Knochenhaus - Elly Griffiths - E-Book
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Knochenhaus E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Das ist kein Haus mehr, das ist ein Grab – Dr. Ruth Galloways zweiter Fall. Die Knochen eines Kindes liegen in einer Baugrube in Norfolk, nur der Schädel fehlt. Für Dr. Ruth Galloway, forensische Archäologin, sieht alles nach einer rituellen Opfergabe aus römischer Zeit aus. Damals begrub man Menschenopfer unter Türschwellen, als Geschenk an den Gott Janus. Die Analyse ergibt jedoch: Diese Knochen stammen aus der Neuzeit. Als werdender Mutter geht Ruth der grausige Fund unter die Haut. Ruth ist wenig begeistert, als sie nach Monaten der Funkstille gemeinsam mit DCI Nelson in dem Fall ermittelt. Doch dann tauchen auf der Türschwelle ihres einsamen Cottage seltsame Opfergaben auf, und an einer Steinmauer steht ihr Name – mit Blut geschrieben. Jemand scheint fest entschlossen, Ruth Angst einzujagen. Todesangst. «Schon nach zwei Büchern dieser packenden Krimireihe sind einem die forensische Archäologin Ruth Galloway und DCI Nelson so sehr ans Herz gewachsen, als wären sie alte Freunde.» The Guardian

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Seitenzahl: 467

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Elly Griffiths

Knochenhaus

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Über dieses Buch

Welche Geschichte erzählen die Kinderknochen, die zwischen Schutt und Schlamm auf einer Baustelle gefunden werden? Als werdender Mutter geht Ruth Galloway der grausige Fund unter die Haut. Bald stellt sich heraus, dass auf dem Gelände früher ein katholisches Waisenhaus stand. Was ist hinter den Mauern des Heims geschehen, aus dem vor über vierzig Jahren zwei Kinder spurlos verschwanden? Sind es womöglich ihre Knochen, die hier begraben liegen?

 

Ruth ist wenig begeistert, als sie nach Monaten der Funkstille bei den Ermittlungen DCI Nelson wiederbegegnet. Schließlich hat er noch immer keinen Schimmer, dass sie ein Baby von ihm erwartet. Doch alles wird zur Nebensache, als der Fall das Ermittlerduo auf die Spur eines Mörders führt; eines Mörders, der sich lange Jahre im Schatten hielt, aber noch immer zu töten bereit ist, um sein Geheimnis zu bewahren …

 

«Schon nach zwei Büchern dieser packenden Krimireihe sind einem die beiden Hauptfiguren, die forensische Archäologin Ruth Galloway und DCI Nelson, so sehr ans Herz gewachsen, als wären sie alte Freunde.» (The Guardian)

Vita

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Ihre Tante erzählte ihr als Kind die Mythen und Legenden Norfolks, aber die Idee zur Figur der Ruth Galloway hatte sie, als ihr Mann seinen Job als Banker aufgab, um Archäologe zu werden. «Knochenhaus» ist nach «Totenpfad» Elly Griffiths’ zweiter Krimi mit Ruth Galloway und DCI Harry Nelson, weitere Bände sind in Vorbereitung.

Meinen Nichten und Neffen:

Francesca, William, Robert,

Charlotte und Eleanor

1. Juni Festtag der Carna

Das Haus wartet. Es weiß. Als ich gestern opferte, waren die Eingeweide schwarz. Nacht senkt sich über alles. Draußen ist Frühling, doch hier im Haus herrscht Kälte, ein Bahrtuch aus Verzweiflung, das alles bedeckt.

Wir sind verflucht. Dies ist kein Haus mehr, sondern ein Grab. Kein Vogel singt im Garten, und nicht einmal die Sonne wagt es, zu den Fenstern hereinzudringen. Keiner weiß, wie der Fluch aufzuheben ist. Sie haben kapituliert, liegen einfach da, als warteten sie auf den Tod. Doch ich weiß es, und das Haus weiß es ebenfalls.

Nur Blut kann uns jetzt noch retten.

1

Ein leichter Wind fährt durch das lange Gras oben auf dem Hügel. Aus der Nähe wirkt die Landschaft ganz alltäglich: nur Heidekraut und struppiges Weideland und hin und wieder ein weißer Stein, der wie ein Wegweiser daraus hervorragt. Doch würde man sich über diesen unauffälligen Hügeln in die Lüfte erheben, sähe man die kreisrunden Erdwälle, die dunkleren Rechtecke zwischen all dem Grün und Braun: sichere Anzeichen, dass dieses Land bereits oft, sehr oft besiedelt war.

Ruth Galloway, die langsam den Hang heraufkommt, braucht keine Vogelperspektive, um zu wissen, dass es sich hier um archäologisch bedeutsames Terrain handelt. Seit Tagen graben die Kollegen von der Universität schon auf diesem Hügel und sind dabei nicht nur auf die Überreste einer römischen Villa, sondern auch auf Spuren früherer Siedlungen aus der Bronze- und Eisenzeit gestoßen.

Eigentlich hatte Ruth die Ausgrabungsstelle schon viel früher besichtigen wollen, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, Hausarbeiten zu korrigieren und Abschlussprüfungen vorzubereiten. Es ist Mai, die Luft ist mild, erfüllt von Blütenstaub und dem Geruch nach Regen. Ruth bleibt stehen, um ein wenig zu verschnaufen, und genießt das Gefühl, an einem Frühlingsnachmittag im Freien zu sein. Bisher war dieses Jahr recht düster, wenn auch mit ein paar unerwarteten Lichtblicken, und umso mehr gefällt es ihr jetzt, einfach nur dazustehen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.

«Ruth!» Sie dreht sich um und sieht einen Mann auf sich zukommen. Er trägt Jeans und ein fleckiges Arbeitshemd und achtet gar nicht auf den steilen Hang, fällt kaum aus dem Rhythmus seiner langen Schritte. Er ist groß und schlank, das lockige dunkle Haar wird an den Schläfen bereits grau. Ruth erkennt ihn, so wie er sie offensichtlich auch, weil er vor ein paar Monaten bei ihr am Fachbereich einen Vortrag gehalten hat: Doktor Max Grey von der Universität Sussex, Archäologe und Experte für das römische Britannien.

«Freut mich, dass Sie es einrichten konnten», sagt er und sieht tatsächlich erfreut aus. Eine angenehme Abwechslung. Die meisten Archäologen mögen andere Fachleute auf ihrem Territorium ganz und gar nicht. Und Ruth ist eine ausgewiesene Fachfrau für Knochen, Verwesungsprozesse und Tod. Sie leitet die Abteilung für forensische Archäologie an der Universität North Norfolk.

«Sind Sie schon an den Grundmauern?», erkundigt sie sich, während sie hinter Max bis zum Hügelrücken hinaufsteigt. Hier oben ist es kühler. Hoch über ihren Köpfen singt eine Lerche.

«Ja, ich denke schon.» Max deutet in den sorgfältig ausgehobenen Graben direkt vor ihnen. Auf halber Höhe ist eine Art Saum aus grauen Steinen zu erkennen. «Aber wir haben auch noch etwas anderes gefunden, das Sie interessieren dürfte.»

Ruth weiß schon Bescheid, ohne dass er es aussprechen muss.

«Knochen», sagt sie.

 

Detective Chief Inspector Harry Nelson brüllt aus vollem Hals. Obwohl er bei der Arbeit als aufbrausend verschrien ist (zu Hause, bei Frau und Töchtern, ist er dagegen lammfromm), neigt er normalerweise nicht zum Brüllen. Schroffe Befehle sind mehr sein Stil, meist im Vorbeigehen hingeknurrt, auf dem Weg zur nächsten Aufgabe. Er ist ein Mann, der schnelle Entscheidungen trifft und einen kurzen Geduldsfaden hat. Ein Macher, der gern Verbrecher fängt, Verdächtige verhört, zu schnell fährt und zu viel isst. Besprechungen, sinnlose Diskussionen und gute Ratschläge, auf die er auch noch hören soll, kann er nicht ausstehen. Und vor allem kann er es nicht ausstehen, an einem schönen Frühlingstag im Büro zu hocken und vergeblich zu versuchen, seinem neuen Computer irgendein Lebenszeichen zu entlocken. Daher das Gebrüll.

«Leah!», poltert er.

Leah, Nelsons Verwaltungsassistentin (oder Sekretärin, wie er selbst gern sagt), kommt zögernd ins Zimmer. Sie ist ein zierliches dunkelhaariges Persönchen von fünfundzwanzig, dem die jüngeren Beamten allesamt zu Füßen liegen. Nelson allerdings betrachtet sie hauptsächlich als Kaffeequelle und Verbindungsfrau zu all der neuen Technik, die mit jedem Tag neumodischer und launischer zu werden scheint.

«Leah», sagt er anklagend, «der Bildschirm ist schon wieder schwarz.»

«Haben Sie ihn eventuell ausgeschaltet?», fragt Leah. Nelson hat schon häufiger wutentbrannt Stecker aus der Wand gerissen und damit einmal sogar sämtliche Lampen im zweiten Stock lahmgelegt.

«Nein. Na ja, ein-, zweimal vielleicht.»

Leah kriecht unter den Schreibtisch, um die Kabel zu prüfen. «Scheint alles in Ordnung zu sein», sagt sie. «Drücken Sie mal eine Taste.»

«Welche denn?»

«Das dürfen Sie sich aussuchen.»

Nelson haut auf die Leertaste, und der Computer erwacht wie von Zauberhand zum Leben und äußert ein süffisantes «Guten Tag, DCI Nelson».

«Ach, leck mich doch», brummt Nelson und greift nach der Maus.

«Wie bitte?» Leah zieht die Augenbrauen hoch.

«Sie doch nicht», sagt Nelson. «Das Ding hier. Auf Smalltalk im Büro kann ich verzichten.»

«Wahrscheinlich ist er einfach darauf programmiert, Sie zu begrüßen», erwidert Leah gelassen. «Meiner spielt mir immer ein Liedchen vor.»

«Mir kommen gleich die Tränen.»

«Chief Superintendent Whitcliffe sagt, wir müssen uns alle an die neuen Geräte gewöhnen. Heute um vier findet eine Einführung statt.»

«Da kann ich nicht», brummt Nelson, ohne aufzusehen. «Ich bin bei einer Fallbesprechung draußen in Swaffham.»

«Ist da nicht auch diese römische Ausgrabungsstätte?», fragt Leah. «Das kam neulich in Time Team.»

Weil sie gerade ein paar Aktenordner im Regal zurechtrückt, dreht sie Nelson den Rücken zu und verpasst das plötzliche Interesse in seiner Miene.

«Eine Ausgrabungsstätte? Archäologisch, meinen Sie?»

«Genau.» Leah dreht sich wieder um. «Anscheinend haben sie da draußen eine komplette römische Siedlung gefunden.»

Nelson beugt sich angelegentlich über seinen Computer. «Da wimmelt es jetzt also von Archäologen, was?»

«Ja. Mein Onkel hat das Pub dort, das Phoenix, und er sagt, die sitzen jeden Abend bei ihm rum. Er musste schon seine Cider-Vorräte aufstocken.»

«Na, das passt ja», knurrt Nelson. Er kann sich lebhaft vorstellen, dass Archäologen natürlich nur Cider trinken, obwohl doch alle Welt weiß, dass echte Kerle ein ordentliches Bitter brauchen. Archäologinnen hingegen … da sieht die Sache schon wieder anders aus.

«Vielleicht schaue ich auf dem Rückweg kurz dort vorbei», sagt er.

«Interessieren Sie sich etwa für Geschichte?», fragt Leah fassungslos.

«Ich? Klar doch. Faszinierende Sache. Ich verpasse keine Folge von Die Scharfschützen.»

«Dann sollten Sie sich mal für unser Pub-Quiz-Team aufstellen lassen.»

«Ich leide unter Lampenfieber», erwidert Nelson knapp und tippt dabei mit einem Finger sein Passwort ein: Nelson1. Er hat es gern eindeutig. «Sind Sie so nett, Kindchen, und bringen mir eine Tasse Kaffee, ja?»

 

Swaffham ist eines dieser hübschen Marktstädtchen, wie Nelson sie mehrmals täglich durchfährt, ohne groß darauf zu achten. Schon ein paar Kilometer weiter ist man mitten auf dem platten Land: Felder, auf denen das Gras hüfthoch steht, Wegweiser, die in zwei Richtungen gleichzeitig zeigen, kreuzende Kühe auf der Straße, die ein junger Mann mit tumbem Gesichtsausdruck auf einem Quadbike vor sich hertreibt. Innerhalb von Sekunden hat Nelson sich völlig verfranst. Er will schon aufgeben, als ihm plötzlich die Idee kommt, den tumben Jüngling nach dem Phoenix zu fragen. Wenn man in Norfolk nicht weiterweiß, erkundigt man sich einfach nach dem nächsten Pub. Wie sich herausstellt, ist das Phoenix ganz in der Nähe. Nelson wendet mitten auf der schlammigen Fahrbahn, biegt in eine Straße ein, die kaum mehr als eine Schotterpiste ist, und da ist es auch schon, ein kleines reetgedecktes Haus mit Blick auf einen steilen, grasbewachsenen Hang. Nelson stellt seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, und als er auf der anderen Straßenseite, am Fuß des Hanges, den klapprigen roten Renault entdeckt, bekommt er Herzklopfen. Als freudige Erregung will er es nicht wahrhaben. Ich habe sie einfach eine ganze Zeit nicht gesehen, sagt er sich. Schön, mal wieder zu hören, wie’s ihr geht.

Er hat keine Vorstellung davon, wo die Ausgrabungsstätte ist oder wie sie aussehen könnte, denkt sich aber, dass er oben vom Hügel aus einen besseren Überblick haben wird. Es ist ein schöner Abend, lange Schatten fallen auf das Gras, die Luft ist mild. Doch Nelson achtet kaum auf seine Umgebung: Er denkt an eine trostlose Küste, an Leichen, die von der erbarmungslosen Flut ins Meer gespült werden, an die Umstände, unter denen er Ruth Galloway kennengelernt hat. Vergangenen Winter hat er sie als forensische Archäologin hinzugezogen, nachdem draußen am Salzmoor, einem gottverlassenen Flecken an der Küste im Norden Norfolks, menschliche Knochen aufgetaucht waren. Und obwohl sich rasch herausstellte, dass diese Knochen weit über zweitausend Jahre alt waren, wurde Ruth anschließend noch in einen sehr viel aktuelleren Fall verwickelt, die Verschleppung und mutmaßliche Ermordung eines fünfjährigen Mädchens. Seit sie den Fall vor drei Monaten zu Ende gebracht haben, hat Nelson Ruth nicht mehr gesehen.

Oben auf dem Hügel entdeckt er erst einmal nur noch weitere Hügel. Interessant sind nur die paar Gräben in einiger Entfernung und zwei Gestalten, die einen kurvigen Erdwall entlangkommen: eine dunkelhaarige Frau in weiter dunkler Kleidung und ein hochgewachsener Mann mit erdverschmierter Jeans. Unter Garantie ein Cider-Trinker.

«Ruth!», ruft Nelson. Er sieht sie lächeln; sie hat ein auffallend hübsches Lächeln, was er ihr natürlich niemals sagen würde.

«Hallo, Nelson!» Gut sieht sie aus, denkt er, mit ihren strahlenden Augen und den vom Wandern geröteten Wangen. Abgenommen hat sie allerdings nicht, und Nelson stellt fest, dass ihn das eigentlich ziemlich freut.

«Was machst du denn hier?», fragt Ruth. Sie begrüßen sich nicht mit Küsschen auf die Wange, geben sich nicht einmal die Hand, doch beide strahlen über das ganze Gesicht.

«Ich war sowieso in der Gegend und hatte mitgekriegt, dass hier eine Ausgrabung ist.»

«Schaust du etwa neuerdings Time Team?»

«War schon immer meine Lieblingssendung.»

Ruth lächelt zweifelnd und stellt dann ihren Begleiter vor. «Das ist Doktor Max Grey von der Universität Sussex. Er leitet die Ausgrabung hier. Max, das ist Detective Chief Inspector Nelson.»

Der Typ, Max, mustert ihn überrascht, und Nelson merkt selbst, wie wenig sein Dienstrang zu diesem goldenen Frühlingsabend passen will. Verbrechen geschehen nun mal, auch hier, würde er diesem Max Grey am liebsten ins Gesicht sagen. Aber Akademiker haben es ja grundsätzlich nicht so mit der Polizei.

Immerhin ringt sich Doktor Grey jetzt ein Lächeln ab. «Dann interessieren Sie sich also für Archäologie, DCI Nelson?»

«Nur so nebenbei», wiegelt Nelson ab. «Ruth … Doktor Galloway und ich haben vor einiger Zeit bei einem Fall zusammengearbeitet.»

«Die Sache am Salzmoor?», fragt Max mit großen Augen.

«Ja», antwortet Ruth knapp. «DCI Nelson hat mich hinzugezogen, nachdem er Knochen im Moor gefunden hatte.»

«Dabei waren die aus der gottverdammten Steinzeit», brummt Nelson.

«Eisenzeit», verbessert Ruth automatisch. «Übrigens, Nelson, Max hat heute auch menschliche Knochen gefunden.»

«Aus der Eisenzeit?», fragt Nelson.

«Wir vermuten eher, dass sie römisch sind. Anscheinend wurden sie unter einer Hauswand vergraben. Komm, ich zeig’s dir.» Ruth geht den beiden Männern voraus den Hang hinunter, auf die Grabungsstätte zu, und jetzt bemerkt Nelson, dass es ringsum von solchen seltsamen Wällen und Hügeln nur so wimmelt. Manche sind kreisförmig angeordnet, andere stehen vereinzelt da wie große Maulwurfshügel.

«Was sind denn das für Hubbel?», fragt er Max Grey.

«Vermutlich Mauern.» Max hat dieses Strahlen im Gesicht, das man bei Archäologen immer sieht, bevor sie zu einem todlangweiligen Vortrag ansetzen. «Wir glauben nämlich, dass hier einmal eine komplette Siedlung war, schließlich sind wir ja ganz in der Nähe der alten Römerstraße. Von außen sieht man allerdings nur braune Linien im Gras, Bewuchsmerkmale und so etwas.»

Nelson dreht sich um und mustert den sanft geschwungenen Wall hinter ihnen. Den kann er sich gerade noch als Mauer vorstellen, aber alles andere sieht einfach nur nach Gras aus.

«Und die Leiche liegt unter einer Hauswand, sagen Sie?»

«Ja. Wir hatten gerade einen Probegraben ausgehoben, und da war sie plötzlich. Sieht aus, als handelte es sich um die Außenwand einer Villa, die vermutlich gar nicht mal so klein gewesen ist.»

«Komischer Ort für einen Knochenfund», bemerkt Nelson. «Unter einer Wand?»

«Vielleicht ist es ja ein Fundamentopfer», sagt Max.

«Und was soll das sein?»

«Die Kelten und mitunter auch noch die Römer haben Tote unter Wänden und Türschwellen beigesetzt, als Opfergaben an die Götter Janus und Terminus.»

«Terminus?»

«Der Gott der Grenzen.»

«Zu dem bete ich auch immer, wenn ich am Flughafen bin. Und wer war der andere?»

«Janus, der Gott der Türen und Tore.»

«Dann haben die also Menschen umgebracht und deren Leichen unter ihre Häuser gelegt? Ganz schön extravagante Glücksbringer.»

«Wir können nicht genau sagen, ob sie absichtlich getötet wurden oder bereits tot waren», erwidert Max nüchtern. «Es handelt sich allerdings oft um Kinderleichen.»

«Großer Gott.»

Inzwischen haben sie den Graben erreicht, der von einer blauen Plane geschützt wird. Ruth zieht die Abdeckung beiseite und kniet sich an den Rand. Nelson hockt sich neben sie. Er schaut in ein ordentlich ausgehobenes, rechteckiges Loch – wie oft hat er sich schon gewünscht, seine Spurensicherungsleute wären auch so sorgfältig wie die Archäologen! – mit akkuraten, geraden Seitenwänden. Der Graben ist gut einen Meter tief, und Nelson sieht den Querschnitt durch die Bodenschichten, erkennt genau, wo der Mutterboden in den Schwemmboden und schließlich in die Kalkschicht übergeht. Unter dem Kalk entdeckt er eine Reihe aus grauen Steinen, und gleich daneben ist ein tieferes Loch ausgehoben, auf dessen Grund es weißlich schimmert.

«Habt ihr sie noch gar nicht ausgegraben?», fragt Nelson.

«Nein», sagt Ruth. «Das muss man erst noch alles dokumentieren und das Grab und das Skelett auf dem Plan einzeichnen, damit wir uns über den Kontext klarwerden können. Vor allem müssen wir überprüfen, wie die Leiche ausgerichtet ist. Wenn sie beispielsweise nach Osten schaut, kann das sehr bedeutsam sein.»

«Die Patres haben uns früher immer erzählt, wir sollen mit den Füßen nach Osten schlafen.» Daran hat Nelson ewig nicht mehr gedacht. «Damit wir direkt in den Himmel laufen können, falls wir in der Nacht sterben.»

«Ein interessantes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich Aberglaube hält», entgegnet Ruth gleichgültig, und Nelson erinnert sich, dass sie für Religion absolut nichts übrighat. «Kirchen», fährt sie fort, «stehen fast immer auf einer Ost-West-, nie auf einer Nord-Süd-Achse.»

«Werd ich mir merken.»

«Und manchmal», wirft Max ein, «werden Männer mit den Füßen nach Westen und Frauen mit den Füßen nach Osten beigesetzt.»

«Klingt irgendwie sexistisch.» Nelson richtet sich auf.

«Was dir natürlich völlig fremd ist», stichelt Ruth.

«Total. Neulich war ich noch auf einer Fortbildung zur Neudefinition der Geschlechterrollen bei der Polizei.»

«Und, wie war’s?»

«Beschissen. Ich bin nach dem Mittagessen gegangen.»

Ruth lacht, und Max, der schon ein missbilligendes Gesicht aufsetzen wollte, lächelt ebenfalls und mustert Ruth und Nelson dabei aufmerksam. Offenbar geht mehr zwischen den beiden vor, als er gedacht hätte.

«Wir wollten gerade auf einen Drink ins Phoenix», sagt Ruth jetzt. «Magst du nicht mitkommen?»

«Ich kann leider nicht», sagt Nelson bedauernd. «Ich muss noch zu so einer Festivität.»

«Eine Festivität?»

«Ein Wohltätigkeitsball zur Unterstützung des Festivals. Oben auf der Burg, Abendgarderobe und das ganze Programm. Michelle will da unbedingt hin.»

«Habt ihr ein Leben», meint Ruth.

Nelson grunzt nur zur Antwort. Er kann sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als wie ein Pinguin im Smoking zwischen lauter Künstlertypen herumzustolzieren. Doch nicht nur seine Frau will hin, auch sein Chef, Gerry Whitcliffe, hat darauf bestanden, dass Nelson sich dort blickenlässt. «Das ist genau die PR, die unsere Dienststelle jetzt braucht», hat er erklärt und sich den Hinweis verkniffen, dass Nelson mit seiner Handhabung der Salzmoor-Sache überhaupt erst den Grund geliefert hat, warum die örtliche Polizeidienststelle jetzt ihr Image in der Öffentlichkeit aufpolieren muss. PR! Sonst noch was?

«Wie schade», sagt Max leichthin und hebt dabei den Arm, als wollte er Ruth um die Schultern fassen. «Dann vielleicht ein andermal.»

Nelson sieht ihnen nach. Die Terrasse des Phoenix füllt sich bereits mit frühabendlichen Gästen. Er hört Gelächter, das Klirren von Gläsern und kann sich nicht gegen den Wunsch wehren, dass Leahs Onkel bald der Cider ausgeht.

2

Ruth zuckelt über die A47 zurück nach King’s Lynn. Obwohl es bereits nach acht ist, herrscht noch dichter Verkehr. Wo fahren die bloß alle hin?, denkt Ruth und trommelt ungeduldig aufs Lenkrad, während sie die Blechlawine aus Lastern, Autos, Wohnwagen und Minivans draußen betrachtet. Es ist doch noch gar keine Urlaubszeit, und für den Schulabhol- oder auch nur den Feierabendverkehr ist es schon viel zu spät. Warum sind diese Leute bloß alle auf dem Weg nach Narborough, Marham und West Winch? Wieso sind sie gerade in diesem ganz speziellen Höllenkreis gefangen? Seit etlichen Kilometern fährt Ruth jetzt schon hinter einem dicken BMW, auf dessen hinterer Ablage selbstgefällig zwei Reitkappen thronen. Langsam entwickelt sie einen regelrechten Hass auf diese BMW-Besitzer mit ihrem Aufkleber von Longleat House, dem personalisierten Nummernschild – SH3LLY 40 – und ihren Reitausflügen am Wochenende. Wahrscheinlich mögen sie eigentlich überhaupt keine Pferde. Ruth, die in einem Vorort von London aufgewachsen ist, hat selbst nie auf einem Pferd gesessen, hegt aber eine heimliche Vorliebe für Pferdebücher. Diese Shelly hat den Wagen unter Garantie zum vierzigsten Geburtstag bekommen, zusammen mit einem Karibikurlaub und einer ganz besonderen Botox-Behandlung. Ruth wird in zwei Monaten vierzig.

Sie hat den Besuch im Pub genossen, obwohl sie selbst nur Orangensaft getrunken hat. Max hat hochinteressante Dinge über römische Bestattungsriten erzählt. Man halte die Römer immer für besonders zivilisiert, weil sie sich so entsetzt über die barbarischen Sitten der Eisenzeit zeigten, dabei gebe es zahllose Belege dafür, dass es auch bei ihnen noch Bestattungen als Strafmaßnahmen, rituelle Tötungen und sogar Kindsmorde gab. Der Schädel eines kleinen Jungen, der vor etwa zehn Jahren in St. Albans gefunden worden war, belege beispielsweise, dass sein Besitzer zunächst zu Tode geprügelt und dann enthauptet worden sei. Und in der Grafschaft Kent, in der Nähe von Springfield, habe man an allen vier Ecken eines römischen Tempels Fundamentopfer in Gestalt zweier Säuglinge gefunden. Ruth fröstelt und fährt sich unwillkürlich mit der Hand über den Bauch.

Trotz seiner Geschichten von Tod und abgetrennten Schädeln hat sie sich in Max’ Gesellschaft sehr wohl gefühlt. Er ist in Norfolk aufgewachsen und liebt die Gegend offensichtlich. Ruth hat ihm von ihrem Häuschen an der nördlichen Küste erzählt, von den Winden, die direkt aus Sibirien herüberwehen, und vom Moor, wo der Strandflieder lila blüht. Max hat erklärt, dass er es gern einmal sehen würde, und Ruth hat erwidert, das würde sie sehr freuen, doch weiter sind beide nicht gegangen. Immerhin hat Ruth aber zugesagt, in der nächsten Woche noch einmal zur Ausgrabungsstätte zu kommen. Max erwartet ein Studententeam aus Sussex. Sie werden auf den Feldern ringsum zelten und den ganzen Mai und Juni mit Grabungen verbringen. Einen Moment lang wird Ruth ganz nostalgisch, denkt zurück an ihre eigenen sommerlichen Ausgrabungen: an die Kameradschaft, die Lieder und Joints abends am Lagerfeuer, die tägliche Knochenarbeit. Den Mangel an ordentlichen Toiletten oder Duschen vermisst sie allerdings überhaupt nicht. Inzwischen ist sie einfach zu alt für so etwas.

Zum Glück biegt SH3LLY 40 jetzt nach links ab, und Ruth sieht bereits die Hinweisschilder nach Snettisham und Hunstanton. Sie ist fast daheim. Im Radio, das wie immer auf den Kultursender Radio 4 gestellt ist, ist von Trauer die Rede: «Ein Jegliches hat seine Zeit.» Ruth liebt den Sender heiß und innig, doch es gibt eindeutig Grenzen. Sie schaltet auf Kassettenrecorder um – ihr Wagen ist viel zu alt, um einen CD-Player zu haben –, und gleich darauf ertönt Bruce Springsteen mit seinem ehrlichen, echt amerikanischen Röhren. Ruth liebt Springsteen, die leere Landstraße, die zum Scheitern verurteilten Liebesgeschichten, die guten Freunde, die alle Bobby Joe heißen und am Leben verzweifeln, und kein Spott oder Hohn wird sie jemals davon abbringen. Sie dreht die Musik lauter.

Inzwischen fährt sie unter hohen Bäumen hindurch, am Straßenrand wuchert Bärenklau. Gleich werden die Bäume wie von Zauberhand verschwinden, und das Meer wird sich vor ihr ausbreiten. Dieser Augenblick, wenn sich der Horizont plötzlich ins Unendliche dehnt, das Blau in Weiß und dann in Gold übergeht, wird für sie immer etwas Besonderes bleiben. Ruth fährt schneller, und als sie den Campingplatz erreicht, hinter dem die Straße nach Hause beginnt, hält sie an, steigt aus und lässt sich den Seewind durchs Haar wehen.

Vor ihr liegen die Dünen, die der Wind zu den abenteuerlichsten Gestalten formt. Die Flut hat noch nicht eingesetzt, das Meer ist kaum zu sehen, nur als bläulicher Streifen hinter dem grauen Sand. Hoch über ihr kreischen Möwen, das rote Segel eines Windsurfers gleitet stumm vorbei.

Ohne Vorwarnung beugt Ruth sich vor und muss sich heftig übergeben.

 

Die Burg, Norwich Castle, das viktorianische Sahnehäubchen auf dem ohnehin schon gehaltvollen mittelalterlichen Kuchen der Stadt, beherbergt eigentlich ein Museum. Früher war Nelson oft mit seinen Töchtern dort. Sie waren hin und weg von den Verliesen, und Laura hegte eine heimliche Schwäche für die Teekannensammlung. Jetzt ist er aber schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen, und als er mit seiner Frau Michelle den kurvigen Pfad hinaufsteigt, der hell erleuchtet und mit Wappenbannern geschmückt ist, trägt er sich mit den schlimmsten Befürchtungen. Die sich gleich darauf bewahrheiten, als sie von Dienstmägden empfangen werden. Es stand zwar nichts von Kostümierung auf der Einladung, aber diese Damen stellen ganz eindeutig Mägde dar: Sie tragen weit ausgeschnittene, pseudomittelalterliche Kleider und Rüschenhauben auf dem Kopf. Glücklicherweise servieren sie Champagner, und Nelson schnappt sich das vollste Glas auf dem Tablett, was Michelle natürlich nicht entgeht.

«Du kannst den Hals wie immer nicht voll genug kriegen, was?», kommentiert sie und greift selbst nach einem Glas Orangensaft.

«Wenn ich diesen Abend überstehen soll, brauche ich Alkohol», erklärt Nelson, während sie auf die schwere hölzerne Pforte zugehen. «Du hast mir gar nicht erzählt, dass es ein Kostümfest ist.»

«Ist es auch nicht.» Michelle trägt ein silbernes Minikleid, das beim besten Willen nicht mittelalterlich aussieht. Im Grunde findet Nelson sogar, dass ihm ein bisschen mehr Stoff nicht geschadet hätte, eine Schleppe zum Beispiel oder eine Krinoline oder was Frauen damals sonst so trugen. Doch sie sieht umwerfend darin aus, das muss er zugeben.

Sie gelangen in einen runden Empfangssaal, wo noch mehr Champagner auf sie wartet, dazu ein Lautenspieler sowie, zu Nelsons größerem Entsetzen, ein Hofnarr. Nelson weicht einen Schritt zurück.

«Nun geh schon rein.» Michelle gibt ihm von hinten einen Schubs.

«Dadrin ist ein Mann in Strumpfhosen!»

«Na und? Der wird dir schon nichts tun.»

Nelson betritt zögernd den Saal, den Blick misstrauisch auf den Hofnarren gerichtet. Dadurch entgeht ihm eine weitere Gefahr, die von der anderen Seite auf ihn zusteuert.

«Ah, Harry! Und die bildschöne Mrs. Nelson.»

Whitcliffe, in eleganter Smokingjacke und offenem Hemd, was er anscheinend für irrsinnig trendig hält. Außerdem hat er einen weißen Schal um den Hals. Flachwichser.

«Guten Abend.»

Whitcliffe begrüßt Michelle mit einem Handkuss. Der Hofnarr nähert sich hoffnungsvoll und schüttelt seine Glöckchen.

«Sie haben mit keinem Wort erwähnt, dass hier so komisch angezogene Figuren rumlaufen», sagt Nelson. Wie immer, wenn er unter Stress steht, drängt sich sein nordenglischer Akzent in den Vordergrund.

«Das Motto lautet eben ‹Mittelalter›», erläutert Whitcliffe zuvorkommend. «Edward organisiert so etwas immer ganz hervorragend.»

«Edward?»

«Edward Spens», sagt Whitcliffe. «Ich habe Ihnen doch erzählt, dass der heutige Abend von Spens & Co ermöglicht wird.»

«Von dem Baulöwen, ja.»

«Bauunternehmer», lässt sich eine Stimme von hinten vernehmen.

Nelson dreht sich um und sieht einen gutaussehenden Mann seines Alters, in geradezu vorbildlicher Abendgarderobe. Er gibt sich nicht mit weißen Schals und offenem Hemdkragen ab, sondern trägt einen ganz traditionellen Smoking und ein weißes Hemd, das seine leicht gebräunte Haut und das dichte dunkle Haar gut zur Geltung bringt. Nelson findet ihn auf den ersten Blick unsympathisch.

Whitcliffe teilt dieses Gefühl offenbar nicht. «Edward! Darf ich vorstellen? Edward Spens, unser Gastgeber. Edward, das sind Detective Chief Inspector Harry Nelson und seine bezaubernde Gattin Michelle.»

Edward Spens mustert Michelle anerkennend. «Ich wusste gar nicht, dass Polizisten so schöne Frauen haben, Gerry.»

«Einen Vorteil muss der Job ja haben», erwidert Nelson gezwungen.

Whitcliffe, der selbst nicht verheiratet ist (ein Umstand, der immer wieder zu Spekulationen Anlass gibt), schweigt. Michelle, erfahren im Umgang mit männlicher Bewunderung, reagiert mit einem strahlenden und doch distanzierten Lächeln.

«Nelson», fährt Edward Spens fort. «Sind Sie nicht der Wachtmeister, der mit dieser Salzmoor-Sache zu tun hatte?»

«Ja.» Nelson spricht nur ungern über seine Arbeit und hat eine ausgeprägte Abneigung gegen das Wort «Wachtmeister».

«Schreckliche Geschichte.» Spens macht ein ernstes Gesicht.

«Ja.»

«Aber Gott sei Dank haben Sie ja alles aufgeklärt.» Spens klopft ihm herzhaft auf die Schulter.

Ruth Galloway sei Dank vor allem, denkt Nelson bei sich. Doch Ruth hat darauf bestanden, so wenig wie möglich mit dem Fall in Verbindung gebracht zu werden.

Laut sagt er: «Solche Fälle gibt es zum Glück nicht allzu oft.»

«Darauf trinken wir!» Spens drückt ihm ein neues Glas Champagner in die Hand.

 

Niemand hat beobachtet, wie Ruth sich übergeben hat, und so schiebt sie nur mit dem Fuß etwas Erde über das Erbrochene und steigt wieder ins Auto, wo Bruce Springsteen gerade einer Frau mit dem abwegigen Namen Wendy erklärt, sie seien «born to run». Sie setzt den Wagen rückwärts vom Campingplatz und fährt weiter Richtung Heimat.

Sie bewohnt das mittlere von drei Häuschen am Rand des Salzmoors. Ein Nachbarhaus steht leer, das andere gehört einem Ehepaar, Wochenendurlaubern, die immer seltener kommen, seit die Kinder aus dem Haus sind. Ruth hat nichts gegen die Abgeschiedenheit. Im Gegenteil: Als sie jetzt aus dem Auto steigt und die endlose Weite des Moores in sich aufnimmt, die Sanddünen im Hintergrund und das ferne Murmeln des Meeres, verstärkt es ihre Freude nur noch, dass dieser Blick ihr ganz allein gehört. Lächelnd schließt sie die Haustür auf.

Flint, ihr roter Kater, hat bereits auf der Lauer gelegen und stürmt jetzt laut jammernd auf sie zu. Sein Fressnapf ist noch voll, doch anscheinend empfindet er es als Zumutung, das abgestandene Zeug fressen zu müssen. Er streicht Ruth so lange schnurrend um die Beine, bis sie ihm frisches Futter zurechtmacht, obwohl der Geruch die Übelkeit zurückbringt. Dann schnuppert er ausgiebig daran und verschwindet durch die Katzenklappe nach draußen.

Ruth setzt sich an den Tisch am Fenster, um ihren Anrufbeantworter abzuhören. Die erste Nachricht ist von ihrer Mutter, die wissen will, ob Ruth denn nun tatsächlich übers Wochenende komme. Aus irgendeinem Grund rechnet sie immer damit, dass sich die Pläne ihrer Tochter in letzter Sekunde ändern, obwohl Ruth eigentlich ausgesprochen pünktlich und zuverlässig ist. Die zweite Nachricht stammt von ihrer Freundin Shona, die irgendetwas von ihrem verheirateten Freund Phil zu berichten hat. Und die dritte ist von Max Grey. Na so was.

«Hallo, Ruth. Ich wollte nur sagen, wie sehr ich unser Gespräch genossen habe. Und ich habe noch mal über unsere Leiche nachgedacht. Falls der Kopf fehlt, könnte das doch auf einen Kopfkult hinweisen. Haben Sie von den Lankhills-Gräbern in Winchester gehört? Dort wurden auf einem römischen Friedhof sieben enthauptete Leichen gefunden, darunter auch die eines Kindes. Ich frage mich, ob wir hier wohl etwas Vergleichbares haben. Na, wie auch immer, ich hoffe, wir hören uns bald.»

Wie seltsam sich Archäologen manchmal ausdrücken, denkt Ruth. Unsere Leiche. Die Knochen, die unter den römischen Grundmauern aufgetaucht sind, haben sich in unsere Leiche verwandelt, die sie auf eine seltsame, surreale Weise mit Max Grey verbindet. Beide bringen sie diesem Skelett eine Art Besitzerstolz, vielleicht auch ein gewisses Mitgefühl entgegen. Aber ist das schon Grund genug, dass Max ihr auf den Anrufbeantworter spricht? Wollte er tatsächlich einen gemütlichen Plausch über geköpfte Leichen halten? Oder wollte er womöglich einfach nur mit ihr reden?

Ruth seufzt. Das ist ihr alles viel zu kompliziert. Außerdem hat sie andere Dinge im Kopf. Immerhin muss sie morgen nach London fahren und ihrer Mutter erzählen, dass sie schwanger ist.

 

«Zurzeit erschließen wir gerade drei zentrale Baugrundstücke im Herzen von Norwich. Die alte Gerberei, das Odeon-Kino und das verfallene Haus an der Woolmarket Street.»

«Woolmarket Street?», schaltet sich Whitcliffe ein. «War das nicht früher mal ein Kinderheim?»

«Soviel ich weiß, ja.» Edward Spens bestreicht ein Stück Brot mit Butter. «Sind Sie gebürtig aus Norwich, Gerry?»

Als Whitcliffe nickt, denkt Nelson, dass das einiges erklären dürfte. Er selbst stammt aus Blackpool und würde sofort dorthin zurückkehren, wenn Michelle und die Mädchen nicht wären. Michelle hat ihn überredet, die Stelle in Norfolk anzunehmen, was er ihr insgeheim immer noch übelnimmt. Seinen Töchtern gefällt Blackpool überhaupt nicht: Die reden da alle so komisch, und man isst schon um fünf zu Abend. Außerdem finden sie es viel zu kalt, auch wenn die Mädels dort tagein, tagaus im Minirock herumlaufen.

Das Fest ist in die Bankett-Phase eingetreten: Es gibt Schweinebraten, der sich als Spanferkel tarnt. Michelle hat ihre Portion bisher kaum angerührt. Sie ist vollauf damit beschäftigt, ihren Tischnachbarn zu bezirzen, eine Knalltüte namens Leo, im rosafarbenen Hemd und mit einer albernen Brille auf der Nase. Nelsons Tischdame, eine stattliche Erscheinung im blauen Satinkleid, hat ihn bisher keines Blickes gewürdigt, sodass er Edward Spens’ Marketingtiraden hilflos ausgeliefert ist.

«Wir sind ein Familienunternehmen», sagt Spens gerade. «Gegründet wurde es von meinem Vater, Roderick Spens. Sir Roderick, um genau zu sein, er wurde für seine Verdienste um die Baubranche zum Ritter geschlagen. Offiziell hat er sich längst zur Ruhe gesetzt, aber er erscheint natürlich trotzdem noch jeden Tag im Büro und versucht mir zu erklären, wie ich die Geschäfte zu führen habe. Er ist zum Beispiel strikt gegen die Erschließung des Grundstücks an der Woolmarket Street. Dabei ist das doch ein erstklassiges Immobilienobjekt.» Er lacht ausgiebig. Nelson mustert ihn mit steinerner Miene. Immobilienobjekt. Für wen hält der Kerl sich eigentlich?

«Harry!» Erst jetzt merkt er, dass seine Frau doch tatsächlich auch mal mit ihm redet. Sie strahlt ihn von der anderen Tischseite her an.

«Harry, Leo sprach gerade von dieser römischen Siedlung, die sie ausgegraben haben. Ganz in der Nähe von Swaffham. Da habe ich ihm erzählt, dass wir auch eine Bekannte haben, die Archäologin ist.»

Zu Nelsons großer Überraschung haben Michelle und Ruth sich auf Anhieb bestens verstanden. Michelle brüstet sich gern mit dieser intellektuellen Bekanntschaft: «Ich schwöre, sie verschwendet nicht einen Gedanken an ihr Aussehen.» Sie wäre garantiert erfreut zu hören, dass Ruth nicht abgenommen hat.

«Stimmt», sagt Nelson, bleibt aber auf der Hut. «Sie arbeitet an der Universität.»

«Ich schreibe gerade ein Stück», sagt Leo mit großem Ernst, «über den römischen Gott Janus. Den Gott mit den zwei Gesichtern. Den Gott des Anfangs und des Endes, der Türen und Tore, der Vergangenheit und der Zukunft.»

Janus. In Nelsons Kopf regt sich etwas, das es aber nicht gleich schafft, sich durch Champagner und Spanferkel hindurchzukämpfen. Ach ja, klar, dieser neunmalkluge Freund von Ruth, der Typ von der Universität Sussex. Janus, der Gott der Türen und Tore.

Und plötzlich wird Nelson noch etwas anderes klar. Es ist, als würde ein Film zurückgespult, der ihn erst beim zweiten Mal erkennen lässt, was eigentlich die ganze Zeit offensichtlich war. Er sieht Ruth wieder auf sich zukommen, das weite Oberteil vom Wind eng an den Körper gedrückt. Sie hatte nicht nur nicht abgenommen, sondern schien sogar noch etwas zugelegt zu haben.

Ist es denkbar, dass Ruth schwanger ist? Falls ja, ist er möglicherweise der Vater.

3

«Wie, du bist schwanger? Du bist doch nicht mal verheiratet!»

Es ist so eine Situation, in der Ruth am liebsten den Kopf in den Nacken legen und wie ein Wolf heulen würde. Sie hat sich ihre Enthüllung extra für den Sonntagsspaziergang durch den Castle Wood aufgehoben, in der Hoffnung, dass ihre Mutter vor allen Leuten vielleicht nicht gleich hysterisch werden würde. Aber weit gefehlt.

«Man braucht nicht verheiratet zu sein, um schwanger zu werden», sagt sie.

Ihre Mutter richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie ist ebenso üppig wie Ruth, wirkt allerdings eher majestätisch als dick, wie Königin Victoria in einer Hose von Marks & Spencer.

«Das ist mir durchaus klar, Ruth. Wie du aber sehr wohl weißt, will ich darauf hinaus, dass Gott zum Zweck des Kinderzeugens nun mal die Ehe geschaffen hat.»

Dass Gott früher oder später ins Feld geführt werden würde, war absehbar. Ruths Eltern sind Wiedererweckte Christen und glauben fest daran, dass Ruth, bis sie selbst dereinst Wiedererweckte wird, direkt auf die ewige Verdammnis zusteuert – die sie in diesem Moment ihrem aktuellen Aufenthaltsort in Eltham eindeutig vorziehen würde.

«Aber ich bin nun mal nicht verheiratet», sagt sie so ruhig wie möglich und setzt im Stillen hinzu: Der Vater allerdings schon. Ihr ist klar, dass diese Zusatzinformation die Sache kaum besser machen würde.

«Von wem ist es denn?», erkundigt sich ihr Vater mit belegter Stimme. Ruth mustert ihn traurig. Normalerweise ist er immer etwas zugänglicher als ihre Mutter, doch jetzt scheint er drauf und dran, sich in die Rolle des zornigen viktorianischen Patriarchen hineinzusteigern.

«Das möchte ich nicht sagen.»

«Das möchtest du nicht sagen?!» Ruths Mutter sinkt auf einen Baumstumpf. «Oh, Ruth, wie kannst du nur?» Sie zückt ein winziges Spitzentaschentuch und bricht in lautes Schluchzen aus. Die anderen Sonntagsspaziergänger mustern sie im Vorbeigehen neugierig. Ruth hockt sich neben ihre Mutter und hat ganz gegen ihren Willen massive Schuldgefühle.

«Mum, es tut mir wirklich leid, dass dich das so aufregt, aber versuch doch mal, es von der positiven Seite zu sehen. Ich bekomme ein Baby. Ihr kriegt ein Enkelkind. Darüber sollte man sich doch eigentlich freuen.»

«Freuen?», poltert ihr Vater. «Über einen Bastard-Enkel? Bist du völlig übergeschnappt?»

Anscheinend, denkt Ruth. Anscheinend war sie wirklich übergeschnappt, auch nur eine Sekunde lang zu glauben, ihre Eltern könnten sich über die Neuigkeit freuen. Sich mit ihr freuen. Die Tatsache akzeptieren, dass ihre Tochter zwar keinen Mann hat, dafür aber bald ein Kind, und dass dieses Kind zwar nicht geplant, aber dennoch gewollt ist, von ganzem Herzen gewollt. Wie sehr, das wagt Ruth sich kaum selber einzugestehen. Sie weiß nur, dass ihr in dem Moment, als sich ihr Verdacht in dem dünnen blauen Streifen auf dem Schwangerschaftstest konkretisierte, das Herz überging. Jeder Schmerz, jede Enttäuschung ihres bisherigen Lebens, ja selbst die traumatischen Erlebnisse der letzten Monate schienen sich plötzlich zu verflüchtigen und ließen nur grenzenlose blaue Freude zurück.

«Ich hoffe, ihr werdet eure Meinung noch ändern.» Mehr sagt sie nicht. Dann richtet sie sich auf und hilft ihrer Mutter von dem Baumstumpf wieder auf die Beine.

«Wir ändern unsere Meinung nie», verkündet ihre Mutter mit stolzgeschwellter Brust. «Das liegt nicht in unserem Wesen.»

Allerdings, denkt Ruth. Die Wiedererweckung hat das Gefühl von Unfehlbarkeit, das bei ihren Eltern ohnehin schon recht gut entwickelt war, nur noch verstärkt. Wie soll man auch jemals wieder falschliegen, wenn man doch von Gott auserwählt wurde? Das gilt ausnahmslos für alles. Ihre Eltern haben sich erst bekehrt, als Ruth schon in der Pubertät war – viel zu spät für sie, obwohl sie noch eine Zeitlang mit in die Kirche gegangen ist. Sie selbst hat nie zu Gott gefunden, aber eigentlich auch nie so recht nach ihm gesucht.

Ihr Vater deutet theatralisch auf Severndroog Castle, das hinter ihnen aufragt.

«Unsere Wertvorstellungen ändern sich nicht. Sie stehen so fest wie diese mittelalterliche Burg.»

Ruth verkneift sich die Bemerkung, dass die fragliche Burg eine Caprice aus dem achtzehnten Jahrhundert ist und es im Mittelalter von unehelichen Kindern und unverheirateten Müttern vermutlich nur so gewimmelt hat. Sie sagt nur: «Ich hoffe trotzdem noch, dass ihr die Dinge anders seht, wenn das Baby erst einmal auf der Welt ist.»

Ihre Eltern schweigen dazu; doch als sie die Avery Hill Road überqueren wollen, fasst Ruths Vater sie fürsorglich am Arm, als könnte die Schwangerschaft ihre Verkehrstüchtigkeit beeinträchtigen. Ruth empfindet das als merkwürdig tröstlich.

 

Ein Sonntagnachmittag in einem Vorort von King’s Lynn. Fröhliche Familien brechen zu Fahrradtouren auf, Autos werden gewaschen, Hunde spazieren geführt, Zeitungen gelesen, und über allem liegt der Duft des sonntäglichen Bratens. Nachdem er sein eigenes Mittagessen verzehrt hat (Lammbraten und eine fleischlose Variante für Laura), verkündet Nelson, er werde jetzt den Rasen mähen. Michelle erklärt, sie wolle noch ins Fitnessstudio – sie ist wahrscheinlich die einzige Frau auf Erden, die am Sonntagnachmittag freiwillig ins Fitnessstudio geht –, und Laura beschließt, sie zu begleiten, um eine Runde zu schwimmen. So bleibt Nelson mit der sechzehnjährigen Rebecca zurück, die sich kurz darauf nach oben verzieht, um sich ihrem iPod und ihrem Rechner zu widmen. Nelson hat nichts dagegen einzuwenden. Er will allein sein und irgendwelche belanglosen Haushaltstätigkeiten erledigen. So kann er am besten nachdenken.

Nachdem er den Rasenmäher aus dem Schuppen geholt und festgestellt hat, dass der Benzintank leer ist, den Reservekanister aus dem Kofferraum seines Mercedes gewuchtet, sich dabei den Fuß im Garagentor geklemmt, das kaputte Kupplungsseil repariert und Michelles Wäscheständer aus dem Weg geräumt hat, rasen seine Gedanken bereits. Ist Ruth tatsächlich schwanger? Ist das Kind von ihm? Im Februar haben sie eine Nacht miteinander verbracht, doch er hat den Verdacht, dass Ruth in der Zeit auch wieder mit ihrem Exfreund Peter zusammen war. Das Kind könnte also auch von ihm sein. Und was ist mit diesem Erik, ihrem Doktorvater? Nelson hatte immer den Eindruck, dass Ruth Erik recht nahestand. Ob sie auch miteinander im Bett waren? Es ist seltsam, doch für Nelson steht Ruth irgendwie auf einer höheren Ebene als andere Leute. Die Nacht, in der sie miteinander geschlafen haben, scheint ihm meilenweit entfernt von so alltäglichen Beweggründen wie Lust und Begehren, obwohl natürlich beides eine Rolle gespielt hat. Ruth und er sind einander auf Augenhöhe begegnet, nachdem sie gerade ein schreckliches Erlebnis gemeinsam durchgestanden hatten. Es fühlte sich einfach … richtig an. Und es war, erinnert sich Nelson, ganz unglaublicher Sex.

Wenn er daran zurückdenkt, wie richtig es sich angefühlt hat, ist Nelson fast überzeugt, dass Ruth in dieser Nacht tatsächlich schwanger geworden sein muss. Es scheint wie vorherbestimmt. Großer Gott! Er gibt dem Rasenmäher einen energischen Schubs. Jetzt denkt er schon wie eine dieser bescheuerten Frauenzeitschriften. Dabei ist es sowieso äußerst unwahrscheinlich, dass sie schwanger ist. Sie wird wohl irgendwie verhütet haben (obwohl das nie zur Sprache kam – sie haben überhaupt nicht viel geredet in dieser Nacht). Wahrscheinlich hat sie doch einfach nur zugenommen.

«Dad!»

Rebecca beugt sich aus dem Fenster im oberen Stock. Mit ihrem langen blonden Haar und dem ernsten Gesicht wirkt sie seltsam anklagend, wie die viktorianische Darstellung einer betrogenen Ehefrau. Einen unsinnigen Moment lang stellt Nelson sich vor, dass seine Tochter über Ruth Bescheid weiß, dass sie Michelle davon erzählen wird …

«Dad! Doug ist am Telefon. Er will wissen, ob du nachher noch ins Pub kommst.»

Nelson unterbricht seine Arbeit und ringt nach Luft. Der Geruch nach frischgemähtem Gras ist geradezu betäubend.

«Danke, Süße. Sag ihm, ich komme nicht. Ich möchte den Abend lieber mit meiner Familie verbringen.»

Rebecca zuckt die Achseln. «Wie du willst. Aber ich glaube, Mum wollte ins Kino.»

 

Am Abend, während Nelson mit seinen Töchtern einen alten James-Bond-Film schaut – Michelle ist tatsächlich mit einer Freundin ins Kino gegangen –, sitzt Ruth mit ihren Eltern im Wohnzimmer vor demselben Film, ohne viel davon mitzubekommen. Sie kann James Bond nicht leiden, findet ihn sexistisch, rassistisch und überhaupt unerträglich langweilig, doch ihren Eltern scheint der Film zu gefallen (obwohl man sich kaum jemand weniger Wiedererwecktes als James Bond vorstellen kann), und sie will auf keinen Fall noch weiter mit ihnen streiten. Den ganzen Nachmittag haben sie bis zur Erschöpfung über das Baby diskutiert. Wie konnte sie nur? Wer sich denn um das Kind kümmern solle, wenn sie zur Arbeit müsse? Ob sie denn nicht wisse, dass zu einer Familie auch ein Vater gehöre? Was das arme Würmchen denn bloß ohne Vater anfangen solle, ohne Familie, ohne Gott? «Ihr seid doch seine Familie», hat Ruth erwidert. «Und ihr könnt ihm auch von Gott erzählen.» Wobei ich, setzt sie im Stillen hinzu, ihm meine eigene Version auch nicht vorenthalten werde: dass Gott nämlich bloß ein Märchen ist. So wie Schneewittchen, nur noch ein bisschen gemeiner.

Doch jetzt sind ihre Eltern glücklicherweise still und schauen seelenruhig zu, wie James Bond sich mit einer spärlich bekleideten Frau prügelt. Als Ruths Handy klingelt, werfen sie ihr vorwurfsvolle Blicke zu.

Ruth geht in die Diele, um den Anruf entgegenzunehmen. «Phil» steht auf dem Display. Ihr Chef. Der Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Archäologie an der Universität North Norfolk.

«Hallo, Phil.»

«Hi, Ruth. Ich hoffe, ich störe nicht?»

«Ich bin gerade bei meinen Eltern.»

«Oh … schön. Ich wollte dir nur sagen, dass wir bei einer der Feldgrabungen auf etwas gestoßen sind.»

Die Universität setzt sogenannte Feldarchäologen an Ausgrabungsstätten ein, die zur Weiternutzung, meistens zur Bebauung, erschlossen werden. Offiziell sind diese Feldarbeiter Phil unterstellt, und er betrachtet sie als den Fluch seines Daseins.

«Bei welcher denn?»

«Die an der Woolmarket Street.»

«Und was haben sie dort gefunden?» Ruth fragt, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kennt.

«Menschliche Überreste.»

4. Juni Festtag des Hercules Custos

Ich war heute den ganzen Tag mit meiner Übersetzung des Catull beschäftigt. Sie hat mich abgelenkt. Das war FALSCH. Gestern Nacht habe ich erneut die Stimmen gehört. Früher glaubte ich, ich würde wahnsinnig, doch heute weiß ich, dass ich ERWÄHLT bin. Ich trage eine schwere Verantwortung.

Es ist nicht nur die Herrin, die im Geiste zu mir spricht, sondern das ganze Heer von Heiligen, die einst an dieser Stätte wohnten. Die Märtyrer, die für ihren Glauben gestorben sind. Auch sie sprechen zu mir. Dies ist mein Leib. Dies ist mein Blut.

Tod muss durch weiteren Tod, Blut durch Blut gesühnt werden. Das ist mir inzwischen klargeworden. Sie wird das niemals begreifen, weil sie ein Weib ist, und Weiber sind SCHWACH. Das weiß doch jeder. Sie hängt zu sehr an dem Kind. Das ist ein Fehler.

Gestern Nacht habe ich erneut geopfert, und das Ergebnis war dasselbe. Ich muss noch warten. Dabei wird es immer größer. Es kann laufen, und bald wird es anfangen zu sprechen. Ich bin nicht grausam. Die Götter sind meine Zeugen, dass ich niemandem vorsätzlich Schmerz zufügen würde. Doch die Familie steht immer an erster Stelle. Was zu tun ist, muss nun einmal getan werden. Fortes fortuna iuvat.

4

Ruth kommt erst am Nachmittag auf das Baugrundstück an der Woolmarket Street. Montags muss sie keine Vorlesungen halten, sie hat die Gelegenheit genutzt, bei ihren Eltern ein wenig auszuschlafen. Sie leidet immer noch unter morgendlicher – und im Übrigen auch abendlicher – Übelkeit. Ihre Mutter hat Porridge für sie gekocht, weil das gut gegen Morgenübelkeit sein soll, und Ruth hat zwar nur ein paar Löffel davon heruntergebracht, aber durchaus registriert, dass ihre Mutter ihr etwas Gutes tun wollte. Ansonsten wurde über den Bastard-Enkel kein weiteres Wort verloren.

Die Woolmarket Street gehört zu den ältesten Straßen von Norwich und ist Teil eines wahren Labyrinths aus schmalen, mittelalterlichen Gässchen, durchsetzt von scheußlich modernen Bürogebäuden. Nachdem sich Ruth, den aufgefalteten Stadtplan neben sich auf dem Beifahrersitz, mühsam durch das Gewirr von Einbahnstraßen geschlängelt hat, gelangt sie an einen Teil der alten Stadtmauer: klumpiges Mauerwerk, hauptsächlich Feuersteine, die eher so aussehen, als wären sie dort gewachsen und nicht aufgeschichtet worden. Gleich gegenüber erhebt sich, etwas zurückgesetzt von der Straße, hinter Eisentoren ein gewaltiges viktorianisches Anwesen. Von einem Torflügel verkündet ein Schild des Bauunternehmens Spens & Co, dass auf diesem Grundstück fünfundsiebzig Luxusapartments entstehen werden.

Vom Tor aus wirkt das Haus nach wie vor eindrucksvoll. Eine baumbestandene Auffahrt verläuft in elegantem Schwung bis zu der ehrfurchtgebietenden Backsteinfassade. Durch das Laub kann Ruth Bogenfenster erkennen, Erker, Türmchen und andere Elemente viktorianisch-neogotischer Grandezza. Doch als sie näher kommt, stellt sie fest, dass das alles nur noch Fassade ist. Hier führen längst Bagger und Schuttcontainer das Regiment. Die Außenmauern des Hauses stehen zwar noch, doch dahinter eilen Männer mit Bauhelmen geschäftig über Planken und hastig improvisierte Laufstege und schieben dort, wo früher Flure, Salons, Küchenräume und Speisekammern waren, ihre Schubkarren entlang.

Ruth hält direkt vor dem Haus. Die einstige Rasenfläche wird jetzt von einem Bauhäuschen und einem Miet-Klo geziert. Das Gras ist unter Bergen von Sand und Zement verschwunden, die Luft erfüllt vom Baulärm: Man hört Metall auf Metall schlagen, das pausenlose Rattern der Maschinen.

Ruth greift nach ihrer Ausrüstung und steigt aus. Aus dem Bauhäuschen kommt ein rotgesichtiger Mann auf sie zu.

«Kann ich Ihnen helfen?»

«Doktor Ruth Galloway.» Ruth streckt ihm die Hand hin. «Von der Universität. Ich soll mich hier mit den Archäologen treffen.»

Der Mann knurrt, als hätten sich soeben seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. «Wie sollen meine Jungs denn mit der Arbeit vorankommen, wenn’s hier ständig von Archäologen wimmelt?»

Ruth geht nicht darauf ein. «Soviel ich weiß, leitet Ted Cross die Ausgrabung?»

Der Mann nickt. «Ted der Ire. Ich schicke gleich jemanden, der ihn holen geht.» Dann reicht er ihr einen Helm – «Den müssen Sie auflassen» – und verschwindet wieder in seiner Bauhütte. Ruth kennt Ted den Iren flüchtig von früheren Ausgrabungen. Ein stämmiger Mann Ende vierzig, mit Glatze und zahllosen Tätowierungen, der zumindest äußerlich absolut nichts von einem Iren an sich hat.

Ted kommt grinsend auf sie zu und enthüllt dabei zwei Goldzähne. «Sie wollen sich wohl unser Skelett anschauen, was?»

«Ja. Phil hat mich angerufen.»

Ted spuckt aus – eine unmittelbare Reaktion auf den Namen des Lehrstuhlinhabers? «Hier lang», sagt er dann.

Er führt Ruth zum Haupteingang des Hauses. Davor steht einsam ein steinerner Torbogen, der imposant und fast ein wenig unwirklich aussieht. Als sie darunter hindurchgehen, liest Ruth die Inschrift, die in den Stein gehauen ist: Omnia Mutantur, Nihil Interit. Ruth war auf einer Gesamtschule, sie hat nie richtig Latein gelernt. ‹Omnia› heißt ‹alle› oder ‹alles›, wenn sie sich recht erinnert. ‹Mutantur› klingt nach ‹Mutation›, wird also vermutlich etwas wie ‹verwandeln› oder ‹verändern› heißen. Aber der Rest? ‹Nihil› klingt unangenehm endgültig, wie ‹Nihilismus›.

Hinter dem Bogen führen breite Stufen hinauf zu einem eindrucksvollen Portikus: Säulen, Ziergiebel, das ganze Programm. Ruth durchquert den steinernen Vorbau – die Haustür wurde bereits entfernt –, und auf der anderen Seite erwartet sie ein trostloser Anblick. Das Innere des Hauses ist ganz und gar verschwunden, nur Schutt und verstreute Steine sind noch übrig. Hier und da steht noch ein Stück Treppe oder ein Türrahmen, was den irrealen Eindruck einer Theaterkulisse hinterlässt. An einigen Stellen entdeckt Ruth noch Tapetenreste an halb zerstörten Wänden und dazwischen, wie Treibgut, einzelne Möbelstücke: einen Aktenschrank, eine Keramikbadewanne, eine Kühlschranktür, an der noch die Magnete mit den lustigen Sprüchen haften: Ein Genie beherrscht das Chaos oder Teamwork ist Chefsache.

«Die Bauarbeiten sind ja schon weit fortgeschritten», bemerkt sie.

«Kann man wohl sagen.» Ted grinst ironisch. «Edward Spens hat es anscheinend eilig. Er findet es gar nicht toll, von Archäologen aufgehalten zu werden.»

«Der Torbogen ist ziemlich eindrucksvoll.»

«Der soll wohl auch stehen bleiben. Wird irgendwie in den Neubau integriert. Spens findet, das gibt der Anlage Klasse.»

«Wissen Sie zufällig, was die Inschrift bedeutet?»

«Was, ich? Ich war in Bolton auf der Schule. Passen Sie auf, wo Sie hintreten.»

Gleich hinter dem Eingang geht es steil nach unten. Von der einstigen Diele ist nur noch ein schmaler, mit abgestoßenen und ausgebleichten schwarz-weißen Fliesen belegter Vorsprung übrig. Vor und direkt unterhalb der Türschwelle befindet sich ein Graben. Ruth erkennt die Handschrift der Archäologen auf den ersten Blick. Die Seitenwände sind schnurgerade, ein rot-weißer Messstab gibt Auskunft über die Tiefe. Unten im Graben steht eine junge Frau mit einem Bauhelm auf dem Kopf und schaut zu ihnen herauf.

«Das ist Trace», sagt Ted, «eine unserer Feldarchäologinnen.»

Ruth kennt Trace vom Sehen. Sie ist häufig an den sommerlichen Ausgrabungen beteiligt, außerdem arbeitet sie im Museum. Sie ist genau die Sorte Frau, neben der Ruth sich immer völlig unzulänglich vorkommt: gertenschlank, im ärmellosen Top, das ihre sehnigen Oberarme freilegt. Unter dem Helm quillt feuerrotes Haar hervor.

«Wo sind die Knochen?», fragt Ruth.

Trace deutet zum anderen Ende des Grabens hinüber.

«Direkt unter der Türschwelle», sagt Ted und spricht damit Ruths Gedanken aus.

Sie sieht den Grabstich sofort. Unter der steinernen Türschwelle, die noch nicht entfernt wurde, und einer dünnen Zementschicht ist der Boden aufgewühlt. Normalerweise könnte man dort eine Steinschicht und darunter eine Schicht Fundamentschutt erwarten, doch hier sind Sand, Steine und Erde ineinandergerührt wie ein Bauarbeitereintopf. Die Schichten wurden durcheinandergebracht, vor gar nicht allzu langer Zeit, und die Vertikale, die sich durch sie hindurchzieht, bezeichnet man als Grabstich. Zum ersten Mal wird Ruth die düstere Nebenbedeutung dieses Wortes bewusst. Dort, gleich unter dem in Unordnung gebrachten Boden, liegen die Knochen.

Ruth kniet sich hin. Sie sieht auf den ersten Blick, dass es menschliche Knochen sind. «Haben Sie schon die Polizei benachrichtigt?», fragt sie. «Und den Gerichtsmediziner?»

«Nein», antwortet Trace mürrisch. «Wir dachten, wir warten erst mal auf Sie.»

«Und, was meinen Sie?» Ted schaut ihr über die Schulter.

«Es sind Menschenknochen, allem Anschein nach von einem Kind. Das Alter ist schwer zu schätzen.» Bei frisch ausgegrabenen Knochen ist die Altersbestimmung meist recht einfach, doch je länger sie freiliegen, desto schwieriger wird es, das weiß Ruth aus leidvoller Erfahrung. Obwohl der Grabstich relativ neu wirkt, können die Knochen selbst doch jedes beliebige Alter zwischen fünfzig und mehreren hundert, vielleicht sogar tausend Jahren haben. Ruth hat einen Querschnitt vor sich: Die Knochen ruhen in der Seitenwand des Grabens. Es sieht aus, als läge die Leiche in Embryostellung. Ruth wirft Ted einen Blick zu. «Der Schädel fehlt», sagt sie.

«Stimmt», erwidert er im Plauderton. «Das ist uns auch aufgefallen.»

Plötzlich spürt Ruth, dass ihr wieder schlecht wird. Sie macht hastig ein paar Schritte von Ted weg und erbricht sich in eine Ecke des Grabens. Trace sieht ihr entsetzt zu.

Ted hingegen bleibt völlig ungerührt. «Alles klar?», fragt er. «Wollen Sie einen Schluck Wasser?»

«Ja, bitte.» Ruth hat pochende Kopfschmerzen und spürt, wie sie am ganzen Körper zittert. Muss das denn ausgerechnet hier passieren? Morgen weiß es wahrscheinlich schon der ganze Fachbereich. Sie geht in die Hocke, versucht, wieder ruhiger zu atmen.

«Hier.» Ted kommt mit einer schon recht mitgenommenen Wasserflasche zurück. Ruth nimmt einen zaghaften Schluck daraus, und ihr Innenleben beruhigt sich wieder ein wenig. Bloß nicht aufregen. Tief durchatmen.

«Tut mir leid», sagt sie. «Ich muss wohl etwas Falsches gegessen haben.»

«Autobahnraststätten», meint Ted verständnisvoll.

«Genau.» Ruth richtet sich wieder auf. «Ich denke, wir sollten die Polizei verständigen.»

«Soll ich den Notruf wählen?», fragt Trace und klingt dabei zum ersten Mal etwas lebhafter.

«Nein, ich habe eine andere Nummer.» Ruth zückt ihr Handy und drückt die Kurzwahltaste.

«Ruth!», ruft die überraschte Stimme am anderen Ende. «Warum rufst du an?»

«Wir haben Knochen gefunden, Nelson», sagt Ruth. «Ich glaube, die solltest du dir mal ansehen.»

 

Als Nelson eintrifft, sind die Bauarbeiter bereits nach Hause gegangen. Zurückgeblieben ist nur der wutschnaubende Polier, der ständig wiederholt: «Edward Spens will das Grundstück Ende der Woche zum Bau freigeben.»

«Ich bin überzeugt, dass auch er polizeilichen Ermittlungen nicht im Weg stehen wird», gibt Ruth bissig zurück. Seiner Miene nach zu urteilen, scheint der Polier nicht dieser Ansicht zu sein.

Ruth hört Nelsons Mercedes mit quietschenden Reifen die kurvige Auffahrt heraufkommen. Sie ist sich ihrer Gefühle ihm gegenüber nicht ganz sicher. Natürlich mag sie ihn, vielleicht sogar mehr als das, aber sie weiß auch, dass ihr Verhältnis zu ihm immer schwieriger werden wird, je weiter die Schwangerschaft fortschreitet. Wenigstens wird es noch ein paar Wochen dauern, bis er Verdacht schöpft. Glücklicherweise hat sie ja schon immer weite Kleidung getragen.

Dann erscheint Nelson selbst und bleibt einen Augenblick im Türrahmen stehen. Direkt hinter ihm ist Detective Sergeant Clough, einer seiner Mitarbeiter, den Ruth flüchtig kennt. Nelson gibt Clough ein paar rasche Anweisungen, dann kommt er den schmalen Laufsteg entlang und springt elastisch in den Graben hinunter. Genau so kennt ihn Ruth: immer in Bewegung, in Gedanken schon beim nächsten Schritt. Doch sie weiß, dass er beim Verhör auch sehr geduldig sein kann. Fast so geduldig wie ein Archäologe.

«Wer ist hier zuständig?», will er als Erstes wissen.

«Ich», würde Ruth am liebsten sagen, doch der Polier ist schneller.

«Derek Andrews», stellt er sich vor. «Polier.»

Nelson brummt nur und schaut an ihm vorbei zu Ruth.

«Wo sind die Knochen?»

«Hier», sagt Ruth. Während sie auf Nelson gewartet haben, hat sie gemeinsam mit Ted und Trace die Knochen weiter freigelegt und sie fotografiert, wobei ihr die Messlatte als Maßstab gedient hat. Das Skelett ragt jetzt wie ein makaberes Mosaik aus dem Boden. Nelson geht davor in die Hocke und streicht vorsichtig mit dem Finger über einen der Knochen.

«Seid ihr sicher, dass es menschliche Knochen sind?», fragt er.

«Mehr oder weniger», sagt Ruth. «Es können natürlich auch ein paar Tierknochen dabei sein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Schien- und Wadenbeine gesehen habe.»

«Wirst du sie rausholen?»

«Ich möchte das Skelett erst einmal vollständig freilegen», antwortet Ruth. «Weißt du noch, was ich dir bei der römischen Ausgrabungsstätte über Kontexte erzählt habe?»

Nelson richtet sich wieder auf. «Und woher wissen wir, dass das keine römischen Knochen sind?», fragt er. «Oder welche aus der gottverdammten Steinzeit, so wie die von neulich?»

Ruth beißt die Zähne zusammen. «Die waren aus der Eisenzeit.» Dann fährt sie ungerührt fort. «Wir können noch nichts mit Sicherheit sagen, aber das Grab wirkt einigermaßen aktuell. Siehst du die Linien, die sich durch die Bodenschichten ziehen? Ich vermute, die Leiche wurde dort begraben, als die Mauern errichtet wurden.»

«Und wann war das?», fragt Nelson.

«Na ja, das Haus wirkt viktorianisch. Also vor etwa hundertfünfzig Jahren.»

«Das nennst du aktuell?»

«Was war denn früher hier auf dem Grundstück?», erkundigt sich Clough.

«Ein Kinderheim», antwortet Nelson knapp. «Unter der Leitung der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu.»

Clough schnappt hörbar nach Luft.

«Was denn?», fragt Nelson gereizt.

«Na ja, das sind doch Nonnen, nicht?», sagt Clough. «Und wie die sind, weiß man ja. Wahrscheinlich haben sie das arme Kind da umgebracht.»

«Also, ich wüsste nicht, wie die sind.» Nelsons Miene verdüstert sich. «Und Sie, Sergeant, sollten lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen.»

«Wir glauben, dass hier im Mittelalter ein Friedhof war», mischt sich Ted ein. «Deswegen graben wir ja überhaupt. Der Bezirksarchäologe hat darauf bestanden, dass wir Ausgrabungen machen, bevor das Gelände neu bebaut wird.»

«Edward Spens ist stinksauer», lässt sich Derek Andrews vernehmen. «Er sagt, Sie kosten ihn täglich mehrere tausend Pfund.»

«Die kriegen wir aber nicht zu sehen», bemerkt Trace verdrossen. «Hier verdient doch jeder Maurer mehr als wir.»

Nelson reagiert nicht auf den Einwurf und wendet sich wieder an Ruth. «Ist es möglich, dass die Knochen aus dem Mittelalter sind?»

«Möglich ist alles», sagt Ruth, «aber der Kontext sieht viel moderner aus. Natürlich kann es sich auch um mittelalterliche Knochen handeln, die erst relativ kürzlich begraben wurden. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Das Skelett macht einen intakten Eindruck, es muss also recht bald nach Eintritt des Todes beerdigt worden sein.»

«Na gut.» Nelson richtet sich entschlossen auf und klopft sich die Erde von der Hose. «Dann müssen wir das Grundstück eben so lange abriegeln, bis ihr mit euren Ermittlungen fertig seid.» Er hebt die Hand. «Und wie der verflixte Edward Spens darüber denkt, interessiert mich nicht. Hier ist jetzt die Polizei zuständig. Es war gut, dass du mich angerufen hast, Ruth, und nicht die Jungs hier vor Ort.»