Alles Anders - Ulrike Zimmermann - E-Book

Alles Anders E-Book

Ulrike Zimmermann

4,6

Beschreibung

Ein Kaleidoskop schillernder Farben, unglaublicher Begebenheiten, die alle eines gemeinsam haben: Nichts - gar nichts - ist, wie es scheint. Besuchen Sie ein faszinierendes, farbiges, überraschendes Potpourri aus Krimis, Lebenschroniken, Fantasy, Science Fiction und manchem mehr, dessen Fäden sich in nur einem Knoten treffen: Alles, ausnahmslos alles, ist anders. Was hat die Zeit mit Farben zu tun? Sind herrliche Aussichten immer der Weg zum Glück? Gespenster, Saurier, Geheimnisse - Nächte voll Grauen oder doch nur alles Maskenbälle des Schicksals? Einfach nur weg - irgendwo im Sommer - eingeschneit - Sein oder Mein oder doch nur ein Rollenspiel? Fragen, die nach Antworten verlangen und welche bekommen. Mit Sicherheit aber nicht solche, die man als Leser erwartet. Einmal begonnen, wird der geneigte Leser das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Zu krass die Unterschiede, zu spannend die Handlungen, zu überraschend das Ende. 70 Kurzgeschichten überraschend, fesselnd, spannend.

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Alles Anders!

Kurzgeschichten

Eine schottische Nacht

Sven Linnartz

Die Nacht bricht ein an diesem stürmischen und kalten Septemberabend in einem kleinen Hostel an Schottlands Küste. Die gegen den Strand preschenden Wellen und das Heulen des Windes versuchen sich gegenseitig zu übertönen, während ich mich auf einem viel zu kleinen Sofa mit einer Tasse dampfenden Tees und einem Buch niederlasse. Außer mir ist zum Glück kaum jemand hier, wenn man einmal von zwei jungen Frauen absieht, die sicherlich in einem der drei Dorfpubs abhängen und sich ein paar Bier gönnen. Ruhe ist genau das, was ich versucht habe zu finden. Doch so sehr ich mich auch bemühe, mich auf mein Buch zu konzentrieren, um endlich wieder einmal ein paar Seiten zu lesen, es will mir nicht gelingen. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, nicht aus Müdigkeit, sondern weil meine Gedanken unablässig abschweifen und immer wieder zu meinen Problemen zurückkehren. Mein Leben ist gelinde gesagt unaufgeräumt und ich weiß nicht, was ich mit diesem Leben überhaupt anstellen soll. Die Zwänge des Alltags fesseln mich in einem Korsett, aus dem ich mich nicht selbst befreien kann, wenn man einmal von den wenigen Wochen Urlaub im Jahr absieht. Aber auch dann wird das Korsett nur gelockert. Ich weiß, dass es in wenigen Tagen wieder festgezurrt wird und mich zu erdrücken droht. So müssen sich wilde Tiere fühlen, die den Duft der Freiheit gerochen haben und dann als Attraktion in irgendeinem Zoo oder Zirkus zur Belustigung der Massen enden. Die Sehnsucht und das Wissen um ein anderes Leben funkeln in ihren Augen. Man vergisst nie, was einem wirklich Erfüllung gebracht hat. Warum sollte es also bei mir anders sein?

Mein Korsett, das ich treffender als Gefängnis bezeichnen möchte, besteht aus einer Arbeit, die ich hassen gelernt habe und einer viel zu kurzen Zeit für mich selbst, für das, was mir wirklich Erfüllung bringen und mich das tägliche Einerlei vergessen lassen würde. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, fordern jeden Tag mehr, meist unberechtigt. Sie ignorieren das Wissen, das ich zu vermitteln versuche, bauschen sich auf und respektieren mich nicht. Doch habe ich Alternativen? Sicherlich, aber meine Versuche sie zu ergreifen, scheiterten bislang kläglich. Ich bin abhängig von der Entscheidung anderer und deshalb ist es fast unmöglich aus meinem Gefängnis auszubrechen. Manchmal komme ich mir wie ein Entfesselungskünstler vor, der sich mit aller Kraft und allem Geschick aus einer Zwangsjacke zu befreien versucht. Nur dass es ihm von Sekunde zu Sekunde mehr und mehr bewusst wird, dass er es nicht schaffen wird. Meine Zwangsjacke lockert sich für wenige Wochen im Jahr und doch tut sie es nicht, denn sonst säße ich nicht hier, die halbleere Teetasse in meiner Hand und würde über mein Leben sinnieren. Die beruhigende Wirkung des Tees will sich heute nicht einstellen und ich kann nicht von meinen schweren Gedanken lassen, die sich wie Ketten um meinen Geist und meinen Körper legen. Wenigstens muss ich für ein paar Tage keinen Zwängen und Verpflichtungen nachkommen. Weit weg von einem Zuhause, dem ich mehr und mehr mit Skepsis begegne und das ich doch nicht verlassen kann. Weit weg, bedeutet für mich nicht Australien, Nicaragua oder die Wüste Gobi. Weit weg ist für mich der Inbegriff von Ruhe und Abgeschiedenheit, mit so wenigen Menschen wie möglich um mich herum. Und so liege ich nun auf diesem alten, durchgesessenen Sofa, lasse meinen Blick über die Buchstaben schweifen, ohne recht zu wissen, was ich eigentlich lese. Daheim sind es die Ereignisse eines Arbeitstages, die ich nicht zurückdrängen kann und mir der Genuss eines Buches verwehrt bleibt. Der Tee ist mittlerweile kalt geworden und animiert nicht dazu ihn auszutrinken. Ich stehe vom Sofa aus, schütte das erkaltetet Wasser aus und setzte neues auf. Der Wasserkocher brodelt in Sekundenschnelle und ich nehme mir vor, mich endlich auf mein Buch zu konzentrieren, die schädlichen Gedanken irgendwie beiseite zu schieben. Es muss mir einfach gelingen, denn ich will endlich mal wieder in eine Geschichte eintauchen, die eine bessere Welt bietet. Ich gieße neues Wasser in die Tasse, lege mich aufs Sofa und schlage das Buch auf. Es duftet nach frischem Papier und ich beginne gerade damit das erste Kapitel zu lesen, als die Tür zur Wohnküche geöffnet wird. Eine der beiden Frauen, die ich heute Mittag kurz getroffen habe, kommt herein. Aber wie es mit Hostelbegegnungen so ist, blieb es bei einem kurzen Smalltalk, woher man kommt, was man macht und wohin man geht. Mein Namensgedächtnis ist nicht gerade das Beste, aber zum Glück kriege ich noch so gerade die Kurve. Sie begrüßt mich und ich grüße höflich zurück. Sie allein, stellt zwei Flaschen Wein in den Kühlschrank und schaut mir über die Schulter in mein Buch.

«Oh, ein Kinderbuch», sagt sie verwirrt.

«Ah, Cathleen war dein Name. Richtig?»

«Für einen Mann nicht schlecht», lächelt sie und ich lache zurück.

«Ich versuche mein Bestes. Das mit den Kinderbüchern ist ein Versuch dem Alltag zu entkommen. Alles andere überfordert mich wohl momentan zu sehr. Wo ist deine Freundin?», frage ich.

«Mary? Sie hat das erste Bier in der Kneipe nicht überlebt. Herzschmerz und Übelkeit sind wohl keine gute Kombination.»

«Tut mir leid», antworte ich.

«Hast du Lust mit mir eine Flasche Wein zu trinken? Um neun Uhr gehe ich normalerweise noch nicht ins Bett.»

Mehr aus Höflichkeit als aus Durst auf Alkohol, nehme ich die Einladung an. Der Wein ist kalt, süß und fruchtig. Seit meiner Studentenzeit habe ich einen solchen Wein nicht mehr getrunken, aber er schmeckt und das allein zählt. Cathleen nimmt auf dem zweiten Sofa Platz. Ich schaue sie an. Sie ist jung, trägt eine Leggings, die ihr nur bis zu den Waden reicht und einen blauen Hoodie. Der Raum ist erfüllt von ihrem Parfüm, dezent und doch so betörend verführerisch. Sie zieht ihre Beine an den Oberkörper und prostet mir zu. Der Anfang unseres Gesprächs ist schleppend. Ich spreche noch einmal mein Bedauern aus, dass ihre Freundin krank ist und sie erkundigt sich mindestens ebenso höflich, was mich hierhin an die Nordostküste Schottlands verschlagen hat. Sie trifft einen Nerv und ich bin mir nicht schlüssig, ob ich von meinen Zweifeln in meinem Leben erzählen soll oder nicht. Ganz abgesehen von meinem Vertrauen in meine Englischvokabeln. Sie ist fremd und doch wieder nicht und hört mir geduldig zu. Wir sind allein in diesem Hostel, wenn man einmal von der kranken Mary absieht. Zwei Fremde bei einem eigentlich viel zu süßen Wein, der von Glas zu Glas besser schmeckt. Sie hört zu, lauscht meinem viel zu schlechten Englisch und doch habe ich das Gefühl verstanden zu werden. Cathleen spricht über ihr Leben, ihre Sichtweise der Dinge. Und diese Sichtweise ist schlicht und einfach, um nicht zu sagen simpel. All ihre Erklärungen zu meinem chaotischen Leben enden mit einem Vergleich über das Essen. Sie sagt: «Wenn man in das beste Restaurant der Stadt gehen würde und das Essen würde partout nicht schmecken, würde man es dann aufessen?»

Ich frage mich, ob es wirklich so simpel ist und erzähle noch mehr von dem, was mich bewegt. Mehr von mir, meinem Gefühl nicht verstanden zu werden und von meinem Unvermögen, so etwas wie eine erfüllte Beziehung führen zu können. Vielleicht liegt es auch an mir, meinen vermeintlich hohen Ansprüchen und meinem Zwang, mich selbst immer verbessern zu wollen. Warum sonst werden mir die meisten Damen schnell zu langweilig? Langweilig im Sinne von: Mir fehlt die Herausforderung.

Und wieder antwortet Cathleen mit ihrem Gleichnis über das Essen. Am liebsten würde ich gleichzeitig heulen und lachen, weil ich nicht selbst darauf, ja was ist es eigentlich, eine Lösung oder nur ein anderer Blickwinkel, gekommen bin. Ich lache, aus vollem Herzen, seit langem wieder einmal frei und unbeschwert. Die erste Flasche Wein ist mittlerweile geleert. Cathleen steht auf, geht zum Kühlschrank und öffnet, ohne mich zu fragen, die zweite Flasche. Ich kann und will mich gar nicht dagegen wehren, bin dankbar für alles, was mir die vergangenen Stunden gebracht haben. Es sind Stunden, die mir wie Sekunden vorgekommen sind. Sie füllt die Gläser, reicht mir meins und noch bevor ich «Danke» sagen kann, quetscht sie sich ans andere Ende meines Sofas, zwängt ihre Beine irgendwie neben meine und lächelt mir zu. Trotz oder wegen des Alkohols, klappt es nun mit meinem Vokabular besser. Wir landen bei gutem Essen, versuchen uns an Erzählungen über unsere Kochversuche und Vorlieben für gute Filme und Musik. Es ist alles so vertraut, so als würden wir uns schon jahrelang kennen. Simpel eben. Um bei Cathleens Vergleich zu bleiben: Das Essen schmeckt hervorragend.