Grabesgrund - Elly Griffiths - E-Book

Grabesgrund E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Wer andern eine Grube gräbt – Dr. Ruth Galloways siebte Fall. Eine Leiche in einem vergrabenen Kampfflugzeug – das hat die forensische Archäologin Ruth Galloway auch noch nicht gesehen. Laut DNA-Test handelt es sich bei dem Toten um Fred Blackstock, einen Aristokraten, der im Zweiten Weltkrieg über dem Ärmelkanal abgeschossen wurde und starb – jedoch in einem anderen Flugzeug! Die Ermittlungen führen die Polizei und Ruth zum Anwesen der Blackstocks. Als man auf deren Land menschliche Knochen entdeckt und bald darauf ein Mitglied der Familie attackiert wird, ahnt Ruth, dass die Blackstocks ein dunkles, jahrzehntealtes Geheimnis hüten, von dem eine tödliche Gefahr ausgeht. Kann sie das Schweigen brechen und den Killer aufhalten, ehe er erneut zuschlägt? «Eine vielversprechende Reihe mit cleveren Plots und faszinierenden Figuren.» The Sunday Times

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Seitenzahl: 504

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Elly Griffiths

Grabesgrund

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Über dieses Buch

Der Bestsellererfolg aus England – endlich auf Deutsch

 

Eine Leiche in einem vergrabenen Kampflugzeug – das hat die forensische Archäologin Ruth Galloway auch noch nicht gesehen. Laut DNA-Test handelt es sich bei dem Toten um Fred Blackstock, einen Aristokraten, der im Zweiten Weltkrieg über dem Ärmelkanal abgeschossen wurde und starb – jedoch in einem anderen Flugzeug! Die Ermittlungen führen die Polizei und Ruth zum Anwesen der Blackstocks. Als man auf deren Land menschliche Knochen entdeckt und bald darauf ein Mitglied der Familie attackiert wird, ahnt Ruth, dass die Blackstocks ein dunkles, jahrzehntealtes Geheimnis hüten, von dem eine tödliche Gefahr ausgeht. Kann sie das Schweigen brechen und den Killer aufhalten, ehe er erneut zuschlägt?

Vita

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind sechs Krimis um die forensische Archäologin Dr. Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus», «Gezeitengrab», «Aller Heiligen Fluch», «Rabenkönig» und «Engelskinder».

Für Sheila und Ian Lewington

Verhasst ist mir die Senke dort, so schauerlich hinter dem kleinen Wald,

An ihrem Schlunde, droben auf dem Feld, wächst Heidekraut, blutrot.

Still tropft das Blut, entsetzlich, in den rot durchwirkten Spalt,

Und Echo, was man sie auch fragt, entgegnet: «Tod».

 

Alfred, Lord Tennyson: Maud

Prolog

|| Juli 2013 ||

Es ist der heißeste Sommer seit Jahren. Die Zeitungen sprechen von einer regelrechten Hitzewelle. Doch Barry West kümmert sich nicht um die Wettervorhersage. Er trägt sommers wie winters die gleiche Kleidung, Jeans und ein Englandtrikot. Er schwitzt in der Baggerkabine, aber auch das stört ihn nicht. Bei einem Mann gehört Schweiß dazu – wer sich zu viel wäscht, ist entweder Ausländer oder Schlimmeres. Dass Frauen seinen Geruch nicht gerade verlockend finden, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Er ist vierzig und hatte seit Jahren keine Freundin mehr.

Doch an diesem Julitag ist er guter Dinge. Der Himmel über Norfolk ist von einem heißen, harten Blau, die Erde, die er mit den Fängen seines Baggers freilegt, hell, fast weiß. Das gelbe Gefährt bewegt sich gleichmäßig hin und her, es wühlt die Steine auf und das struppige Gras. Barry weiß nicht – und interessiert sich auch nicht dafür –, dass dieses Land, das jetzt für ein Bauvorhaben von Edward Spens & Co. vorgesehen ist, einst hart umkämpft war. Just hier, auf diesen Feldern, haben die Römer die Icener bekämpft, und fast zweitausend Jahre später lieferten sich die Armeen der Königstreuen erbitterte Nahkampfgefechte mit Cromwells Heer. Heute ist Barry mit seinem Bagger allein unter der sengenden Sonne, nur die Möwen leisten ihm Gesellschaft. Sie folgen seinem Weg und stürzen sich immer wieder auf den frisch umgegrabenen Boden hinab.

Die Arbeit ist anstrengend. Das Gelände ist uneben, von Kratern und Furchen durchsetzt, deswegen lag es auch so lange brach. Im Winter laufen die Gruben mit Wasser voll, das gesamte Feld wird zu einem mit Grasinseln durchsetzten See. Jetzt allerdings, nach einem Monat mit schönstem Wetter, ist es eine Mondlandschaft, trocken und trist. Barry steuert den Bagger hin und her und singt dabei unmelodisch vor sich hin.

Auf dem Grund eines Kraters schrammt der Bagger über Metall. Barry flucht und legt den Rückwärtsgang ein. Über ihm kreisen die Möwen. Ihr Kreischen klingt hämisch, als würden sie lachen. Barry steigt aus der Kabine.

Die Sonne scheint heißer denn je. Sie brennt auf seine Baseballkappe herunter, er wischt sich den Schweiß aus den Augen. Aus dem Boden ragt etwas hervor, grau und irgendwie bedrohlich, wie eine Haifischflosse. Barry starrt auf das Hindernis. Es strahlt etwas Dauerhaftes aus, als läge es bereits seit langer, langer Zeit in der Erde. Er bückt sich, kratzt mit den Händen etwas Dreck weg. Jetzt sieht er, dass die Flosse zu einem größeren Gegenstand gehört, einem sehr viel größeren, als Barry zunächst gedacht hat. Je mehr Erde er entfernt, desto mehr Metall kommt zum Vorschein. Es glänzt matt in der Sonne.

Barry weicht zurück. Edward Spens will dieses Feld eingeebnet haben. Barrys Vorarbeiter hat betont, dass die Arbeit so schnell wie möglich erledigt sein muss, «bevor die Spinner davon Wind kriegen». Wenn er jetzt weitermacht, wird sein Bagger das Metallobjekt zerreißen und zertrümmern. Oder der unbekannte Gegner wird ihn besiegen und den Bagger (Eigentum von Edward Spens & Co.) beschädigen. Plötzlich und völlig unerwartet fällt Barry ein Buch ein, das ihm in der Schule vorgelesen wurde. Es handelte von einem riesigen Mann aus Eisen, der auf einem Schrottplatz gefunden wird. Eine Sekunde lang gibt er sich der Vorstellung hin, dass dort unter der Erde ein Riese aus Metall schläft, der sich erheben und ihn mit seinem baggerhaften Maul zermalmen wird. Aber war der Eisenmann in der Geschichte nicht der Gute? Barry kann sich nicht erinnern. Er klettert zurück in die Kabine und holt sich einen Spaten. Der Boden ist hart, die Erde aber einigermaßen locker. Barry schuftet, das Trikot klebt ihm am Rücken, und schließlich stößt er auf noch etwas, etwas viel Größeres. Schwer atmend legt er den Spaten beiseite und wischt mit den Händen die Erde weg. Dann spürt er etwas, das kein Metall ist. Glas, dreckverklebt und fast undurchsichtig. Ohne selbst ganz zu begreifen, was ihn dazu treibt, säubert Barry eine Stelle, um hindurchzusehen.

Ein Schrei scheucht die Möwen zurück in die Luft. Barry braucht ein paar Sekunden, bis ihm klar wird, dass er es war, der da geschrien hat. Fast tut er es noch einmal, als er stolpernd vor dem begrabenen Riesen zurückweicht.

Denn als er durch das Fenster geschaut hat, schaute jemand zurück.

 

Nicht weit entfernt, auf der anderen Seite dieser Felder, auf denen die Römer in Reih und Glied marschiert und über die die Königstreuen in wirrer Hast geflohen sind, gräbt auch Ruth Galloway. Das geht allerdings in jeder Hinsicht geordneter vonstatten. Mehrere Studententeams schuften in ordentlich ausgehobenen Gräben, die mit Schnüren und Maßbändern markiert sind. Ruth geht von Graben zu Graben, gibt Ratschläge, wischt ein wenig Erde von einem Fund, einer Tonscherbe vielleicht oder womöglich sogar einem Knochenstück. Sie ist glücklich. Als sie diese sommerliche Ausgrabung mit ihren Studierenden begonnen hat, war sie sich der Geschichtsträchtigkeit der Gegend natürlich bewusst. Sie hat damit gerechnet, etwas zu finden, römische Keramik, vielleicht sogar ein paar Münzen. Doch nach zweitägiger Grabung haben sie tatsächlich eine bedeutende Entdeckung gemacht: eine Leiche, von der Ruth glaubt, dass sie aus der Bronzezeit stammen könnte, gut zweitausend Jahre vor den Römern.

Das Skelett lag in kalkigem Boden und ist daher nicht so gut erhalten wie eine Leiche, die in torfigem Milieu beerdigt wurde. Vor fünf Jahren hatte Ruth im Moor unweit ihres Hauses die Leiche eines Mädchens aus der Eisenzeit entdeckt. Es war fast völlig intakt gewesen, in der Zeit bewahrt, die Handgelenke mit Zweigen gefesselt, das Haar teilweise geschoren. Ruth hatte das Mädchen betrachten und seine Geschichte bestimmen können. Bei der Leiche hier ist das anders, Ruth kann sich ihres Alters nicht sicher sein (sie hat Proben zur Radiokarbonanalyse geschickt, wobei auch diese Ergebnisse um bis zu hundert Jahre abweichen können), doch das Skelett befand sich in der für Beisetzungen der Bronzezeit typischen Hockhaltung, und sie haben in seiner Nähe Keramikscherben gefunden, die starke Parallelen zur sogenannten Glockenbecherkultur aufweisen. Glockenbecherbestattungen, die rund viertausend Jahre zurückliegen, zeichnen sich oft durch Hügelgräber aus, doch es gibt auch Beispiele für Flachgräber. Außerdem kann der Grabhügel ohne Weiteres durch Ackerbau zerstört worden sein.

Ruth hat die Knochen tags zuvor gehoben, nachdem sie das Skelett fotografiert, es noch am Fundort gezeichnet und jeden einzelnen Knochen auf ihrem «Skelettspickzettel» eingetragen hat. Der Beckenknochen lässt sie vermuten, dass die Leiche weiblich ist, und sie hofft, genügend DNA extrahieren zu können, um sich diesbezüglich zu vergewissern. Die Isotopenanalyse wird Hinweise auf die Ernährung der Frau liefern, ihre Knochen und Zähne können von eventuellen Krankheiten oder zeitweiser Unterernährung berichten. Bald wird Ruth zumindest einige Antworten kennen, doch schon jetzt spürt sie eine Verbindung zu dieser Frau, die vor so langer Zeit gestorben ist. Während Ruth auf dem Feld steht und die Hitze in der Luft ringsum flimmert, gestattet sie sich einen Augenblick der Genugtuung. Es ist eine schöne Arbeit und gar kein schlechtes Leben, unter diesem hohen, klaren Himmel die Vergangenheit auszugraben. Es könnte alles sehr viel schlimmer sein. Ihre Eltern hätten sich gewünscht, dass sie Steuerberaterin wird.

«Ruth!» Ruth erkennt die Stimme, doch ihre Laune ist so gut, dass sie selbst dem Auftauchen ihres Chefs, Phil Trent, standhält. Und das, obwohl er Safarishorts trägt.

«Hallo, Phil.»

«Habt ihr noch was gefunden?»

Wie, reicht ihm eine Leiche aus der Bronzezeit etwa nicht? Das ist deutlich mehr, als er jemals gefunden hat. Doch trotz ihres Ärgers teilt Ruth insgeheim die Hoffnung, dass hier im Boden noch mehr Leichen liegen könnten. Die Haltung des Skeletts und das Vorhandensein von Glockenbecherscherben weisen auf eine rituelle Bestattung hin. Könnte es sich um einen Friedhof aus Bronzezeitgräbern handeln? Wenn ja, dann sind da bestimmt noch weitere Tote.

«Bisher nicht.» Ruth nimmt einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Sie kann sich nicht erinnern, dass es in Norfolk schon jemals so heiß war. Die Baumwollhose klebt ihr an den Beinen, und sie ist garantiert knallrot im Gesicht.

«Na, wie auch immer», sagt Phil. «Ich habe da eine Idee.»

«So?» Ruth gibt sich Mühe, diese Mitteilung einigermaßen gelassen zu nehmen.

«Du kennst doch das DNA-Projekt der English Heritage?»

«Ja.»

«Warum beantragen wir nicht einfach, dass sie unseren Toten berücksichtigen? Wir könnten alle Anwohner testen lassen und sehen, ob noch irgendwer mit ihm verwandt ist.»

«Mit ihr.»

«Bitte?»

«Du weißt schon noch, was ich gesagt habe? Ich vermute, dass es sich um ein weibliches Skelett handelt.»

«Ach so, ja. Na, jedenfalls, was hältst du davon? Das könnte das Ansehen der UNN beträchtlich steigern.»

Phil ist geradezu besessen davon, das Ansehen der UNN, der University of North Norfolk, zu steigern. Im Stillen vermutet Ruth, dass dazu etwas mehr nötig sein dürfte als ein bisschen DNA aus der Bronzezeit. Trotzdem ist es keine schlechte Idee. Das DNA-Projekt wurde ins Leben gerufen, um herauszufinden, ob zwischen prähistorischen Leichen und der aktuellen Bevölkerung noch Verbindungen bestehen. Norfolk, das über eine bemerkenswert einheitliche Landbevölkerung verfügt, wäre ein geradezu ideales Testgebiet.

«Durchaus denkbar», sagt Ruth. «Glaubst du denn, die wären interessiert?»

«Also, als ich heute Nachmittag bei der English Heritage angerufen habe, wirkten sie begeistert.»

Typisch Phil, die Dinge erst mal in Gang zu bringen und dann so zu tun, als würde er Ruth um ihre Meinung fragen. Aber ein gewisses Geltungsbedürfnis ist für einen Institutsleiter ja grundsätzlich keine schlechte Eigenschaft.

«Magst du dir die heutigen Funde ansehen?», fragt Ruth. Obwohl sie das Skelett gestern schon ausgegraben und die Knochen eigenhändig verpackt hat, tauchen immer noch interessante Gegenstände in den Gräben auf.

Phil verzieht das Gesicht. «Es ist furchtbar heiß», sagt er, als wäre Ruth schuld am Wetter.

«Ach ja?» Ruth streicht sich das feuchte Haar zurück. «Ist mir noch gar nicht aufgefallen.»

Phil mustert sie zweifelnd. Ironie versteht er eigentlich nur, wenn er sich wirklich konzentriert. Das Brummen ihres Handys erspart Ruth weitere Erklärungen.

«Entschuldige.»

Als sie den Namen «Nelson» auf dem Display liest, schlägt ihr Herz ein klein wenig schneller. Das ist nur die Angst, dass vielleicht etwas mit Kate ist, redet sie sich ein. Man kann schließlich alles glauben, wenn man sich nur genug Mühe gibt. Aber natürlich geht es um eine polizeiliche Angelegenheit. Ruth ist der Abteilung für Schwerverbrechen bei der Polizei North Norfolk als forensische Archäologin zugeordnet. Worum Phil sie sehr beneidet.

«Ruth.» Es ist typisch für Nelson, keine Zeit mit Nettigkeiten zu verschwenden. «Wo bist du?»

«In der Nähe von Hunstanton.»

«Ach, gut. Dann bist du ja schon in der Gegend. Wie praktisch.»

Für wen?, fragt sich Ruth, doch Nelson redet bereits weiter.

«Ein Bauarbeiter hat ganz in der Nähe ein Flugzeug im Boden gefunden.»

«Ein Flugzeug?»

«Genau. Vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt noch ein paar alte Luftwaffenstützpunkte hier in der Gegend.»

«Na, du wirst mich wohl kaum brauchen, um ein Flugzeug auszugraben.»

«Das ist es ja: Der Pilot sitzt noch drin.»

 

Minuten später fährt Ruth die Straße nach Hunstanton entlang, mit Phil auf dem Beifahrersitz. Sie kann sich zwar nicht erinnern, ihren Institutsleiter um seine Begleitung gebeten zu haben, aber da ist er nun, zuckt zusammen, als der Kultursender anspringt, und erkundigt sich, wieso sie sich eigentlich kein neues Auto leisten kann. «Dein Buch war doch schließlich sehr erfolgreich. Hast du nicht auch schon einen Vertrag für ein neues?»

Ruths Buch über eine Ausgrabung in Lancashire ist letztes Jahr erschienen und hat tatsächlich einiges Lob in den wissenschaftlichen Zeitschriften geerntet. Ein echter Bestseller ist es aber trotzdem nicht geworden, und nachdem der Vorschuss abgegolten ist, werden die Tantiemen ihr Gehalt nicht allzu sehr aufstocken. Doch das Buch hat ihre Mutter stolz gemacht, und das allein grenzt schon an ein Wunder.

«Ich mag den Wagen», sagt sie.

«Das ist doch eine Rostbeule», sagt Phil. «Warum kaufst du dir nicht so einen coolen Cinquecento? Shona hat einen in Eisblau.»

Ruth beißt die Zähne zusammen. Cinquecentos sind zweifellos cool, und Shona hat garantiert zu jedem ihrer Boden-Retrokleider einen in der passenden Farbe. Shona, Phils Lebensgefährtin und ebenfalls Universitätsdozentin, ist Ruths beste Freundin in Norfolk, was aber nicht heißt, dass Ruth ständig hören möchte, wie chic und cool Shona ist. Sie ist ausgesprochen glücklich mit ihrem alten Renault, vielen Dank auch. Und schließlich hat niemand Phil gezwungen mitzufahren.

Ruth sieht das Feld bereits von weitem. Der Bagger parkt gefährlich nah an einem Abhang, daneben stehen drei Männer, von denen einer, unverkennbar selbst auf diese Entfernung, Nelson ist. Ruth stellt die Rostbeule am Tor ab und geht über den staubtrockenen Boden auf die Gruppe zu. Phil folgt ihr, nicht ohne sich weiterhin über die Hitze zu beklagen und über Menschen, die so selbstsüchtig sind, keine Klimaanlage im Auto zu haben.

Nelson sieht sie als Erster. «Da ist sie ja. Warum hast du denn Phil dabei?»

Ruth findet die Formulierung wunderbar. Phil wäre sicherlich der Ansicht, dass er Ruth dabeihat.

«Er wollte auch ein bisschen Spaß haben. Ist es das?»

Die Frage ist im Grunde überflüssig. Auf dem Boden der niedrigen Grube liegen drei Viertel eines Flügels und die Hälfte des Cockpits frei.

«Amerikanisch», sagt Nelson. «Das sehe ich an der Kennzeichnung.»

Ruth wirft ihm einen Blick zu. Nelson ist eindeutig die Sorte Mann, der als Junge Modelle von Kampfflugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg gesammelt hat.

«Es gab einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt hier ganz in der Nähe», sagt einer der beiden anderen Männer. «In Lockwell Heath.» Ruth erkennt Edward Spens, einen Bauunternehmer aus der Gegend, mit dem sie bereits bei einem früheren Fall zu tun hatte. Spens ist groß und attraktiv, und die Tatsache, dass er Tenniskleidung trägt, schmälert seine gebieterische Ausstrahlung kaum. Der dritte Mann, in Jeans und einem verdreckten Fußballtrikot, steht etwas abseits, als wollte er klarmachen, dass er absolut nichts für die ganze Sache kann. Ruth vermutet, dass er der Baggerführer ist.

Sie betrachtet die freigelegte Erde, die eine leicht bläuliche Färbung aufweist. Ruth hockt sich hin, nimmt etwas Erde in die Hand und schnuppert vorsichtig daran.

«Was machst du denn da?», fragt Phil. Ganz offensichtlich befürchtet er, sie könnte ihn blamieren.

«Treibstoff», sagt Ruth. «Riecht ihr das nicht? Und schaut euch die blauen Spuren im Boden an. Das ist oxidiertes Aluminium. Wusste jemand, dass dieses Flugzeug hier liegt?»

Edward Spens antwortet. «Ich glaube, vor einer Ewigkeit haben Kinder beim Spielen hier auf dem Feld mal Motorenteile gefunden. Aber kein Mensch hat gewusst, dass da so etwas liegt, fast völlig intakt.»

Ruth betrachtet das Cockpit. Es ist verbeult und oxidiert, wirkt aber erstaunlich unversehrt, wie es da fast waagerecht auf dem Boden des Kraters liegt. Sie hat wenig Ahnung von Geometrie, aber würde man bei der Schnauze eines abgestürzten Flugzeugs nicht einen spitzeren Winkel erwarten?

«Wo ist der Tote?», fragt sie.

«Der sitzt im Cockpit», sagt Edward Spens. «Und hat unserem Barry hier einen ganz schönen Schrecken eingejagt, das kann ich Ihnen flüstern.»

«Sogar die Mütze hat er noch auf», brummt Barry.

Ruth kniet sich hin und schaut durch das Fenster ins Cockpit. Sie sieht sofort, was Barry so erschreckt hat. Auf dem Platz des Piloten sitzt eine grausig ledrige Gestalt, an der noch die Fetzen einer Uniform hängen, wie eine scheußliche Karikatur zum Thema Flugverspätungen. Auf dem Schädel prangt eine Mütze: Der Stoff hat sich fast komplett zersetzt, nur die äußerste Spitze ist unversehrt.

Ruth lässt sich auf die Fersen sinken.

«Seltsam», sagt sie, halb zu sich selbst.

«Was ist seltsam?», fragt Nelson. Als Einziger der Männer scheint er nicht unter der Hitze zu leiden, obwohl er seine übliche Arbeitskleidung trägt, ein blaues Hemd ohne Krawatte und eine dunkle Hose. Ruth, die ihn ein paar Wochen nicht gesehen hat, findet, dass er geradezu unverschämt gut aussieht, so als könnte man einen Sommertag nicht besser verbringen als mit dem Fund einer Leiche in ihrem Flugzeugsarg. Ob er dieses Jahr wohl in Urlaub fährt? Das gehört zum anderen Teil seines Lebens, dem Teil, den sie niemals richtig kennen wird.

«Die Erde ist locker», sagt Ruth. «Als wäre hier erst kürzlich gegraben worden.»

«Klar wurde hier gegraben», sagt der Baggerführer. «Ich bin ja schließlich mit dem beschissenen Bagger hier durch.» Spens macht eine Geste, als wollte er sich von dieser unflätigen Ausdrucksweise distanzieren, doch wenn Ruth im Profimodus ist, braucht es deutlich mehr, um sie aus der Ruhe zu bringen.

«Die Schichten wurden weiter unten aufgewühlt», sagt sie. «Es ist heiß, es hat kaum geregnet, da müssten die Erdpartikel eigentlich viel kompakter sein. Und noch etwas. Der Mutterboden, die oberste Schicht, ist lehmig, darunter befinden sich Kalkschichten. Kalk konserviert Knochenmaterial, aber an der Leiche befinden sich noch Hautreste. Sehen Sie?»

Nelson beugt sich vor. «Sieht aus wie diese andere Leiche, die du gefunden hast. Die aus dem Salzmoor.»

Ruth sieht ihn an. «Stimmt. Diese Art der Hauterhaltung ist typisch für Leichen, die im Moor gefunden werden, nicht in kalkhaltigem Boden wie hier. Und wie der Pilot dasitzt, die Hand noch am Steuerknüppel. Das sieht fast aus wie inszeniert.»

Sie beugt sich weiter vor. Sie möchte nichts anfassen, bevor nicht eine ordentliche Ausgrabung stattgefunden hat. Hinter sich hört sie Nelson zu Spens sagen, dass das Feld jetzt ein Tatort sei.

«Es ist nur so», erwidert Spens in seinem vertraulichsten Ton, «wir sitzen hier ganz schön in der Klemme. Es hat bei diesem Baugrund schon einiges an bösem Blut gegeben, und ich hätte das Land gern so schnell wie möglich eingeebnet.»

«Da kann ich nichts machen», sagt Nelson. «Ich muss die Spurensicherung einschalten, und Dr. Galloway braucht mindestens einen Tag, um die Leiche zu bergen. Stimmt’s, Ruth?»

«Die Spurensicherung?», sagt Spens. «Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Der arme Kerl ist doch ganz offensichtlich mit seinem Flugzeug hier abgestürzt, im Krieg, vor siebzig Jahren. Wahrscheinlich ist er mitten im Kalksteinbruch gelandet und dann von einem Erdrutsch oder so etwas verschüttet worden. Da hat ja nun wirklich kein Verbrechen stattgefunden.»

«Ich fürchte, da irren Sie sich.» Ruth richtet sich wieder auf.

«Wie meinen Sie das denn?» Spens wirkt gekränkt.

«Ich glaube, es könnte durchaus ein Verbrechen gewesen sein.»

«Und wie kommst du darauf, Ruth?», fragt Phil. Sein Ton legt nahe, dass er viel eher bereit ist, die Partei des örtlichen Großindustriellen zu ergreifen als die seiner Kollegin.

«Er hat mitten in der Stirn ein Einschussloch», sagt Ruth.

1

|| September 2013 ||

«Ein Foto noch.»

«Lieber Himmel, Nelson, nachher kommt sie noch gleich am ersten Tag zu spät zur Schule.»

Doch Nelson ist ganz damit beschäftigt, die Kamera scharfzustellen. Kate steht geduldig am Zaun, adrett in ihrem blauen Schulsweatshirt und einem grauen Rock. Ihr dunkles Haar löst sich bereits wieder aus den Zöpfen (Ruth ist nicht gerade gut mit Haaren), den Schulranzen hält sie wie einen Schutzschild vor sich.

«Der erste Schultag.» Nelson drückt fröhlich weiter auf den Auslöser. «Ist doch nicht zu fassen.»

«Tja, so ist es aber», sagt Ruth, obwohl sie selbst die halbe Nacht wach gelegen und sich gefragt hat, wie in aller Welt sie ihren kostbaren Liebling den Schrecken einer Bildungseinrichtung überlassen soll. Und das, obwohl sie selbst zwei akademische Titel hat und an einer Universität arbeitet.

«Na komm, Kate.» Sie hält ihrer Tochter die Hand hin. «Wir wollen Mrs. Mannion ja nicht warten lassen.»

«Ist das die Lehrerin?», fragt Nelson.

Nein, es ist die stadtbekannte Axtmörderin, denkt Ruth, überlässt es aber Kate, Nelson zu erzählen, dass Mrs. Mannion sehr nett ist, ihr am Schnuppertag einen Aufkleber geschenkt hat und überdies einen Bären namens Blue besitzt.

«Wir dürfen Blue den Bären jeder mal mit nach Hause nehmen», teilt sie ihm mit. «Aber nur, wenn wir brav sind.» Das sagt sie mit einer gewissen Skepsis, als wäre es eine unerfüllbare Bedingung.

«Natürlich wirst du brav sein», sagt Nelson. «Die Bravste von allen.»

«Das ist ja nun kein Wettbewerb», brummt Ruth und öffnet die Autotür für Kate. Aber sie hat sich wirklich oft genug mit Nelson über Schulrankings und Privatschulen gestritten und darüber, ob es wirklich zwingend erforderlich ist, dass eine Vierjährige schon Mandarin lernt. Am Ende hat Ruth sich durchgesetzt, und Kate kommt auf die staatliche Grundschule, einen fröhlichen Ort, dessen Wahlspruch in kunterbunten Handabdrücken über dem Haupteingang prangt und schlicht und einfach lautet: «Wir haben Spaß!»

«Du bist genau die Sorte Mensch, die was gegen Wettbewerb hat.» Nelson steckt seine Kamera ein.

«Und was für eine Sorte Mensch ist das?»

«Die Sorte, die bei Wettbewerben grundsätzlich gut abschneidet.»

Das kann Ruth nun nicht bestreiten. Sie hat immer schon gern gelernt und sich auf Prüfungen regelrecht gefreut. Genau deswegen möchte sie ja auch, dass Kate noch ein paar Jahre Spaß haben und mit Kartoffelstempeln spielen darf. Zum richtigen Lernen ist danach immer noch Zeit genug. Nelson, der die Schule gehasst und sie bei der erstbesten Gelegenheit verlassen hat, sorgt sich viel mehr darum, dass seine Kinder beim Erklimmen des steilen Bildungsbergs keine Zeit verlieren. Michelle und er haben ihre Töchter auf eine Privatschule geschickt, beide studieren inzwischen. Und damit ist die Aufgabe erledigt, auch wenn Laura zurzeit als Animateurin auf Ibiza jobbt und Rebecca jenseits des vagen Wunsches, «beim Fernsehen» zu arbeiten, keine Ahnung hat, was sie mit ihrem Abschluss in Kommunikationswissenschaft anfangen soll.

«Sag Daddy Auf Wiedersehen», sagt Ruth.

«Wiedersehen, Daddy.»

«Wiedersehen, Liebes.» Nelson knipst ein letztes Foto von Kate, wie sie aus dem Autofenster winkt. Dann steckt er die Kamera endgültig ein und kehrt zurück nach Hause, um mit seiner Frau zu frühstücken.

 

Ruth fährt über die vertraute Straße, die zwischen dem Meer auf der einen und dem Moor auf der anderen Seite entlangführt. Ihr Nachbar, Bob Woonunga, kommt kurz heraus, um ihnen zum Abschied zuzuwinken, dann folgen keine weiteren Häuser mehr, bis sie die Abzweigung erreicht haben. Es ist ein wunderschöner Tag, blau und golden, das lange Gras wiegt sich im Wind, die Sandbänke sind unscharfe Kleckse in der Ferne. Ruth fragt sich, ob sie nicht irgendetwas Bedeutsames sagen, Kate von ihrem eigenen ersten Schultag erzählen soll oder so etwas, doch Kate wirkt ganz zufrieden und singt das Jingle eines Werbespots für Müsli vor sich hin. Schließlich stimmt Ruth einfach ein. Knuspernüsse, Knuspernüsse und Rosinen noch dazu. Juhuhu – Rosinen noch dazu.

Es kommt ihr immer noch komisch vor, Nelson als «Daddy» zu bezeichnen. Als Kate drei war und anfing, Fragen zu stellen, hatte Ruth beschlossen, ihr die Wahrheit zu sagen, oder zumindest eine bereinigte Version davon. Nelson ist Kates Vater, er hat sie lieb, wohnt aber bei seiner anderen Familie. Hat er die auch lieb? Aber natürlich. Auf ihre chaotische Einundzwanzigstes-Jahrhundert-Art haben sie sich alle gegenseitig lieb. Nelson war entsetzt, als Ruth ihm erzählte, was sie Kate sagen wollte. Aber er hat eingesehen, dass Kate – ein aufgewecktes, wissbegieriges Kind – irgendetwas erfahren musste, und was hätten sie ihr sonst sagen sollen? Auch Nelsons Frau Michelle hält sich an die vereinbarte Sprachregelung, und Ruth weiß sehr wohl, dass das alles andere als selbstverständlich ist. Sie ist froh, dass es Michelle in Kates Leben gibt, denn Michelle ist gut im Nestbau und beherrscht das Muttersein bestens. Vor allem hätte sie die Zöpfe ordentlich hingekriegt (sie ist Friseurin).

Sie fahren an dem Feld vorbei, auf dem im Juli die Leiche aus der Bronzezeit gefunden wurde. Die English Heritage hat zugesagt, weitere Ausgrabungen zu finanzieren und den Fund in ihre DNA-Studie einzubeziehen. Es besteht sogar die Chance, dass an der Ausgrabungsstelle gefilmt wird. Vor zwei Jahren hat Ruth bei einer Fernsehsendung mit dem Titel Mordende Frauen mitgewirkt, und obwohl das ein in vielfacher Hinsicht traumatisches Erlebnis war, hat ihr der Auftritt als archäologische Expertin nicht völlig missfallen. Sie ist zwar kein Naturtalent wie Frank Baker, der Historiker aus den USA, der die Sendung moderiert hat, aber im Guardian wurde sie immerhin als «sympathisch» bezeichnet.

«Mummy kommt vielleicht wieder ins Fernsehen», sagt sie zu Kate.

«Ich hoffe, Blue der Bär kommt zu uns nach Hause», erwidert Kate.

Recht hat sie. Blue der Bär ist im Moment deutlich wichtiger.

Ruth hat befürchtet, dass Kate weinen könnte, dass sie selbst weinen könnte und sie am Ende von missbilligenden Referendarinnen mit Gewalt voneinander losgerissen werden müssten. Doch als Kate dann nur fröhlich winkt und in einem Meer aus blauen Sweatshirts verschwindet, fühlt sich das noch viel schlimmer an. Ruth wendet sich ab, blinzelt törichte Tränen weg.

«Mrs. Galloway?»

Ruth dreht sich um. Diese Rolle ist völlig neu für sie. Bei der Arbeit zieht sie die Anrede «Dr. Galloway» vor, und eine «Mrs.» ist sie überhaupt noch nie gewesen. Mrs. Galloway, das ist ihre Mutter, eine respektgebietende wiedererweckte Christin, die in Südlondon wohnt, in Sichtweite des gelobten Landes. Ob sie Kates Aussichten wohl gleich am ersten Tag ruinieren wird, wenn sie auf der Anrede «Ms.» besteht?

«Mrs. Galloway?» Es ist eine Frau, die sich so an Ruth wendet. Eine Lehrerin? Eine andere Mutter? Ruth hat keine Ahnung. Wer immer sie auch ist, sie scheint sich inmitten dieser kunterbunten Vorschulatmosphäre erschreckend wohl zu fühlen.

«Ich bin Miss Coles, die Klassenbetreuerin. Ich wollte nur kurz wissen, ob Kate am Schulmittagessen teilnimmt oder ein eigenes Pausenbrot dabeihat.»

«Schulmittagessen», sagt Ruth. Der Aufgabe, täglich Pausenbrote zu schmieren, sieht sie sich nicht gewachsen.

«Dann ist sie also nicht heikel beim Essen? Sehr gut.»

Ruth schweigt. In Wahrheit ist Kate beim Essen extrem heikel, bekommt zu Hause aber immer, was ihr schmeckt. Ruth will sich gar nicht ausmalen, was passiert, wenn Kate sich mit Cottage Pie oder Grießbrei konfrontiert sieht. Aber die Schulmittagessen sind heute mit Sicherheit ganz anders. Wahrscheinlich gibt es sogar eine Salatbar und eine Weinkarte.

Miss Coles interpretiert Ruths Schweigen wohl als heftige Gefühlsbewegung (und liegt damit ja auch gar nicht so falsch). Sie macht eine Tätschelbewegung knapp über Ruths Oberarm.

«Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird sich ganz schnell eingewöhnen. Und Sie fahren jetzt erst mal nach Hause und gönnen sich eine schöne Tasse Tee.»

Ich habe jetzt erst mal eine Vorlesung über altsteinzeitliche Bestattungspraktiken, denkt Ruth. Aber das behält sie für sich. Sie bedankt sich bei Miss Coles und entfernt sich rasch.

 

Auch Nelson fällt es schwer, nicht die ganze Zeit an Kate zu denken. Er hätte sie so gern mit zur Schule gebracht, aber es war schon mehr als großzügig von Michelle, dem Besuch am frühen Morgen zuzustimmen. Das gemeinsame späte Frühstück war von ihm eigentlich als Dank gedacht, aber als er nach Hause kommt, ist Michelle gerade im Aufbruch. Eine Krisensituation im Salon, erklärt sie, sie müsse sofort zur Arbeit. Dann küsst sie Nelson flüchtig und steigt in ihren Wagen. Er sieht zu, wie sie vorschriftsmäßig in drei Zügen wendet und davonfährt, mit einer Miene, als wäre sie in Gedanken schon längst bei der Arbeit. Seufzend steigt er wieder in seinen altersschwachen Mercedes.

Auf dem Revier wird er immerhin ein wenig entschädigt. Aus dem üblichen Mist in seinem Posteingang sticht eine E-Mail hervor: «Gebissanalyse Schädelfund vom 17.07.2013». Der amerikanische Pilot, den sie im Sommer am Steuer seines verschütteten Flugzeugs gefunden haben. Nachdem Ruth das Skelett geborgen hatte, wurde eine Obduktion durchgeführt, mit dem Ergebnis, dass der Tod aller Wahrscheinlichkeit nach infolge der Schusswunde oberhalb der Schläfe eingetreten ist. Und damit wären die Ermittlungen auch schon wieder am Ende gewesen, hätte sich die U.S. Air Force nicht großzügig gezeigt und sich erboten, weitere DNA-Tests und eine ausführliche forensische Untersuchung zu finanzieren. Trotzdem haben sich die Labore ziemlich Zeit gelassen. Im August ist Nelson höchst widerwillig mit Michelle in den Urlaub nach Spanien gefahren (wo es ihm viel zu heiß war) und hat nach der Rückkehr festgestellt, dass immer noch nichts passiert war. Jetzt sieht es zumindest so aus, als hätten sie endlich ein Ergebnis. Noch im Stehen öffnet er die E-Mail.

«Cloughie!», ruft er gleich darauf.

Detective Sergeant Clough erscheint im Türrahmen, einen halbgegessenen Bagel in der Hand.

«Schauen Sie mal. Wir haben eine Entsprechung für unseren amerikanischen Piloten.»

Clough wirft einen Blick über die Schulter seines Chefs. «Frederick J. Blackstock. Und wer soll das sein?»

«Kommen Sie schon, Cloughie. Sie sind doch aus der Gegend um Hunstanton. Sagt Ihnen der Name nichts?»

«Blackstock. Ach, die Blackstocks. Glauben Sie, der gehört dazu?»

«Keine Ahnung, aber ich werd’s herausfinden.»

«Wieso ist denn ein Yankee-Kriegsflieger mit so einer piekfeinen Familie aus Norfolk verwandt?»

«Da bin ich genauso schlau wie Sie, Cloughie.»

«Schon ein ziemlicher Zufall, oder?» Clough scrollt in der E-Mail weiter nach unten. «Ein amerikanischer Pilot, der ganz in der Nähe seines alten Familiensitzes tot aufgefunden wird.»

«Eben.» Nelson greift nach seinem Autoschlüssel. «Und ich glaube nicht an Zufälle.»

 

In Hunstanton und Umgebung kommt man um den Namen Blackstock nicht herum. Es gibt ein Pub namens Blackstock Arms, ein Blackstock-Kunstmuseum, sogar ein Blackstock-Fischereimuseum. Die selbstgefällige Allgegenwart des Namens erinnert Nelson an die Smiths in King’s Lynn – kein sehr ermutigender Vergleich, wenn man bedenkt, dass bei einer früheren Ermittlung im Umfeld der Smiths nicht nur harte Drogen, sondern auch ein uralter Fluch und eine giftige Schlange eine Rolle spielten. Anders als die Smiths bewohnen die Blackstocks allerdings noch ihr altes Familienanwesen, ein düsteres Herrenhaus am Rand des Salzmoors.

Auf dem Blackstock Way fahren sie an flachen, mit kleinen Wasserläufen durchsetzten Feldern vorbei. Auf den Grasinseln dazwischen stehen trübsinnig dreinblickende Schafe, über ihnen ziehen mit klagenden Rufen Gänse vorbei. Das Haus ist kilometerweit zu sehen, wie ein Schiff, das sich aus einem graugrünen Meer erhebt.

«Hier würde ich nicht leben wollen», sagt Clough. «Ist ja mindestens so schlimm wie bei Ruth.»

«Wenn auch ein bisschen hochherrschaftlicher.»

Blackstock Hall wirkt tatsächlich hochherrschaftlich, ein strenger Backsteinbau mit Türmchen an allen vier Ecken, der aber nichts von einem anheimelnden Landsitz an sich hat: kein Schild des National Trust, das den Weg zum Café weist, weder sorgsam gepflegte Rasenflächen noch italienisch anmutende Parkanlagen. Stattdessen reicht das Gras bis direkt vor die Haustür, und durch die Fenster im Erdgeschoss schauen die Schafe herein. Falls einmal ein Weg zum Eingang geführt haben sollte, ist er schon vor Jahren, vielleicht auch Jahrhunderten verschwunden. Nelson hält am Straßenrand, und Clough und er nähern sich dem Haus über das Feld.

«Verdammte Hacke», sagt Clough, «das Gras ist ja voller Schafscheiße.»

«Was haben Sie denn erwartet?» Nelson setzt über einen kleinen Bach. Die Schafe mustern ihn mit ihren seltsamen onyxschwarzen Augen.

«Eine ordentliche Auffahrt, wenn Sie so fragen», sagt Clough. «Das würden ein paar Zigeuner doch für ’nen Hunni erledigen.»

Nelson beachtet das nicht weiter, obwohl er weiß, dass er den politisch unkorrekten Ausdruck eigentlich kommentieren müsste, etwa: «Man sagt nicht Zigeuner, sondern Sinti und Roma, wir müssen Respekt für andere Lebensstile aufbringen», et cetera pp. Stattdessen sagt er: «Hoffen wir, dass nach dem Aufwand zumindest jemand zu Hause ist.»

«Aus dem Schornstein kommt Rauch», bemerkt Clough. «Wahrscheinlich verbrennen sie gerade eine Jungfrau, damit die Ernte gut wird.»

«Hätte ich Ihnen bloß nicht erlaubt, Wicker Man zu gucken», brummt Nelson.

Trotz des Rauchs wirkt das Haus zunächst verlassen. Schließlich, nach fast fünf Minuten, wird die schwere Eichentür langsam einen Spaltbreit geöffnet, und eine Frau streckt den Kopf hindurch.

«Ach, da ist doch jemand», sagt sie. «Normalerweise benutzen wir nur die Hintertür.»

«Das war mir nicht klar», sagt Nelson steif. «Ich bin DCI Harry Nelson von der Polizei King’s Lynn, und das ist DS Clough. Wir würden gern mit Mr. oder Mrs. Blackstock sprechen.»

«Dann kommen Sie mal herein», sagt die Frau. «Ich bin Sally Blackstock.»

Unter Mühen macht sie die Tür ganz auf, und Nelson sieht, dass sich im Flur die Umzugskisten stapeln. Offensichtlich stimmt es, dass dieser Eingang nie benutzt wird. Sally Blackstock ist eine attraktive Frau Mitte fünfzig: aschblondes Haar, blaue Augen, ungeschminkt. Auf Nelson wirkt sie wie eine ältere Version von Barbara aus der Siebziger-Jahre-Serie The Good Life.

«Eindrucksvolles Haus», sagt er.

Sally Blackstock lacht. «Ein ziemlicher Mischmasch, um ehrlich zu sein. Erbaut zur Zeit der Tudors, im Bürgerkrieg niedergebrannt und während der georgianischen Zeit wiederaufgebaut. Die Blackstocks bewohnen es seit mehr als fünfhundert Jahren, und es fühlt sich an, als hätten sie uns ihren gesamten Kram dagelassen.» Sie klopft flüchtig auf eine der Umzugskisten.

«Dann sind Sie also gerade beim Ausziehen?», fragt Clough.

Sally lacht erneut. «Schön wär’s! Nein, wir sind beim Ausmisten. Ich bin auf die verrückte Idee verfallen, hier im Haus ein Bed and Breakfast aufzumachen. Und frage mich gerade, worauf ich mich da eingelassen habe. Ein Wahnsinn, das Ganze.»

Während sie Mrs. Blackstock durch einen schier endlosen Flur folgen, kann Nelson dieser Einschätzung nur zustimmen. Die Zimmer im Haus, allesamt groß und gut geschnitten, sind entweder leer oder mit Kisten vollgestellt. Schwer vorstellbar, wie aus diesem Ort eine Oase mit Frühstückstischen und gemütlichen Sofas werden soll. Schließlich biegt Sally aber doch um eine Ecke und führt sie in eine geräumige Küche mit großem Aga-Herd, Lehnstühlen und einem flackernden Feuer.

«Im Grunde bewohnen wir nur diesen einen Raum», sagt sie, als Nelson eine Bemerkung über das Feuer macht. «Der Rest des Hauses ist einfach viel zu kalt. Also, worum geht es?»

Der plötzliche Wechsel von der warmherzigen Fernsehmutter zur Eisernen Lady überrascht Nelson ebenso wie das abrupte Umschalten in einen betont hochgestochenen Patrizierakzent. Im vollen Bewusstsein, dass er wie das Theaterklischee eines Polizisten klingen muss, sagt er: «Wir haben neue Informationen bezüglich eines Mannes, bei dem es sich, wie wir glauben, um ein Mitglied Ihrer Familie handeln könnte. Frederick J. Blackstock.»

Sally Blackstocks Lippen formen ein kleines, rundes O. «Fred?», sagt sie. «Freddy? Aber der ist doch im Krieg umgekommen. Sein Flugzeug ist über dem Meer abgestürzt.»

«Mrs. Blackstock, haben Sie zufällig in der Lokalpresse von einem Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg gelesen, das hier ganz in der Nähe gefunden wurde? Vor circa zwei Monaten, im Juli.»

«Ja, daran erinnere ich mich dunkel.»

«In diesem Flugzeug befand sich ein Toter. Über die Gebissanalyse wurde der Mann gerade als Frederick Blackstock identifiziert. Ich nehme an, es handelt sich um einen Verwandten Ihres Mannes?»

«Ja.» Sally Blackstock fährt sich mit der Hand durch die Haare, sodass sie wie ein kleiner Hahnenkamm abstehen. Sie deutet zerstreut in Richtung der Sessel. «Setzen Sie sich doch bitte, Detective … ähm …»

«Nelson.»

«Richtig. Nelson. Wie der Admiral. Frederick war der Onkel meines Mannes, er ist in den Dreißigern in die USA ausgewandert. Wir wussten, dass er im Krieg umgekommen ist, aber man hat uns gesagt, sein Flugzeug sei ohne Überlebende über dem Meer abgestürzt. Da wird mein Mann aber staunen.»

«Wo ist Ihr Mann denn gerade?» Nelson entfernt verstohlen eine Hundeleine vom Sitz seines Sessels.

«Bei Chaz. Unserem Sohn. Er hat hier in der Nähe einen Schweinehof.» Sie verzieht das Gesicht. «Ich rufe ihn gleich an. Mein Gott, wo ist das Telefon nur wieder? Wir haben hier sehr schlechten Handyempfang», erklärt sie den Polizisten, «deshalb habe ich so ein schnurloses Festnetztelefon, aber das verlege ich ständig.»

Clough stöbert es schließlich unter einem Stapel Ausgaben der Zeitschrift Horse & Hound auf und wird von Sally damit belohnt, dass sie Teewasser aufsetzt. Dann verschwindet sie in der Speisekammer, und sie hören, wie sie ihrem Mann eine Nachricht hinterlässt. «Liebling, hier ist etwas ganz Erstaunliches vorgefallen.» Nelson und Clough wechseln einen Blick.

Sally kehrt ohne Telefon in die Küche zurück. Nelson überlegt, wo sie es wohl hingelegt hat und ob sie es jemals wiederfinden wird. Doch Mrs. Blackstock ist mit einem Mal die Liebenswürdigkeit in Person. Sie lehnt sich an den Herd und strahlt die beiden Polizisten an. «Wissen Sie», sagt sie behaglich, «es waren drei Brüder. Soll ich Ihnen die Geschichte erzählen?»

«O ja, bitte», sagt Nelson und versucht, dabei nicht zu klingen, als wäre er noch im Kindergarten. Wie es Katie wohl geht? Vielleicht bekommt sie ja auch gerade eine Geschichte erzählt. Er merkt, wie Clough sich das Lachen verbeißt.

«Lewis war der Älteste. Er hat im Krieg gekämpft und kam in Japan in Gefangenschaft. Nach allem, was man hört, muss es dort schrecklich für ihn gewesen sein. Jedenfalls war er danach nie mehr der Alte und ist um 1950 herum einfach verschwunden.»

«Verschwunden?», wiederholt Clough.

«Ja. Alle glaubten, er habe sich umgebracht, aber keiner hat das je laut geäußert. George, mein Schwiegervater, sagt, es war eine furchtbare Zeit. Seine Mutter konnte nie akzeptieren, dass Lewis nicht mehr da war, und wurde selbst ein bisschen plemplem. Aber irgendwann mussten sie sich doch eingestehen, dass er nicht mehr zurückkommt, und in den Sechzigern haben sie ihn dann für tot erklärt.»

«Und Frederick ist schon im Krieg umgekommen?»

«Ja. Er war der Zweitälteste der Brüder. Er hat es hier nie ausgehalten, so erzählt George es immer. Er hat behauptet, der Grund und Boden der Blackstocks sei verflucht. Anscheinend hatte er eine ebenso lebhafte Phantasie wie seine Mutter. Und deshalb ist Frederick nach Amerika ausgewandert und hat für die U.S. Air Force gekämpft. Er starb 1944 und ließ George als einzigen Erben zurück.»

«Ihren Schwiegervater?»

«Richtig. Er hatte nie mit dem Erbe gerechnet, weil er ja der Jüngste war, aber er hat versucht, etwas aus dem Haus zu machen. Mein Mann ist sein einziges Kind. Er heißt auch George. Der junge George, obwohl er schon auf die sechzig zugeht.» Sie lacht und nimmt den pfeifenden Wasserkessel vom Herd.

«Dann wurde der Familie also mitgeteilt, Fredericks Flugzeug sei über dem Meer abgestürzt?» Nelson gibt sich Mühe, nicht hinzuschauen, wie Sally das kochende Wasser in die Teekanne schüttet. Sein polizeiinterner Erste-Hilfe-Kurs liegt schon lange zurück, und er kann sich nicht erinnern, was bei Verbrühungen zu tun ist.

«Ja.» Sally schenkt Tee aus und stellt nach mehrminütiger Suche auch eine Keksdose auf den Tisch. «Darum verstehe ich auch nicht, wie man ihn in dem Flugzeug auf dem Feld gefunden haben soll.»

«Das verstehen wir auch nicht», entgegnet Nelson langsam. Die Herkunft des verschütteten Flugzeugs ließ sich relativ leicht zurückverfolgen. Die Einsitzermaschine, eine Curtiss P-36 Mohawk D (wie Dog), war im September 1944 während eines Gewitters abgestürzt. Der Pilot hatte noch den Schleudersitz betätigt und war tot auf einem angrenzenden Feld aufgefunden worden. Das Flugzeug stürzte in einen stillgelegten Steinbruch und wurde aufgrund des heftigen Regens praktisch sofort von einem Erdrutsch verschüttet. Vor dem Hintergrund, dass der Pilot bereits gefunden war, wurde kein Versuch gemacht, die Maschine zu bergen. Oberleutnant Frederick Blackstock hingegen hatte beim besten Willen nichts mit dieser D (wie Dog) zu schaffen. Er gehörte zur zehnköpfigen Besatzung einer B-17, die eine Woche zuvor über dem Ärmelkanal abgeschossen worden war.

«Und das ist mit ein Grund, warum wir hier sind», fährt Nelson fort und sieht zu, wie Clough sich zwei Kekse nimmt, die praktischerweise aneinanderkleben. «Wenn Ihr Mann einem DNA-Test zustimmen würde, könnten wir zweifelsfrei belegen, dass Frederick Blackstock wirklich zur Familie gehört.»

«Damit ist er sicher einverstanden», sagt Sally. Sie hebt den Blick nach oben. «Wenn ich das alles bloß George erzählen könnte! Dem alten George, meine ich.»

Allmählich wird ihr Verhalten ein wenig unheimlich. Warum schaut sie denn bloß nach oben? Will sie andeuten, dass der alte George vom Himmel auf sie herabschaut?

«Wann ist George, also der alte George, denn gestorben?»

Sally lacht schon wieder. Auch das Lachen wirkt langsam enervierend. «Oh, der ist nicht tot, Detective Nelson. Er ist oben und hält sein Vormittagsschläfchen.»

2

Ruth ist schon früh wieder an der Schule und muss zu ihrer Überraschung feststellen, dass sie keineswegs die Einzige ist. Vor der Tür der Vorschule hat sich ein Knäuel Mütter versammelt. Und sie scheinen sich alle untereinander zu kennen, lachen und tauschen mit Belohnungsleckereien vollgestopfte Bäckertüten aus. Es sind auch viele kleinere Kinder zugegen, die in Kinder- oder Sportwagen liegen oder sitzen oder am Schultor herumturnen, trotz der Schilder, die ihnen das verbieten.

Na komm, ermahnt sich Ruth, du musst zumindest versuchen, ein bisschen gesellig zu sein. Das sind die Leute, die Kate zu Geburtstagsfeiern und Spielnachmittagen einladen werden. Im Lauf der Zeit werden sie womöglich deine engsten Freundinnen. Mit liebenswürdigem Lächeln nähert sie sich der Gruppe. Die Mütter drehen ihr ganz beiläufig und unbewusst den Rücken zu, sie sieht nichts als Pferdeschwänze und Jeansjacken. «Ganz so lecker wie die mit der Vanillecreme von Asda sind sie ja nicht», hört sie jemanden sagen. Ruth dreht ab und tritt näher ans Tor. Beschämt merkt sie, dass sie zum zweiten Mal an diesem Tag den Tränen nahe ist.

Doch dann geht die Tür auf, und Mrs. Mannion erscheint lächelnd auf der obersten Treppenstufe. Hinter ihr drängeln sich kleine Gestalten in blauen Sweatshirts. Die Lehrerin achtet sorgsam darauf, dass jedes Kind dem richtigen Elternteil zugeführt wird, und Ruth ist erstaunt, wie unbeteiligt manche Mütter wirken. Sie schieben ihren Kinderwagen in Richtung Tor und plaudern weiter mit ihren Freundinnen, und das fünfjährige Kind trottet hinterher. Wissen sie denn nicht, wie bedeutsam dieser Tag ist? Doch natürlich haben einige dieser Frauen das Ganze schon zwei-, dreimal absolviert. Ruth hat nur diese eine Chance, es richtig zu machen.

Kate kommt als Fünfte nach draußen. Sie hüpft die Stufen hinunter. «Mum, wir haben Musik gemacht, und ich habe das Tampolin gespielt!» Über Kates (jetzt deutlich zerzausten) Kopf hinweg fängt Mrs. Mannion Ruths Blick auf. «Sie hatte einen tollen Tag. Sie fügt sich hervorragend ein.»

«Vielen Dank», sagt Ruth und ist mindestens so froh über den zugleich herzlichen und professionellen Ton wie über die eigentliche Aussage.

«Komm, Kate. Wir fahren nach Hause. Ich habe Crumpets besorgt.»

Kate macht einen kleinen Freudensprung. Crumpets liebt sie besonders.

«Was gab es denn zum Mittagessen?», fragt Ruth, während sie sich einen Weg durch den Strom von Eltern bahnen, der jetzt auf die Grundschule zuhält.

«Fleisch», antwortet Kate knapp. «Das war eklig. Kann ich morgen Sandwiches haben?»

 

Unweit des Tors einer anderen Schule, und zwar in King’s Lynn, sind Nelson und Clough durch die gebieterische Geste eines Schülerlotsen zum Halten gezwungen worden. Sie haben kein Blaulicht auf dem Dach ihres Wagens, und Nelson hat auch gar nichts dagegen, zu warten und den Kindern zuzusehen, wie sie beladen mit Bildern, Turnschuhen und Kunstwerken aus zerknautschten Taschentüchern über die Straße wanken. Wie können sie bloß am ersten Schultag schon so viel Zeugs ansammeln?

«Katie hat heute ihren ersten Schultag», sagt er zu Clough. Sein Team weiß über Kate Bescheid, es kommt aber selten vor, dass Nelson sie direkt erwähnt.

Clough nimmt es ganz gelassen. «Meine Güte! Das geht alles so schnell.» Cloughie mag Kinder. Das ist Nelson schon häufig aufgefallen. Er sollte sich wirklich endlich ein nettes Mädchen suchen und eine Familie gründen. Nelson hatte zwar nicht viel für Trace, Cloughs Exfreundin, übrig, doch seit der Trennung war da nichts Ernstes mehr. Dafür einiges Beiläufiges, wenn man dem Revierklatsch Glauben schenkt, was Nelson nach Möglichkeit vermeidet. Dann sagt er sich, dass er Cloughs Boss ist und nicht die kuppelnde Alte aus Anatevka (das Stück hat er sich damals anschauen müssen, als Rebecca bei der Schulaufführung mitspielte).

«Was halten Sie denn von unserem Piloten?», fragt er. «Der im falschen Flugzeug gelandet ist.»

«Fred?», fragt Clough zurück. Er nennt die Opfer immer gern beim Vornamen.

«Ja. Frederick Blackstock. Einer der drei Blackstock-Brüder. Zwei tot, der dritte etwas gaga.»

Gegen Ende der Unterredung in Blackstock Hall ist auch der alte George auf der Bildfläche erschienen. Er war zwar nicht direkt gaga, wirkte aber durchaus verwirrt und sogar feindselig.

«Was ist hier los, Sally? Ich habe Stimmen gehört.»

«Die Polizei ist hier, Dad. Sie wollen mit uns über das Flugzeug reden, das in Devil’s Hollow gefunden wurde.»

Sallys Ton klang sanft, versöhnlich. Der junge George, der wenige Minuten vorher eingetroffen war, schwieg. Nelson registrierte, dass Sally ihren Schwiegervater «Dad» nannte. Er selbst hat es nie über sich gebracht, seine Schwiegermutter mit «Mum» anzureden, vielleicht deshalb, weil er selbst noch eine Mutter hat und ihm das dann doch zu viele Mutterfiguren sind. Außerdem registrierte er den unheilvollen Namen des Felds: «Devil’s Hollow». Teufelssenke. Heiliger Bimbam!

«Was hat das denn mit uns zu tun?», wollte der alte George wissen. «Das Land gehört uns ja gar nicht mehr. Das haben wir doch diesem Bauunternehmer verkauft, oder nicht? Chaz hat einen Mordsaufstand deswegen gemacht.»

«Wir haben es an Edward Spens verkauft», sagte Sally. «Ein sehr netter Mann.»

Der alte George grunzte nur, doch der Name Edward Spens schien ihn immerhin ein bisschen zu besänftigen. Wahrscheinlich war er froh, dachte Nelson, dass das Land an jemanden mit dem passenden Akzent gegangen war. Er erinnerte sich noch gut an seine eigenen Begegnungen mit der Familie Spens. Man konnte über die Angehörigen der Upper Class sagen, was man wollte, sie hielten auf jeden Fall zusammen.

Jetzt sagt er: «Die Frage ist doch: Wo wurde Freds Leiche die ganze Zeit versteckt? Und wer ist auf die grandiose Idee gekommen, sie in dieses Flugzeug zu setzen?»

«Ich dachte, da ist Ruth dran», sagt Clough.

«Sie hat Proben zur Analyse geschickt», sagt Nelson. «Sie meint, die Tests könnten uns vielleicht sagen, ob die Knochen vorher schon anderswo gelegen haben, in welcher Sorte Boden und so weiter. Der Mist ist nur, dass das alles so lange dauert.»

Nelson wartet grundsätzlich sehr ungern und erst recht auf Ergebnisse forensischer Tests. Er erinnert sich noch an seine Anfangszeit bei der Polizei in Blackpool, als sie einfach einen blutverschmierten Beutel an das interne Team weitergaben: «Forensiert das mal kurz, ja?» Heute muss alles an private forensische Institute geschickt werden, und wenn die Ergebnisse kommen, sind sie mit so vielen «Vielleichts» und «Mutmaßlichs» gespickt, dass sie vor Gericht praktisch nicht zu gebrauchen sind.

«Wozu die Hektik?», fragt Clough, was sich durchaus auch auf den Fahrstil seines Chefs beziehen kann. Von der mahnenden Lotsenkelle befreit, brausen sie jetzt durch die Vororte von King’s Lynn. «Der Typ ist seit siebzig Jahren tot. Da war Ruth sich doch ziemlich sicher.»

«Aber irgendwer hat ihn vor nicht allzu langer Zeit in das Flugzeug gesetzt. Warum?»

«Um das Bauvorhaben zu stoppen? Gab es da nicht ein bisschen Ärger?»

Nelson fragt sich, ob sein Sergeant wohl versucht, witzig zu sein. «Ein bisschen Ärger» ist kaum eine angemessene Beschreibung für die erbitterten Streitereien, die den Sommer über in den Lokalzeitungen stattgefunden haben. Soweit Nelson das nachvollziehen kann, ist das Feld (Devil’s Hollow, Herr im Himmel!) sowohl historisch als auch ökologisch von größtem Interesse. Es befindet sich sehr nah an der Stelle, wo Ruth ihr Bronzezeitskelett gefunden hat, und viele, einschließlich Ruth, vermuten, dass dort mal ein Friedhof aus Hügelgräbern gewesen ist. Außerdem bietet es anscheinend mehreren seltenen Pflanzen- und Vogelarten eine Heimat. Es gab auch (heftig dementierte) Gerüchte, dass ein Energiekonzern dort bohren und dafür die umstrittene Frackingtechnik verwenden wolle. Nelson fällt wieder ein, dass Chaz, der Sohn der Blackstocks, dagegen war, das Feld zu verkaufen.

«Ich glaube, als Nächstes sollten wir bei Chaz vorbeischauen», sagt er.

«Hat der nicht einen Schweinehof?» Clough verzieht das Gesicht.

«Ein bisschen Schweinemist hat noch keinem geschadet.» Nelson biegt in die Einfahrt des Polizeireviers ein. «Sie sind doch selber ein Landei.»

Clough gibt keine Antwort. Nelson überlegt schon, ob er ihn mit der Bezeichnung vielleicht gekränkt hat – Clough investiert schließlich viel Energie, um urban und trendy zu wirken –, doch wie so oft unterschätzt er seinen Sergeant. Clough hat nur nachgedacht.

«Wo ist dieser Schweinehof noch mal? In Lockwell Heath? Richtung Brancaster?»

«Genau.»

«War da nicht der Flugplatz? Der amerikanische Luftwaffenstützpunkt?»

«Stimmt», sagt Nelson. «Laut dem War Office wird das Gelände jetzt wieder landwirtschaftlich genutzt.»

«Vielleicht zur Schweinezucht?»

«Kein schlechter Ansatz, Cloughie. Wir fahren morgen hin und schauen uns diesen Chaz mal an.»

 

Als sie ins Revier kommen, sitzt Detective Sergeant Judy Johnson auf dem Platz des diensthabenden Beamten (mit sichtlicher Anstrengung, denn sie ist hochschwanger).

«Wo kommt ihr denn her?»

«Aus Blackstock Hall», sagt Nelson. «Danach waren wir noch drüben in Eye, wegen dieser Drogensache. Steht alles im Protokoll.» Sein Ton ist defensiv, weil sein Vorgesetzter, Superintendent Gerry Whitcliffe, ihm nicht selten Mangel an Kommunikation vorwirft.

«Kaum seid ihr mal fünf Minuten weg», sagt Judy, «schon regt sich wieder jemand auf.»

«Wer ist es denn diesmal?» Clough beobachtet argwöhnisch, wie Judy sich vom Stuhl erhebt. Er lebt in der ständigen Angst, dass bei ihr verfrüht die Wehen einsetzen könnten.

«Ein gewisser George Blackstock», sagt Judy. «Vor etwa einer Stunde hat er hier angerufen und behauptet, ihr hättet seine Familie schikaniert.»

«So, hat er das?», sagt Nelson. «Na, dann soll er sich mal warm anziehen.» Dann fällt ihm etwas ein. «War es der alte oder der junge George?»

«Für mich klang er ziemlich alt.» Judy steuert die Treppe an.

«Solltest du nicht lieber nach Hause gehen?», fragt Clough. «Dich ein bisschen hinlegen?»

Judy lächelt. «Keine Sorge, Cloughie. Cathbad hat das Geburtshoroskop erstellt, und er sagt, das Baby wird später kommen.»

Nelson und Clough wechseln einen Blick. «Ist Cathbad jetzt unter die Hebammen gegangen?», fragt Nelson. Wenn er ehrlich ist, würde es ihn gar nicht wundern, wenn Cathbad irgendeinen schrägen Kurs zum Thema «Hausgeburt in Eigenregie» belegt hätte. Cathbad, Judys Lebensgefährte, ist Druide und besitzt die seltsame Fähigkeit, immer im richtigen oder zumindest im dramatischsten Moment aufzutauchen. Nelson erinnert sich, dass er auch bei Ruth war, als sie Katie bekommen hat.

«Nein», entgegnet Judy würdevoll, «aber er hat nun mal ein Gespür für solche Dinge.»

Und das kann in der Tat niemand bestreiten.

3

Cloughs Ahnung erweist sich als richtig. Als Nelson mit dem Wagen Lockwell Heath überquert, sieht er reihenweise Schweineställe, die sich wie lauter kleine «m» vor dem Himmel abheben, während im Vordergrund unverkennbar der ehemalige Kontrollturm aufragt, ein quadratisches Bauwerk mit einem sechseckigen Tower darauf. Türen und Fenster sind mit Platten verrammelt, doch die rostige Wendeltreppe außen am Turm ist noch da. Auf die Mauer ist das Wort «Bombengeschwader» gesprüht. Nelson hält an und wechselt einen Blick mit Clough. Das Bauwerk strahlt etwas zutiefst Ergreifendes aus: so eindeutig verlassen, genauso eindeutig aber einst von lebenswichtiger Bedeutung. Der Wind, der mit voller Kraft über die ebenen Felder fegt, rüttelt an den Holzplatten, als wollte jemand von drinnen ins Freie gelangen. Am Himmel hängen düstere graue Wolken.

«Meine Fresse», sagt Nelson. «Was für ein gruseliger Ort!»

«Es gibt in Norfolk viele solcher verlassenen Flugplätze», sagt Clough. «Sie werden Geisterfelder genannt.»

Geisterfelder. Nelson neigt nicht zu überspannten Ideen, aber einen Moment lang denkt er sich den Himmel voll schwerer Kampfflieger aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich in die Wolken erheben und auf das Meer zuhalten. Er stellt sich die Männer im Kontrollturm vor, beim letzten Funkkontakt mit den Piloten, ohne zu wissen, ob sie jemals zurückkehren werden.

Cloughs Stimme holt ihn wieder auf den Boden zurück. «Das war wahrscheinlich mal die Startbahn.» Er deutet auf den breiten Betonweg vor ihnen.

«Glaube ich auch.» Nelson lässt den Motor wieder an. Im Näherkommen bemerken sie zwei gewaltige Wellblechschuppen, beide groß genug, um ein Flugzeug zu beherbergen.

«Hangars», kommentiert Clough.

«Chaz nutzt offenbar alles, was er vorgefunden hat.»

«Schweine auf einem Flugplatz», sagt Clough. «Kommt mir irgendwie nicht richtig vor.»

«Wenn Schweine fliegen könnten», brummt Nelson finster.

Chaz Blackstock, der jetzt vom Größeren der beiden Schuppen her auf sie zukommt, könnte ohne Weiteres auch in einem Film über Kampfpiloten mitspielen. Er hat sogar die richtige Lederjacke dafür an. Außerdem ist er groß und dunkelhaarig und strahlt eine mühelose Autorität aus. Nur das schulterlange Haar verweist auf das einundzwanzigste Jahrhundert. Nelson ist vollauf bereit, Chaz auf den ersten Blick nicht leiden zu können, doch die Stimme entwaffnet ihn. Chaz spricht nicht mit dem hochgestochenen Akzent seiner Eltern, sondern vielmehr leise und zögernd und mit mehr als einem Hauch von Norfolk um die Vokale.

«Detective Chief Inspector Nelson? Freut mich, Sie kennenzulernen.»

«Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen. Das ist Detective Sergeant Clough.»

Die beiden jüngeren Männer nicken einander zu. Nelson sieht, dass Clough alles daransetzt, nicht durch die Nase zu atmen. Der Schweinegeruch ist durchdringend.

«Sie wissen, warum wir hier sind?»

«Ja. Weil Onkel Freds Leiche gefunden wurde. Was für eine historische Wendung!»

«Das können Sie laut sagen», erwidert Nelson, obwohl er den Ausdruck selbst nie benutzt hätte. «Können wir uns irgendwo unterhalten?»

«Ja. Im Haus. Es sind nur ein paar Schritte, gleich hinter dem nächsten Feld.» Er deutet auf ein niedriges, längliches Gebäude, das sich ins Gras zu ducken scheint, als wollte es dem Wind entkommen.

«Ganz schön zugige Gegend», sagt Nelson, als sie losgehen.

«Ja», erwidert Chaz. «Ich würde wirklich gern ein paar Windräder aufstellen. Es ist so phantastisch flach hier.»

Flach ist es allerdings, auch wenn es Nelson schwerfällt zu erkennen, was daran phantastisch sein soll. Der ganze Ort strahlt etwas Trostloses aus, der verrammelte Turm wie ein Wachposten am Tor, der Wind, der mit grellen Klagelauten durch die Wellblechbauten fährt. Und die Schweine, die in ihren Gehegen schmatzen und grunzen, machen es auch nicht besser.

«Was ist denn jetzt in den alten Hangars?», fragt Clough, der mit vorsichtigen Schritten neben Nelson hergeht. Vom Schaf- zum Schweinemist, denkt Nelson. Clough sollte wirklich nicht immer so teure Schuhe tragen. Zumal sie auch nur aussehen wie Turnschuhe.

«Abferkelbuchten», sagt Chaz, «Aufenthaltsräume für die Sauen, Ferkelbetten, Absetzställe.»

Nelson überlegt, ob er wirklich richtig gehört hat. Aufenthaltsräume für die Sauen?

«Wie groß ist Ihr Zuchtbetrieb?», fragt er schließlich.

«Etwas über fünf Hektar», sagt Chaz. «Klein, aber ein perfektes Gelände.» Er lächelt sehr charmant und lässt dabei eine Lücke zwischen den Vorderzähnen sehen. «Wissen Sie, es war schon immer mein Traum, so einen Betrieb zu haben.»

Das hat ihnen seine Mutter schon erzählt. «Für die Schule hat Chaz sich nie interessiert. Klug genug war er natürlich, aber er ließ sich einfach nicht motivieren. Er wollte immer nur seinen eigenen Hof haben.»

«Na, das Ziel hat er ja erreicht», entgegnete Nelson. «Das gelingt auch nicht vielen.»

«Stimmt», sagte Sally, doch sehr überzeugt klang sie nach Nelsons Ansicht nicht. Chaz’ Schwester Cassandra ist anscheinend Schauspielerin und macht «experimentelles Theater in Lincoln». Nelson fand, dass Sally auch darüber nicht allzu begeistert klang.

Chaz allerdings zeigt einen fast schon rührenden Stolz auf seine windumtoste Ansammlung von Wirtschaftsgebäuden. Auch das Haus, einen Sechziger-Jahre-Bungalow, der dringend neu gestrichen und renoviert gehört, präsentiert er ihnen, als wäre es ein Palast. Als wäre es Blackstock Hall, um genau zu sein.

«Da ist es ja, das alte Gehöft. Gehen wir doch in die Küche. Dort ist es gemütlicher.»

Gemütlich ist nicht unbedingt das Wort, das Nelson für die Schränke mit den durchhängenden Brettern, den rostigen Herd und das Sammelsurium von Stühlen gewählt hätte, doch immerhin sind sie vor dem Wind geschützt. Chaz setzt Wasser auf, und Clough versucht unauffällig, Schlamm (oder Schlimmeres) von seinen Schuhen zu kratzen.

«Also … Chaz», setzt Nelson an. Er ist explizit aufgefordert worden, ihn so anzusprechen, trotzdem fühlt es sich irgendwie falsch an. «Sie haben ja schon gehört, dass der Tote aus dem Flugzeug eindeutig als Ihr Großonkel Frederick Blackstock identifiziert wurde?»

«Ich dachte, Sie machen noch irgendeinen DNA-Test mit Dad?»

«Stimmt. Das dient nur dazu, die Verwandtschaft noch einmal zu bestätigen, aber die Gebissanalyse ist schon recht eindeutig.»

«Keiner von uns kann verstehen, wie er in das Flugzeug gekommen ist.» Chaz holt ein paar zusammengewürfelte Becher aus dem Schrank. «Wir haben alle gedacht, sein Flugzeug wäre über dem Meer abgestürzt.»

«Von wem wissen Sie das?»

Chaz runzelt die Stirn. «Ich glaube, von Dad. Vielleicht auch von Grandpa. Er hat früher manchmal vom Krieg erzählt.»

Nelson hat nichts mehr vom alten George gehört, seit dieser sich über die Schikane der Polizei beschwert hat. Aus Nelsons Sicht handelt es sich dabei um eine höchst extreme Reaktion auf eine harmlose Befragung. Warum sich der Alte wohl so bedroht fühlt?

«Ihr Großvater hat erwähnt, dass Sie gegen den Verkauf des Feldes gewesen sind, auf dem das Flugzeug gefunden wurde.»

Chaz zögert mit der Antwort, vielleicht ist er auch einfach nur damit beschäftigt, den Tee auszuschenken. Als er ihnen die Becher hinstellt, sagt er, ohne etwas von seiner zögerlich-charmanten Art zu verlieren: «Ja, ich war dagegen. Ich weiß natürlich, dass die Altvorderen das Geld brauchen, aber es reißt doch den Besitz auseinander.»

«Es reißt den Besitz auseinander.» Eine altmodische Wendung, wie sie im Buche steht. Aber natürlich wird dieser Besitz einmal an Chaz gehen. Oder ist Cassandra die Ältere? So oder so kommt höchstwahrscheinlich irgendein feudales Prinzip zum Tragen, das dem Sohn den Vorzug vor der Tochter gibt.

«Und dann noch Edward Spens, dieser grauenvolle Mensch.» Chaz setzt sich an den Küchentisch. Er zieht die Jacke aus, sein Pullover hat Löcher an beiden Ellbogen. «Er will auf dem Gelände Mietshäuser bauen. Hunderte hässlicher kleiner Hühnerställe.»

Mit Schweineställen wäre er vermutlich absolut einverstanden, denkt Nelson.

«Aber immer noch besser als Fracking, oder?», sagt Clough. Nelson ist erfreut zu sehen, dass er sich in der Sache schlaugemacht hat.

«Ich weiß es nicht.» Chaz fährt sich mit beiden Händen durchs Haar. Sosehr er seine dichten Haare auch verwuschelt, sie fallen ihm immer wieder mit der perfekten Hugh-Grant-Welle in die Stirn. «Beim Fracking wohnen am Ende zumindest nicht Hunderte Leute quasi bei uns im Vorgarten.»

An dieser Aussage findet Nelson einiges interessant. Erstens hat Chaz trotz aller Löcher im Ärmel noch genug von einem Gutsbesitzer an sich, um sich daran zu stören, dass ganze Horden von Plebejern vor seiner Tür stehen. Und zweitens wohnt er zwar längst nicht mehr in Blackstock Hall, sondern auf dem Hof, den er sich immer erträumt hat – spricht aber nach wie vor von «unserem» Vorgarten.

«Wann waren Sie zuletzt in Devil’s Hollow?», fragt Nelson. Es fällt ihm weiterhin schwer, den Namen mit ernster Miene auszusprechen. «Sind Sie, seit das Land verkauft ist, noch mal dort gewesen?»

«Ein-, zweimal bin ich hingegangen», sagt Chaz. «Ich wollte einfach sehen, was Spens da treibt. Er behauptet, er wolle gar nicht so viele Häuser auf das Grundstück stellen, dabei sieht ein Blinder mit Krückstock, was er vorhat. Ich habe mich mit diesem einfältigen Baggerführer unterhalten, und der hat zugegeben, dass man ihnen gesagt hat, sie sollten das Feld so schnell wie möglich einebnen.»

«Sie haben mit dem Baggerführer geredet? Wann denn? Ich dachte, die Arbeiten hätten gerade erst angefangen, als das Flugzeug aufgetaucht ist.»

«Das weiß ich nicht mehr.» Chaz wendet sich ab und streicht sich die Haarsträhne zurück, sodass sie wieder perfekt fällt. «Kann sein, dass es sogar am Morgen des Tages war, an dem Onkel Fred gefunden wurde.»

«An diesem Morgen waren Sie dort?»

«Ja, ich glaube schon.»

«Aber das Flugzeug haben Sie nicht gesehen?»

«Nein. Der Mann hatte gerade erst mit der Arbeit angefangen, als ich kam. Es war verflixt heiß an dem Tag. Ich bin nicht lange geblieben.»

«Werden Sie noch mal hingehen, wenn die Arbeiten wiederaufgenommen werden?»

Chaz hebt den Kopf. «Aber sie können die Arbeit doch nicht wiederaufnehmen, solange die polizeiliche Ermittlung noch läuft. Dachte ich zumindest.»

Nelson zuckt die Achseln. «Wir sind so weit durch mit dem Feld. Dr. Galloway hat die Leiche geborgen und die Umgebung geprüft. Das Flugzeug ist auch weg. So, wie ich das sehe, hat Edward Spens das Feld wieder für sich.»

«Und was ist mit der archäologischen Ausgrabung, die in der Nähe stattfindet?», fragt Chaz. «Wurde da nicht auch etwas Bedeutsames gefunden?»

«Ich glaube schon», sagt Nelson. Er weiß noch, dass Ruth ihm irgendwas von einer Leiche aus der Bronzezeit erzählt hat, aber wenn er ehrlich ist, hat er nicht so genau zugehört. Allerdings erinnert er sich, dass sie erzählt hat, das Fernsehen habe Interesse gezeigt.

«Eventuell kommt über die Ausgrabung was im Fernsehen», sagt er. «Habe ich zumindest gehört.»

Chaz strahlt und wird plötzlich wieder ganz herzlich. «Wenn das Fernsehen sich einschaltet, sind alle unsere Probleme gelöst.»

Und Nelson fragt sich, was für Probleme das wohl sein mögen.

 

Auch Ruth denkt gerade ans Fernsehen. Genau genommen denkt sie an Frank Barker, den Akademiker aus Amerika, der die Sendung Mordende Frauen mit ihr gemacht hat. Das hängt damit zusammen, dass sie gerade eine E-Mail von ihm bekommen hat.

Hallo Ruth