Rabenkönig - Elly Griffiths - E-Book
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Rabenkönig E-Book

Elly Griffiths

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Beschreibung

Der spektakulärste Knochenfund ihrer Karriere: die Gebeine von König Artus – Dr. Ruth Galloways fünfter Fall. Der Brief eines Studienfreundes führt die forensische Archäologin Dr. Ruth Galloway an die Nordküste Englands - ausgerechnet dorthin, wo ihre große Liebe DCI Nelson gerade mit seiner Familie Urlaub macht. Dort hat Dan Golding bei einer Ausgrabung eine Sensation entdeckt: Niemand Geringeres als König Artus soll hier begraben liegen. Doch noch ehe Ruth Lancashire erreicht, kommt Dan unter mysteriösen Umständen ums Leben. Wurde er zum Schweigen gebracht? Und bald schwebt auch Ruth in Gefahr. Denn jemand will um jeden Preis verhindern, dass die Wahrheit über den «Rabenkönig» ans Licht kommt «Für alle Archäologie-Fans ein echtes Muss.» Rhein-Neckar-Zeitung

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Seitenzahl: 508

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Elly Griffiths

Rabenkönig

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Tanja Handels

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein neuer Fall für Dr. Ruth Galloway, forensische Archäologin. Und der spektakulärste Knochenfund ihrer Karriere: die Gebeine von König Artus.

«Ich habe die Knochen des Rabenkönigs gefunden, Ruth. Diese Entdeckung wird alles verändern. Trotzdem fürchte ich mich.»

Wenige Tage nach dem Verfassen dieser Zeilen ist Ruth Galloways Studienfreund Dan Golding tot. Kurzerhand reist die forensische Archäologin mit Töchterchen Kate zur Ausgrabungsstätte in den Norden Englands - ausgerechnet dorthin, wo ihre große Liebe DCI Nelson gerade mit seiner Familie Urlaub macht. Als Ruth die Knochen untersucht, ist schnell klar, dass es sich tatsächlich um den legendären König Artus handelt, genannt der Rabenkönig. Doch offenbar will jemand die Entdeckung um jeden Preis vertuschen. Ruth erfährt von der geheimen Bruderschaft «Die weiße Hand» - und wird durch anonyme Nachrichten bedroht. Doch erst als Nelson und sie die ganze Wahrheit über den Rabenkönig herausfinden, begreifen sie, was auf dem Spiel steht.

 

Der 5. Teil der erfolgreichen Krimireihe aus England: für alle Leser von Minette Walters, Deborah Crombie und Ann Cleeves.

Über Elly Griffiths

Elly Griffiths lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Brighton. Bisher sind fünf Krimis mit der forensischen Archäologin Ruth Galloway und DCI Harry Nelson erschienen: «Totenpfad», «Knochenhaus», «Gezeitengrab», «Aller Heiligen Fluch» und «Rabenkönig».

Inhaltsübersicht

WidmungMottoProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. KapitelDanksagungLeseprobe «Engelskinder»

Für John Maxted

und für Sarah und Michael Whitehead

Das Lied noch mal, das starb so schön dahin:

Oh, mir ging’s ein ins Ohr wie lauer Wind,

Der über Beete voller Veilchen raunt

Und Düfte stiehlt und schenkt. Genug, hört auf!

Es hat nicht mehr den Schmelz vom letzten Mal.

William Shakespeare, Was ihr wollt

Prolog

Anfangs hat er nicht einmal Angst. Das ganze Zimmer ist voller Rauch, und als er sich zum Treppenabsatz vorgetastet hat, lässt die Hitze ihn rückwärtstaumeln, bringt seine Augen zum Tränen. Aber es ist ja nur ein Feuer, und er weiß, wie man sich verhalten muss, wenn es brennt, das hat er vor gut dreißig Jahren bei den Pfadfindern gelernt. Außerdem ist das hier ein kleines einstöckiges Haus und nicht das Flammende Inferno (ein Film, den er, wenn ihn nicht alles täuscht, etwa um dieselbe Zeit gesehen haben muss). Er weiß, dass sich das Schlafzimmerfenster nicht öffnen lässt, und das Fenster im Bad ist zu klein, aber die Haustür ist nur wenige Schritte entfernt, gleich unten an der Treppe. Das kann ja wohl nicht so schwer sein. Immer noch ganz ruhig geht er zurück ins Bad und tränkt ein Handtuch mit Wasser, so wie es ihm sein Pfadfinderführer gezeigt hat. Er wickelt sich das Handtuch um Kopf und Gesicht und macht sich auf den Weg nach unten. Es ist schwer, deutlich schwerer, als er sich das vorgestellt hat. Er hat schon von Leuten gelesen, die bei Bränden von der Hitze zurückgedrängt wurden, und insgeheim hat er dann immer gedacht: «Warmduscher. Ist doch nur heiße Luft. Da muss man einfach durch.» Aber das jetzt fühlt sich gar nicht mehr wie Luft an, es ist massiv, und er muss sich mit dem ganzen Körper dagegenstemmen. Nach drei Schritten ist er völlig erschöpft, und die Hitze wird immer stärker. Durch das Handtuch kann er nicht viel sehen, doch er hört das Feuer: ein dumpfes Rauschen, das die ganze untere Etage erfüllt. Er riecht es auch. Es riecht chemisch und bedrohlich.

Dann hört er noch etwas anderes. Martinshörner. Jemand muss die Feuerwehr gerufen haben. Halleluja! Er ist gerettet. Die letzten paar Stufen lässt er sich hinunterfallen, bis direkt vor die Haustür. Der Türknauf ist so heiß, dass seine Hand daran kleben bleibt, doch er lässt nicht los, dreht mit aller Kraft und stemmt dabei die Schulter gegen die Tür. Das Handtuch verrutscht, und plötzlich bekommt er keine Luft mehr. Die ganze Diele ist von dichtem schwarzen Rauch erfüllt, er ringt nach Atem. Mit dem allerletzten Restchen verbliebener Kraft wirft er sich gegen die Tür. Erst da wird ihm klar, dass sie abgeschlossen ist. Von außen.

Jetzt hat er doch Angst.

1

Das Telefon klingelt, als Ruth gerade aus dem Haus will. Sie bleibt auf der Schwelle stehen und überlegt, ob sie es nicht einfach klingeln lassen soll. Alle Freunde haben ihre Handynummer. Wenn das Festnetz klingelt, kann das eigentlich nur ihre Mutter sein oder jemand, der ihr Doppelglasfenster aufschwatzen will, und obwohl tatsächlich sämtliche Fenster ihres Häuschens im Wind rappeln, möchte sie das doch genau so haben, besten Dank auch. Ihre Mutter ruft auch sicher nur an, um sie wieder zu piesacken. («Vorgestern habe ich die Tochter von Janice getroffen, sie ist ja jetzt Ärztin und so was von schlank und attraktiv, dabei hat sie drei Kinder, die alle Geige spielen. Wie läuft es denn mit deiner Diät?») Ruth beschließt, es klingeln zu lassen, doch Kate, ihre achtzehn Monate alte Tochter, flitzt an ihr vorbei und ruft: «Dring-dring!» Dann nimmt sie den Hörer ab und sagt laut und deutlich: «Piss!» Ruth entreißt ihr den Hörer und flucht dabei innerlich auf Cathbad, Kates Taufpaten, der außerdem Druide ist und ihr unlängst die universell einsetzbare Grußformel «Peace!» beigebracht hat.

«Hallo?»

«Ruth?» Am anderen Ende der Leitung hört sie eine Frau lachen. «Hat da gerade jemand ‹Piss› gesagt?»

«Das war Kate.» Ruth geht bereits die innere Kartei ihrer Bekanntschaften durch. Wer kann das sein? Jemand von der Uni? Eine besonders gesprächige Fenstervertreterin? Aber irgendwie kommt ihr die Stimme bekannt vor …

«Ruth», wiederholt die Frau. «Hier ist Caz. Carol.»

Carol. Eine von Ruths besten Freundinnen an der Uni. Archäologiekommilitonin, einstige Mitbewohnerin, loyale Saufkumpanin und Wahrerin zahlloser Geheimnisse. Schuldbewusst erinnert sich Ruth, dass sie Caz anscheinend vergessen hat, als sie letztes Jahr die alten Kontakte auf ihrem neuen Handy gespeichert hat. Seit drei Jahren haben sie nichts mehr voneinander gehört.

«Ich habe versucht, dich auf dem Handy anzurufen», sagt Caz jetzt, «aber da ging keiner ran.»

Was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, dass Ruths altes Handy auf dem Meeresgrund liegt, falls es nicht längst als Strandgut an Land gespült wurde.

«Tut mir leid», sagt Ruth. «Ich habe jetzt ein neues. Und bin wohl mit dem Aktualisieren etwas hinterher.»

«Macht doch nichts», sagt Caz. «Es ist jedenfalls schön, deine Stimme zu hören.»

«Ich freue mich auch, dich zu hören.» Ruth verspürt eine Welle der Zuneigung für Caz, die coole Caz mit ihrer Stoppelfrisur, Expertin für Saufspielchen, Fan von hochexplosiven Cocktails und Trockensteinmauern, Anarchistin und furchtlose Baskenmützenträgerin. Inzwischen arbeitet sie als Steuerberaterin.

«Es tut mir wirklich leid, Ruth.» Alles Lachen weicht aus Caz’ Stimme. «Aber ich habe traurige Nachrichten.»

«Ach herrje.» Wieder geht Ruth eine innere Liste durch, diesmal die ihrer alten Freunde. Ist jemand krank oder gestorben? Sie hat gerade das Alter erreicht, in dem die Freunde plötzlich sterblich werden. Kate kommt schwankend ins Zimmer gestapft; sie hat Flint, Ruths Kater, auf dem Arm. «Oooh, mein Flinty!»

«Lass ihn wieder runter, Kate.» Flint wirft ihr über Kates Schulter hinweg einen leidenden Blick zu.

«Wie bitte?», fragt Caz.

«Entschuldige. Ich habe mit Kate gesprochen.»

«Ach ja, ich hatte schon wieder ganz vergessen, dass du ein Kind hast. Wie alt ist sie jetzt?»

«Fast zwei.» Ruth kommt sich komisch dabei vor, «achtzehn Monate» zu sagen, und außerdem findet sie, dass Caz, die selbst drei Kinder hat, nicht sonderlich interessiert klingt.

«Süß», kommentiert Caz knapp. «Aber was ich sagen wollte. Es geht um Dan. Dan Golding.»

«Dan? Dan the Man?»

Dan Golding. Dan the Man. Der coolste Archäologiestudent aller Zeiten. Der Indiana Jones vom University College London. Ruth hat seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, aber irgendwie war sie immer überzeugt, er müsste unfassbar aufregende Dinge erleben: die verlorene Bundeslade entdecken, in einem Hollywoodfilm die Hauptrolle spielen, Angelina Jolie heiraten.

«Was ist denn mit ihm?», fragt sie.

«Er ist tot», sagt Caz. «Ich habe es in der Zeitung gelesen. Er hat an der Pendle University gearbeitet und ist bei einem Brand ums Leben gekommen.»

«Mein Gott!» Bei allem, was sie sich ausgemalt hat, wäre Ruth nie darauf gekommen, dass Dan Golding etwas so Schlichtem und Verheerendem wie einem Brand zum Opfer fallen könnte. Und die Pendle University? Das ist eine der neueren Universitäten, so wie die University of North Norfolk, an der Ruth arbeitet. An und für sich kein Fehler, nur dass Ruth eben immer dachte, Dan würde nach Cambridge oder Harvard gehen. Oder auf irgendeiner Südseeinsel nach Perlen tauchen.

«Ich wusste gar nicht, dass er an der Pendle ist», kommentiert sie dümmlich.

«Ich auch nicht. Dabei ist das gleich bei mir um die Ecke.» Richtig, Caz wohnt ja im Norden.

«Es war so schrecklich», fährt Caz fort. «Ich habe es gerade in unserer Lokalzeitung gelesen. Daniel Golding, Archäologe, tot aus seinem Haus in Fleetwood geborgen. Erst habe ich es gar nicht gecheckt, weil ich ihn einfach nie als Daniel kannte.»

«Und wie ist es … was ist passiert?»

«In dem Artikel steht nur, dass er bei einem Brand in seinem Haus gestorben ist. Anscheinend ist es komplett ausgebrannt. Sie vermuten, dass ein defektes Stromkabel der Auslöser war.»

Ein defektes Stromkabel. Kann es wirklich sein, dass irgendein dummes Kabel, eine schlecht geerdete Steckdose, irgendein vertauschtes Plus- und Minuszeichen Dan the Man den Garaus gemacht hat? Das erscheint Ruth ganz und gar unmöglich.

«Bist du denn auch sicher, dass er es ist?», fragt sie mit plötzlicher Hoffnung. «Unser Dan?»

«Ja», antwortet Caz traurig. «Ich habe gleich seine Schwester angerufen. Erinnerst du dich an Miriam? Sie war zwei Jahre über uns.»

Ganz verschwommen sieht Ruth sie noch vor sich, eine dunkle, glamouröse Gestalt auf irgendeiner Party. Miriam Golding. Gerüchtehalber soll sie Model geworden sein.

«Wie hast du die denn aufgespürt?»

«Das war nicht weiter schwierig. Sie ist bei Facebook.»

Ruth hat sich nie mit Facebook anfreunden können. Noch so ein Aspekt der modernen Welt, der sie überfordert. Sie begreift einfach nicht, wieso man seine Freunde jedes Mal darüber informieren soll, wenn man sich einen Tee macht. Aber ihr Freundeskreis ist ohnehin klein und handverlesen. Und jetzt noch ein wenig kleiner.

«Die Beerdigung ist morgen», sagt Caz.

«So bald schon?»

«Miriam meint, das sei jüdische Tradition.»

Ruth hat nicht einmal gewusst, dass Dan Jude ist. Als Studenten haben sie nicht viel über Religion geredet – über den Sinn des Lebens natürlich schon, aber nicht über ihren Alltagsglauben. Und Ruth war damals sowieso auf der Flucht vor den Bekehrungsversuchen ihrer Eltern. Wahrscheinlich hätte sie schon bei der bloßen Erwähnung des Wortes mit G sofort die Beine in die Hand genommen.

«Ich wünschte, ich könnte hin», sagt sie und meint das ganz ernst.

«Ja, das verstehe ich. Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, Blumen zu schicken, aber falls doch, dann mache ich das in unser beider Namen.»

«Danke, Caz.»

«Es war schön, mit dir zu reden, Ruth. Es ist schon viel zu lange her.»

«Ja, das stimmt.»

«Vielleicht kommst du ja mal nach Lytham?»

Ruth lacht. «Vielleicht.» Doch im Stillen denkt sie, dass sie nach den Ereignissen der letzten paar Jahre eigentlich schon Reisetabletten braucht, wenn sie sich nur bis zum Schnell-Chinesen vorwagt.

«Oder du kommst nach Norfolk», sagt sie.

Jetzt ist Caz mit Lachen an der Reihe. «Wer weiß? Pass auf dich auf, Ruth.»

 

Während Ruth das Abendessen macht, denkt sie darüber nach, warum ihr Caz im Norden von England so viel ferner vorkommt als ihr Nachbar Bob, der gerade in seiner Heimat Australien ist. Das muss doch mehr sein als bloße geographische Distanz. Tatsache ist, dass sich Caz, seit sie verheiratet ist (mit Pete, einem weiteren Freund aus Studienzeiten) und Kinder bekommen hat, immer mehr von der unverheirateten, kinderlosen Ruth entfernt hat – so, wie vor rund achttausend Jahren der Meeresspiegel anstieg, den Kanal zu einem Meer verbreiterte und Großbritannien vom europäischen Kontinent trennte. Ruth kommt es inzwischen vor, als gehörten sie und ihre Freundin von früher zwei völlig verschiedenen Arten an. Sicher, Ruth hat jetzt auch ein Kind (interessant, dass Caz das vergessen hatte – andererseits kann Ruth es manchmal ja selbst kaum glauben), aber sie definiert sich trotzdem nicht als Mutter und erst recht nicht als Ehefrau, denn das war sie nie. Sie hat ihre Arbeit, und Caz hat, wie die meisten anderen von Ruths früheren Kommilitonen, die Archäologie schon vor langer Zeit für eine lukrativere Karriere aufgegeben.

Es liegt etwas Weltfremdes, fast schon Überspanntes darin, immer weiter zu graben, zu sichten und Vorträge über Faustkeile aus Feuerstein zu halten. Wenn sie es recht bedenkt, dann war Dan wohl der Einzige aus dem Abschlussjahrgang von 1989, der ebenfalls bei der Archäologie geblieben ist. Bis auf Ruth und Dan hat keiner aus ihrem Jahrgang mit Auszeichnung abgeschlossen, doch Ruth glaubt inzwischen, dass sich ihre wahre Leidenschaft für die Archäologie erst entwickelt hat, als sie sich zur Promotion entschloss und den brillanten und charismatischen Professor Erik Anderssen kennenlernte, Erik den Wikinger. Inzwischen ist Erik längst tot. Er sucht sie zwar immer noch in ihren Träumen heim, aber längst nicht mehr so oft wie früher. Und Ruth rackert immer noch im Namen der Archäologie. Sie wundert sich nur, dass Dan einer ähnlich schlecht bezahlten, wenig glanzvollen Tätigkeit nachgegangen sein soll. Und nun ist auch er tot.

Ruth kocht Pasta, und sie essen an einem Plastiktisch im Vorgarten, eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme angesichts der Begeisterung, mit der Kate ihr Essen auf jede verfügbare Fläche schmiert, doch an Abenden wie diesem auch eine echte Freude. Es ist noch hell, aber das Licht wirkt schon weicher, flüssiger. Hinter Ruths Gartenzaun ist das lange Gras bräunlich-golden, hin und wieder blitzt dort, wo das Moor langsam ins Meer übergeht, eine dunkelblaue Wasserfläche auf. In der Ferne glitzert der Sandstrand wie eine Fata Morgana, und noch weiter hinten schwappt, im Gefolge der Seemöwen, die hoch über den Wellen fliegen, das Meer flüsternd ans Land. Ruth wohnt schon seit dreizehn Jahren hier und hat sich an diesem Blick, der einsamen Schönheit des Moores und dem gewölbten Wunder des Himmels, nie sattgesehen. Es ist ein hochgradig isolierter Wohnort: nur drei kleine Häuser am Rand einer Straße, die im Nichts endet. Der eine Nachbar, Bob Woonunga, ist Dichter und australischer Ureinwohner und verbringt einen Großteil des Jahres am anderen Ende der Welt. Das andere Haus ist das Feriendomizil eines Ehepaars, scheint als solches aber weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, obwohl der Sohn hin und wieder mit seinen Studienfreunden aufkreuzt, um ein Wochenende lang zu surfen und lautstarke Partys zu feiern. Inzwischen freut sich Ruth bereits auf diese Wochenenden, auch wenn Flint den Geruch der Joints nicht leiden kann und Kate von den endlosen N-Dubz-Remixes wach gehalten wird.

Bob kommt im Juli wieder, doch Ruth weiß, dass es kaum schöner werden kann als jetzt im Juni. Im August ist der Himmel sicher grau, und die Straßen von King’s Lynn sind voll mit gelangweilten Schulkindern auf der Suche nach Abwechslung. Doch jetzt, mitten im Schuljahr, während eine Klassenarbeit die nächste jagt, scheint die herzlose Sonne unfassbarerweise Tag für Tag. Ruth hat natürlich Mitleid mit den Kindern, doch für sie kommt das schöne Wetter genau zum richtigen Zeitpunkt. Im Juni findet die alljährliche Uni-Ausgrabung statt, die sich dieses Jahr auf eine römische Anlage in der Nähe von Swaffham konzentriert. Ruth unterrichtet forensische Archäologie, ihre Studenten sind fast alle Doktoranden aus Übersee, da wäre es nicht fair, sie im Winter oder auch noch im Frühjahr dem Klima von Norfolk auszusetzen. Die Ausgrabung im Juni ist also ihre erste praktische Aufgabe. Auch für Ruth ist es die erste Ausgrabung seit längerem und dazu noch eine, an der ihr durchaus viel liegt. Die römischen Ruinen, aller Vermutung nach Teil einer größeren Siedlung, wurden von Max Grey entdeckt, einem Archäologen von der Sussex University und Ruths … Doch wie immer, wenn es darum geht, ihr Verhältnis zu Max klar zu benennen, nehmen Ruths Gedanken auch jetzt panisch Reißaus.

Kate hat inzwischen genug mit Pasta um sich geworfen und tapst davon, um Flint zu suchen. Ruth folgt ihr und wirft dabei einen Blick auf die Uhr. Es ist sieben. Wenn sie es schafft, Kate noch eine halbe Stunde wach zu halten, wird ihre Tochter heute Nacht bestimmt durchschlafen. Ruth ist selbst ziemlich müde. Sie hat schon lange keinen ganzen Tag mehr an der frischen Luft verbracht. Das Unterrichten macht ihr Spaß, doch ihre eigentliche Liebe gilt den Ausgrabungen. Sie genießt die Mischung aus akkurater Sorgfalt und anstrengender körperlicher Arbeit, bei der man im einen Moment Erde schippt wie ein Bauarbeiter und gleich darauf vorsichtig den Sand von einem winzigen Stück Knochen pinselt. Der Anblick eines ordentlich ausgehobenen Grabens mit schnurgeraden Rändern, der die einzelnen Bodenschichten klar erkennbar freilegt, ist ein Genuss für sie. Sie kann sich noch genau erinnern, wie sie hier, im Salzmoor, die Leiche eines kleinen Mädchens aus der Eisenzeit gefunden hat, um dessen Handgelenk noch ein Armband aus Gras lag. Das war der Tag, an dem sie auch DCI Harry Nelson kennengelernt hat.

Kate hat Flint im Garten hinter dem Haus entdeckt und jagt ihn jetzt durch die Brombeerbüsche. Ruth setzt sich ins Gras und sieht den beiden zu. Sie denkt an Max, an Nelson und an Dan. In Dan war sie nie verliebt, doch gerade erscheint ihr die Freundschaft zu ihm von eindringlicherer Süße als jede Liebesbeziehung. Sie sieht sein Gesicht noch ganz deutlich vor sich, während es ihr schwerfallen würde, sich Peter vor Augen zu rufen, den Mann, mit dem sie fast zehn Jahre lang zusammengelebt hat. Ebenso scheinen ihr die Studienjahre plötzlich in ein Licht getaucht, das um vieles heller strahlt als das Dämmerlicht hier im Garten. Sie denkt an den Gordon Square, an die Kneipe der Studentenvereinigung, wo man ein Pint Bier für ein Pfund bekam, an den Nachtbus, an Bilals Kebab-Laden, das Radio an stillen Nachmittagen, Sonia mit ihrem Hit «You’ll Never Stop Me Loving You». Warum hat sie bloß nicht mehr Kontakt zu Dan gehalten? Sie weiß, dass sie, als Arbeitertochter aus dem Süden Londons, immer einen gewissen Respekt hatte vor ihm, dem Sohn wohlhabender Intellektueller aus Islington. Dan spielte Klavier, fast schon auf Konzertniveau, er konnte in mehreren Sprachen schweinische Witze erzählen und hatte ein Jahr lang in Japan Englisch unterrichtet. Sie waren Freunde und Kommilitonen, aber in jeder anderen Hinsicht lagen Welten zwischen ihnen. Wann hat sie Dan eigentlich das letzte Mal gesehen? Wahrscheinlich bei Caz’ Hochzeit. Sie weiß noch, wie er auf dem Klavier herumklimperte, eine schöne junge Frau neben sich, die sich wie eine Stola um seine Schultern schmiegte. «Meld dich mal», hat er zu ihr gesagt und seine Telefonnummer auf eine herausgerissene Seite seines Scheckbuchs gekritzelt. Sie hat die Seite jahrelang aufgehoben (ein Scheckbuch! Wer schreibt heute noch Schecks aus?), die Nummer aber nie gewählt.

Kate fängt an zu heulen, weil sie sich an einer Brombeerranke gekratzt hat, und Ruth bringt sie nach oben, um sie in die Badewanne zu stecken. Flint folgt ihnen. Es ist Ruth schon öfter aufgefallen, dass der Kater zwar die meiste Zeit damit verbringt, vor Kate zu flüchten, sich aber trotzdem gern in ihrer Nähe aufhält. Zum Baden und für die Gute-Nacht-Geschichte kommt er immer mit nach oben, und meistens schläft er auch im Flur vor Kates Tür. Das strenge Abendritual ist eine relativ junge Neuerung, und Ruth ist wild entschlossen, es durchzuziehen. Durch die Regelung, dass um halb acht schlafen gegangen und um acht das Licht ausgemacht wird, ist es ihr gelungen, sich zumindest einen Teil des Abends zurückzuerobern. Den ganzen Tag freut sie sich schon darauf, sich mit einem Glas Wein und angenehm schweren Gliedern hinzusetzen, irgendwelchen Quatsch im Fernsehen zu schauen und über die Ausgrabung nachzudenken. Wobei ihr klar ist, dass sie heute wohl stattdessen an Dan denken wird – an damals, als er sich als Margaret Thatcher verkleidet hat, um beim Vortrag eines bekannten Gastdozenten für Unruhe zu sorgen, an das Mal, als er angeblich einen Pinguin aus dem Zoo entführt haben soll, an die erstaunliche Anzahl von Bowie-Songs, die er auswendig konnte, und daran, wie er Ruth einmal – von billigem Pernod besäuselt – in der Buslinie 68 nach Camberwell Green geküsst hat.

Heute Abend verläuft das Ritual reibungslos. Kate ist bereits eingeschlafen, noch ehe Ruth mit dem bewusst ausdruckslos gehaltenen Vorlesen von Doras Abenteuern fertig ist. Auf Zehenspitzen schleicht sie nach unten. Während sie sich ein Glas Wein einschenkt, überlegt sie, dass sie die Freundschaft mit Dan, diese Nähe zu einem wahrhaft ungewöhnlichen, anarchischen Geist gar nicht richtig genutzt hat. Sie hätte Kontakt zu ihm halten sollen; letztendlich hätten sie doch sicher viel gemeinsam gehabt. Klassenunterschiede verschwinden mit den Jahren, und außerdem zählt sie selbst schon lange zur Mittelschicht: Sie hört den staatlichen Kultursender, liest den Guardian. Es ist Jahrzehnte her, seit sie das letzte Mal einen Cockney-Ausdruck verwendet hat. Sie hätten sich über Archäologie unterhalten, sich gegenseitig zu Vorträgen an ihre Universitäten einladen können. Und vielleicht wäre Dan, wenn Ruth Kontakt zu ihm gehalten hätte, auf irgendwelchen verschlungenen Wegen auch nicht bei einem Hausbrand umgekommen, fernab von allen, die ihn kannten und mochten. Sie hätte Dan eine bessere Freundin sein müssen, doch dafür ist es jetzt zu spät. Sie wird nie wieder etwas von ihm hören.

Am nächsten Tag bekommt sie einen Brief von ihm.

2

Der Brief ist von der Universität an ihre Privatadresse weitergeleitet worden:

Hi, Ruth,

ich bin’s, Dan. Ich hoffe nur, du weißt noch, wer ich bin, sonst wird das hier nämlich ziemlich peinlich. Ist das Leben gut zu dir? Ich bin im ungastlich eisigen Norden gelandet und unterrichte Archäologie an der Pendle University. Von dir weiß ich, dass du an der North Norfolk bist. Ich habe deine Karriere die ganze Zeit mit Interesse und Bewunderung verfolgt. Daher weiß ich auch, dass du hierzulande zu den führenden Experten für die Konservierung von Knochen gehörst.

Und das ist auch der Grund, warum ich dir schreibe. (Wobei es natürlich auch sonst toll wäre, von dir zu hören. Siehst du Caz eigentlich noch? Oder Roly? Oder Val?) Ich habe etwas gefunden, Ruth, das könnte eine richtig große Sache sein. Eine Riesensache. Aber ich brauche deine Hilfe. Ich brauche eine zweite Meinung zu den Knochen. Die Gesamtlage hier ist etwas heikel, deswegen schreibe ich dir auch einen Brief und keine Mail. Könntest du mich vielleicht anrufen? Die Nummer steht unten. Ich bin überzeugt, es wird dich interessieren. Hast du schon mal vom «Rabenkönig» gehört? Ich glaube, ich habe ihn gefunden. Mein Gott, Ruth, es ist so lange her, dass wir am UCL waren! Jetzt sind wir alle älter und trauriger, wenn auch nicht unbedingt weiser. Aber dieser Fund könnte das alles ändern. Trotzdem fürchte ich … und genau das ist der Punkt. Ich fürchte mich. Ruf mich doch bitte an, sobald du diesen Brief bekommen hast.

Alles Liebe von deinem alten Freund

Dan

Ruth liest den Brief im Stehen, an der offenen Haustür. Ein weiterer anstrengender Tag bei der Ausgrabung liegt hinter ihr, und ihre Knochen sehnen sich schmerzlich danach, im warmen Wasser zu entspannen. Doch erst sind da noch Kate und das Abendritual, das absolviert werden muss. Kate sucht gerade in der Küche nach Flint. Ruth hört, wie sie ihn durch die Katzenklappe ruft. Aus einem plötzlichen, albernen Impuls heraus wählt sie die Handynummer, die unter dem Brief angegeben ist. Dans tiefe, belustigte und leicht schläfrige Stimme dringt an ihr Ohr, überwindet spielend die vielen Jahre und Kilometer, ja selbst die Grenze zum Reich der Toten.

«Hallo, hier ist Dan Golding. Ich bin gerade nicht zu erreichen, aber wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen, melde ich mich bei Ihnen. Versprochen.»

Ein Versprechen, denkt Ruth, während sie den Rucksack abstellt und sich auf den Weg in die Küche macht, das Dan definitiv nicht mehr halten kann. Es hat sie sehr erschüttert, seine Stimme zu hören – sowohl im Brief als auch am Telefon. Den unbekümmerten Dan aus dem ersten Absatz hat sie gleich erkannt. Natürlich muss ihm klar gewesen sein, dass sie noch weiß, wer er ist. Dan war kein Mensch, den man leicht vergisst. Und trotz allem hat es Ruth warm durchglüht bei der Vorstellung, dass auch er sich an sie erinnert und ihre Karriere «mit Bewunderung» verfolgt hat. Doch den Dan aus den letzten paar Sätzen, diesen älteren und traurigeren Dan, der sich fürchtet … den erkennt sie ganz und gar nicht wieder. Was kann dort im eisigen, ungastlichen Norden passiert sein, das Dan – ausgerechnet Dan! – in solche Angst versetzt hat, dass er sich nicht einmal mehr traut, eine Mail zu schreiben, in solche Verzweiflung, dass er sie um Hilfe bittet – Ruth Galloway aus Eltham, das Mädchen, das mit achtzehn zum ersten Mal Champagner getrunken hat und erst mit neunzehn entjungfert wurde?

Sie befreit Flint von Kate und macht den beiden Abendessen. Das Wetter ist erneut wunderschön, und durch die offene Haustür dringt ein Duft nach Gras und Meer herein. Ruth kocht sich einen Tee und redet sich ein, dass sie sonst nichts braucht, doch kurz darauf macht sie sich über die kalten Nudeln her. Sie muss sich endlich zusammenreißen und nicht immer Kates Reste aufessen. Wenn ihr jemand ein Festmahl aus angelutschten Toaststreifen, kaltem Rührei und durchweichten Karottenschnitzen anböte, würde sie dankend ablehnen, doch genau das isst sie jedes Mal, wenn sie den Tisch abräumt. Ruth war nie richtig schlank, doch jetzt hat sie das Gefühl, dass sie noch viel weniger schlank ist als je zuvor. Aber durch die ganze Graberei wird sie ja wohl ein paar Kalorien verbraucht haben. Ruth schiebt sich noch eine Nudel in den Mund.

«Meins», sagt Kate.

Worin genau besteht Dans großartiger Fund? So, wie es klingt, sind anscheinend Knochen im Spiel. Aber ist da oben archäologisch überhaupt etwas zu holen? Als Kate mit Essen fertig ist, zwingt Ruth sich dazu, die übriggebliebenen Nudeln wegzuschmeißen, und geht dann ins Wohnzimmer, um den Atlas zu konsultieren. Ihr Häuschen ist klein, unten gibt es nur zwei Zimmer plus Toilette, und wenn man durch die Eingangstür kommt, steht man direkt im Wohnzimmer. Das wiederum ist voller Bücher, sie quellen bereits aus den Regalen, die bis an die niedrige Decke reichen, und stapeln sich auf dem Holzboden, dem Sofa und dem Tisch. Ruth liest für ihr Leben gern und hat einen breitgefächerten Geschmack: Wissenschaftliche Abhandlungen zur Archäologie kämpfen mit Liebesromanen, Krimis und sogar Pferdebüchern für Kinder um den vorhandenen Platz. Irgendwo muss da doch auch ein Atlas sein. Ruth zieht ein paar Bücher aus den Regalen, und Kate macht begeistert mit. «Auch!»

Da ist er ja. Der Reader’s-Digest-Atlas für Großbritannien. Ruth legt das Buch auf den Tisch am Fenster. Wo hat Dan noch gleich gewohnt? Fleetwood, hat Caz gesagt. In der Nähe von Lytham. Verdammt – Ruth streicht die Seite glatt –, das ist ja gleich neben Blackpool, der heißgeliebten und schmerzlich vermissten Heimat von DCI Harry Nelson. Sie hatte ja keine Ahnung, dass Dan sich in Nelsons Gebiet verirrt hat. Fleetwood liegt direkt am Meer – es könnte dort Spuren der Wikinger geben, vielleicht auch eine römische Garnisonsstadt. Aber was ist daran so weltbewegend, dass Dan darüber nicht in einer Mail schreiben wollte?

Er hat einen Rabenkönig erwähnt. Ruth lässt das gedruckte Wort ruhen und schaltet ihren Rechner ein. Kate sitzt auf dem Boden, augenscheinlich ganz vertieft in Ruths abgegriffene Ausgabe von Marilyn Frenchs Frauen. Hervorragende Wahl, Kate.

Ruth googelt «Rabenkönig», und Sekunden später ist ihr Bildschirm voll von Heavy-Metal-Texten, Tipps für Online-Spiele und Bildern von düsteren Männern mit Federumhängen. Der Rabenkönig ist offenbar von weitreichender Symbolkraft, doch als Ruth sich durch die Seiten klickt, findet sie nur wenige konkrete Hinweise. Einer bezieht sich auf den keltischen Heldengott Bran, der auch «Rabe» genannt wird, ein anderer auf einen ungarischen König aus dem 15. Jahrhundert, der eine berühmte Bibliothek besaß. Keiner davon scheint zu Dans großem Fund zu passen. Interessanterweise wird der Mythos vom Rabenkönig aber oft mit dem Norden von England in Verbindung gebracht. Ruth muss an Eriks Schilderung des nordischen Gottes Odin denken, auf dessen Schultern stets seine beiden Raben Hugin und Munin sitzen. Hugin und Munin: Gedanke und Erinnerung. Erik erzählte immer, Odin habe alles gesehen und alles gewusst. Ein bisschen wie Erik selbst – zumindest hat Ruth das lange Zeit geglaubt.

Sie liest gerade etwas über die Raben im Tower of London, als das Telefon klingelt. Eine Sekunde lang hängt sie dem absurden Gedanken nach, dass Dan zurückruft, sich aus dem Reich der verlorenen Seelen meldet. Mit zitternden Händen greift sie nach dem Hörer.

«Hallo?»

«Hallo, Ruth. Hier ist Caz.»

«Ach, hallo, Caz.» Ruth sieht zu, wie Kate Marilyn French zugunsten der Fernbedienung links liegen lässt. Nun ja, mit achtzehn Monaten muss man vielleicht noch keine Vollblut-Feministin sein. Gleich darauf erfüllt die tröstliche Titelmelodie von Emmerdale das Zimmer. Kate kuschelt sich aufs Sofa, und Flint setzt sich neben sie, wenn auch mit gebührendem Abstand.

«Ich hatte ja gesagt, dass ich dich nach der Beerdigung anrufe.»

«Stimmt, die war ja schon heute.»

Dann ist Dan also genau an dem Tag beigesetzt worden, als sein Brief kam. Ruth schaudert es.

«Es war schrecklich, Ruth. Nur ganz wenige Leute. Seine Eltern, Miriam, seine Exfrau.»

«Exfrau?»

«Ja, sie haben sich wohl vor ein paar Jahren scheiden lassen. Sie war allerdings trotzdem völlig außer sich, hat die ganze Zeremonie durch geheult.»

«Hatten sie Kinder?»

«Nein. Miriam sagt, das war mit ein Grund für die Trennung, weil sie Kinder wollte und er nicht.»

«Ist Miriam denn verheiratet?»

«Nein. Aber sie sieht noch immer so umwerfend aus wie früher.»

Ruth muss an ihre Freundin Shona denken, die auch oft als «umwerfend» bezeichnet wird. Eigentlich ein ganz schön gewalttätiges Bild: jemanden umwerfen. Wie muss es sein, wenn man so schön ist, dass andere es wie einen Schlag auf den Kopf empfinden, einen anzusehen? Ruth kann es sich nicht vorstellen.

«Es war furchtbar traurig, Ruth», erzählt Caz weiter. «So viel Potenzial, so viel Brillanz, und dann endet er in dieser trostlosen kleinen Synagoge in Blackpool. Und wird nur von einer Handvoll Leute betrauert.»

«War noch jemand vom UCL da?»

«Nein. Ich weiß auch nicht, ob er überhaupt noch mit irgendwem Kontakt hatte.»

Wenn sie an den Brief denkt, an die Fragen nach Caz, Roly und Val, bezweifelt Ruth das auch. Anscheinend war der Norden gleich in mehrfacher Hinsicht ungastlich.

«Ich habe einen Brief von ihm bekommen», sagt sie. «Ist das nicht seltsam?»

«Wie meinst du das, du hast einen Brief von ihm bekommen?»

«So, wie ich’s sage. Die Universität hat ihn an mich weitergeleitet. Er hatte etwas gefunden und wollte meine Meinung dazu wissen.» Ruth kann nicht vermeiden, dass in ihrer Stimme ein gewisser Stolz mitklingt.

«Mein Gott! Was für ein schrecklicher Zufall.»

«Ja. Mich hat es auch sehr erschüttert. Er klang so sehr nach ihm, also, der Brief, meine ich.» Von der Mailbox erzählt sie Caz nichts.

«Und was hat er gefunden?»

«Das hat er nicht geschrieben.»

«Vielleicht solltest du ja an der Pendle vorbeischauen, ein paar Nachforschungen anstellen?»

«Ja, vielleicht», sagt Ruth ohne viel Überzeugung.

Dan hat von einer heiklen Gesamtlage geschrieben. Ruth kann sich nicht recht vorstellen, dass sie eine Einladung von der Universität bekommen wird, um Dans Fund, worin der auch immer bestehen mag, zu begutachten. Doch Dan hat sich gefürchtet. Und jetzt ist er tot.

Und Ruth weiß, sobald Kate im Bett ist, wird sie Nelson anrufen.

 

Detective Inspector Harry Nelson hat einen schlechten Tag. Was gar nicht an den Strapazen der Verbrechensbekämpfung in King’s Lynn liegt (auch wenn die manchmal mühsamer ist, als man meinen sollte). Auf der Arbeit ist alles bestens, trotz der Tatsache, dass Detective Sergeant Judy Johnson, seine fähigste Mitarbeiterin, zurzeit in Mutterschaftsurlaub ist und Dave Clough, sein anderer Sergeant, anscheinend gerade eine zweite Pubertät durchlebt. Letztes Jahr hat das Team einen Ring von Drogenschmugglern ausgehoben, und die Nachwirkungen beschäftigen sie bis heute. Clough, der sich bei diesem Einsatz ausgesprochen heldenhaft gezeigt hat, macht das seither dadurch wett, dass er sich aufführt wie beim Vorsprechen für eine Rolle in Starsky & Hutch. Neuerdings trägt er sogar Rollkragenpullover. Außerdem hat er sich kürzlich von seiner Freundin Trace getrennt, und wenn man den Gerüchten glauben darf, legt er seitdem in ganz Norfolk jede Frau im heiratsfähigen Alter flach. «Ich bin jung, frei und ungebunden, Boss», erzählt er Nelson immer wieder, und der ist klug genug, darauf nichts zu erwidern. Er glaubt, dass die Trennung von Trace Clough hart getroffen hat.

Nein, die Polizeiarbeit macht ihm wirklich kein Kopfzerbrechen. Das erledigen seine Frau Michelle und sein Chef, Gerry Whitcliffe, die ihm beide ständig in den Ohren liegen, dass er Urlaub machen soll. Nelson hat am Jahresende grundsätzlich Urlaub übrig, und diesmal verlangt Michelle, dass sie im August Ferien machen, «wenn normale Menschen eben verreisen, Harry». Und Whitcliffe erinnert ihn immer wieder daran, dass er Ende letzten Jahres ernsthaft krank war und, das schwingt jedes Mal mit, noch nicht wieder völlig auf dem Damm ist. «Sie müssen mal Pause machen, sich richtig ausruhen, die Batterien aufladen.» Die Batterien aufladen. Was zum Geier soll denn das heißen? Nelson bildet sich etwas darauf ein, gar keine Batterien zu brauchen. Er ist noch ein altes Qualitätsmodell, zum Aufziehen.

Michelle hat angekündigt, dass sie heute früher nach Hause kommen, aber um acht schon wieder mit irgendwelchen Freundinnen ausgehen will. Mit ein Grund, warum Nelson um halb acht noch auf dem Revier ist. Er liebt seine Frau, aber seit die beiden Töchter aus dem Haus sind, verbringen sie einfach zu viel Zeit zusammen. Mehr als genug Zeit jedenfalls, dass Michelle, die ausgesprochen gut darin ist, ihren Willen durchzusetzen, ihn zu irgendeinem gottserbärmlichen Sommerurlaub überreden kann. Die Erinnerungen an Lanzarote im letzten Jahr stehen ihm noch in scheußlichen Technicolor-Farben vor Augen: Sie saßen in einer Bar im Tex-Mex-Design und unterhielten sich mit dem langweiligsten Ehepaar der Welt über EDV-Programmierung. Nie wieder. Da reist er doch lieber an den Nordpol und isst Walspeck.

Und so kommt es, dass Nelson noch im Büro sitzt, als Ruth anruft.

«Wie geht’s Katie?», fragt er als Erstes.

«Kate geht es blendend.»

«Gut», sagt Nelson. Und dann, nach einer kurzen Pause: «Und dir?»

«Ganz okay. Ich bin ein bisschen müde, wir sind die ganze Woche bei einer Ausgrabung. Hör mal, Nelson, ich dachte, du könntest mir vielleicht helfen. Ein Freund von mir ist vor ein paar Tagen bei einem Hausbrand in Fleetwood ums Leben gekommen.»

«Das tut mir leid», sagt Nelson. Dann fragt er: «Fleetwood in Lancashire?»

«Ja. Ich weiß, das ist deine … die Gegend, aus der du kommst … und da habe ich mich gefragt, ob du noch Kontakt zur dortigen Polizei hast.»

«Mein alter Kumpel Sandy Macleod ist DCI bei der Polizei Blackpool.»

«Tja, ich dachte, vielleicht kannst du ihn ja mal fragen, ob es da vielleicht … also, verdächtige Umstände gab.»

«Wie kommst du darauf?», fragt Nelson.

«Ich habe einen Brief von diesem Freund bekommen, den er kurz vor seinem Tod geschrieben haben muss. Darin steht, dass er sich fürchtet. Ich habe überlegt, ob er eventuell bedroht wurde.»

«Verstehe», sagt Nelson. «Ich kann Sandy ja mal anrufen. Wobei da höchstwahrscheinlich nichts dran ist. Nur ein ganz gemeiner Zufall.»

«Ein Zufall», sagt Ruth in merkwürdigem Ton. «Möglich. Aber ich wäre dir trotzdem dankbar, wenn du ein bisschen rumfragen könntest.»

«Mach ich doch gerne», sagt Nelson. «Ich hab seit Jahren nicht mehr mit Sandy geredet.»

 

Nelson steuert seinen Wagen nachdenklich nach Hause zurück. Normalerweise fährt er, als wäre ihm eine Horde Mafia-Mörder auf den Fersen, doch heute, in die Vergangenheit versponnen, hält er brav an jeder Ampel und lässt sogar einmal einem Bus die Vorfahrt. Sandy Macleod. Es reicht, den Namen zu erwähnen, schon ist alles wieder da. Harry und Sandy als blutige Anfänger, gerade frisch bei der Polizei Blackpool, auf Streife im Pleasure Beach, dem Vergnügungspark am Strand, bei der Befragung steuerhinterziehender Wirtinnen, deren Pensionen mit Elvis-Figuren aus Plastik vollstanden, beim Pommes-Essen im Streifenwagen, dessen Fenster so beschlagen waren, dass noch der größte Schurke von Lancashire unbemerkt an ihnen vorbeigekommen wäre. Plötzlich riecht Nelson sogar wieder die Golden Mile – diese Mischung aus Pommes, Donut-Fett und dem durchdringenden Geruch des Meeres.

In letzter Zeit wird er häufiger von solchen nostalgischen Anfällen überrollt. Als Blackpools Fußballclub im Mai in die Premier League einzog, war er selbst erstaunt, dass er bei der Übertragung des entscheidenden Spiels gegen Cardiff aus dem Wembley-Stadion den Tränen nahe war. Wie gern wäre er dort gewesen, inmitten dieser jubelnden orangefarbenen Menge. Er wollte bei der Siegesfeier in Blackpool dabei sein und den Helden, die – unglaublich, aber wahr – bald gegen Manchester United und Chelsea spielen würden, seine Verehrung zeigen. Sein Leben lang ist er schon Seasiders-Fan, hat zum Beweis sogar das entsprechende Tattoo am Schulterblatt (und einen gehörigen Komplex noch dazu). Aber da seine Frau und seine Töchter diese Begeisterung nicht teilen, hat er sich abgewöhnt, zu Spielen zu gehen, und sich allen Ernstes in den typischen Sofa-Fan verwandelt, so wie die anderen Softies aus dem Süden. Jetzt wünscht er sich allerdings nichts mehr, als zum Beginn der neuen Saison in Blackpool sein und in der Bloomfield Road seine Mannschaft spielen sehen. Als er in seine Einfahrt biegt, malt er sich aus, wie Ian Holoway den Premier-League-Pokal in die Höhe reckt.

Michelle ist nicht da, hat ihm aber das Essen in die Mikrowelle gestellt und eine Auswahl geschmackvoller Urlaubsprospekte auf dem Küchentisch drapiert. Italien, Frankreich, Portugal, die Seychellen. Nelson schiebt sie zur Seite und nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Als Michelle nach Hause kommt, sitzt er vor dem Rechner und ist gerade mitten in einer Online-Fahrt mit dem Big Dipper, der großen Holzachterbahn. Neben ihm stehen drei leere Bierdosen.

«Ich hab ’ne Idee, Schatz», sagt er. «Fahren wir doch im Sommer nach Blackpool.»

3

«Da ist ein Mann mit lila Umhang, der Sie sucht.»

Ruth ist nicht sonderlich überrascht von dieser Mitteilung. Sie schaut zu der Studentin hoch, die über den Rand des Grabens lugt: eine verängstigte Amerikanerin namens Velma, die sich die ganze Zeit nach möglichen Sicherheits- und Gesundheitsrisiken erkundigt. Velma musste bereits zweimal in die Notaufnahme gebracht werden, einmal, weil sie sich an einem Feuerstein geschnitten hatte (obwohl alle Studenten vorher ihre Tetanusimpfung aufgefrischt haben), und einmal wegen einer allergischen Reaktion auf ein Eis.

«Wo ist er?» Ruth richtet sich auf.

«Drüben bei Graben eins.»

«Gut. Machen Sie hier bitte weiter?» Ruth hat längst genug von ihrem Graben, der bisher nichts weiter zutage gefördert hat als drei rostige Nägel und ein paar Tierknochenfragmente.

Velma klettert vorsichtig in den Graben und hält dabei ihre immer noch verbundene Hand in die Höhe.

«Ich glaube, ich habe da hinten im Gras eine Schlange gesehen», sagt sie.

«Das ist bestimmt nur eine Ringelnatter», sagt Ruth leichthin. «Ganz harmlos.» Sie hat nicht die leiseste Ahnung von Schlangen. Aber sie wird Cathbad fragen, der im letzten Jahr nur knapp dem Tod durch den Biss einer giftigen Natter entronnen ist.

Cathbad, der Mann im lila Umhang, hat sich hingekniet, um ein Tablett mit Tonscherben zu begutachten, die sie Anfang der Woche gefunden haben. Von weitem sieht es aus, als würde er beten, der Umhang und der gesenkte Kopf verstärken diesen Eindruck noch. Das lange Haar fällt ihm offen über die Schultern, und als er aufschaut, weil er Ruth kommen hört, wirkt er irgendwie alterslos, wie versteinert. Dann klingelt sein Handy.

Er steht auf. «Ja», sagt er, «ja. Danke fürs Bescheidgeben.» Als Ruth näher kommt, scheint es ihr, als würde Cathbad vor ihren Augen schrumpfen und altern.

«Hallo, Cathbad», sagt sie. «Was führt dich denn hierher?»

Cathbad schaut sie an, und einen Moment lang meint sie, Tränen in seinen Augen zu sehen.

«Judy hat gerade ihr Kind bekommen», sagt er.

«Oh», sagt Ruth. «Schön.» Sie weiß nicht recht, was sie sagen soll, weil sie nicht recht weiß, ob Cathbad der Vater von Judys Kind ist, und zudem vermutet, dass Judy das auch nicht weiß. Fest steht nur, dass Judy die Beziehung zu Cathbad beendet hat und das Kind mit ihrem Mann Darren großziehen will.

«Wer hat es dir erzählt?», fragt Ruth.

«Ich kenne da jemanden im Krankenhaus.» Natürlich. Cathbad kennt überall Leute.

«Aber ich habe es sowieso schon gewusst», fährt er fort. «Mein sechster Sinn hat es mir gesagt.» Ruth ist froh, Cathbad wieder so reden zu hören, wie sie ihn kennt, auch wenn sie seinem sechsten Sinn äußerst zwiespältig gegenübersteht.

«Das versteht sich», sagt sie. «Ist es denn ein Junge oder ein Mädchen?»

«Ein Junge. 3240 Gramm.»

«Oh», sagt Ruth wieder. Sie weiß, dass Cathbad aus einer früheren Beziehung eine Tochter hat. Und dass er sich jetzt fragt, ob er auch einen Sohn hat.

«Aber Kinder gehören uns ohnehin nicht», sagt er, während er mit Ruth am Rand des Ausgrabungsgebiets entlanggeht. «Sie gehören dem Universum.»

Ruth schweigt. Sie weiß nie, wie sie auf solche pseudoreligiösen Aussagen reagieren soll, was vermutlich mit ihrer Kindheit als Tochter frommer Wiedererweckter Christen zusammenhängt. Doch der Gedanke an Judy und ihr Kind erinnert sie an den Tag, als sie Kate bekommen hat und Cathbad ungeplant bei der Geburt dabei war. Sie drückt ihm den Arm.

«Es ist alles Teil des großen Gewebes.» Einer von Cathbads Lieblingssätzen.

Er lächelt sie an. «Ja, genau. Des großen Gewebes, das vor Anbeginn der Zeit gewirkt wurde.»

«Und im großen Gewebe darf man nicht herumpfuschen.»

«Nein, wir zumindest nicht.» Aber wenigstens lächelt er immer noch.

Auf der Kuppe des Hügels bleiben sie stehen. Von hier aus sieht man gerade noch das Meer, ein Umstand, der Max zu der Annahme geführt hat, es könnte sich um einen Vicus handeln, den Teil einer römischen Garnisonsstadt, die auf dem Weg zum Hafen bei Borough Castle lag.

«Was ist eigentlich aus dem Janus-Stein geworden?», fragt Cathbad.

Der steinerne Kopf des römischen Gottes mit den zwei Gesichtern war vor fast zwei Jahren an dieser Ausgrabungsstätte gefunden worden. Ruth denkt an Max und auch noch an jemand anderen, der von den alten, blutrünstigen Göttern besessen war. Besessen bis hin zum Mord.

«Der ist im Museum», sagt sie. «Was dir mit Sicherheit nicht passt.»

Ruth und Cathbad haben sich kennengelernt, als Ruth an den Ausgrabungen eines Henge aus der Bronzezeit an einem Strand im Norden Norfolks beteiligt war. Cathbad und seine Druidenfreunde protestierten damals heftig, weil die hölzernen Pfähle des Henge ins Museum gebracht werden sollten. Sie sollten bleiben, wo sie waren, verlangten sie, als Teil der Landschaft, dem Himmel und dem Meer ausgesetzt. Erik war durchaus auf ihrer Seite, doch der Henge wurde trotzdem fortgebracht.

«Na ja», sagt Cathbad. «Er kann auch im Museum noch seinen Zauber wirken.»

«Du verweichlichst», bemerkt Ruth.

«Geht uns das nicht allen so?»

Cathbad dreht sich um und mustert Ruth, der Blick aus seinen dunklen Augen ist unbehaglich prüfend.

«Wie geht es dir denn, Ruth? Du wirkst ein bisschen mitgenommen.»

Während sie im Stillen (und keineswegs zum ersten Mal) Cathbads sechsten Sinn oder schlicht seine Neugier verflucht, antwortet Ruth: «Vor ein paar Tagen ist ein Freund von mir gestorben. Ein alter Freund von der Uni. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, aber es stimmt, sein Tod hat mich schon mitgenommen.»

«Vielleicht ruft seine Seele ja nach dir», sagt Cathbad.

Ruth wirft ihm einen finsteren Blick zu. Er tut ihr zwar leid, aber solches Gerede will sie ihm dann doch nicht durchgehen lassen.

«Ich bin einfach nur traurig», sagt sie. «Mehr nicht.»

«Das genügt ja auch», pflichtet Cathbad ihr bei.

Sie betrachten noch ein Weilchen die sanften Hügel, die bis zum Meer reichen. Hoch über ihnen ruft eine Lerche. Es ist bald Mittsommer, ein wichtiges Datum in Cathbads persönlichem Kalender.

«Ob Nelson es wohl schon weiß?», meint Ruth. «Das mit Judy?»

«Frag ihn doch selbst», sagt Cathbad.

Und Ruth braucht sich gar nicht mehr umzudrehen, um zu wissen, dass Nelson hinter ihnen steht.

 

Nelson weiß eigentlich nicht, warum er zur Ausgrabungsstätte gefahren ist. Er hätte Ruth ohne weiteres anrufen können. Auf dem Revier gibt es schließlich genug zu tun, ohne Judy, dafür mit einem Clough, der (rein bildlich gesprochen) mit einem roten Sportwagen durch die Straßen heizt. Er weiß nur, dass er sich gleich nach dem Gespräch mit Sandy die Autoschlüssel geschnappt und Leah, seiner Assistentin, gesagt hat, er müsse für ein, zwei Stunden weg.

«Ich glaube, Superintendent Whitcliffe wollte Sie noch sprechen», meinte sie.

Dann muss, dachte Nelson, als er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinuntereilte, er sich eben mit seinem Willen als Himmelreich begnügen. Lieber Himmel! Wo kam denn das jetzt her? Das hat seine Mutter immer gesagt.

Doch jetzt, als er über das Gras auf Ruth und Cathbad zugeht, ist er froh, dass er gekommen ist. Es tut gut, mal wieder draußen zu sein, nachdem er so viel Zeit im Büro verbracht, Berichte fertig geschrieben und Whitcliffe immer wieder versichert hat, dass sein Team sich bei dem Drogenschmuggler-Fall keine Unregelmäßigkeiten erlaubt hat (was nicht stimmt, aber Nelson hofft, es zureichend vertuscht zu haben). Und es tut gut, Ruth zu sehen. In den letzten Monaten hat er nach Kräften versucht, sein Verhältnis zu ihr in eine echte Freundschaft zu verwandeln. Er ist der Vater ihrer Tochter. Nach dem albtraumhaften letzten Jahr hat auch Michelle das akzeptiert. Und jetzt können die drei Erwachsenen gemeinsam herausfinden, was das Beste für Katie ist. Klingt ganz einfach, aber als Ruth sich jetzt umdreht und ihn anlächelt, stellt Nelson zerknirscht fest, dass eigentlich nichts jemals einfach ist. Nicht, wenn es um Frauen geht.

Und natürlich ist auch Cathbad zur Stelle. Nelson hat sich längst daran gewöhnt, dass Cathbad ständig und überall auftaucht, mit Vorliebe dort, wo es Ärger gibt. Cathbad hat ihm einmal von einem Heiligen erzählt, der an zwei Orten gleichzeitig sein konnte, und seitdem ist Nelson davon überzeugt, dass der Druide diese Fähigkeit auch besitzt. Nicht, dass er ein Heiliger wäre. Im Gegenteil. Unter seinem richtigen Namen Michael Malone ist Cathbad bei der Polizei kein Unbekannter. Umso erstaunlicher ist es, dass Nelson ihn inzwischen als Freund betrachtet. Schließlich hat er Cathbad einmal das Leben gerettet, und Cathbad wiederum behauptet, er habe Nelson durch eine Traumwelt an der Grenze zwischen Leben und Tod geleitet. So was schweißt mehr zusammen als ein sonntägliches Fußballspiel.

«Nelson», begrüßt ihn Ruth. «Was machst du denn hier?»

«Na, du weißt doch, dass ich mich brennend für Archäologie interessiere.»

«Sagt der Mann, der nicht mal die Steinzeit von der Eisenzeit unterscheiden kann.»

«Ist beides lange her, das reicht mir.»

«Alle Zeitalter sind ohnehin eins», wirft Cathbad ein.

«War ja klar, dass du wieder was Unqualifiziertes beizutragen hast.»

Ruth und Cathbad wechseln einen Blick. Nelson fragt sich, worüber sie wohl gesprochen haben, bevor er dazugekommen ist. Dann sagt Ruth: «Hast du schon von Judy gehört?»

«Nein. Ist es da?»

«Ein Junge. Etwas über dreitausend Gramm.»

«Ein Junge, ja?» Nelson freut sich aufrichtig. Er findet Kinder grundsätzlich gut, und er mag Judy. Ihm würde nie in den Sinn kommen, dass Judy eine Affäre mit Cathbad gehabt haben und Cathbad der Kindsvater sein könnte. Judy hat Darren geheiratet, ihre erste Liebe, und jetzt gründen sie eine Familie. So gehört sich das. So hat er es schließlich auch gemacht.

«Woher wisst ihr das?»

«Cathbad hat sein Druidennetzwerk angezapft.»

Nelson brummt. Er findet es nur zu wahrscheinlich, dass es ein solches Netzwerk gibt.

«Ich sage Leah, sie soll Blumen schicken», sagt er. «Dave Clough denkt sicher, dass sie den Kleinen nach ihm nennen.»

Cathbad hat sich ein paar Schritte entfernt, um mit Phil, Ruths Institutsleiter, zu reden. Nelson senkt die Stimme. «Ich habe Neuigkeiten für dich.»

«Über Dan?»

«Ja, über diesen Freund von dir. Ich habe mit meinem alten Kumpel Sandy in Blackpool telefoniert.» Ein Wort von Sandy, und er fühlte sich um Jahre zurückversetzt. Dieses misstrauische nördliche Knurren, das zum satirereifen Lancashire-Dialekt wurde, sobald er hörte, wer da anrief. Je länger sie redeten, desto mehr hörte Nelson auch seine eigene Stimme wieder nach Blackpool klingen. Sandy Macleod. Polizisten wie ihn gibt es hier unten gar nicht.

«Sieht so aus, als hättest du den richtigen Riecher gehabt. Es liegen tatsächlich verdächtige Umstände vor.»

«Ach ja?»

«Ja. Anscheinend sah es erst nach einem ganz normalen Hausbrand aus, aber die Soko hat festgestellt, dass die Haustür von außen abgeschlossen war.»

«Du lieber Gott!» Ruth flüstert fast. «Man hat ihn eingeschlossen?»

«Und es fehlte so einiges. Sachen, die eigentlich hätten da sein müssen.»

«Was denn für Sachen?»

«Sein Handy. Und sein Notebook. Sandy hat eine Mordermittlung eingeleitet.»

4

Auf dem Weg zu Kates Tagesmutter gerät Ruth in einen schier endlosen Verkehrsstau. Normalerweise regt sie sich über so etwas furchtbar auf. Sie findet es schrecklich, Kate zu spät abzuholen, auch wenn Sandra sich jedes Mal überaus verständnisvoll zeigt: «Ich weiß doch, wie das als berufstätige Mutter ist.» Ruth war immer ein pünktlicher Mensch. Wie Nelson (eine ihrer wenigen Gemeinsamkeiten) ist sie ausgesprochen organisiert und macht sich gerne Listen und Pläne. Doch seit sie Mutter geworden ist, lebt sie den Albtraum, ständig zu spät dran zu sein. Kate teilt die Vorliebe ihrer Mutter für Pläne offensichtlich nicht, was dazu führt, dass Ruth oft nicht pünktlich zur Arbeit kommt. Und dann muss Phil natürlich immer ausgerechnet um fünf noch eine Mitarbeitersitzung einberufen, sodass sie wiederum zu spät zu Sandra kommt. Inzwischen hat Ruth das Gefühl, eigentlich nur noch im Stau zu stehen, mit den Fingern aufs Lenkrad zu trommeln und langsam und leise bis hundert zu zählen.

Heute allerdings ist sie fast froh um die Zeit, die sie auf rote Ampeln starren darf. Nelsons Worte sind immer noch nicht ganz bei ihr angekommen. Sandy hat eine Mordermittlung eingeleitet. Kann es sein, dass Dan tatsächlich ermordet wurde? Das erscheint ihr unmöglich. Doch dann fällt ihr der Brief wieder ein, sein seltsamer Unterton von Furcht, fast schon Panik. Trotzdem fürchte ich … und genau das ist der Punkt. Ich fürchte mich. Ruf mich doch bitte an, sobald du diesen Brief bekommen hast. Nun, Ruth hat Dan tatsächlich angerufen, aber bei wem ist dieser Anruf gelandet? Nelson hat erzählt, Dans Handy sei verschwunden. Hält der Mörder es womöglich in dieser Minute in der Hand? Wer bringt denn einen Archäologen um, der an irgendeiner völlig unbekannten Universität arbeitet? Hängt das etwa mit Dans Fund zusammen? Er schrieb, das könnte eine große Sache sein. Es könnte alles ändern. Und jetzt ist er tot, und es hat sich tatsächlich alles geändert.

Außerdem bringt es Ruth sowieso immer durcheinander, Nelson zu sehen. Als er heute zwischen den schwatzenden Studenten hindurch auf sie zukam, eine düstere Gestalt im dunklen Anzug, fiel ihr plötzlich wieder auf – wie damals, bei ihrer ersten Begegnung –, wie erwachsen Nelson wirkt. Das lag nicht nur an der Kleidung (er war am Morgen noch bei einer Anhörung gewesen, daher der dunkle Anzug), auch etwas in seiner Miene, seiner ganzen Haltung ließ ihn hervorstechen. Ruths Studenten mochten zwar Doktoranden sein, sahen mit ihren langen Haaren und den eifrigen Mienen aber trotzdem wie Teenager aus. Nelson hingegen wirkte ernst und entschlossen, wie er da mit grimmiger Miene und ohne nach rechts und links zu schauen durch das Gras schritt, fast schon ein wenig gefährlich. Mehr als alles andere wünscht sich Ruth, dass sie ihn nicht immer noch so anziehend fände.

Als sie in die Straße nach King’s Lynn einbiegt, schwört sie sich, wie schon so oft, Nelson endlich hinter sich zu lassen. Sie haben ein gemeinsames Kind, das wird sie immer verbinden, aber Nelson ist glücklich verheiratet, und Ruth hat eine Beziehung mit Max. Nur was für eine Beziehung? «Von deinem ‹Freund› kann ich ja wohl schlecht reden», hatte ihre Mutter schelmisch gemeint, als sie von der Geschichte hörte (wohlgemerkt nicht von Ruth: Ihr Bruder hatte gepetzt). Und neulich bei der Arbeit hat jemand von ihrem «Partner» gesprochen, was ihr viel zu offiziell klang.

Max lebt in Brighton. Ruth sieht ihn etwa zweimal im Monat, und dann unternehmen sie Pärchen-Dinge: Sie gehen mit Kate in den Park, sie gehen ins Kino, sie holen sich etwas beim Schnellimbiss und schauen beim Essen Doctor Who. Und sie schlafen miteinander. Wenn der Sex nicht wäre, würde Ruth behaupten, sie wären einfach nur gute Freunde. Und das sind sie ja auch. Sie verstehen sich blendend, sie sind beide Archäologen, haben einen ähnlichen Humor und haben beide auf die eine oder andere Weise eine Menge durchgemacht. Sie streiten sich nie und nehmen immer Rücksicht auf die Gefühle des anderen. Und genau das ist es. Nelson ist so gut wie nie rücksichtsvoll, und Ruth und er streiten ständig, aber trotzdem sind die beiden Nächte, die sie miteinander verbracht haben, in Ruths Seele eingeschrieben, sie kann sie nicht löschen, so sehr sie es auch versucht. Sie hat so vieles an Nelson auszusetzen, manchmal ist er ihr geradezu leidenschaftlich verhasst, und doch hat jeder andere Mann für sie schon von vornherein den Fehler, nicht er zu sein.

Sandra empfängt sie lächelnd und bremst Ruths Entschuldigungen mit einem nachsichtigen «Macht doch nichts, Kindchen» aus. Auch Kate wirkt ganz unbekümmert: Sie hat mit Sandras anderen beiden Schützlingen im Planschbecken gespielt, doch als Ruth endlich kommt, ist sie bereits abgetrocknet und angezogen und mampft einen tadellos gesunden Imbiss aus Rosinen und Apfelschnitzen. Sandra ist eine tolle Tagesmutter, Ruth hat großes Glück mit ihr. Und wenn sie sich manchmal wünscht, Sandra könnte nicht so verdammt gut mit Kindern umgehen, zeigt das nur, wie unvernünftig sie selbst inzwischen ist. Sie braucht wirklich Urlaub.

Die ganze Heimfahrt über singt Ruth. Sie muss Kate wach halten, damit sie erst dann einschläft, wenn Schlafenszeit ist. Ruth beobachtet sie im Rückspiegel, und jedes Mal, wenn ihrer Tochter der Kopf auf die Brust zu sinken droht, stimmt sie noch einmal überenthusiastisch den Refrain von The Wheels on the Bus an. Gleichzeitig drehen sich ihre Gedanken genauso unermüdlich wie die Räder des Busses aus dem Lied. Ist Dan wirklich ermordet worden? Warum? Ist Cathbad der Vater von Judys Kind? Liebt er sie immer noch? Warum ist Nelson zur Ausgrabungsstelle gekommen, wenn er doch auch hätte anrufen können? Wer ist der Rabenkönig, und was hat er mit Dans Tod zu tun?

Zu Hause schaut sie auf den Anrufbeantworter und stellt erleichtert fest, dass sie keine Nachrichten hat. Dann ist zumindest niemand mehr gestorben. Sie schaltet den Rechner ein, wo sie wie immer von einer Flut von Mails aus dem Institut und von Amazon erwartet wird, die ihr jedes einzelne Buch mit dem Wort «Stein» im Titel vorschlagen. Mitten im Löschen bleibt ihr Blick an einem unbekannten Absender hängen. Eine Website namens «University Pals». Weil sie das an Dan und an Caz erinnert, klickt sie die Nachricht auf. Hallo Ruth, wird sie fröhlich begrüßt, willst du wissen, was deine alten Freunde von der Uni so treiben? Melde dich bei uns an und halte Kontakt zu deinen Bekannten vom University College London, Jahrgang 89, Archäologie. Ein Klick, schon dreht sich die Zeit zurück.

Ruth hat in den letzten Tagen so viel an die Uni gedacht, dass sie fast schon auf den Link klicken will. Doch dann zögert sie. Schließlich ist sie mit den gefährlichen Verlockungen der Vergangenheit besser vertraut als manch anderer. Als ihr Exfreund Peter vor zwei Jahren wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hat, wollte er sich gleich in eine Beziehung mit ihr stürzen, ungeachtet der Tatsache, dass seither viele Jahre vergangen waren und er selbst verheiratet war und ein Kind hatte. Es hatte Ruth eine Menge Kraft gekostet, ihn abzuweisen. Ihr ist bewusst, dass man nie zurückgehen kann, immer nur vorwärts. So etwas weiß man als Archäologin. Die Zeit besteht aus Schichten, aus Sedimenten, die alle fest in ihrem jeweiligen Kontext fixiert sind. Man kann sich durch die Schichten hindurch graben, doch man kann nichts daran ändern, dass die Zeit vergangen ist und sich darüber bereits neue Sedimente gebildet haben. Andererseits, sagt eine vorwurfsvolle Stimme in ihrem Kopf, wäre sie vielleicht mit Dan in Kontakt geblieben, wenn sie sich früher auf einer solchen Seite angemeldet hätte. Sie hätte alles über seine Arbeit an der Pendle University erfahren, sie hätten sich gegenseitig Fotos schicken, über ihr jeweiliges Leben auf dem Laufenden bleiben können. Und dann säße sie jetzt nicht hier mit diesem grauenvollen Verlustgefühl.

Während sie noch überlegt, klingelt das Festnetztelefon. Im Hintergrund hört sie Kate in fragendem Tonfall «Piss?» sagen. Dieser verflixte Cathbad.

Ruth bringt den Hörer in ihre Gewalt. «Hallo?»

«Hallo? Spreche ich mit Doktor Ruth Galloway?»

«Ja.»

«Na, bestens!» Die Stimme klingt überschwänglich. «Hier spricht Clayton Henry von der Pendle University.»

Was für ein seltsamer Name, denkt Ruth unwillkürlich, der hört sich ja an wie falsch herum. Und dann: Pendle University.

«Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, dass ich Sie privat anrufe. Phil Trent hat mir Ihre Nummer gegeben.»

Es macht Ruth durchaus etwas aus, und außerdem findet sie, Phil sollte ihre Privatsphäre mehr respektieren. Aber andererseits möchte sie für ihr Leben gern wissen, warum Clayton Henry sie anruft.

«Schon gut», sagt sie.

«Wissen Sie, Ruth, ich sitze ein wenig in der Klemme.» Clayton Henrys Akzent ist eine eigentümliche Mischung aus Yorkshire und Upper-Class. Er erinnert entfernt an den von Alan Bennett. Der vertrauliche Ton, den er anschlägt, gefällt Ruth nicht besonders, und sie kann es gar nicht leiden, wenn Leute, die sie nicht kennen, sie mit dem Vornamen anreden.

«Ja?», erwidert sie wenig zuvorkommend.

«Einer unserer Archäologen – ein wirklich netter Kerl – ist vorige Woche auf tragische Weise ums Leben gekommen. Dan Golding. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name etwas sagt?»

«Wir haben zusammen studiert.»

«Oh.» Clayton Henry zieht das Wörtchen sehr in die Länge. «Dann tut es mir sehr leid, dass ich Ihnen diese schlechte Nachricht überbringen muss.»

«Schon gut. Ich wusste bereits davon.»

«Oh.» Jetzt klingt er schon wieder etwas anders. «Nun, ich weiß nicht, ob Sie vielleicht auch gehört haben, dass Dan unlängst eine Entdeckung gemacht hat, die er für höchst bedeutsam hielt.»

Ruth schweigt. Das hat sie sich bei Nelson abgeschaut.

«Knochen», fährt Henry fort. «An einer römischen Ausgrabungsstelle in der Nähe von Ribchester. Die Grabstätte hat Dan zu der Annahme geführt, es könnte sich um die Überreste einer … einer wichtigen Persönlichkeit handeln.»

«Wichtig?»

«Einer historisch bedeutenden Gestalt.»

Ruth weiß, dass ein Grab Hinweise auf den gesellschaftlichen Status geben kann. Ein aufwendiger Stein, Grabbeigaben, Waffen und Schätze – all das deutet darauf hin, dass dort ein wohlhabender oder einflussreicher Mensch begraben liegt.

«Ich habe mich erkundigt …», der schleimige Ton schleicht sich wieder in Henrys Stimme, «… und Sie gehören, was Knochen betrifft, zu den führenden Experten.»

Bei solchen Formulierungen muss Ruth immer an einen Hund denken. Trotzdem ist ihr etwas Anerkennung sehr willkommen. Ihr fällt wieder ein, wie es sie gefreut hat, dass Dan ihre Karriere verfolgte.

«Da habe ich mich gefragt, ob Sie eventuell herkommen und sich unsere Knochen einmal ansehen könnten.»

Unsere Knochen. Ruth spürt einen gewissen Unmut in sich aufsteigen. Die Knochen haben Dan gehört. Trotzdem würde sie seine Entdeckung ungeheuer gern sehen.

«Mir ist klar, dass es für Sie ein weiter Weg ist», sagt die Alan-Bennett-Stimme an ihrem Ohr, «aber wir könnten Sie auch unterbringen. Eine Kollegin hat ein reizendes Ferienhäuschen unweit von Lytham. Sie könnten es mit einem Urlaub verbinden. Kommen Sie doch mit der ganzen Familie.»

Einen Augenblick lang wünscht sich Ruth, sie hätte tatsächlich eine richtige Familie – einen Mann, vier Kinder und einen Hund, die sich allesamt nach einem ordentlichen Urlaub am Meer verzehren, mit Eimerchen und Schäufelchen und den Zuckerstangen, für die Blackpool so berühmt ist. Aber Kate würden die Esel sicher Spaß machen.

«Ich werde es mir überlegen», sagt sie.

«O bitte, tun Sie das», sagt Clayton Henry. «Ich bin überzeugt, die Reise wird sich lohnen.»