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Chris Daragh, streng erzogen im calvinistischen Glauben, ist über 30 Jahre seinen Pflichten als anständiger, strebsamer Mann und Controller nachgekommen. Mit Arbeit zugeschüttet und von Frauen stets als herzensguter Langweiler zurückgewiesen, bricht er eines Tages enttäuscht aus seinem verantwortungsvollen Alltag aus. Während einer 14-tägigen Motorradrundreise mit den unterschiedlichsten Männern und Frauen quer über die australische Insel Tasmanien findet Chris einen Stein mit einer geschnitzten Schlange darauf. Als mögliches Totem soll dieser Schlangenstein der tasmanischen Sage nach magische Kräfte besitzen. Der mächtige Zauber dieses Schlangensteines lässt auch nicht lange auf sich warten, genauso wenig, wie die Veränderung von Chris zu einem skrupellosen Frauenhasser. Für ihn und viele der Biker führt die Rundreise geradewegs in die Hölle...
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2020
REISEROUTE MOTORADDTOUR DURCH TASMANIEN
Donnerstag
: Abflug Frankfurt-Hobart
Freitag
: um 7:00 Uhr Ortszeit in Hobart
Samstag
: Besichtigung des Mount-Field-Nationalparks und Übernachtung in Hobart
Sonntag
: Besichtigung der ehemaligen Gefangenensiedlung Port Arthur, Übernachtung in Hobart
Montag
: Fahrt nach Strahan, Besichtigung des Lake St. Clair National Parks
Dienstag
: Motorradtour am Arthur River entlang zur Kleinstadt Waratah, Übernachtung im Zelt in Waratah.
Mittwoch
: Reise nach Stanley,
Donnerstag
: Fahrt nach Devonport, Besichtigung des Tiagarra Aboriginal Cultural Centre and Museums
Freitag
: Fahrt am Tarma River entlang bis Launceston, Übernachtung in Scottsdale
Samstag
: mehrstündige Motorradtour am »Bay of Fires« entlang zum Freycinet-Nationalpark
Sonntag
: Fahrt nach Hobart und Rückflug nach Frankfurt
DER FLUCH DES MÄCHTIGEN SCHLANGENSTEINS
Voller Wut, durchsetzt mit Verzweiflung, schleuderte Chris seinen Bleistift gegen die Bürowand. Warum nur hatten seine Eltern ihm dies angetan? Wieso war er nicht stark genug, sich dagegen zu wehren?
Der leichte, hölzerne Griff prallte mit einem dumpfen »Klöck« von der weißgestrichenen Raufasertapete der Wand ab. Er fiel einen Meter weiter auf den dunkelblauen Industrieteppich. Chris wusste, dass dieser Bleistift nun wegen der gebrochenen Mine in seinem Inneren wohl kaum noch zu benutzen war. Das friedliche unterwürfige Verhalten des Stiftes auf diesem robusten Teppich steigerte Chris‘ Wut weiter. Aber auch sein schlechtes Gewissen plagte ihn. Chris war alles andere als zufrieden mit seinem Leben. Als ehrgeiziger und erfolgreicher Controller hatte er es mit seiner Studiumsausbildung und seinem unermüdlichen Ehrgeiz wohl zu einer Leitungsstelle im Controlling gebracht, worüber er aber insgeheim nur lachen konnte. Er hatte zwei weibliche Untergebene in Teilzeit, die wegen ihrer Kinder zu Hause nie länger arbeiten konnten. Es war nur eine raffinierte Geste gewesen, Chris zum leitenden Controller zu machen, denn er wurde damit letztlich nur zu mehr Verantwortung und unzähligen Überstunden befördert. Die damit verbundene geringe Gehaltserhöhung hatte eher einen symbolischen als einen materiellen Wert.
Chris‘ ausgeprägtes Pflichtbewusstsein und die einprägsame Erziehung seiner Eltern dagegen hatten ihm sofort signalisiert, dass er jetzt auch zu Hause Bücher zu wälzen, Seminare und Fernlehrgänge zu besuchen hätte, um Erfolg zu haben. Erfolg! Er hatte dafür alles verloren oder nie gehabt, was für ihn Glück und Spaß bedeutete, nur um inneren Frieden zu finden. Seinen Erfolg schätzten seine Eltern und auch er nicht als besonders beachtenswert ein, die Ersparnisse auf dem Konto waren gering und er sah momentan keine Chance, dies alles weiter zu mehren. Er wollte es auch nicht, er wollte auch mal leben und Vergnügen empfinden. Chris wünschte sich, hier und jetzt den Sinn darin zu sehen und zu spüren, wofür er sich täglich im Büro so quälte und sich ein lockeres Leben versagte. Aber er wollte auch nicht in der Gewissheit leben, verdammt zu sein. Wie hatten ihm seine Eltern bloß so ein religiöses Erbe mitgeben können?
Seine Wut und seine Verzweiflung übernahmen wie so oft die Oberhand in Chris. »Warum macht mir jeder mein Leben schwer?« Seine Stimme überschlug sich, als er ebenfalls das cremefarbige Radiergummi mit voller Kraft an die Wand warf. Es sprang mit halber Geschwindigkeit ab und hoppelte nochmals über den Boden, bis es nahezu fröhlich in der Nähe von Chris‘ Schreibtisch auf dem Teppich liegen blieb. Es erfüllte ihn ein unbändiges Verlangen, seinen Schreibtisch und alles, was sich darauf befand, zu zerschlagen.
Aber Chris beherrschte sich, wenn auch nur mühsam. Es war bereits 9:00 Uhr abends und er saß noch immer im Controllingbüro - wie so oft seit langer Zeit. Die Erstellung der jährlichen Jahresbudgets stand in seiner arbeitgebenden Firma wieder an. Nur gerade jetzt konnte sich Chris kaum konzentrieren.
Aufstöhnend ging er zur Kaffeemaschine, in der der von ihm vor Stunden angesetzte Kaffee inzwischen mit sirupartiger Konsistenz brodelte. Chris schaltete die Kaffeemaschine aus und spülte die Glaskanne aus. Es hatte keinen Sinn mehr. Heute würde Chris die erforderlichen Planzahlen nicht mehr zusammenstellen können. Schwerfällig räumte er die Ordner in die Schränke und fuhr den Computer herunter. Er befürchtete nur, dass er sich auch am nächsten oder übernächsten Tag nicht bedeutend mehr auf die Arbeit konzentrieren können würde. Dennoch graute es ihm ebenso, nachhause in seine große, seit zwei Wochen vereinsamte Wohnung zu gehen. Chris hatte dort anderthalb Jahre mit Carina gewohnt. Jede Ecke seiner 120 Quadratmeter großen Wohnung, jeder Stuhl, jedes Bild und jeder Anblick erinnerte ihn so entsetzlich schmerzhaft an seine Ex-Verlobte. Chris hatte alles für sie getan. Warum war sie nur gegangen? Wieso hatte sie ihn dann wegen eines anderen Mannes verlassen?
Chris schnaubte verächtlich auf. Ein fünf Jahre jüngerer, arbeitsloser Maurer! Für den hatte sich Carina von Chris getrennt. Der gesamte Wohlstand, den er für sie, aber für seine eigene Beruhigung und die seiner Eltern erarbeitet hatte, war ihr offensichtlich unwichtig geworden. Er hatte viel Geld für ihre Wünsche ausgegeben und das sogar mit Freude, obwohl er deswegen häufig schlaflose Nächte voller Angst durchleben musste. Seinen ihm so wichtigen Fußballsport in einer Aufstiegsmannschaft hatte Chris sogar aufgegeben, da er an den Sonntagen an den Spielen teilnehmen musste und Carina sich währenddessen gelangweilt hatte. Zudem hatte sie keinerlei Verständnis für seine Fortbildungen gezeigt. Zur Unterhaltung von Carina war er sogar in einen Pärchentanzkurs gegangen. Dennoch empfand sie einen arbeitslosen, temperamentvollen Maurer, ihren jetzigen Geliebten, dem die Verdammnis nahezu im Gesicht geschrieben war, reizvoller als Chris. Carina war das egal, sie glaubte noch nicht mal an einen Gott. Sie verließ Chris. Und das Schlimmste dabei war, dass er nicht begreifen konnte, weshalb die Freundschaft so plötzlich zerbrochen war. Zu allem Überfluss hatten Chris‘ Treue und Liebe zu Carina auch unangenehme und höchst ärgerliche Folgen im Büro. Seine Chefin und gleichzeitige Frau vom Unternehmensinhaber, für den Chris arbeitete, hatte ihr offenkundiges Interesse an einer Affäre mit Chris bekundet. Diese 40-jährige Frau Narowski war alles andere als unattraktiv und hatte schon häufig sexuelle Fantasien bei ihm hervorgerufen. Außerdem besaß sie als kaufmännische Geschäftsführerin sehr viel Einfluss und hätte Chris‘ Berufsleben erheblich erleichtern können. Chris hatte Frau Narowski jedoch unmissverständlich klar gemacht, dass er seine Freundin Carina über alles liebte und ein anständiger Mann wäre, der sich nicht von Sünden und Versuchungen beherrschen lassen würde. »Ich war wohl eher ein Trottel«, entfuhr es Chris, als er an diese verpasste Eintrittskarte in das Arbeitsparadies und seine verspielte Chance zum beruflichen Aufstieg dachte. Ihm war klar gewesen, dass er sich mit der Rückweisung der ihm wohl gesonnenen Chefin eine erbitterte Feindin schuf. Er wusste schon lange, dass Frauen jede Abfuhr bitter zu rächen versuchten. Und Frau Narowski hatte die Macht und ließ keine Gelegenheit aus, ihm das Leben schwer zu machen: Überstunden, Projektarbeiten, Betriebsfahrten, Urlaubssperren, verschwiegene Informationen und Termine. Frau Narowski, die von ihrem Mann, dem erfolgreichen Unternehmer, wohl offensichtlich nicht genug Wertschätzung erfuhr, hatte sich daraufhin umgehend dem Buchhaltungsleiter zugewandt. Mit schnellem Erfolg! Er bekam zur Entlastung eine neue Ganztagsmitarbeiterin ohne Kinder und zudem zwei Gehaltserhöhungen für seinen angeblich vorbildlichen Einsatz sowie der hohen Qualität seiner Arbeitsleistung. Chris erhielt als »gerechten« Ausgleich einen Berg von den unangenehmen Buchhaltungs-Controllingarbeiten. Carina ist gegangen, die Nachteile seiner Anständigkeit und Treue blieben jedoch. Er musste tatsächlich ein Trottel sein.
Chris‘ Handy klingelte. Er zuckte zusammen, schickte schnell seine Gedanken wieder in die Realität und meldete sich: »Hallo?«
»Hey, Chris, alter Langweiler!« Das war offensichtlich Bennys dunkle Stimme.
»Klar, Benny. Ich arbeite noch und du willst schon wieder um die Häuser ziehen«, verteidigte sich Chris. Auch wenn sein langjähriger Freund Bernd, genannt Benny, mit dem »Langweiler« tief in Chris‘ Wunde gewühlt hatte, so freute er sich doch sehr über die fröhliche Ablenkung.
»Gut geraten. Und du kommst mit.«
»Ich weiß nicht so recht«, wich Chris aus, »ich bin sehr zerschlagen und ...«
»... brauchst dringend Zerstreuung. Vergiss Carina, die hat dich doch gar nicht verdient. Und leg endlich deinen religiösen Starrsinn ab.«
»Die Zeit auf der Erde ist kurz zu dem, was danach kommt. Ich will wenigstens sicher sein, dass ich nach meinem Tod von Gott nicht mit Sonnencreme in die Hölle geschickt werde«, versuchte Chris halbherzig zu scherzen. Ihm war klar, dass seine Freunde ihn nicht verstanden.
»Mensch, Chris. Wer nicht entspannt und Spaß hat, kann auch keinen Erfolg haben. Gott hat uns mit Bedürfnissen erschaffen, willst du das leugnen? Und du leistest wohl genug, damit drei von uns in den Himmel dafür kommen können.«
»Aber mein Erfolg bleibt aus. Meine Eltern haben eine erfolgreiche Handwerksfirma und mein Bruder leitet eine große Versicherung. Und ich trete momentan auf dem Platz beruflich.«
»Hey, Chris. Wie du weißt, war ich auch Calvinist, konnte aber die Religion einfach nicht vertreten. Es ist euch doch vorbestimmt, ob ihr in den Himmel oder in die Hölle kommt. Also wofür noch anstrengen? Nur, um die Gewissheit jetzt schon zu haben? Lass dich überraschen und lebe dein Leben ohne diesen Stress! Jetzt mach dich doch nicht verrückt, Kumpel. Ändern kannst du auch als Calvinist nichts mehr. Genieß lieber dein Leben.«
Chris überlegte einen kurzen Moment. Es wäre so einfach, so entlastend, so wünschenswert, wenn er es auch so sehen könnte. Aber er würde nicht nur seinen Eltern und Geschwistern viele Sorgen bereiten, auch er würde aus Angst vor der ewigen Verdammnis kaum noch schlafen können.
»Ach, Benny. Ich weiß im Grunde schon, dass du Recht hast. Aber Erfolg und ein sparsames und arbeitsreiches Leben ist doch immer gut und ich als reformierter Christ muss auch etwas Verantwortung für meine Eltern und meine Geschwister übernehmen. Sie würden sich große Sorgen machen, wenn sie sicher wüssten, dass ich ein Nicht-Auserwählter von Gott bin.« Chris verschwieg, dass er aus seiner religiösen Erziehung und den verbundenen Ängsten nicht herauskam. Sie brodelten in ihm weiter, auch wenn sein Verstand ihn deswegen auslachte.
»Die Frauen verstehe ich sowieso nicht«, wechselte Chris daher das Thema. »Ich grüble noch immer darüber nach, was bei Carina falsch gelaufen ist.«
»Ach, du Weichei. Du hast nichts falsch gemacht.« Der überzeugte Ton von Benny tröstete Chris sehr. »Frauen brauchen Machos, keine guten und lieben Männer. Sie wollen starke Typen, denen sie sich unterordnen können.«
»Ja, Benny. Deine Freundin hat dich auch wegen eines kalten Egoisten verlassen. Was ist bloß mit den Frauen los?«, überlegte Chris laut.
»Vergiss Carina, ich habe meine Ex schon längst abgehakt. Heute machen wir beide einen ausgiebigen Kneipenbummel, lassen uns von ein paar Bierchen beruhigen und von hübschen Mädchen umgarnen. In einer halben Stunde treffen wir uns im »Eckfässchen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Benny auf. Er kannte Chris und wusste daher, dass es jetzt besser war, dem Freund nicht die Chance zu einem ablehnenden »Nein« zu lassen.
Chris räumte also notdürftig seinen Schreibtisch auf und fragte sich, warum er das überhaupt tat. Er würde morgen sowieso wieder der Erste sein, der das Controllingbüro aufschließt.
Jana wurde zur gleichen Zeit von einer Kollegin nachhause gefahren. Nach einer anstrengenden Spätschicht als Krankenschwester saß sie erschöpft und verkrampft in dem Autobeifahrersitz. Jana hätte lieber noch eine Stunde auf den gerade verpassten Bus gewartet, aber die Kollegin Nicole hatte sie an der Bushaltestelle gesehen und sie geradezu genötigt, in ihr Auto zu steigen. Nicole war eine sehr neugierige Kollegin, die vielleicht eher Journalistin hätte werden sollen. Jede ihr gegenüber im Vertrauen geäußerte Bemerkung wurde in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit, die selbst die renommiertesten Fernsehsender in den Schatten stellte, in der ganzen Station verbreitet. Jana fragte sich manchmal, woher die Krankenschwestern und -pfleger so viel Zeit hatten, sich so detailliert über Privatthemen zu unterhalten. Aber offensichtlich schienen ihre Kollegen lieber auf Essen und den Toilettengang zu verzichten, als auf neue Lästernachrichten.
Jana arbeitete lieber in aller Stille. Sie wollte keine Fehler machen und freute sich, auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Nun saß sie mit diesem »sozialen Nachrichtticker« Nicole im Auto und fürchtete das Gespräch, das gleich unweigerlich auf sie zukommen würde.
»Was bin ich geschafft heute«, plapperte ihre Kollegin Nicole los, während sie ihren kleinen Smart durch die um diese Uhrzeit schon dunklen Straßen fuhr. »Heute war wieder so viel los. Wir haben viel zu wenig Personal auf unserer Station, gerade wenn dann noch Leute in solch einer stressigen Zeit Urlaub nehmen müssen.« Der strafende Blick auf Jana wäre nicht nötig gewesen. Auch so wusste Jana, dass sie mit diesem Vorwurf gemeint war.
Jana hatte sich vorgenommen, sich für ihr Recht auf Urlaub nicht zu verteidigen. Dennoch tat sie es. »Jeder hat ein Recht und sogar eine Pflicht auf Urlaub und Erholung, denn Fehler können in unserem Beruf fatale Folgen haben.«
»Hast du denn einen groben Fehler gemacht, als du deine Mutter einige Jahre gepflegt hast, bevor sie starb? Damals konntest du doch auch keinen Urlaub nehmen.« Nicole bohrte weiter und hoffte entweder auf eine brandaktuelle Nachricht oder zumindest Jana ein schlechtes Gewissen einreden zu können.
Es funktionierte, Jana ging noch mehr in die Defensive: »Es war nicht mein Fehler, dass meine Mutter doch starb. Der Brustkrebs war aggressiv und streute. Meinen Urlaub kann ich leider nicht verschieben, da meine Freundin eine teure Reise für uns gebucht hat.« Jana überfiel wieder die Trauer, als sie dran erinnert wurde, wie qualvoll ihre Mutter sterben musste.
»So schlimm kann es ja nicht gewesen sein, wenn du nach der mehrjährigen ausschließlichen Pflege eines sterbenden, nahen Angehörigen noch die Ausbildung zur Krankenschwester gemacht hast«, stichelte Nicole weiter.
»Es war eine logische Schlussfolgerung, denn in dem Pflegebereich hatte ich dann schon viel Erfahrung. Außerdem finde ich es ein lohnendes Lebensziel, nicht nur sich, sondern auch anderen helfen zu wollen.« Jana hoffte, Nicole würde schneller fahren. Es waren nur noch drei Straßen bis zu ihrem Wohnhaus, aber der Wagen wurde immer langsamer.
»Du bist doch gerade erst als ausgelernte, vollwertige Krankenschwester übernommen worden und dann nimmst du schon zwei Wochen Urlaub.« Nicoles Vorwurf wurde immer direkter
»Ich habe während meiner Ausbildung den Urlaub immer nach anderen ausgerichtet und konnte aus finanziellen Gründen nicht verreisen. Zudem musste ich während dieser Zeit sehr viel und hart lernen, um den bestmöglichen Abschluss zu erreichen. Jetzt habe ich mir einen Traumurlaub nach Tasmanien verdient und kann ihn jetzt auch bezahlen.« Langsam wurde auch die sonst so ruhige und gutmütige Jana ärgerlich. Endlich sah sie ihr Wohnhaus und wäre am liebsten noch aus dem fahrenden Wagen herausgesprungen, um dieser vorwurfsvollen Unterhaltung mit Nicole zu entfliehen.
»Ja, dann genieß mal die Zeit, während wir hier bei den Kranken die Stellung halten. Du fliegst ja erst übermorgen los. Also, wenn du morgen doch noch Sehnsucht hast, kannst du gerne noch mithelfen, damit es unseren Patienten etwas besser geht.« Nicole ließ nichts unversucht, um Jana noch den geneideten Urlaub zu verderben.
»Okay, bis in zwei Wochen«, verabschiedete sich Jana kurz. Sie schaffte es nicht, sich noch für die von Nicole aus eigennützigen Motiven angebotene Fahrt nach Hause zu bedanken.
Jana wusste, dass sie als verantwortungsvolle und nette Kollegin nicht unbeliebt war, und konnte daher die spitzen, neidvollen Bemerkungen von Nicole abtun. Aber sie konnte nicht verhindern, doch kurz darüber nachzudenken, ob sie den Koffer nicht auch abends packen und morgen doch zum Krankenhaus fahren könnte. Aber ihre Freundin Linda überzeugte sie von dem Irrsinn dieses Vorhabens, sich auf eine so besondere Reise kaum vorzubereiten, nur, um einen genehmigten Urlaubstag mal wieder zu verschieben.
Geduscht, halbherzig rasiert und eher müde als erfreut betrat Chris um 20:30 Uhr das Stammlokal »Eckfässchen«, in dem er sich mit Benny verabredet hatte. Während sich Chris noch darüber ärgerte, dass er sich zu diesem Treffen hatte überreden lassen und nicht lieber ins Bett gegangen war, kam Benny schon mit offenen Armen auf ihn zu. » Hey Bruder, wo bleibst du denn? Dein Bier ist schon ganz schal.« Benny klopfte Chris kumpelhaft auf die Schulter. »Hättest dich nicht extra rasieren brauchen. Mädels stehen auf einen Drei-Tage-Bart.«
Ein Blick auf Bennys Kinn bewies, dass sein Freund seinem eigenen Ratschlag tatsächlich befolgt hatte. Amüsiert entschloss sich Chris jetzt, diesen Abend mit seinem langjährigen, besten Freund doch zu genießen. Plötzlich nahm er den Biergeruch deutlich wahr, der Gemütlichkeit und Entspannung ankündigte. Chris genoss den Anblick, den die in sanftes Licht getauchte kleine Kneipe mit einer großen, dunklen Holztheke bot. Jetzt erst entdeckte er, dass zwei junge, auffällig gekleidete Frauen an der Theke saßen, die Benny und ihn höchst amüsiert musterten.
»Hey Chris, tausche mal den faden Bürokaffee gegen dieses helle Bier.« Benny hielt ihm ein 0,3-Liter-Glas entgegen, das ein kaum noch schäumendes Pilsener Bier enthielt. »Es wartet wohl schon länger auf dich, aber lass es dir trotzdem schmecken«, ergänzte Benny fröhlich.
Auch wenn die ehemalige Krone des Bieres nur noch erahnt werden konnte, überwand Chris sein Gewissen, denn als Calvinist sollte er möglichst kein Alkohol trinken. Er fand das Pils jedoch einfach nur köstlich. Als er nach dem zweiten tiefen Schluck über den Rand des Glases hinwegsah, blickte er in zwei intensivblaue, strahlende Augen einer attraktiven Blondine. Nach einem weiteren tiefen Schluck war das Glas leer und der ausgearbeitete, übermüdete Chris so beschwipst, dass er sich traute, schnurstracks auf diese Frau zuzugehen.
»Hey, ich bin der Chris.« Er hielt der aufreizenden, stark geschminkten Blondine ohne Umschweife seine vom kalten Bierglas feuchte Hand hin.
»Ich bin Zoe«, lachte sie nach einer stockenden Sekunde auf, ergriff aber nicht seine Hand, sondern hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Überrumpelt von so viel Direktheit schaute sich Chris nahezu ernüchtert nach Benny um. Sein Freund zwinkerte ihm zu und nickte kurz.
Zoe ergriff indessen Chris‘ Hand und fragte: »Wollen wir nicht eine Runde Dart spielen? Wir beide gegen deinen Freund und meine Freundin Sonja?«
Chris nickte nur. Irgendwie fühlte er sich plötzlich nicht mehr Herr der Lage.
Entsprechend unsicher verlief sein Dartspiel. Anstatt den inneren Ring mit hoher Punktzahl zu treffen, verfehlten seine Pfeile immer häufiger sogar die Scheibe, als er verzweifelt versuchte, durch das Treffen der doppelten Punktzahl im äußeren Rand noch aufzuholen. Chris spürte ein ihm bereits bekanntes Gefühl: Machtlosigkeit. Er fühlte sich der Situation nicht gewachsen, zu unkontrolliert, wo er Kontrolle gebraucht hätte. Dem lockeren, lustigen Benny gelang hingegen ein Volltreffer nach dem anderen.
Chris wurde immer ruhiger und beobachtet seinen besten Freund Benny. Dieser war wie immer oberflächlich, unbedacht, unbeschwert, ein arbeitsloser Elektriker. Benny schien völlig zufrieden mit sich und der Welt und als ehemaliger »Calvinist« kein bisschen ängstlich oder auf das ewige Leben bedacht. So wäre Chris auch gerne gewesen. Teilweise verärgert, teilweise niedergeschlagen, musste Chris mit ansehen, wie Benny inzwischen mit Sonja und Zoe flirtete. Sein Freund schien keinerlei moralische Bedenken zu haben, abwechselnd den Arm um Sonja und dann um Zoe zu legen. Er dachte offensichtlich weder an seinen Freund Chris, noch an die beiden Frauen, die mit allen Mitteln um die höchste Beachtung bei Benny kämpften. Neid machte sich in Chris breit. Benny war wieder zum Alphamännchen mutiert, wogegen Chris die Aufgabe zu haben schien, ihn angemessen zu bewundern.