: Verlangt ja auch keiner von dir. Ihre Eltern haben in einer Pension ganz in der Nähe übernachtet, weil Ruth kein Gästezimmer hat, es gab also gar keinen Grund für Ruths Mutter, nach oben zu gehen (unten ist sogar auch eine Toilette, allerdings gleich neben der Küche, was Ruths Mutter unhygienisch findet). Die Treppe führt direkt ins Wohnzimmer: abgeschliffener Holzboden, ein bequemes, leicht verschossenes Sofa, ein großer Fernseher mit Flachbildschirm und jede Menge Bücher. Hauptsächlich archäologische Fachbücher, aber auch Krimis, Kochbücher, Reiseführer und Arztromane. Ruths Lektürevorlieben sind bunt gemischt. Sie hat eine Schwäche für Kinderbücher, die von Ballett und Reiten handeln, obwohl sie keins von beidem je ausprobiert hat.

Die Küche bietet gerade genug Platz für einen Kühlschrank und einen Herd, doch Ruth kocht so gut wie nie, trotz der vielen Kochbücher. Jetzt macht sie den Wasserkocher an, steckt Brot in den Toaster und schaltet mit geübter Hand das Radio ein. Dann sucht sie ihre Notizen für die Vorlesung zusammen und setzt sich damit an den Tisch am Fenster. Das ist ihr Lieblingsplatz. Vor ihrem Vorgarten mit dem windzerzausten Gras und dem wackligen blauen Zaun beginnt das Nichts. Nur Sumpfland, kilometerweit, hier und da sind mickrige Ginsterbüsche zu sehen und kreuz und quer verlaufende schmale, hinterhältige Wasserläufe. Um diese Jahreszeit ziehen manchmal große Schwärme von Wildgänsen über den Himmel, das Gefieder rosig verfärbt von den Strahlen der aufgehenden Sonne. Heute allerdings, an diesem grauen Wintermorgen, sieht man weit und breit kein einziges Lebewesen. Alles wirkt blass und verwaschen, Graugrün mischt sich mit Grauweiß, dort, wo das Moor in den Himmel übergeht. Und in der Ferne als dunkelgrauer Streifen das Meer, wo die Möwen auf den Wellen an Land treiben. Es ist eine ganz und gar trostlose Landschaft, und Ruth weiß beim besten Willen nicht, weshalb sie das alles so sehr liebt.

Sie isst ihren Toast und trinkt ihren Tee – eigentlich trinkt sie lieber Kaffee, hebt sich den ordentlichen Espresso aber für die Uni auf – und blättert dabei in ihren Notizen, ein ursprünglich sauber getipptes Skript, das inzwischen aber durch die nachträglich eingefügten, verschiedenfarbigen Anmerkungen zu einem wahren Palimpsest geworden ist. «Gender-Fragen der prähistorischen Archäologie», «Das Ausgraben von Artefakten», «Leben und Tod im Mesolithikum», «Die Bedeutung von Tierknochen bei archäologischen Ausgrabungen». Obwohl der November gerade erst angefangen hat, ist das Wintertrimester schon wieder fast vorbei, und Ruth hat nur noch diese Woche Veranstaltungen. Einen Moment lang sieht sie die Gesichter ihrer Studenten vor sich: ernst, fleißig und ein bisschen langweilig. Inzwischen unterrichtet sie nur noch Doktoranden, und manchmal vermisst sie die Studienanfänger mit ihrer unbeschwerten, immer leicht verkaterten guten Laune. Ihre Studenten sind so schrecklich eifrig, sie lauern ihr nach der Vorlesung auf, um mit ihr über den Lindow-Mann und den Boxgrove-Mann zu diskutieren und darüber, ob Frauen in der prähistorischen Gesellschaft nicht doch eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. Schaut euch doch mal um, möchte sie dann manchmal antworten. Spielen Frauen etwa in dieser Gesellschaft eine besonders wichtige Rolle? Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass eine Horde grunzender Jäger und Sammler fortschrittlicher gewesen sein soll als unsereins?

Der unvermeidliche «Gedanke zum Tage» dringt aus dem Radio in ihr Unterbewusstsein und erinnert sie daran, dass es Zeit zum Aufbrechen wird: «In mancher Hinsicht ist Gott wie ein iPod …» Ruth räumt Teller und Tasse in die Spüle, stellt ihren beiden Katzen, Sparky und Flint, etwas zu fressen hin und verteidigt sich dabei gegen den unermüdlichen, spöttischen Fragensteller in ihrem Kopf. «Ja, ich bin eine alleinstehende Frau mit Übergewicht und ohne Anhang. Und ich habe Katzen. Na und? Zugegeben, manchmal rede ich auch mit ihnen, aber ich erwarte immerhin nicht, dass sie antworten, und ich bilde mir auch nicht ein, dass ich für sie etwas anderes bin als eine äußerst praktische Futterquelle.» Wie aufs Stichwort zwängt sich Flint, ein großer, roter Kater, durch die Katzenklappe in der Tür und richtet seine starren, gelben Augen auf sie.

«Kommt Gott in der Liste unserer kürzlich gespielten Songs vor, oder taucht er nur auf, wenn wir die Zufallsfunktion drücken?», ertönt es aus dem Radio.

Ruth streichelt Flint und geht zurück ins Wohnzimmer, um ihre Unterlagen in den Rucksack zu stecken. Sie wickelt sich einen roten Schal um den Hals – ihr einziges Zugeständnis in punkto Farbe: Schals dürfen schließlich auch dicke Leute tragen – und streift ihren Anorak über. Dann macht sie das Licht aus und verlässt ihr Häuschen.

Ruth bewohnt eines von drei kleinen Häusern am Rand des Salzmoors. Das zweite gehört dem Wärter des Vogelschutzgebiets, das dritte ist ein Wochenendhaus, dessen Bewohner im Sommer hier einfallen, die Luft mit Grilldünsten verpesten und Ruth mit ihrem Geländewagen die Aussicht versperren. Im Frühling und im Herbst ist die Straße häufig überschwemmt, im Winter manchmal völlig unpassierbar. «Warum wohnst du nicht etwas zentraler?», fragen ihre Kollegen. «Es gibt doch wunderschöne Grundstücke in King’s Lynn oder auch in Blakeney, wenn du mehr Natur willst.» Ruth kann sich selbst nicht recht erklären, weshalb sie, ein Großstadtkind, im Süden von London geboren und aufgewachsen, sich zu diesem gottverlassenen, unwirtlichen Sumpfland, dem trostlosen Watt, dieser ganzen unerbittlichen Landschaft hingezogen fühlt. Das erste Mal ist sie aus beruflichen Gründen hierher ans Salzmoor gekommen; weshalb sie trotz aller widrigen Umstände bleibt, weiß sie selber nicht. «Ich bin es eben so gewöhnt.» Mehr kann sie dazu nicht sagen. «Und die Katzen würden auch nicht gerne umziehen.» Dann lachen die anderen. Die gute Ruth mit ihren heißgeliebten Katzen, klarer Fall von Kinder-Ersatz; eigentlich schade, dass sie nie geheiratet hat, wenn sie lächelt, ist sie richtig hübsch.

Heute ist die Straße frei, nur der ewige Wind weht eine dünne Salzspur auf die Windschutzscheibe. Ruth sprüht automatisch Wischwasser darauf, während sie im Schritttempo über den Weiderost holpert und dann der kurvigen Straße ins Dorf folgt. Im Sommer neigen sich die belaubten Bäume aufeinander zu und bilden einen geheimnisvollen, grünen Tunnel, doch heute sind sie bloße Gerippe, die ihre kahlen Arme gen Himmel strecken. Ein bisschen schneller, als ratsam wäre, fährt Ruth an den vier Häusern und dem vernagelten Pub vorbei, die das Dorf bilden, und nimmt die Abzweigung nach King’s Lynn. Ihre erste Vorlesung beginnt um zehn.

Ruth unterrichtet an der University of North Norfolk, der UNN, wie die wenig einnehmende Abkürzung lautet, einer jungen Universität am Stadtrand von King’s Lynn. Sie ist Dozentin für Archäologie, einem jungen Studienfach an dieser Uni, und ihr Spezialgebiet ist forensische Archäologie, eine noch sehr viel jüngere Disziplin. Phil, der Lehrstuhlinhaber, witzelt häufig darüber, dass Archäologie ja eigentlich so gar nichts Jugendliches an sich habe, und Ruth lächelt jedes Mal pflichtschuldigst. Insgeheim ist sie überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis Phil sich einen lustigen Autoaufkleber zulegt: «Grab doch mal ’nen Archäologen an» oder «Für Archäologen ist man nie zu alt». Sie selbst interessiert sich vor allem für Knochen. Wann klappern Skelette am lautesten? Wenn sie das Tanzbein schwingen. Ruth kennt die Witze alle längst, muss aber trotzdem jedes Mal wieder lachen. Vergangenes Jahr haben die Studenten ihr ein fast lebensgroßes Plastikskelett mit baumelnden Armen und Beinen geschenkt. Das hängt jetzt oben am Treppenabsatz und macht den Katzen Angst. Im Radio philosophiert jemand über das Leben nach dem Tod. Woher kommt das Bedürfnis, uns einen Himmel auszumalen? Gibt es einen Beweis dafür, dass ein solcher Ort tatsächlich existiert, oder ist es einfach nur Wunschdenken im ganz großen Stil? Ruths Eltern reden vom Himmel, als wäre er gleich nebenan, wie eine Art kosmisches Einkaufszentrum, wo sie sich bestens auskennen und umsonst am Park-and-ride-System teilnehmen dürfen, während Ruth auf ewig in der Tiefgarage schmachten muss. Oder zumindest so lange, bis sie selbst wiedererweckt wird. Ihr ist der katholische Himmel lieber, wie sie ihn von Studienreisen nach Italien und Spanien kennt. Ein weites, wolkenverhangenes Himmelszelt, Weihrauch und Kerzendunst, geheimnisvolles Dunkel. Ruth liebt alles Weite: die Bilder von John Martin, den Vatikan, den Himmel über Norfolk. Ein Glück, denkt sie selbstironisch, als sie auf den Campus einbiegt.

Die Universität besteht aus mehreren niedrigen, langgestreckten Gebäuden mit gläsernen Verbindungsstegen dazwischen. An einem grauen Morgen wie diesem wirkt der ganze Komplex fast einladend: Gelbliches Licht fällt auf die zahllosen Parkplätze hinaus, und eine Reihe winziger Lämpchen weist den Weg zu dem Gebäude, in dem die Fachbereiche Archäologie und Naturwissenschaft untergebracht sind. Aus der Nähe ist das Ganze dann schon weniger eindrucksvoll. Obwohl der Campus erst zehn Jahre alt ist, haben die Betonfassaden bereits erste Risse, die Wände sind mit Graffiti beschmiert, und ein gutes Drittel der kleinen Lämpchen ist defekt. Ruth bemerkt das alles kaum. Sie fährt auf ihren gewohnten Parkplatz und wuchtet den schweren Rucksack aus dem Wagen. Schwer ist er deshalb, weil er zur Hälfte mit Knochen gefüllt ist.

Auf dem Weg durch das muffige Treppenhaus zu ihrem Büro denkt sie über ihre erste Vorlesung nach: «Grundprinzipien der Ausgrabungstechnik». Obwohl sie alle schon einen Studienabschluss haben, verfügen ihre Studenten in der Regel über wenig bis keine Ausgrabungspraxis. Viele kommen aus dem Ausland – die Universität kann ihre Studiengebühren gut brauchen –, und der steinhart gefrorene Boden East Anglias wäre ein zu großer Kulturschock für sie. Ihre erste offizielle Ausgrabung absolvieren sie deshalb nicht vor April.

Während Ruth auf dem Flur vor ihrem Büro nach der Schlüsselkarte kramt, sieht sie aus dem Augenwinkel zwei Männer auf sich zukommen. Der eine ist Phil, der Lehrstuhlinhaber, den anderen kennt sie nicht. Ein großer, dunkler Typ mit raspelkurzem, graumeliertem Haar. Er hat etwas Hartes an sich, wirkt beherrscht und fast ein wenig gefährlich, weshalb Ruth vermutet, dass er kein Student und ganz sicher auch kein Dozent ist. Sie macht einen Schritt zur Seite, um die beiden vorbeizulassen, doch Phil bleibt zu ihrem Erstaunen vor ihr stehen und sagt mit ernster Stimme, in der die Aufregung deutlich zu hören ist: «Ruth, hier ist jemand, der dich gern kennenlernen würde.»

Also doch ein Student. Ruth will schon ihr Willkommenslächeln aufsetzen, doch Phils nächste Worte lassen sie überrascht innehalten.

«Das ist Detective Chief Inspector Harry Nelson. Er will mit dir über einen Mord reden.»

2

«Einen mutmaßlichen Mord», verbessert Detective Chief Inspector Harry Nelson sofort.

«Ja, natürlich», sagt Phil eifrig und wirft Ruth dabei einen Blick zu, der in etwa ausdrückt: «Siehst du, ich rede mit einem echten Detective!» Ruth verzieht keine Miene.

«Das ist Doktor Ruth Galloway», fährt Phil fort. «Unsere Expertin für forensische Fragen.»

«Freut mich sehr», sagt Nelson, ohne zu lächeln. Dann deutet er auf Ruths verschlossene Bürotür. «Können wir vielleicht …?»

Ruth schiebt ihre Schlüsselkarte ins Schloss und öffnet die Tür. Ihr Büro ist winzig, es misst kaum sechs Quadratmeter. Eine Wand wird komplett von Bücherregalen eingenommen, eine weitere von der Tür, die dritte von einem schmuddeligen Fenster mit Blick auf einen nicht minder schmuddeligen Zierteich. An der vierten Wand steht Ruths Schreibtisch, über dem ein gerahmtes Indiana Jones-Plakat hängt – rein ironisch natürlich, wie sie stets hastig versichert. Wenn Ruth hier ihre Tutorien hat, sitzt ein Teil der Studenten meist auf dem Gang, und sie hält die Tür mit einem Stopper in Katzenform offen, den Peter ihr einmal geschenkt hat. Jetzt allerdings lässt sie die Tür hinter sich zufallen. Phil und der Detective bleiben verlegen stehen und wissen nicht, wohin mit sich. Als Nelson sich mit finsterer Miene an die Fensterbank lehnt, kommt es Ruth vor, als verdunkelte sich das Zimmer. Er wirkt viel zu breit, zu groß, zu erwachsen für diesen Ort.

«Bitte.» Ruth deutet auf die Stühle, die neben der Tür gestapelt stehen. Phil überlässt Nelson mit großer Geste den ersten Stuhl und kann sich offenbar nur knapp davon abhalten, ihn vorher noch mit dem Pulloverärmel abzustauben.

Ruth zwängt sich hinter ihren Schreibtisch und gibt sich kurz der Illusion hin, dadurch sicherer und autoritärer zu wirken. Das hält jedoch nur so lange an, bis Nelson sich zurücklehnt, die Beine übereinanderschlägt und mit energisch-monotoner Stimme das Wort an sie richtet. Er hat einen nordenglischen Akzent, was ihn nur noch zupackender erscheinen lässt, so als hätte er schlicht nicht die Zeit für die langgezogenen Norfolk-Vokale.

«Wir haben Knochen gefunden», sagt er. «Sieht aus, als stammten sie von einem Kind, aber sie wirken irgendwie alt. Ich muss wissen, wie alt.»

Ruth schweigt, doch Phil mischt sich eifrig ein. «Wo haben Sie die Knochen denn gefunden, Inspector?»

«Beim Vogelschutzgebiet. Im Salzmoor.»

Phil sieht Ruth an. «Aber das ist ja gleich bei dir …»

«Ja, ich weiß», bremst ihn Ruth. «Wie kommen Sie darauf, dass die Knochen alt sein könnten?»

«Sie sind bräunlich verfärbt, wirken aber sonst gut erhalten. Ich dachte, das ist Ihr Fachgebiet?» Sein Ton wird unvermittelt aggressiver.

«So ist es», erwidert Ruth ruhig. «Deshalb sind Sie ja hier, nehme ich an.»

«Können Sie mir nun sagen, ob es neuere Knochen sind, oder nicht?», fragt Nelson unvermindert streitlustig.

«Neuere Funde lassen sich meist schnell bestimmen», sagt Ruth. «Man erkennt sie am Erscheinungsbild und an der Oberfläche. Mit älteren Knochen ist es da schon komplizierter. Oft lässt sich nicht sagen, ob sie nun fünfzig oder zweitausend Jahre alt sind. Dann muss man eine Radiokarbonanalyse durchführen.»

«Doktor Galloway ist Expertin für das Konservieren von Knochenmaterial.» Schon wieder Phil, der vor lauter Aufregung ständig dazwischenquatscht. «Sie war sogar in Bosnien bei den Kriegsgräbern im Einsatz.»

«Können Sie sich die Sache mal ansehen?», fragt Nelson, ohne Phil zu beachten.

Ruth tut, als würde sie nachdenken, obwohl sie längst geködert ist. Knochen! Im Salzmoor! Wo sie damals ihre erste, unvergessliche Ausgrabung mit Erik absolviert hat. Das kann alles Mögliche bedeuten. Eine Entdeckung vielleicht. Oder aber …

«Und Sie vermuten einen Mord?», fragt sie.

Nelson sieht zum ersten Mal etwas unbehaglich drein. «Darüber möchte ich lieber nicht sprechen», sagt er ernst. «Zumindest jetzt noch nicht. Können Sie sich die Sache ansehen?»

Ruth steht auf. «Ich habe eine Veranstaltung um zehn. Aber in der Mittagspause hätte ich Zeit.»

«Dann schicke ich Ihnen um zwölf einen Wagen», sagt Nelson.

 

Zu Ruths heimlicher Enttäuschung schickt Nelson ihr keinen Streifenwagen mit Blaulicht und allem Drum und Dran. Stattdessen kommt er selbst in einem verdreckten Mercedes. Ruth wartet wie vereinbart am Haupteingang, und Nelson bequemt sich nicht einmal aus dem Wagen, sondern beugt sich nur herüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Ruth steigt ein und fühlt sich dick und unförmig dabei, wie immer im Auto. Sie wird von der krankhaften Befürchtung geplagt, dass der Gurt einmal nicht um sie herumpassen oder ein versteckter Gewichtssensor einen grellen Alarmton auslösen könnte. «Neunundsiebzig Kilo! Neunundsiebzig Kilo an Bord! Alarmstufe Rot! Schleudersitzfunktion einleiten!»

Nelson mustert ihren Rucksack. «Haben Sie alles, was Sie brauchen?»

«Ja.» Sie hat ihre Taschenausrüstung dabei: eine Spitzkelle, eine kleine Handschaufel, Tiefkühlbeutel für Fundstücke und Bodenproben, Klebeband, Notizbuch, Bleistifte, Pinsel, Kompass und eine Digitalkamera. Außerdem hat sie Turnschuhe angezogen und eine Sicherheitsweste. Entnervt ertappt sie sich bei dem Gedanken, dass sie vermutlich furchtbar aussieht.

«Und Sie wohnen also in der Nähe vom Salzmoor?», fragt Nelson, während er den Wagen mit quietschenden Reifen durch den Verkehr steuert. Er fährt wie die berühmte gesengte Sau.

«Ja.» Ruth hat das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, warum. «An der New Road.»

«An der New Road!» Nelson lacht bellend auf. «Ich dachte, da wohnen nur Vogel-Freaks.»

«Der Vogelschutzwart wohnt tatsächlich gleich nebenan.» Ruth versucht, höflich zu bleiben, während sie mit dem Fuß immer wieder unwillkürlich auf eine nicht vorhandene Bremse tritt.

«Für mich wäre das nichts», sagt Nelson. «Viel zu einsam.»

«Mir gefällt es», sagt Ruth. «Ich habe dort eine Ausgrabung gemacht und bin geblieben.»

«Eine Ausgrabung? Was Archäologisches?»

«Ja.» Ruth denkt zurück an den Sommer vor zehn Jahren. Die Abende am Lagerfeuer, wo sie halb verkohlte Würstchen aßen und rührselige Lieder sangen. Das Vogelzwitschern am Morgen, der blühende Strandflieder, der das ganze Sumpfland lila färbte. Die Schafherde, die mitten in der Nacht ihre Zelte niedertrampelte. Die Angst, als Peter bei Flut auf dem Watt festsaß und Erik auf allen vieren herüberkroch, um ihn zu retten. Die fiebrige Aufregung, als sie den ersten hölzernen Pfahl entdeckten, den Beweis, dass der Henge tatsächlich existierte. Ruth hat den Klang von Eriks Stimme noch im Ohr, als er sich umdrehte und ihnen über die nahende Flut hinweg zurief: «Wir haben ihn gefunden!»

Sie sieht Nelson an. «Wir waren auf der Suche nach einem Henge.»

«Einem Henge? So was wie Stonehenge?»

«Ja, genau. Das Wort bezeichnet im Grunde nur einen kreisförmigen Erdwall mit einem Graben drum herum. Im Inneren des Kreises stehen meistens Pfähle.»

«Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Stonehenge eigentlich eine Art riesige Sonnenuhr war. Zur Bestimmung der Uhrzeit.»

«Wir wissen nicht genau, wozu es tatsächlich diente», sagt Ruth. «Aber fest steht in jedem Fall, dass es dabei um Rituale ging.»

Nelson wirft ihr einen merkwürdigen Blick zu.

«Rituale?»

«Ja. Eine Kultstätte für Gaben und Opferhandlungen.»

«Opfer?», wiederholt Nelson. Er wirkt plötzlich ernstlich interessiert, der leicht herablassende Ton ist aus seiner Stimme verschwunden.

«Gelegentlich finden wir Belege für Opferrituale. Gefäße, Speere, Tierknochen.»

«Was ist mit Menschenknochen? Haben Sie auch schon mal menschliche Knochen gefunden?»

«Ja, hin und wieder schon.»

Nach kurzem Schweigen fragt Nelson: «Ist das nicht ein etwas komischer Ort für so ein Henge-Ding? Direkt am Meer?»

«Damals war hier noch kein Meer. Landschaften verändern sich im Lauf der Zeit. Vor zehntausend Jahren war unsere Insel noch mit dem Kontinent verbunden. Man hätte von hier zu Fuß bis nach Skandinavien gehen können.»

«Im Ernst?»

«O ja. King’s Lynn war früher einmal ein großer Gezeitensee. Das ist auch die Bedeutung des Wortes ‹Lynn›: Es ist das keltische Wort für ‹See›.»

Nelson dreht sich zu ihr um und mustert sie skeptisch. Der Wagen gerät gefährlich ins Schlingern. Ruth fragt sich, ob er wohl glaubt, sie hätte sich das ausgedacht.

«Und was war da, wo jetzt das Meer ist?»

«Ebenes Sumpfland. Wir vermuten, dass unser Henge am Rand eines Moores errichtet worden ist.»

«Scheint mir trotzdem ein komischer Ort für so was.»

«Sumpfgebiete waren in der prähistorischen Zeit von großer Bedeutung», erläutert Ruth. «Sie sind so etwas wie symbolische Landschaften. Wir vermuten, dass sie deshalb so wichtig waren, weil sie Land und Wasser in sich vereinen. Oder auch Leben und Tod.»

Nelson schnaubt verständnislos. «Hä?»

«Nun, ein Sumpf ist kein Festland, er ist aber auch kein Gewässer, sondern eine Mischung aus beidem. Wir wissen, dass Sümpfe für den prähistorischen Menschen von großer Bedeutung waren.»

«Und woher wissen wir das?»

«Weil wir entsprechende Gegenstände im Randgebiet von Sümpfen gefunden haben. Votivgaben.»

«Votivgaben?»

«Opfergeschenke an die Götter, die an heiligen Stätten dargebracht wurden. Manchmal auch Leichen. Sie haben doch sicher schon von Moorleichen gehört? Vom Lindow-Mann beispielsweise?»

«Kann sein», antwortet Nelson zögernd.

«Leichen, die in torfhaltigem Boden begraben wurden, sind meist fast vollständig erhalten. Und es gibt Forscher, die glauben, dass diese Toten absichtlich im Moor beigesetzt wurden, um die Götter gnädig zu stimmen.»

Nelson wirft ihr einen weiteren Blick zu, sagt aber nichts mehr. Sie nähern sich jetzt dem Salzmoor, von der unteren Straße her, die direkt zum Besucherparkplatz führt. Ein paar einsame, windgepeitschte Tafeln informieren über die verschiedenen Vögel, die im Sumpfgebiet anzutreffen sind. Ein geschlossener Kiosk bewirbt Eissorten, deren leuchtende Farben bereits verblasst sind. Man kann sich kaum vorstellen, dass Leute hier Picknick machen und ihr Eis in der Sonne genießen. Der Ort scheint wie gemacht für Wind und Regen.

Der Parkplatz ist leer, bis auf einen einsamen Streifenwagen, dessen Insasse aussteigt, als er sie kommen sieht. Er wirkt verfroren und schlecht gelaunt.

«Doktor Ruth Galloway», stellt Nelson sie vor. «Detective Sergeant Clough.»

DS Clough nickt trübsinnig, und Ruth hat den Eindruck, dass es nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt, sich stundenlang auf einem windgepeitschten Moor herumzutreiben. Nelson hingegen kann es offenbar kaum abwarten, er tritt sogar ein wenig auf der Stelle wie ein Rennpferd, das die Galoppbahn schon vor Augen hat. Er geht voraus auf den Kiesweg, den ein Schild als «Besucherpfad» ausweist. Sie passieren einen hölzernen Unterstand, der auf Pfeilern über dem Sumpfland thront. Bis auf ein paar Chipstüten und eine leere Coladose auf der umlaufenden Plattform ist er leer.

Nelson bleibt nicht einmal stehen, er deutet nur im Vorbeigehen auf den Abfall und bellt: «Mitnehmen.» Ruth kann sich eine gewisse Anerkennung für seine Sorgfalt nicht verkneifen, wenn auch nicht für sein Benehmen. Offenbar hat Polizeiarbeit eine gewisse Ähnlichkeit mit der Arbeit des Archäologen. Auch sie würde alles einsammeln, was sich an einer Ausgrabungsstätte findet, und es sorgsam beschriften, um den Kontext zu erkennen. Auch sie wäre bereit, tage- und wochenlang zu suchen, immer in der Hoffnung, etwas Bedeutsames zu finden. Und auch sie, das wird ihr mit plötzlichem Schaudern klar, befasst sich vorwiegend mit dem Tod.

Ruth ist bereits außer Atem, als sie endlich an die Stelle kommen, die mit blauweißem Absperrband, wie sie es von Verkehrsunfällen kennt, gekennzeichnet ist. Nelson ist gut zehn Meter vor ihr, er hat die Hände in die Taschen geschoben und den Kopf vorgereckt, als würde er in die Luft schnuppern. Clough trottet hinter ihm her, die Plastiktüte mit dem Abfall aus dem Unterstand in der Hand.

Hinter dem Absperrband findet sich ein nicht sehr tiefes Loch, das zur Hälfte mit schlammigem Wasser gefüllt ist. Ruth bückt sich unter der Absperrung durch und hockt sich hin, um hineinzuschauen. Im schweren Schlamm schimmern deutlich sichtbar Knochen.

«Wie haben Sie die bloß gefunden?», fragt sie.

Diesmal antwortet Clough. «Auf Hinweis einer Passantin, die mit ihrem Hund spazieren war. Das Tier hatte plötzlich einen Knochen im Maul.»

«Haben Sie den noch? Den Knochen, meine ich.»

«Auf dem Revier.»

Ruth fotografiert den Fundort und macht in ihrem Notizbuch eine grobe Lageskizze. Sie befinden sich im äußersten Westen des Sumpfgebiets – hier hat sie noch nie gegraben. Das Strandstück, wo der Henge entdeckt wurde, liegt gut drei Kilometer östlich. Ruth kniet sich auf den schlammigen Boden und macht sich sorgfältig daran, mit einem Plastikbecher aus ihrer Ausgrabungsausrüstung das Wasser abzuschöpfen. Nelson kann seine Ungeduld kaum bezähmen.

«Können wir da nicht mithelfen?», fragt er.

«Nein», antwortet Ruth knapp.

Als das Loch weitgehend wasserfrei ist, schlägt ihr Herz schneller. Vorsichtig schöpft sie einen weiteren Becher Wasser ab, streicht etwas Schlamm beiseite und betrachtet das, was sich dort vor ihr im dunklen Boden abzeichnet.

«Und?» Nelson schaut ihr erwartungsvoll über die Schulter.

«Eine Leiche», sagt Ruth zögernd. «Aber …»

Langsam zieht sie ihre Kelle hervor. Sie darf nichts überstürzen. Eine einzige kleine Nachlässigkeit kann ganze Ausgrabungen ruinieren, das hat sie selbst häufig genug erlebt. Und so trägt sie, dem zähneknirschenden Nelson zum Trotz, ganz behutsam den durchnässten Boden ab. Darunter kommt eine leicht zur Faust geballte Hand zum Vorschein. Um das Handgelenk liegt ein Armband, das offenbar aus Gras geflochten ist.

«Ach du Schande!», murmelt Nelson hinter ihr.

Ruth arbeitet jetzt wie in Trance. Sie markiert den Fund auf ihrem Lageplan, notiert die Ausrichtung. Dann macht sie ein Foto und beginnt erneut zu graben.

Diesmal stößt sie mit der Kelle auf Metall. So langsam und sorgfältig wie zuvor greift Ruth in das Loch und zieht den Gegenstand aus dem Schlamm. Stumpf glänzt er im Winterlicht, wie die Münze im Weihnachtskuchen: ein verbogenes Stück Metall, in der Form eines Halbkreises.

«Was ist das denn?» Nelsons Stimme dringt wie aus einer anderen Welt an ihr Ohr.

«Ich glaube, es ist ein Torques», antwortet Ruth versonnen.

«Und was soll das bitte sein?»

«Ein Halsring. Vermutlich aus der Eisenzeit.»

«Aus der Eisenzeit? Und wann war die?»

«Vor ungefähr zweitausend Jahren», sagt Ruth.

Clough lacht unvermittelt auf, und Nelson wendet sich ohne ein weiteres Wort ab.

 

Nelson fährt Ruth zur Universität zurück. Er brütet düster vor sich hin, doch Ruth ist ganz außer sich vor Aufregung. Eine Leiche aus der Eisenzeit – denn eine solche Moorleiche muss natürlich aus der Eisenzeit stammen, dieser Epoche ritueller Tötungen und sagenumwobener Schätze! Was hat das zu bedeuten? Der Körper liegt ein ganzes Stück vom Henge entfernt, aber könnten die beiden Funde vielleicht doch zusammenhängen? Der Henge stammt aus der frühen Bronzezeit, mehr als tausend Jahre vor der Eisenzeit. Doch ein weiterer Fund am selben Ort ist kein bloßer Zufall. Ruth kann es kaum erwarten, Phil davon zu erzählen. Vielleicht sollten sie auch die Presse informieren. Ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit wird dem Institut sicher nicht schaden.

Plötzlich sagt Nelson: «Sind Sie sich mit der Datierung ganz sicher?»

«Was den Torques angeht, ja, der stammt mit Sicherheit aus der Eisenzeit, und die logische Folgerung wäre, dass er zusammen mit der Leiche begraben wurde. Aber ganz sicher wissen wir das erst, wenn wir eine 14C-Datierung durchführen.»

«Was ist das?»

«14C ist ein Kohlenstoff-Isotop, das in der Erdatmosphäre enthalten ist. Es wird von Pflanzen aufgenommen, die Pflanzen werden von Tieren gefressen und die Tiere dann wiederum von uns. Das bedeutet, dass wir alle ständig Radiokohlenstoff zu uns nehmen, bis wir sterben. Danach nehmen wir nichts mehr auf, und der Radiokohlenstoff in unseren Knochen zerfällt ganz langsam. Man kann das Alter von Knochen bestimmen, indem man nachweist, wie viel 14C noch in ihnen enthalten ist.»

«Und wie genau ist diese Methode?»

«Nun, man muss natürlich die kosmische Strahlung einkalkulieren, die die Funde beeinflussen kann … Sonnenflecken, Sonneneruptionen, Atomtests und dergleichen. Aber bis auf ein paar hundert Jahre plus oder minus ist die Methode schon recht exakt. In jedem Fall können wir damit nachweisen, ob die Knochen in etwa aus der Eisenzeit stammen.»

«Wann war denn diese Eisenzeit?»

«Ganz genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen, aber ungefähr von 700 vor bis 43 nach Christus.»

Nelson schweigt einen Augenblick, während er diese Informationen verdaut, dann fragt er: «Und wieso liegt da eine Leiche aus der Eisenzeit im Moor?»

«Als Gabe an die Götter. Möglicherweise war sie an Pflöcken festgebunden. Haben Sie das Gras am Handgelenk gesehen? Das könnte eine Art Schnur gewesen sein.»

«Mein Gott. Festgebunden und ihrem Schicksal überlassen?»

«Ja, möglicherweise. Vielleicht war sie aber auch schon tot, als sie dort angebunden wurde. In dem Fall waren die Pflöcke nur zur Fixierung gedacht.»

«Mein Gott», sagt Nelson noch einmal.

Plötzlich fällt Ruth wieder ein, warum sie hier mit diesem Mann in seinem Wagen sitzt. «Wie kamen Sie eigentlich darauf, dass es sich um neuere Knochen handeln könnte?», fragt sie.

Nelson seufzt. «Vor etwa zehn Jahren ist hier ganz in der Nähe ein Kind verschwunden. Wir haben nie eine Leiche gefunden. Ich dachte, vielleicht ist sie das ja.»

«Sie?»

«Sie hieß Lucy Downey.»

Ruth schweigt. Ein Name macht alles gleich viel realer. Deshalb hat ja auch der Archäologe, der den ersten echten Menschen fand, dem Skelett gleich einen Namen gegeben – kurioserweise auch den Namen Lucy.

Nelson seufzt noch einmal. «Ich habe im Zusammenhang mit diesem Fall ein paar Briefe bekommen. Das ist seltsam, was Sie mir da vorhin erzählt haben.»

«Was genau?», fragt Ruth verwirrt.

«Über Rituale und so was. Diese Briefe sind nämlich voll mit allem möglichen krausen Zeug, aber eins kommt immer wieder vor: dass Lucy ein Opfer war und wir sie dort finden werden, wo die Erde auf den Himmel trifft.»

«Wo die Erde auf den Himmel trifft», wiederholt Ruth. «Das kann praktisch überall sein.»

«Richtig. Aber dieser Ort hier, da fühlt man sich doch irgendwie wie am Ende der Welt. Und deshalb … als ich hörte, dass dort Knochen aufgetaucht sind …»

«Da dachten Sie, es könnten ihre sein?»

«Ja. Die Ungewissheit ist das Schlimmste für die Eltern. Wenn wir die Leiche endlich finden würden, hätten sie wenigstens die Möglichkeit zu trauern.»

«Dann sind Sie also sicher, dass sie tot ist?»

Nelson zögert einen Moment und konzentriert sich darauf, kurz vor einer scharfen Kurve einen Laster zu überholen. «Ja», sagt er schließlich. «Eine Fünfjährige, die mitten im November verschwindet und dann zehn Jahre lang nicht mehr auftaucht? Sie muss tot sein.»

«Im November?»

«Ja. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren.»

Ruth denkt an die langen, dunklen Abende, den Wind, der über das Moor heult. Sie stellt sich die Eltern vor, wie sie warten und beten, dass sie ihre Tochter zurückbekommen, wie sie jedes Mal zusammenzucken, wenn das Telefon klingelt, jeden Tag von neuem auf Nachricht hoffen. Und wie die Hoffnung dann nach und nach versiegt und der dumpfen Gewissheit des Verlusts weicht.

«Was ist mit den Eltern?», fragt sie. «Leben die noch hier in der Gegend?»

«Ja. In der Nähe von Fakenham.» Nelson weicht schlingernd einem weiteren Lastwagen aus, und Ruth kneift die Augen zu. «In solchen Fällen», fährt er fort, «waren es ja meistens die Eltern.»

Ruth ist entsetzt. «Die Eltern bringen ihr eigenes Kind um?»

Nelsons Ton klingt sachlich, die nordenglischen Vokale noch dumpfer als zuvor. «In neun von zehn Fällen. Da hat man diese völlig verzweifelten Eltern, Pressekonferenzen, bitterliche Tränen, und am Ende findet man das Kind im Garten hinterm Haus verscharrt.»

«Aber das ist ja furchtbar.»

«Ja. In diesem Fall allerdings … ich weiß nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht waren. Sie sind so ein nettes Paar, nicht mehr sonderlich jung, sie haben jahrelang versucht, ein Kind zu kriegen, und dann kam Lucy. Sie war ihr Ein und Alles.»

«Wie schrecklich für sie», sagt Ruth hilflos.

«Ja, schrecklich.» Nelsons Stimme bleibt ausdruckslos. «Aber sie haben uns nie Vorwürfe gemacht, weder mir noch dem Ermittlungsteam. Sie schicken mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Darum wollte ich auch …» Er ringt kurz nach Worten. «Ich hätte die Sache einfach gern für sie zu Ende gebracht.»

Sie sind wieder bei der Universität angekommen. Nelson hält mit quietschenden Reifen vor dem Naturwissenschaftsgebäude. Ein paar Studenten auf dem Weg zur nächsten Vorlesung bleiben stehen und schauen herüber. Obwohl es erst halb drei ist, wird es bereits dämmrig.

«Danke fürs Herbringen», sagt Ruth leicht verlegen. «Ich lasse die Knochen für Sie datieren.»

«Danke», sagt Nelson. Plötzlich scheint er Ruth zum ersten Mal richtig anzusehen, und sie wird sich schmerzlich ihrer zerzausten Haare und ihrer schlammverklebten Kleider bewusst. «Dieser Fund … der ist vielleicht wichtig für Sie, oder?»

«Ja», antwortet Ruth. «Vielleicht.»

«Dann ist ja zumindest einer glücklich.» Er fährt los, als Ruth ausgestiegen ist, ohne sich noch einmal zu verabschieden. Sie rechnet nicht damit, ihn jemals wiederzusehen.

3

Nelson wendet quer über die gesamte Fahrbahn und rast dann nach King’s Lynn hinein. Obwohl er einen Zivilwagen hat, legt er Wert darauf, immer so zu fahren, als wäre er auf Verfolgungsjagd. Er liebt die blöden Gesichter der ahnungslosen Verkehrspolizisten, wenn sie ihn wegen Tempoüberschreitung rauswinken und er ihnen seinen Polizeiausweis unter die Nase hält. Außerdem ist ihm die Strecke so vertraut, dass er sie auch im Schlaf fahren könnte: vorbei am Industriegebiet und der Campbell-Suppenfabrik, über die London Road und schließlich durch das Tor der alten Stadtmauer. Doktor Ruth Galloway könnte ihm jetzt sicher sagen, wie alt diese Mauer ist: «Ganz genau weiß ich es nicht, aber ich schätze, dass sie ungefähr am 1. Februar 1556 erbaut wurde, einem Freitag, kurz vor dem Mittagessen.» Für Nelson ist die Stadtmauer nichts anderes als der Grund für einen weiteren Stau, bevor er wieder auf dem Präsidium ist.

Er ist nicht gerade begeistert von seiner Wahlheimat. Er ist im Norden geboren, in Blackpool, quasi in Sichtweite der Golden Mile. Dort hat er die katholische Schule St. Joseph besucht – die im Ort gern als «Mönchsbunker» bezeichnet wurde – und mit sechzehn als Polizeischüler angefangen. Die Arbeit hat ihm von Anfang an gefallen. Er schätzt die Kameradschaft, die langen Arbeitszeiten, die körperliche Anstrengung und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Sogar der Papierkram macht ihm Spaß, auch wenn er das niemals laut sagen würde. Nelson ist ein organisierter Mensch, er liebt Pläne und Listen und hat ein Talent dafür, Dinge auf den Punkt zu bringen. Er hat zügig Karriere gemacht und sich schnell ein angenehmes Leben erarbeitet: ein Job, der ihn ausfüllt, nette Kumpels, freitags in den Pub, samstags ins Stadion und sonntags auf den Golfplatz.

Dann wurde ihm die Stelle in Norfolk angeboten, und Michelle, seine Frau, hat ihm zugeredet, sie anzunehmen. Eine Beförderung, mehr Geld und die Möglichkeit, auf dem Land zu leben. Welcher halbwegs vernünftige Mensch, denkt Nelson und hat dabei das Salzmoor vor Augen, will denn schon auf dem Scheiß-Land leben? Da gibt es doch sowieso nur Kühe und Schlamm und Alteingesessene, die aussehen wie das Ergebnis engster Familienbeziehungen über mehrere Generationen. Trotzdem hat er damals nachgegeben, und sie sind nach King’s Lynn gezogen. Michelle hat bei einem todschicken Friseursalon angefangen, die Mädchen kamen auf ein gutes Internat und machen sich seither über seinen Akzent lustig. Er selbst hat sich ziemlich gut geschlagen und es in der Hälfte der üblichen Zeit zum Detective Inspector gebracht. Es war sogar schon von noch Höherem die Rede. Bis Lucy Downey verschwunden ist.

Nelson biegt auf den Parkplatz des Polizeipräsidiums ein, ohne den Blinker zu setzen. In Gedanken ist er bei Lucy und der Leiche aus dem Moor. Im Grunde war er immer überzeugt, dass Lucy irgendwo in der Nähe des Salzmoors begraben sein muss, und als die Knochen aufgetaucht sind, hat er gehofft, er könnte die Sache endlich zu einem Ende bringen. Zu keinem guten Ende zwar, aber doch immerhin zu einem Ende. Und dann kommt diese Doktor Ruth Galloway daher und erklärt ihm, die Knochen stammten von irgendeiner Leiche aus der beschissenen Steinzeit. Überhaupt, was die ihm alles erzählt hat, von Henge-Monumenten und rituellen Bestattungen und dass man früher bis nach Skandinavien laufen konnte. Anfangs hat er ja gedacht, sie will ihn verarschen. Aber als sie dann am Fundort waren, hat er gemerkt, dass sie ein echter Profi ist. Es hat ihm gefallen, wie langsam und sorgfältig sie vorging, wie sie Notizen und Fotos gemacht und jedes einzelne Fundstück sorgfältig geprüft hat. So muss gute Polizeiarbeit aussehen. Nicht, dass sie zur Polizistin taugte, dafür ist sie viel zu dick. Was wohl Michelle zu einer Frau sagen würde, die schon nach fünf Minuten Fußweg aus der Puste kommt? Vermutlich wäre sie entsetzt. Aber Nelson kann sich beim besten Willen keine Situation denken, in der Michelle Doktor Ruth Galloway kennenlernen sollte. Dem Zustand ihrer Haare nach zu urteilen wird sie wohl kaum Stammkundin in Michelles Salon werden.

Trotzdem interessiert sie ihn. Wie alle resoluten Menschen – er selbst sagt lieber ‹resolut› als ‹rechthaberisch› – mag er Leute, die ihm etwas entgegenzusetzen haben. Bei der Arbeit passiert ihm das viel zu selten. Entweder hassen ihn die Leute, oder sie versuchen, sich anzubiedern. Ruth macht keins von beidem. Sie begegnet ihm einfach ganz gelassen auf Augenhöhe. Er kann sich nicht erinnern, jemals einer so selbstsicheren Person wie Ruth Galloway begegnet zu sein. Vor allem keiner Frau. Selbst ihre Kleidung, diese weiten Klamotten und die Turnschuhe, scheinen auszudrücken, dass es ihr egal ist, was andere von ihr denken. Sie wird sich ganz sicher nicht in kurze Röckchen und Stöckelschuhe werfen, nur um den Kerlen zu gefallen. Wobei ja nichts Falsches daran ist, den Kerlen gefallen zu wollen, sinniert Nelson, während er seine Bürotür mit dem Fuß auftritt. Aber trotzdem findet er es interessant und irgendwie auch erfrischend, einer Frau zu begegnen, der es offenbar egal ist, ob sie attraktiv wirkt.

Und was sie ihm da über Rituale erzählt hat, das war auch interessant. Stirnrunzelnd setzt sich Nelson an den Schreibtisch. Dieses ganze Gerede über Rituale und Opferhandlungen und solchen Mist hat ihn wieder an alles erinnert: die Tage und Nächte intensiver Suche, die qualvollen Unterredungen mit den Eltern, der langsame, unerträgliche Übergang von Hoffnung zu Verzweiflung, die überfüllte Einsatzzentrale, die Teams, die aus sechs verschiedenen Polizeistaffeln hinzugezogen wurden, nur mit dem einen Ziel, ein kleines Mädchen zu finden. Und alles vergebens.

Nelson seufzt. Obwohl er weiß, dass es sinnlos ist, wird er heute, bevor er Feierabend macht, noch einmal die kompletten Lucy-Downey-Akten lesen.

 

Es ist bereits stockdunkel, als Ruth sich auf den Heimweg macht und ihren Wagen vorsichtig die New Road entlangsteuert. Die Straße hat zu beiden Seiten Gräben, und eine falsche Lenkradbewegung kann schon genügen, einen auf höchst peinliche Weise in den Abgrund zu befördern. Ruth ist das einmal passiert, und sie legt keinen Wert darauf, diese Erfahrung ein zweites Mal zu machen. Die Scheinwerfer erhellen den Asphaltstreifen vor ihr: Die Straße liegt höher als das Land ringsum, man hat den Eindruck, durchs Nichts zu fahren. Es gibt nur noch die Straße vor ihr und den Himmel über ihrem Kopf. Wo die Erde auf den Himmel trifft. Ruth fröstelt und schaltet das Autoradio ein. Die beruhigende und leicht blasierte Stimme des Kulturradio-Sprechers ertönt. «Kommen wir nun zu unserem Nachrichtenquiz …»

Sie parkt vor ihrem windschiefen blauen Zaun und holt den Rucksack aus dem Kofferraum. Im Haus der Wochenendurlauber ist alles dunkel, doch beim Vogelwart brennt Licht im oberen Stock. Vermutlich geht er immer früh schlafen, um rechtzeitig auf den Beinen zu sein, wenn die Vögel ihr Morgenlied anstimmen. Flint sitzt jämmerlich maunzend vor der Haustür und bettelt um Einlass, obwohl es eine Katzenklappe gibt und er wahrscheinlich ohnehin den ganzen Tag drinnen gedöst hat. Ruth fällt auf, dass sie Sparky heute noch nicht gesehen hat, und als sie die Haustür aufschließt, verspürt sie einen Anflug von Sorge. Doch die zierliche, schwarze Katze mit der weißen Schnauze liegt friedlich schlafend auf dem Sofa. Ruth ruft ihren Namen, doch sie bleibt liegen, fährt nur einmal kurz die Krallen aus und schließt dann wieder die Augen. Sparky ist von Natur aus reserviert, im Gegensatz zu Flint, der Ruth nun verzückt um die Beine streicht.

«Hör schon auf, du dummer Kater.»

Sie stellt den Rucksack auf den Tisch und füttert die Katzen. Das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkt. Ruth hat das dumpfe Gefühl, dass es keine angenehmen Nachrichten sein werden, was sich auch umgehend bestätigt, als sie den Abspielknopf drückt. Vom Band ertönt die vorwurfsvolle, leicht gehetzte Stimme ihrer Mutter.

«… und ob du jetzt an Weihnachten kommst? Du könntest wirklich etwas mehr Rücksicht auf uns nehmen, Ruth. Simon hat schon vor Wochen Bescheid gesagt. Wie auch immer, ich gehe davon aus, dass du kommst. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du Weihnachten ganz allein in diesem schrecklichen …»

Seufzend drückt Ruth auf «Löschen». Ihre Mutter bringt es tatsächlich fertig, all die vielen Jahre gereizter Stimmung und subtiler Vorwürfe in ein paar kurze Sätze zu packen. Der Rüffel für ihr rücksichtsloses Verhalten, der Vergleich mit dem ach so perfekten Simon und die Andeutung, dass Ruth die Feiertage mit einem Fertiggericht von Marks & Spencer vor dem Fernseher verbringen wird, wenn sie nicht zu ihren Eltern fährt. Während sie sich wütend ein Glas Wein einschenkt – die Stimme ihrer Mutter im Ohr: «Wie viel trinkst du denn normalerweise, Ruth? Dein Vater und ich sind in Sorge, du könntest abhängig werden …» –, formuliert Ruth eine Erwiderung. Natürlich würde sie ihr das niemals ins Gesicht sagen, aber trotzdem tut es gut, durch die Küche zu stapfen und ihre Mutter mit unbestechlich logischen Argumenten wieder auf den Teppich zu bringen.

«Dass ich dir wegen Weihnachten noch nicht Bescheid gesagt habe, liegt daran, dass ich schlicht und einfach keine Lust habe, nach Hause zu fahren und mir deine Litaneien über das Jesuskind und die wahre Bedeutung des Weihnachtsfests anzuhören. Simon hat dir nur schon Bescheid gesagt, weil er ein Weichei ist und aller Welt in den Arsch kriecht. Und falls ich nicht kommen sollte, dann nur, weil ich bei Freunden eingeladen bin oder auf irgendeine tropische Insel fliege, aber ganz sicher nicht, weil ich lieber zu Hause hocke und mir Weihnachtsspielfilme anschaue. Mein Haus ist übrigens keineswegs furchtbar, sondern hundertmal besser als eure Doppelhaushälfte in Eltham mit dieser Kieferntäfelung und den scheußlichen Nippes-Figürchen. Und außerdem hat Peter nicht mit mir Schluss gemacht, sondern ich mit ihm.»

Den letzten Satz fügt sie hinzu, weil sie aus Erfahrung weiß, dass ihre Mutter irgendwann an Weihnachten unweigerlich auf Peter zu sprechen kommen wird. «Peter hat uns eine Karte geschickt … das ist ja so schade … Hörst du noch manchmal von ihm? … Weißt du, dass er inzwischen verheiratet ist?» Ruths Mutter wird vermutlich nie begreifen, dass ihre Tochter aus freien Stücken die Beziehung mit einem attraktiven, absolut passablen Mann beendet hat. Bei ihren Freunden und Kollegen hat Ruth ähnliche Reaktionen beobachtet, als sie ihnen erzählte, dass Peter und sie nicht mehr zusammen seien. «Ach, das tut mir aber leid … Hat er eine andere gefunden? … Mach dir keine Sorgen, der kommt schon wieder …» Geduldig hat sie ihnen auseinandergesetzt, dass sie selbst sich vor inzwischen fünf Jahren von ihm getrennt hat, aus dem schlichten und doch gar nicht einfachen Grund, dass sie ihn nicht mehr liebte. «Ach, weißt du», antworteten die Leute, als hätten sie sie gar nicht gehört, «die Neue wird ihm sicher bald langweilig. Bis dahin tust du dir einfach was Gutes. Gönn dir doch mal eine Massage, und du könntest vielleicht auch ein paar Kilos …»

Um sich aufzuheitern, setzt Ruth einen Topf Wasser für eine schöne, kalorienreiche Pasta auf und ruft Erik an. Erik Anderssen, dessen Spitzname konsequenterweise «Erik der Wikinger» lautet, war ihr großer Mentor an der Universität und hat sie zur forensischen Archäologie gebracht. Er hat ihr Leben ungemein beeinflusst und ist inzwischen ein enger Freund. Lächelnd ruft sie sich sein Bild vor Augen: weißblondes Haar, zum Pferdeschwanz gebunden, verwaschene Jeans, ausgefranster Pulli. Sie ist sich sicher, dass ihr heutiger Fund seine Begeisterung wecken wird.

Erik der Wikinger ist inzwischen nach Norwegen zurückgekehrt, wie sich das gehört. Vergangenen Sommer hat Ruth ihn dort besucht, in seinem Holzhaus am See: morgendliche Bäder im eiskalten Wasser, gefolgt von glühend heißen Saunagängen, Magdas wundersame Kochkünste, Gespräche mit Erik über Maya-Kulturen unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Magda, Eriks Frau, eine sinnliche blondhaarige Göttin, die das Kunststück fertigbringt, dass man sich angesichts ihrer Schönheit selbst nicht schlechter, sondern allen Ernstes besser fühlt, ist ebenfalls eine gute Freundin geworden. Sie würde das Gespräch niemals bewusst auf Peter bringen, obwohl sie in jenem Sommer dabei war, als Ruth und Peter sich ineinander verliebten. Mit ihrem sanften Wohlwollen und ihrem Taktgefühl hatte sie sie in gewisser Weise sogar zusammengebracht.

Doch Erik ist nicht zu Hause. Ruth hinterlässt ihm eine Nachricht, dann gibt sie ihrer Unruhe nach und holt das verbogene Metallstück aus dem Rucksack, um es sich eingehend anzusehen. Es schaut aus seinem sorgsam datierten und beschrifteten Gefrierbeutel zurück. Phil wollte, dass sie es im Institutstresor lässt, doch Ruth hat sich geweigert. Sie wollte den Torques mit nach Hause ans Salzmoor nehmen, zumindest für diese eine Nacht. Jetzt betrachtet sie ihn unter der Schreibtischlampe.

Obwohl das Metall dunkelgrün verfärbt ist, nachdem es so lange im Moor gelegen hat, weist es doch noch einen Glanz auf, der vermuten lässt, dass es Gold sein könnte. Ein Torques aus Gold! Wie viel er wohl wert wäre? Ruth denkt an den sogenannten «Hochzeits-Torques», der hier ganz in der Nähe, in Snettisham, gefunden wurde. Ein wunderbar kunstvoll gefertigtes Stück, in das ein menschliches Gesicht mit einem Ring im Mund eingearbeitet war. Ihr eigener Fund wirkt sehr viel ramponierter; vielleicht wurde er ja beim Pflügen oder Graben beschädigt. Doch wenn sie die Augen leicht zusammenkneift und genau hinschaut, kann sie ein verschlungenes Muster erkennen, etwas wie ein Flechtwerk. Das Schmuckstück in ihrer Hand misst höchstens fünfzehn Zentimeter, doch Ruth sieht es vor sich, um den Hals irgendeiner wilden Schönheit. Vielleicht auch um den Hals eines Kindes, eines Menschenopfers?

Sie denkt an Nelsons bittere Enttäuschung, als sich herausstellte, dass die Knochen nicht von Lucy Downey sein können. Wie es wohl sein mag, ständig so viele Tote, so viele Geister im Kopf zu haben? Ruth ist sich darüber im Klaren, dass die Eisenzeitknochen ihn überhaupt nicht interessieren, eine reine Nebensächlichkeit sind, doch für sie sind sie genauso wichtig wie diese Fünfjährige, die vor zehn Jahren verschwunden ist. Wie sind die Knochen dorthin gekommen? Wurde das Mädchen – der Größe nach vermutet Ruth, dass es sich um die Leiche eines Mädchens handeln muss, aber sie kann sich natürlich vorläufig nicht sicher sein – dort einfach dem Tod anheimgegeben? Ließ man sie langsam im tückischen Schlamm versinken? Oder wurde das Kind anderswo getötet und dann am Rand des Moores begraben, um die Grenzen der heiligen Landschaft zu markieren?

Als die Nudeln fertig sind, isst Ruth an ihrem Tisch vor dem Fenster, Eriks Buch Der Zittersand aufgeschlagen vor sich. Der Titel stammt aus Wilkie Collins’ Roman Der Monddiamant, und Ruth schlägt wieder die erste Seite auf, wo Erik Collins’ Beschreibung des Treibsands zitiert:

Das Licht wurde fahler und fahler, Totenstille herrschte über diesem trostlosen Ort. Draußen, hinter der großen Sandbank, rollten die Wogen des Ozeans heran, doch es geschah lautlos, hier hörte man sie nicht, und das Wasser der Bucht war trüb und glatt, kein Windhauch bewegte es, an manchen Stellen glich es einer scheußlichen, gelblich-weißen Brühe. Wo zwischen den zwei felsigen Landzungen, die im Norden und im Süden die Bucht begrenzten, noch etwas Licht einfiel, leuchteten Schaum und Schlamm. Die Flut kam, und der Sand begann zu zittern, sein breites braunes Angesicht erbebte, bekam Grübchen – nichts bewegte sich sonst an diesem grässlichen Ort.

Wilkie Collins hat das Konzept der rituellen Landschaft offenbar verstanden, das Land und das Meer und die schaurigen, geheimnisumwitterten Orte dazwischen. Ruth erinnert sich, dass mindestens eine der Figuren aus dem Monddiamanten im «Zittersand» den Tod findet. Und sie erinnert sich an einen weiteren Satz aus dem Buch: «Was der Sand packt, behält er für immer.» Das Salzmoor allerdings hat ein paar seiner Geheimnisse preisgegeben, zuerst den Henge und nun diese Leiche, die offensichtlich nur darauf gewartet hat, von Ruth entdeckt zu werden. Da muss es doch einen Zusammenhang geben.