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Jenny Schneider, ruhig, verträumt, übergewichtig und 29 Jahre alt, die sich bisher eher durchs Leben treiben ließ, sieht sich plötzlich mit den Freuden und Problemen einer modernen Frau konfrontiert. Dabei verabscheut sie Veränderungen und Konflikte jeder Art zutiefst. Lieber hängte sich Jenny bisher als bequemes Frauchen an starke Persönlichkeiten an. So führte sie ihre heftige Liebe zu dem attraktiven und selbstsicheren Arbeitskollegen in eine abhängige Besessenheit. Als Jenny schmerzhaft erfahren muss, dass sie von der Umwelt nicht ernst genommen und sogar abgelehnt wird, beginnt sie, neue Wege einzuschlagen. Sie wird zunehmend mehr mit den Problemen der modernen Frauen: sei es nun eine ungewollte Schwangerschaft, ein akuter Krebsverdacht, ein Selbstmordversuch einer Freundin oder die Probleme der Chefin, sich einen angemessenen Platz in der Männerwelt zu erkämpfen. Von den problematischen Geschehnissen in ihrer Umwelt und ihren eigenen heftigen Niederlagen wird Jenny zum Handeln gezwungen. Sie kündigt ihre sichere Stelle und geht eigene Wege: sowohl beruflich als auch privat. Dies führt sie nicht nur zu falschen Entscheidungen, sondern auch in eine ungeahnte Richtung...
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2020
ALLES FÜR DIESEN MANN
Jenny riss die Augen erwartungsvoll auf. Ihr Hals war plötzlich belegt und sie hatte das Bedürfnis, sich zu räuspern. Ihre Wangen begannen zu glühen. Unzählige kleine Marienkäfer schienen durch ihre Adern zu krabbeln. Jedoch ihr Herz fühlte sich wie ein schmerzhafter Betonklotz an, der ihre Lunge so stark eindrückte, dass bei jedem Einatmen ein hohes Pfeifen zu hören war.
„Hei Mädels!“, Roman hatte soeben das Buchhaltungsbüro betreten, das sich Jenny mit ihrer Kollegin und Freundin Martina teilte. Er schenkte jedem der beiden Frauen sein strahlendes zwinkerndes Lächeln.
Dieser Mann war die Ursache für Jennys Aufruhr. Sie fühlte sich jede Minute durch ein unsichtbares gespanntes Gummiband mit ihm verbunden, das sie Tag und Nacht mit aller Kraft zu ihm hinzog. Allerdings hatte Roman diese Anziehungskraft offensichtlich noch nicht bemerkt, denn außer einer guten, platonischen Freundschaft zeigte er seit seinem Eintritt in dieser Firma vor ungefähr neun Monaten kein Interesse an einer Beziehung mit Jenny.
„Was gibt’s EDV-Freak?“, flötete Martina zurück, während Jenny noch immer pfeifend nach ihrer Stimme rang.
„Ich brauche noch mal die Rechnung vom letzten PC, den Frau Bauer im Einkauf bekommen hat. Es muss vermutlich ein Teil ausgewechselt werden, Frau Bauer schimpft schon mit mir, da ich den PC nicht zum Laufen bekomme.“ Romans grüne Augen strahlten vor allem Jenny an, die sofort wie hypnotisiert aufsprang.
„Klar, ich suche sie sofort heraus!“ Jenny verschluckte sich fast an ihren hastig gesprochenen Worten. Sie schnappte sich den nächstbesten Rechnungsordner und wühlte ziellos darin herum. Sie hoffte, ihr käme plötzlich doch noch die zündende Idee, um welche Rechnung es sich handeln könne. Sie hörte im Hintergrund Romans amüsierte Stimme. Er wusste genau, welche Gefühle in Jenny verrückt spielten. Viele Stunden hatten sie beide zusammen nach dem Feierabend im nahegelegenen Cafe noch über Firmenereignisse und das Leben im Allgemeinen diskutiert. Jenny hing dabei geradezu an seinen Lippen und seinen stets strahlend-amüsierten Augen. Ihre unzähligen Angebote, dass er jederzeit mit seinen Problemen zu ihr kommen könne, über die er sowieso nie mit ihr sprechen würde, sowie ihre ständige Bereitschaft zu Treffen mit ihm hatten ihm schon längst als sehr feinfühligen Mann die Augen über ihre tiefe Liebe und Hörigkeit geöffnet. Er genoss die Situationen, in der er angehimmelt und mit wichtigen Firmeninformationen versorgt wurde. Roman mochte Jenny als Kollegin sehr, verachtete aber ihre Anbiederung und empfand ihr übergewichtiges und eher ungepflegtes Äußeres als unattraktiv. Ihren naiven, ängstlichen und leicht manipulierbaren Charakter fand er süß, schloss aber jede Achtung seinerseits aus.
„Nur mit der Ruhe!“, grinste er Jenny an. „Ich habe dir doch noch gar nicht gesagt, welcher Lieferant uns diesen Schrott geliefert hat.“ Jenny lächelte verkrampft und fühlte sich ertappt.
Martina, die Jennys Gefühle für Roman längst kannte, mischte sich nun ein. „Schrott? Ein PC ist ein Wunderwerk der Technik. Hast du uns das nicht immer wieder gesagt? Na ja, über sein Eigenleben wundere ich mich allerdings auch täglich.“
„Frag mich doch, wenn du Probleme mit deinem Computer hast. Dafür bin ich hier eingestellt. Ich finde den Computer meistens noch komplizierter als Frauen“, konterte Roman und zwinkerte Jenny vergnügt zu.
„Und das sagt ein diplomierter Informatiker“, stöhnte Martina und wandte sich wieder ihrer Rechnungskontierung zu.
„Stopp, Jenny. Ich sehe gerade die Rechnung, die ich brauche, in deinem Ordner!“
Erleichtert nahm Jenny die Rechnung heraus und gab sie Roman. Ein Blick auf Romans Hand erinnerte sie an ihre abgekauten Fingernägel. Seine Fingernägel waren wie seine ganze Erscheinung: sehr gepflegt, aber nicht auffällig.
„Er kann mich nicht lieben, dafür bin ich rundherum zu unvollkommen“, dachtes sie voller Zweifel. „Wenn ich so fröhlich unbekümmert wie Martina, so perfekt wie Stefanie wäre oder so attraktiv wie Ute, dann würde es vielleicht zwischen Roman und mir klappen. Stattdessen verraten meine abgekauten Fingernägel und meine Esssucht meine Disziplinschwäche. Meine unattraktive graue Kleidung und meine langweiligen glatten braunen Haare zeigen meine Angst, irgendwie aufzufallen und Ärger zu bekommen mehr als deutlich. Und dabei ist gerade er so gepflegt, attraktiv und willensstark. Ab heute werde ich mich ändern müssen.“
Diesen Vorsatz hatte Jenny schon, als Roman vor neun Monaten in die Firma kam. Geändert hatte sich nichts, außer dass weitere zehn Kilo ihren ohnehin auffällig großen Hintern schmückten. Sie ahnte nicht, wie gravierend sich ihr Leben im nächsten Jahr verändern würde.
„Der Wirbelsturm hat sich gelegt, Roman ist weg“, unterbrach Martina Jennys selbstzerstörerisches Grübeln grinsend.
In diesem Moment fiel Jenny ein, dass sie einen Termin hatte. In großer Eile warf sie noch die letzten Ordner in die hohe, hellbraune Aktenschrankwand in ihrem Büro. „Will der Computer heute gar nicht mehr herunterfahren“, murmelte sie ungeduldig, während sie nervös hin und her lief. Die Nachricht „Sie können den Computer abschalten“ ließ heute ewig auf sich warten. „Na endlich“, sagte Jenny und fiel fast über die Räder ihres Bürodrehstuhls, als sie den Bildschirm eben noch ausdrücken wollte.
Martina hatte sich im Bürostuhl entspannt zurückgelehnt und verfolgte höchst amüsiert Jennys Treiben. „Dein Date muss aber ganz schön attraktiv sein“, meinte sie provokativ. „Hast du nun endlich doch beschlossen, Roman den Laufpass zu geben?“, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.
„Ich habe kein Date, nur einen wichtigen Termin“, stellte Jenny richtig, während sie gerade sehr umständlich den Autoschlüssel aus ihrer Tasche suchte. Es war ihr unangenehm, Martina so ausweichend antworten zu müssen. Sie war inzwischen mehr als nur eine das Zimmer teilende Arbeitskollegin für sie. Martina war eine gute und aufmerksame Freundin geworden. Die beiden grauen, modernen Schreibtische waren in der Mitte des Raumes zusammengeschoben, so dass sich Martina und Jenny gegenübersaßen. Meistens befanden sich überall Papierstapel, Ordner und Ablagekörbchen auf dem Tisch. Ihre großen Computerbildschirme standen jeweils auf einem gesonderten Computerarbeitstisch am hinteren Fenster mit dem Bildschirm zur Tür. Die vielen hohen Grünpflanzen auf der Fensterbank vermittelten eine gemütliche und wohnzimmerähnliche Atmosphäre. Es wurde immer darauf geachtet, dass Martina und Jenny sich noch gut sehen und unterhalten konnten. So hatten sie im Laufe der Jahre sämtliche aktuellen privaten und betrieblichen Themen immer und immer wieder durchgekaut. In einer schwachen Stunde hatte Jenny ihr sogar von ihrer Schwärmerei zu einem engen Arbeitskollegen verraten.
Seit neun Monaten kreisten nun schon Jennys Gedanken nahezu ununterbrochen um diesen Arbeitskollegen Roman. Inzwischen bestimmte er ihren Alltag und ihr Leben entscheidend mit. Roman mischte sich nicht wirklich viel in Jennys Leben ein, abgesehen von gelegentlichen erbetenen Ratschlägen. Stattdessen stellte sie sich dauernd vor, was er ihr in den verschiedensten Situationen sagen würde. Und dementsprechend traf sie ihre Entscheidungen. So hatte Roman sie in ihren Gedanken taktvoller Weise häufiger aufgefordert, etwas an ihrem Aussehen zu verändern. Daher hatte Jenny sich entschlossen, diesen Ratschlag zu befolgen. Roman wurde somit nicht nur ihr ständiger Begleiter, sondern auch ihr Gewissen und ihr Coach.
„So, jetzt kannst du dich wieder voll deiner Arbeit widmen. Ich nutze heute nämlich ausnahmsweise mal meine Gleitzeit und gehe etwas früher“, Jenny schenkte Martina ihr für diese Eile bestes Lächeln. Martina zwinkerte nur kopfnickend zurück. Jenny musste lachen. Wie Martina so dasaß – mit ihren braunroten, halblangen, glatten Haaren locker im Bürostuhl. Ob diese schöne Haarfarbe nun echt oder getönt war, hatte sie ihr nie verraten wollen. Das war aber auch nicht so wichtig. Martina war nicht eitel, aber ehrgeizig, hilfsbereit und tolerant. Ihre erfolgreichste Charaktereigenschaft war jedoch ihr Blick und Gefühl für das Wesentliche. Zudem wusste sie sich sehr gut durchzusetzen und tat es mit einer bewundernswerten direkten, offenen Weise. Martinas gute Laune war jedes Mal wieder schnell hergestellt, wenn eine unangenehme Sache geklärt war. Ich habe ganz schön viel Glück mit ihr als Kollegin – wenn ich so manch anderen dagegen sehe, dachte Jenny zufrieden, während sie die Treppen herunter ging.
„Nun aber los“, feuerte sie sich selber an. Das war jedoch durch ihr erhebliches Übergewicht gar nicht so einfach. Der hervorgewölbte Bauch drückte in den Unterleib und zog an ihrem Rücken. Das wird sich bald ändern, beruhigte sie sich. Hoffentlich! Da waren doch schon wieder diese bekannten Zweifel, die jeden Änderungsversuch, ob nun Gewichtsabnahmen oder sonstige Veränderungen, schon von vornherein in Frage stellten.
Jenny hatte tatsächlich kein Date, sondern sich entschlossen, an diesem Tag den hoffentlich endlich erfolgreichen Abnahmeversuch bei einer Diätgruppe zu beginnen. Leider war die Zeit bis zu diesem Treffen in ihrer Wohnungsnähe sehr knapp. Auch die Autobahn war, wie bereits von Jenny befürchtet, ziemlich befahren. Sie wurde noch nervöser. Aber sie ertappte sich auch bei dem Gedanken, dass es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, wenn sie es nicht mehr schaffen würde. Dann könnte sie heute und in der nächsten Woche ganz unverkrampft weiterhin Schokolade essen und auch am Wochenende Essen gehen oder eine große Käsepizza aufbacken. Bei diesem Gedanken lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Es graute ihr schon vor dem lästigen Kalorienzählen, was nur den Hunger anstachelte und den Spaß am Genießen nahm.
Wie von stärkeren Kräften gezogen, erreichte sie jedoch pünktlich das Krankenhaus, in dem die Diätgruppe fünf Minuten später beginnen sollte. Jetzt musste sie nur noch einen Parkplatz finden. Nach einer ihr endlos erscheinenden Suche fand Jenny endlich einen, der auch für ihre miserablen Parkkünste groß genug erschien. Während sie äußerst umständlich in der für zwei Autos ausreichenden Lücke hin- und herfuhr, beobachtete sie kopfschüttelnd ein Mann. „Solch eine saumäßige Parkerin bekommt auch noch Ermäßigung bei der Autoversicherung“, hörte sie ihn laut sagen, als er an ihrem Auto vorbeilief.
Endlich stand ihr rotes Mittelstandsauto so halbwegs ordentlich in der riesengroßen Parklücke. Schnell packte sie ihre Tasche und eilte in Richtung Krankenhauseingang.
An der Anmeldung musste sie jedoch noch warten, da eine offensichtlich einsame ältere Dame nicht nur die Zimmernummer eines Patienten wissen wollte, sondern auch beabsichtigte, ihre ganze Lebensgeschichte hier und jetzt zum Besten zu geben. Jenny wankte zwischen Mitleid und Ärger. Verzweifelt und übernervös starrte sie auf die Uhr an der Wand, während die Frau bereits wieder Luft holte: „Ich sage ihnen eins“, legte diese wieder los. „Meine älteste Tochter hätte nie …!“
„Entschuldigen Sie“, nahm Jenny ihren ganzen Mut zusammen. „Ich habe es etwas eilig“, nickte sie entschuldigend der älteren Dame zu, die überrumpelt den Mund schloss und Jenny verärgert anstarrte. „In welchem Raum trifft sich die Abnahmegruppe um 17.30 Uhr, bitte?“ Jenny sprach sehr leise in der Hoffnung, kein anderer würde diese Frage hören.
„Ach, Sie meinen die Abnahmegruppe für stark Übergewichtige“, trötete die schlanke, junge Empfangsdame deutlich und extrem laut zurück. Jenny zog peinlich berührt die Schultern hoch und spürte, wie sie von vielen Blicken der Patienten rundherum neugierig gestreift wurde. Die Dame von der Anmeldung blätterte eine Ewigkeit in den Blättern, die auf ihrem Tisch lagen. „Da hab ich’s! Raum 106, 1. Etage.“ Sie musterte Jenny dabei überheblich von oben bis unten. Jenny räusperte sich verlegen und überlegte schon, ob sie nicht einfach wieder gehen sollte. Da ihr dieser feige Rückzug jedoch mindestens genauso peinlich gewesen wäre, bedankte sie sich nur und rannte zum Aufzug.
Aus dem Raum 106, einem offensichtlich sehr großen Sitzungsraum, drangen viele Stimmen. Ihr Herz schlug aufgeregt. Der Fluchtinstinkt regte sich wieder heftig in ihr. Jenny wollte nicht hineingehen und eine Stunde über das Essen, Gewicht und Abnahmeerfolge reden. Sie wollte nur nach Hause.
„Wozu braucht man zum Abnehmen eine Gruppe?“, hörte sie plötzlich Romans Stimme in ihr. „Das schafft man doch wohl auch mit ein bisschen Disziplin alleine. Es ist doch purer Schwachsinn, auch noch Geld und Zeit in eine Gruppe zu stecken, die dir das sagt, was du auch schon selber weißt.“ Jenny nickte leicht. Voller Erleichterung gab sie ihm gerne Recht, tröstete sich damit, dass sie ab morgen jede Kalorie aufschreiben und zählen würde und rannte bereits, so schnell es ihr Gewicht zuließ, die Treppen zum Hinterausgang des Krankenhauses herunter.
Beschwingt fuhr Jenny nach Hause. Allein durch den nackten Vorsatz, ab morgen Kalorien zu zählen und damit ganz leicht abzunehmen, fühlte sie sich bereits um viele Kilos leichter. Jenny erhoffte sich mit der Gewichtsabnahme einen automatisch parallel verlaufenden Aufbau ihrer kümmerlichen sozialen Fähigkeiten. Sie war ein sicherheitssuchender Mensch und ging daher Auseinandersetzungen und Herausforderungen ständig aus dem Weg. Sie hatte daher keine Erfahrungen mit gewonnenen Schlachten sammeln können und litt unter einem sehr geringen Selbstvertrauen. Auch im Berufsleben stand sie ständig unter Leistungsdruck, weshalb sie lieber die Rolle der hoch motivierten Mitarbeiterin und blindloyalen Untergebenen spielte, als durch ein selbstbewusstes Nein womöglich in Ungnade zu fallen. Zudem hatte sie panische Angst vor Diskussionen, in denen es um ihr Verhalten ging. Noch immer dachte Jenny ärgerlich und beschämt an ihre sechs Jahre Schulzeit im Gymnasium zurück, in denen sie sich in treudoofer Zweisamkeit mit einer Freundin von sämtlichen Schulkolleginnen abgekanzelt hatte. Diese Freundin betrog sie später eiskalt mit ihrem angehenden damaligen Freund. Erst nach der Trennung zu dieser Freundin blühte Jenny ein wenig auf und fand zwei Freundinnen, mit denen sie noch immer befreundet war. Aber auch bei diesen Freundinnen spielte Jenny von Anfang an die untergeordnete Rolle und wurde auch entsprechend behandelt.
In Hochstimmung trabte Jenny noch zum nächsten Geschäft, um Quark, Salat und Mineralwasser zu kaufen. Nicht zu vergessen: die obligatorische Schachtel Pralinen – natürlich zur Pralinenabschiedsfeier oder falls ihre Zuckersucht Oberhand gewinnen würde. Nur so zur Sicherheit, sozusagen als doppelter Boden!
Als sie voll beladen mit zwei Tüten die Wohnungstür aufschloss, hörte sie schon das Telefon klingeln. „Ja, hallo!“, meldete sie sich atemlos auf die neue amerikanische Art.
„Ich habe dich doch wohl nicht beim Sport gestört, wenn du so atemlos bist? Das täte mir aber wirklich leid“, hörte Jenny die etwas sarkastische Stimme von Stefanie.
„Wenn Tütenheben eine Sportart ist, dann ja“, konterte Jenny.
„Ich will mich lieber gar nicht erkundigen, was in den Tüten so schwer ist. Vermutlich ein Berg Kalorien. Das mit den Grenzen musst doch noch immer lernen.“
Heute darf ich noch, geht erst ab morgen los, tröstete sich Jenny und versuchte krampfhaft, die Anspielung auf ihren schwachen Charakter zu überhören.
„Kommst du gleich zu mir? Ute rufe ich auch noch an. Deine leckeren Einkäufe kannst du gerne mitbringen“, sprudelte Stefanie durch den Hörer.
Jenny tat betont heiter, obwohl sie noch an Stefanies Kritik zu beißen hatte. „Ja gerne, ich komme in einer Stunde. Gibt es was Besonderes zum Feiern?“
„Zu feiern eher nicht, aber zu erzählen.“
Bei Stefanie konnte es sich dann nur um eine Arbeitsangelegenheit handeln – dies schien aber nicht erfreulich. Sie war eine fast unmenschlich zuverlässige, schonungslos ehrliche und verantwortungsvolle Person und Freundin und dazu noch krankhaft ehrgeizig, was sie auch von ihrer Umwelt erwartete. „Den Drang zum beruflichen Übereifer habt ihr wirklich gemeinsam“, sagte häufig die Dritte im Bunde, Ute. Sie waren Schulfreundinnen aus dem Gymnasium und grundverschieden. Ute und Stefanie waren in der 11. Klasse aus der Realstunde auf das Gymnasium in Bochum gekommen und die drei jungen Frauen freundeten sich sofort an. Jenny bewunderte die Zielstrebigkeit der beiden sehr, die ihre beruflichen Ziele schon in diesem Alter kannten und stückweise zu verfolgen und zu erreichen versuchten. Sie selber wusste nach dem Abitur noch nicht einmal, was sie eigentlich werden wollte. Im Gymnasium hatten sie noch viele gemeinsame Ziele: ein gutes Abitur, eine interessante Lehrstelle und einen reichen, tollen, sexy Mann und natürlich das Leben zu genießen. Man lebt ja schließlich nur einmal. Von Jahr zu Jahr änderten sich ihre Sichtweisen, Schwerpunkte und Lebensweisen. als würden sie in anderen Welten leben. Vielleicht machte gerade dies ihre Freundschaft mit 29 Jahren noch immer lebendig und interessant. Vielleicht übersahen sie dabei aber auch die inzwischen lange eingespielten Rollen untereinander, bei denen Jenny immer als Schwächste herausgekehrt wurde.
Schön, dass Jenny in einer Stunde schon kommt, dachte Stefanie, während sie in Windeseile die restlichen Krümel vom Arbeitsbrotschmieren wegwischte, die Stühle zurechtrückte, kurz mit dem Fensterleder ein paar Wasserflecken von den Kacheln abwischte und das Badezimmerbecken zum zweiten Mal an diesem Tage reinigte. Dann erst rief sie Ute an.
„Hei Ute, kommst du heute auch auf ein Glas Wein vorbei?“
„Ja sehr gerne. Ich habe gestern jemanden kennengelernt. Muss ich euch unbedingt erzählen.“
„Ich habe auch eine Story zu erzählen – wird also interessant werden. Jenny kommt natürlich auch. In ungefähr einer halben Stunde geht es los!“
Stefanie machte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich auf das Sofa. Mit ihrem fransigen Kurzhaarschnitt und ihrem braunen Haar sah sie sehr modern und flippig aus. Allerdings machte sie ihr ständiger Business-Look, ihre dezente Schminke, ihr fast unsichtbarer Schmuck und ihre äußerst akkurate Art zu einer selbstbeherrschten, zielstrebigen Erfolgsfrau. Die Ordnung in ihrer Arbeit dehnte sich auch auf ihre Wohnung aus, die zweckdienlich eingerichtet und ständig peinlichst sauber war.
Stefanie konnte es kaum erwarten, ihrem Ärger bei ihren Freundinnen Luft zu machen. Ute würde ihr vermutlich zum hundertsten Male raten, den beruflichen Ehrgeiz runterzuschrauben und sich umso mehr auf das Privatleben zu konzentrieren. Sie hatte auch gut reden. Schließlich war sie die Hübscheste: lange, blonde Haare, schmal und geübt im Flirten mit attraktiven Männern. Ihr Ehrgeiz bestand vorwiegend im Umgarnen des anderen Geschlechts. Aber Stefanie wollte alles so gut wie möglich machen und sah die Pflichterfüllung als Aufgabe eines Menschen. Da sie keine Kinder hatte und Familienplanung für sie höchstens in einer anderen Welt vorzustellen war, betrachtete sie die beste Ausübung ihrer beruflichen Aufgaben als ihre Pflicht. Dazu gehörte auch der starke Einsatz für schwächere, unterdrückte oder unfair behandelte Mitarbeiter und vor allem Mitarbeiterinnen, aber insbesondere für Jenny, die in ihren beiden Augen zwar gutmütig, treu und lieb war, der es aber an Kraft, Stärke, Charakter und vor allem sozialer Geschicklichkeit noch immer erheblich mangelte.
Stefanie hatte einen Freund, Jochen, weil er einfach zu einem normalen Leben dazugehörte. Da auch er ihren beruflichen Übereinsatz weder gut fand noch teilen konnte, vermied Stefanie allzu häufige Treffen mit ihm. Stefanie legte auch keinen Wert darauf, oberflächliche Flirts einzugehen, sondern baute auf ihre Wirkung durch Zuverlässigkeit, solides Auftreten, Fleiß, Hilfsbereitschaft und Erfolge.
„Jenny wird mich verstehen“, murmelte sie. Jenny hatte seit ein paar Jahren leider zunehmend an Fülle zugenommen. Diese Unbeherrschtheit stieß sowohl bei Stefanie als auch bei Ute auf völliges Unverständnis. Jenny war ansonsten eine sehr ruhige, verträgliche Freundin, die gut zuhören konnte und ein Gespür für Situationen anderer hatte. Sie war sehr zuverlässig und hatte schon oft ihre hervorragenden Diplomatie- und Vermittlungskünste zwischen den völlig gegensätzlichen Freundinnen Stefanie und Ute unter Beweis gestellt, auch wenn sie ihr eigenes Leben nicht so richtig selber managen konnte. Bevor sie so zugenommen hatte, war sie eine schöne Frau gewesen: dunkelbraune, lange Haare, rundes Gesicht und recht zierliche Figur. Leider hatte sie sich schon immer zu unauffällig gekleidet und war zu naiv, um von Männern beachtet zu werden. Stefanie schüttelte den Kopf. Jenny arbeitete beruflich sehr gut und äußerst gewissenhaft. Sie versuchte, ihre Anerkennung dadurch zu verdienen, indem sie etwas schneller, etwas mehr, etwas länger, etwas gründlicher als ihre Buchhaltungskolleginnen arbeitete. An irgendeinem Tag X hatte ihr Chef dann entdeckt, dass sie eine sehr gute und loyale Untergebene ist und seitdem hatte sie ein recht angenehmes und zufriedenes Berufsleben. Aber darauf beschränkte sich bisher auch ihr Lebensinhalt. Wäre sie lauter und auffälliger gewesen, dann hätte sie sich nicht erst halbtot arbeiten müssen, um irgendwann einmal entdeckt zu werden, dachte Stefanie vor sich hin. Aber jeder ist halt nur so, wie er ist und Jenny wird nicht erwachsen!
Stefanie ging zum Wohnzimmerschrank, holte schon einmal die Flasche Wein heraus und öffnete sie. Langsam goss sie sich ein Glas in das schlichte Weinglas ein. Stefanie war Sekretärin und belegte dauernd Fortbildungslehrgänge. Zurzeit hatte sie gerade einen Intensiv-Controllingkurs erfolgreich beendet. Ute hatte den Posten als Gruppenleiterin der Kundenbetreuung in einem Telekommunikationsbetrieb.
Stefanie wischte gedankenverloren über die Glasplatte des Wohnzimmertisches, auf dem eine Fluse des weißen Berberteppichs gelandet war. Hätte sie von vornherein gewusst, dass ein Berberteppich so flust, läge hier jetzt ein anderer Teppich. Vielleicht eine orientalische Brücke? Solche verschnörkelten Teppiche entsprachen nun gar nicht ihrem Geschmack. Ute und Jenny hätten diesen arbeitsintensiven Teppich bestimmt schon längst herausgeworfen, dachte sie schmunzelnd. Ute hätte ihn wahrscheinlich eher bequem von einer sich ihr so oft anbiedernden Männerbekanntschaften entsorgen lassen. Sie weiß, ihre Freunde ganz gut zu benutzen – endlich mal eine Frau, die sich nicht nur ausnutzen lässt vor lauter Liebe und Torschlusspanik, stellte Stefanie nicht ohne einen gewissen Neid fest. Zumindest bin ich nicht so unterwürfig wie Jenny, die in ihrer Unerfahrenheit noch immer glaubt, nur brave Mädchen bekommen einen tollen Mann, tröstete sie sich.
Es schellte. Jenny keuchte die Treppen herauf. „Es riecht schon nach Wein!“, sagte sie, als sie die Wohnung betrat. „War es so schlimm heute in der Arbeitsstelle?“, fragte sie neugierig.
„Es war heftig, aber dazu später, wenn Ute auch da ist“, entgegnete Stefanie.
Fünf Minuten später war auch Ute da. Für ihre Freundinnen versuchte sie sogar, jedes Mal Verabredungen mit einer für sie untypischen Pünktlichkeit einzuhalten. Ute freute sich immer sehr auf ein Treffen mit ihren Freundinnen, bei denen sie einfach sie selbst sein konnte. Keine Spielchen, kein Konkurrenzkampf, kein perfektes Outfit und verführerisches Verhalten. Sie konnte über ihre Gefühle, ihre Hoffnungen und Ängste vor allem mit der aufgeschlossenen, großzügigen und bewundernden Jenny sprechen. Stefanie war zwar eine schätzenswertere Person, aber manchmal zu spitzzüngig. Allerdings konnte Stefanie sie durch ihre endlose Tatkraft oft begeistern.
Als alle im Wohnzimmer rum den Glastisch herumsaßen und mit einem großen Glas trockenen Rotwein versorgt waren, fragte Ute recht ungeduldig. „Stefanie, nun leg mal los. Wem oder was haben wir diesen köstlichen Wein zu verdanken?“
„Ihr wisst doch, dass Frau Bruso, die bisherige Chefsekretärin von Herrn Schormer, dem Geschäftsführer, gekündigt hat.“
„Hat sie euch eigentlich erzählt, warum sie gekündigt hat?“, warf Jenny äußerst interessiert ein.
„Sie sagte nur, der Umgang mit ihrem Chef, also Herrn Schormer, wäre nicht so leicht gewesen und das Gehalt sei für den anspruchsvollen und ständig wachsenden Aufgabenbereich auch nicht angemessen. Es stimmte auch, sie hatte noch mehr Aufgabenbereiche übertragen bekommen. Aber gerade diese Aufgabenvielfalt war für mich selbst gerade einer der Hauptgründe, um diesen Posten unbedingt haben zu wollen.“
„Dann kannst du wahrscheinlich gleich dein Feldbett mit ins Büro nehmen und deine Wohnung auflösen“, schlug Ute in ihrer schonungslos stichelnden Art vor.
„Du hast ja auch gerade deinen Controllinglehrgang abgeschlossen“, brachte Jenny das Thema verständnisvoll wieder in die richtigen Bahnen. Sie vermied jeden Ärger in ihrer Umgebung.
„Genau“, erzählte Stefanie dankbar weiter. „Ich hielt mich für äußerst qualifiziert und bewarb mich bei Herrn Schormer. Er schlug mir daraufhin vor, meinen Posten noch nicht endgültig zu wechseln, sondern erst einmal vorübergehend den Aufgabenbereich mit zu bearbeiten. So könnte ich sehen, wie wir miteinander auskommen und ob die Arbeit mir tatsächlich auch Spaß macht. Meinen jetzigen Posten würde ich auf diese Weise nicht ohne Rückzugsmöglichkeit aufgeben. Er versprach mir, dass er auch nicht ärgerlich wäre, wenn ich die Bewerbung dann doch zurückziehen würde. Ich blöde Kuh habe ihn noch für äußerst entgegenkommend gehalten. Ich dachte, er läge einzig und allein Wert darauf, dass die spätere Zusammenarbeit auch funktioniert!“
„Ich kenne das Bla-Bla-Bla“, warf Ute ein, während sie sich gerade das zweite Glas ein eingoss. „Du hast den Vorschlag doch wohl nicht angenommen?“
„Doch sicher, wie ich schon sagte, fand auch ich den Vorschlag hervorragend. Ihr habt ja auch schon gemerkt, dass ich seit einem Monat abends häufig später nach Hause gekommen bin!“
„Jenny hat davon bestimmt nichts gemerkt – die ist selber so dumm und verarbeitet ihre Freizeit“, entgegnete Ute.
Jenny tat so, als hätte sie diese Bemerkung nicht wahrgenommen und schaute stattdessen höchst interessiert auf den flusenden Berberteppich, als würde sie jede Stoffwolke einzeln malen wollen.
„Zwei Posten gleichzeitig müssen auch geschafft werden“, verteidigte sich Stefanie.
„Hast du wenigstens auch das Gehalt für zwei bekommen oder Überstundengeld?“, fragte Ute, obwohl sie schon die Antwort kannte.
Stefanie sah sie mit großen, erstaunten Augen an. „Die vorerst zusätzliche Bearbeitung bedeutete zum damaligen Zeitpunkt eine große Chance und keine Pflicht für mich.“
Jenny bemerkte jedoch ein verärgertes Aufblitzen in Stefanies Augen und wartete gespannt auf den Haken an der Geschichte, dem sie zweifellos den Wein zu verdanken hatten.
„Seit einem Monat arbeite ich also auch noch für Herrn Schormer. Nun gab es diesen wichtigen Messetermin. Ich hatte die Messe nach Frau Brusos Verlassen zu Ende organisiert – war eigentlich auch nur ein kleiner Stand, aber von Dekoration, Schildern, Flyer etc. angefangen bis zu Getränken, Bewirtung ist das Ganze doch ein Haufen Arbeit, wenn auch interessant. Es fehlte jedoch noch eine Dame, die interessierte Kunden empfängt und unterhält, Kaffee serviert, bis Herr Schormer dann Zeit hat, und halt das Drumherum erledigt. Ich kann auch Englisch und Französisch und wäre zu gerne mitgekommen. Herr Schormer sagte jedoch, man könne mich in der Firma die ganze Woche nicht entbehren, zumal ich ja noch auf zwei Plätzen fehlen würde. Eine Messehostess würde in diesem Ausnahmefall auch mal reichen. Zudem würden wir uns auch noch die Hotelrechnung und die Fahrtkosten sparen, die sicher höher als der Betrag für die Messehostess wären. Ich bezweifelte das zwar, musst es aber leider doch akzeptieren. Zu allem Überfluss fühlte ich mich auch noch dummerweise geschmeichelt, da ich so unentbehrlich zu sein schien.“ Stefanie machte eine bedeutungsvolle Pause und trank ein Glas Wein.
„Das hört sich nicht so gut an“, forderte Jenny Stefanie auf, weiterzuerzählen. „So als wolle dein Herr Schormer dich abwimmeln.“
Stefanie hatte sich verschluckt und hustete. Sie schien aufgeregt zu sein. „Ich hätte euch diese Geschichte wohl sofort erzählen sollen“, sagte sie, nachdem der Husten aufgehört hatte. Stefanies Art entsprach es normalerweise nicht, mit Kummer oder Problemen sofort hausieren zu gehen. Sie verdaute das Ganze lieber erst einmal vor. „Heute lag eine Hotelrechnung auf meinem Schreibtisch zum Unterzeichnen von Herrn Schormer: Übernachtung drei Einzelzimmer: Herr Schormer, Herr Schmidt, der Produktionsleiter und wer noch? Ich fragte in der Lohnbuchhaltung nach, da sie weiß, wann wer wo ist.“
Und wieder diese spannungsgeladene Pause von Stefanie. Sie schüttete Wein nach und öffnete die zweite Flasche. Jenny saß inzwischen bequem auf dem Berberteppich und den äußerst interessanten Flusenbällchen wesentlich näher. Ute hatte ihre hochhackigen, schwarzen Schuhe auch schon ausgezogen.
„Dort erfuhr ich, dass der Dritte eine DIE war, Frau Bemeck heißt und zum ersten des nächsten Monats als Chefsekretärin bei Herrn Schormer anfängt. Der Messetermin war sozusagen ihre Generalprobe. Ich wollte ihr Bewerbungsfoto sehen und was glaubt ihr, was ich da sah: ein blonder Lockenkopf mit einem ca. 20-jährigen, stark geschminkten, zugegebenermaßen hübschen Gesicht. Tatjana, mit Vornamen – eine richtige russische Schönheit.“
Jenny musste an ihren Zwischenfall mit der Parklücke denken und ertappte sich beim Lächeln. „Ein Mann sieht blond und das Gehirn rutscht in die Hose – ’ne Frau sieht schwarz und verliert gleich den ganzen Kopf“, sagte sie im Hinblick auf Utes Vorliebe für die schwarzhaarigen Südländer.
Stefanie hielt Jennys Bemerkung für völlig unangebracht und schaute sie missbilligend an. „T’schuldigung“, entfuhr es Jenny, die selber über ihre forsch hervorgebrachte Weisheit erschrocken war.
„So ein Schwein“, entfuhr es dagegen Ute.
„Wie ich dich kenne, Stefanie, bist du gleich zu Herrn Schormer gestürzt und hast ihn zur Rede gestellt“, versuchte Jenny Stefanies Erzahlfluss wieder in Gang zu bringen.
„Worauf du dich verlassen kannst! Er meinte nur: Dann wissen sie es ja schon. Ich wäre für meinen bisherigen Chef, Herrn Müller, unentbehrlich und würde mich zudem als Chefsekretärin für ihn nicht so eignen. Nach vielen Rückfragen gab er dann zu, dass er befürchtete, ich könnte mich in dieser gut informierten und zum Teil einflussreichen Position zu sehr für die Mitarbeiter und deren Belange einsetzen und im zu wenig blinde Loyalität entgegenbringen. Tja Jenny, vermutlich hätte tatsächlich ein Typ wie du mehr Chancen bei ihm gehabt.“
„Danke für die Blumen“, entgegnete Jenny. „Aber mit blonden Locken, 20-jährigem Frischfleisch und einem schmalen Gesicht kann ich nicht aufwarten!“ Jenny wusste, dass dieses schön klingende Kompliment leider nur die Irrsinnigkeit des Geschehenen verdeutlichen sollte. Jennys Herz krampfte kurz und ein heftiger Hunger meldete sich an.
„Dann haben wenigstens die endlosen Überstunden für dich bald ein Ende gefunden.“ Ute versuchte auf ihre praktisch denkende Weise zu trösten. „Nimm es als Erfahrung und widme dich mehr deinem Privatleben. Dein Jochen ist doch ein passables Kerlchen.“
Typisch Ute. So ganz unrecht hat sie nicht, musste ihr Jenny insgeheim zustehen.
„Nur ist er leider etwas lasch“, entgegnete dagegen Stefanie. „Er hat zwar eine gute Stelle als Rechtsanwalt, aber das genügt ihm leider auch. Gerade aus diesem Beruf könnte man mit etwas Fleiß und Engagement so viel machen!“ Stefanie schien ziemlich unzufrieden.
„Vielleicht hat er andere Schwerpunkte im Leben gesetzt“, versuchte Jenny sanft auszugleichen.
„Ich habe auch einen tollen Typen kennengelernt!“ Ute war jetzt mit der Berichterstattung an der Reihe. Sie hatte offensichtlich die ganze Zeit nur auf ihren Einsatz gewartet.
„Doch nicht wieder bei Lonely Hearts?“, fragte Stefanie. Zu Lonely Hearts ging Stefanie fast jeden Sonntag. Es war ein Tanztreff für Singles, eine Mischung zwischen Diskothek und Seniorentanz. Dort trafen sich Singles und auch gebundene Männer und Frauen, die das Abenteuer oder auch nur Kontakt zum anderen Geschlecht suchten.
„Doch. Ein Ingenieur, der erst vor ein paar Wochen aus dem Süden in unsere schöne Ruhrgebietsstadt Bochum gezogen ist, um einen Geschäftsführerposten anzunehmen. Und Bochum gefällt ihm sehr gut – betonte er mehrmals, obwohl er aus dem interessanten München kommt.“
Ute schaute Jenny provokativ an. Jenny hielt Bochum und Umgebung für eine unattraktive Wohn- und Lebensumgebung. Sie liebte richtige Großstädte mit Flair und auffällig schick gekleideten Leuten. Diese Sichtweise passte eigentlich nicht so ganz zu der immer grau in grau angezogenen und zurückhaltenden Jenny, aber vielleicht war es gerade das, wovon sie insgeheim träumte. Aber Jenny reagierte auf die offensichtlich für sie gemünzten Bemerkungen nur mit „Schon wieder ein Mann ohne Geschmack“.
Ute erzählte unbeeindruckt weiter. „Er hat hier die Position des technischen Geschäftsführers bei dem Produktionsbetrieb Schüler bekommen. Was die so produzieren, weiß ich zwar nicht genau, aber es scheint sich sogar um einen mittelständischen Betrieb zu handeln.“
Diesmal schüttelten Stefanie und Jenny den Kopf. Beide hätten sich sofort genauestens nach dem Aufgabenbereich, der Firma, den Produkten erkundigt.
„Zumindest ist er gänzlich ungebunden und sieht toll aus: dunkelbraune, volle Haare, ein markantes, männliches Gesicht, natürlich schlank.“ Ute warf an dieser Stelle einen tadelnden Blick auf Jennys Bauch, der an einen stark aufgepusteten Luftballon erinnerte – und sich auch so anfühlte, wie Jenny häufig feststellen musste. „Er ist cirka 1,90 Meter groß und hat tolle, kräftige Hände. Er heißt Roland.“ Dabei rollte sie das ‚R’, als hätte sie seinen Namen lieber gleich gesungen.
„Na, schon geküsst“, fragte Jenny in der flehenden Hoffnung, Ute damit ein klein wenig zu ärgern, falls es noch nicht dazu gekommen war.
„Ja klar – aber mehr natürlich nicht. Einen Mann muss man warten lassen – aber er will mich in dieser Woche noch anrufen“, erzählte Ute ein bisschen zu eifrig, um noch souverän zu wirken.
„Also auch den Kopf verloren!“ Jenny grinste hämisch. Ute warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Frauen schauen doch angeblich immer auf den Hintern – wie ist denn der?“, stichelte Jenny amüsiert weiter.
Auch Jenny fand Ute sehr attraktiv mit ihrem stets gestylten Äußeren, ihrer Superfigur und ihrer leichten, geradezu verspielten Lebensweise. Aber da es ganz selbstverständlich unter den Freundinnen war, die Liebe der anderen zu achten und als tabu zu betrachten, konnte sie die besondere Ausstrahlung von Ute neidlos bewundern und brauchte sie nicht zu fürchten. Diese kleinen Frotzeleien taten ihr nach Utes Bemerkung ‚natürlich schlank’ sehr gut und lenkten sie von den Erniedrigungen der Freundinnen ab. Stefanie, die die Ursache durchschaute, lachte.
Aber Jenny und Stefanie nahmen Utes Schwärmereien ohnehin nicht sehr ernst. Nach zwei Wochen war sie meist abgekühlt und die Beziehung in spätestens zwei Monaten abgehakt. Aber erstaunlich war dennoch die Heftigkeit, mit der Ute sich jedes Mal wieder neu verlieben konnte – so als bräuchte sie dieses Gefühl zum Existieren, wie Jenny die Schokolade.
„Tja Jenny, wie ist denn der Hintern deines Schwarms. Hieß er nicht Roman?“
„Bei Roman lege ich auf andere Dinge Wert!“, verteidigte sich nun Jenny. „Die interessanten Gespräche und das Glitzern in seine Augen …“
„Du willst doch wohl nicht erzählen, es handelt sich um eine außergewöhnliche, erotische, platonische Beziehung und du wärst damit vollauf zufrieden.“
Ute versuchte Jenny offensichtlich vor Augen zu führen, dass diese Beziehung, wenn man sie überhaupt so nennen wollte, alles andere als das einzig Ideale war. Zumal Ute und Stefanie wussten, dass Jenny sich längst Hals über Kopf in Roman verliebt hatte und sich mehr von dieser ‚Beziehung’ versprach.
Jenny dachte an ihre vielen Überstunden, die Roman ihr versüßt hatte. Er war Diplom-Informatiker, also auch ein durchaus vorzeigbarer Mann. Sie wusste doch, wie viel Wert ihre beiden Freundinnen auf die hohe soziale Stellung und einen guten Beruf eines Mannes legten. Roman war nur ein Jahr jünger als sie und erst seit ein paar Monaten im Unternehmen. Auch er war – wie Ute und Jenny – ein richtiger Morgenmuffel und kam daher morgens immer erst auf den letzten Drücker, den die Gleitzeit noch gerade so zuließ. So blieb auch er regelmäßig abends länger. Da die meisten ihrer Arbeitskollegen und -kolleginnen morgens früh kamen und nachmittags dann entsprechend früh gingen, hockten Roman und Jenny oft nur noch alleine in ihren benachbarten Büros vor den Bildschirmen.