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Das Buch beschreibt in drei Erzählungen mit deutlichen Bezügen zur Psychotherapie einige Erlebnisse und Schicksale von Menschen, die sich an sehenswerten Orten in der aufregend schönen Natur des Bayerischen Waldes begegnen. Im ersten Teil geht es um einen Luchsmord und eine Entführung, im zweiten Teil um einen Ring, der seinen Besitzer sucht und im dritten Teil um Frauen mit magischen Fähigkeiten und Störungen, die zueinander finden.
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Seitenzahl: 225
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Alles kehrt wieder zurück
Drei Erzählungen
Die Luchspfot
e
n
Falsche Geschenke
Die Gleichgesinnten
Wichtige Personen sind:
Horst
, der vom Saulus zum Paulus mutiert,
ein Jäger mit seinem missratenen Sohn
Jack
und einem weiteren Sohn und einem Enkel,
der eifersüchtige Holzbaron
Fridobert
,
Thorsten
, der schon Bekanntschaft mit dem
blassen Kommissar
Flinker
gemacht hatte,
Sven
der Profi-Cacher und
Sammy
der Goldsucher,
ein Bischof und ein alter Mann,
der Lehrer, seine Tochter
Katrin
und seine Ex.
Die Tiefenpsychologin
Alina
behandelt in ihrer Praxis
irgendwo im nord-westlichen Teil der Oberpfalz u.a.
den Chorleiter
Frederik
(51), der noch Single ist,
den braven
Hans-Peter
(46), der mit
Corinn
verheiratet ist, und die teuflische
Ashley
(22).
Der Verhaltenstherapeut
Max
praktiziert in der süd-
östlichen Oberpfalz. Seine Patientinnen sind u.a.
die Krankenschwester
Malinda
(49) und
ihre esoterische Freundin
Mary-Kate
(22).
Die Psychoanalytikerin Ilona und die Verhaltens-
therapeutin Inge praktizieren irgendwo zwischendrin
und die Psychotherapeutin Sarah im fernen Berlin.
Und alle sind – ebenso wie die Handlung - frei erfunden!
Die Handlung spielt an folgenden, real existierenden Orten:
An der tschechischen Grenze im Künischen Gebirge,
am Silberberg bei Bodenmais,
in der Buchberger Leite,
in der Regentalaue mit ihren Weihern,
auf dem Regenfluss und dem Chamerauer Wehr,
auf der Harlachberger Spitze und am Riederin-Felsen,
im Nationalpark Bayerischer Wald,
in der schönen Umgebung Sankt Englmars,
in den Wäldern des Schweinsbergs und
anderen Hügeln rund um Falkenstein,
bei der Teufelsmühle nahe Rattenberg,
am Himmelberg bei Birnbrunn,
am Blauberg und der Rundinger Burgruine,
in der Hölle.
An vielen weiteren schönen Stellen des Bayerischen Waldes und mit einem Teil der oben genannten Personen spielt die Handlung im vorhergehenden Erzählband:
Helfried Stockhofe
Begegnungen im Bayerischen Wald
ISBN
978-3-7375-6454-0
1. Horst verwandelt sich
Horst hatte noch nie etwas gehört von der „Gnade der späten Geburt“. Aber wäre sein Leben wirklich schlechter verlaufen, wenn er statt 1976 schon 60 Jahre früher geboren worden wäre? Sicher ist, dass er dann als junger Mann die verarmten Russen auf ihren staubigen Dorfstraßen als „Untermenschen“ gesehen hätte, zumal sich die Straßen bei Regen in Schlammgräben verwandelten und die Menschen noch dreckiger machten. Und er hätte sich auch an der Ermordung der Juden beteiligt oder das Deutsche Reich von dem „unwerten Leben“ Behinderter gesäubert. Nach dem Krieg hätte er dann unter dem Schutz anderer Altnazis irgendwo Karriere gemacht. Das alles wäre wohl so gekommen, wenn er 1916 geboren worden wäre.
Wenn er nun statt 60 nur 40 oder 30 Jahre früher das Licht der Welt erblickt hätte, also kurz vor oder nach dem Krieg, hätte es ihn auch nicht gejuckt, dass er die Schuld seiner Väter mit dem Hinweis auf die „Gnade der späten Geburt“ nicht hätte übernehmen müssen. Solche Spitzfindigkeiten des Gewissens waren nicht seine Sache.
Jedoch: So ganz stimmt diese Aussage nicht! Sein Gerechtigkeitssinn war nämlich doch sehr stark ausgeprägt – wobei das, was gerecht und was ungerecht war, nicht unbedingt den Vorstellungen seiner Mitmenschen entsprach, sondern seiner eigenen Logik folgte. Und natürlich der Verarbeitung seiner starken, ihm meist nicht bewussten Gefühle!
Wenn Horst als Kind mit dem Luftgewehr seines Vater die Tauben des Nachbarn erschoss oder stundenlang vor Mauslöchern wartete, um dann mit einem selbstgebastelten Speer die hervorlugende Maus zu erstechen, dann standen Gerechtigkeitsfragen nicht im Vordergrund, sondern die Freude an der erfolgreichen Jagd. Und im Hintergrund stand die Verarbeitung der Aggression, die Vater und Mutter in ihn hineingeprügelt hatten. In der Pubertät empfand er sich stets als benachteiligt, weil er sich, gebrochen durch die vielen Schläge, ängstlich an alle Vorgaben seiner Eltern und Lehrer hielt, aber andere ungestraft über die Stränge schlugen. Und schon als junger Mann beobachtete er an ausgewählten Plätzen die Autos, die falsch parkten, und meldete die Autonummern an die Polizei – die sich freilich nicht um die anonymen Anzeigen des Denunzianten kümmerte und ihn deshalb sehr erboste.
Ein Wendepunkt in seinem Leben war im letzten Jahr der Brand im Wohnhaus, der seinen Eltern das Leben kostete. Niemals hat man die Ursache des Feuers herausgefunden, aber es stand fest, dass Horst seine eigene Rettung dem Hund eines Nachbarn zu verdanken hatte, von dessen Gebell er verärgert aufgewacht war. Der Brand, der Tod der Eltern, die eigene Todesnähe oder die Rettung durch den kläffenden Hund oder alles zusammen muss Horst sehr beeindruckt haben. Es war für ihn eine Wende in seinem Leben, zumindest eine Wende in seiner Einstellung den Tieren gegenüber, aber weniger gegenüber den Menschen. Seitdem schien Horst jedenfalls vom Tierhasser zum Tierfreund mutiert zu sein und wenn andere sich über fischteichplündernde Kormorane aufregten und zerstörerischen Bibern nachstellten, legte er sich auf die Lauer, um die Frevler zu erwischen. Aber seine Jagd nach den üblen menschlichen Jägern war immer erfolglos.
Noch ein Jahr vor dem Brand stand er auf der anderen Seite, da stellte er den Tieren noch nach – und dabei gelang ihm sein größter Jagderfolg! Er durfte einen Freund des Vaters bei dessen Jagd begleiten. Dieser Jäger war nicht weniger zimperlich als sein Vater, aber er schien großzügiger zu sein: Er überließ Horst den Schuss auf ein Tier, das in den Wäldern des bayerischen Waldes wieder heimisch werden sollte, aber fast nie zu sehen war – und natürlich unter strengem Schutz stand! Viel später kam Horst auf die Idee, dass hinter dieser Großzügigkeit Kalkül steckte. Der Jäger hatte Skrupel, den Luchs selbst zu schießen! Nein, nicht wegen eines schlechten Gewissens, sondern aus Vorsicht den möglichen rechtlichen Folgen gegenüber.
Der Jäger überredete Horst, den toten Luchs in die heimische Gefriertruhe zu verfrachten. Vielleicht würden sich die rechtlichen Bestimmungen bald ändern – und dann wäre doch eine solche Jagdtrophäe ausgestopft eine tolle Sache!
Im Gegensatz zu Horsts Eltern überstand der Luchs in der Gefriertruhe den Wohnhausbrand. Und der vom lebensrettenden Hund geläuterte Horst, nunmehr ein Freund der Tiere, hatte jetzt ein Problem mit dem tiefgefrorenen Pinselohr. Diese Leiche im Keller würde seiner neuen Identität und der Anbahnung neuer „Freundschaften“ sehr schaden, wenn sie gefunden würde. Und da er die Auffassungen des Jägerfreunds seines Vaters jetzt bekämpfte, war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis der den Behörden einen anonymen Tipp gab. Also: Der Luchs musste weg! Je mehr Horst über alles nachdachte, umso mehr erkannte er in der Großzügigkeit des Jägers die Hinterfotzigkeit, die ihn furchtbar ärgerte. Vielleicht könnte er dafür dem Luchshasser ein Bein stellen?
In seiner Kindheit gab es einige Male im Jahr einen Hasenbraten. Der Vater holte einen schlachtfertigen Hasen aus dem kleinen selbstgebastelten Stall, hieb ihm mit einer Holzkeule ins Genick und stach ihn ab. Das wertvolle Blut wurde für den „Hasenpfeffer“ aufgefangen und dem armen Hasen wurde sorgfältig das Fell abgezogen. Es wurde auf ein Holzgestell gespannt, um es getrocknet weiter zu verwerten. So hatte es der Vater von seinem Vater gelernt, der seinerzeit aber die Felle noch gut verkaufen konnte. Der Hase wurde ausgenommen und zerlegt. Die Pfoten des Hasen waren Talismane, die in Horsts Hosentaschen wanderten und bei Gelegenheit erschreckten Mädchen irgendwo hingesteckt wurden.
Daran dachte Horst, als er sich um die Luchsbeseitigung Gedanken machte. Aber wohin sollte er mit dem aufgetauten Luchs? Er würde es nicht fertigbringen, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen und ihn als Sonntagsbraten zu verwerten. Nur für die Pfoten hatte er sofort Verwendung!
2. Alle täuschen sich
Der Jäger - der Großzügige, Hinterfotzige und gefürchtete Denunziant - war erstaunt, als er zwei Pfoten eines Luchses vor seiner Haustür fand. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand sah und nahm die Pfoten an sich. Zuerst wollte er sie im Garten vergraben, aber angesichts der Hysterie um erschossene Luchse, die man im Bayerischen Wald gefunden hatte, schien ihm das zu riskant. Deshalb wollte er sie auch nicht mit sich herumtragen, um sie im Wald zu entsorgen. Die einfachste Möglichkeit, nämlich seinen Fund öffentlich zu machen, traute er sich nicht: Er durfte keine Rolle spielen bei irgendwelchen Überlegungen von hartnäckigen Ermittlern oder Luchsfreunden! Er legte die Pfoten vorerst einmal in seinen Waffenschrank, um Zeit zu gewinnen. Er wollte in Ruhe nachdenken.
Zwei weitere Pfoten wurden vor einem Naturschutzzentrum gefunden. Es war scheinbar ein Protest, ein Fanal, zumindest aber ein Anstoß zu erneuten Kontroversen über all die geschützten Tiere, die Luchse, Wölfe, Biber, Kormorane und wie sie alle heißen, die zu Problemen für Jäger, Bauern oder Teichwirte geworden waren. Wochenlang wurde der Fund von abgetrennten Luchspfoten zur wichtigen Nachricht und Diskussionsgrundlage in den Medien! Allerdings glaubte man fest, dass ein Luchshasser die hingelegt hatte, um zu zeigen, was er von diesen Tieren hält.
Den Luchs sieht man als Wanderer im Bayerischen Wald ähnlich häufig wie die manchmal durchziehenden Elche, Wölfe und womöglich sogar Bären – nämlich gar nicht. Lediglich die inzwischen sogar von den Discountern verkauften Überwachungskameras fangen gelegentlich Bilder ein. Häufiger fotografiert werden vermutlich die Wanderer, die ihre Hosen herunterlassen, weil sie es nicht mehr aufschieben können bis zur nächsten Toilette. Auf dem Smartphone können Interessierte dann, womöglich zeitgleich, im Wohnzimmer sitzend die Sitzung beobachten und sich darüber amüsieren oder ekeln.
Oder sie können im Wirtshaus ihre neueste Errungenschaft vorführen, wie es Horst bei einem seiner seltenen Aufenthalte dort mitbekam: Da zeigte einer einem anderen verstohlen einige Aufnahmen seiner Fotofalle. Es waren zwei Fremde, was bedeutet, dass sie etwa eine halbe Stunde entfernt wohnten und nur der Durst auf der Heimfahrt aus der Großstadt sie in dieses Wirtshaus geführt hatte. Thorsten und Jack waren Gleichgesinnte im Geiste, denn sie begannen über den Sinn und Unsinn von Überwachungskameras zu diskutieren und erwähnten ungeniert, wenn auch eher leise, die offenbar verlockende Möglichkeit, einen Luchs zu schießen und ihm das Fell über die Ohren zu ziehen.
Da wurden Horsts Ohren natürlich immer größer! Er bekam mit, in welcher Gegend die Fotofalle installiert war und überlegte sich, wie er dieses Unternehmen sabotieren könnte.
Nicht bedacht hatte er, dass die Leute am Nachbartisch die ganze Szene nur für ihn inszeniert haben könnten. Diese Idee wäre ihm vielleicht später noch gekommen, wenn es da nicht eh schon viel zu spät gewesen wäre.
Im Wirtshaus jedenfalls, gerade als Horst genug gehört hatte, wurde er von seinem Lauschen aufgeschreckt durch einen lauten Gruß, der an ihn gerichtet wurde:
„
Grüß Gott, Herr Baron! War die Jagd diesmal erfolgreich?“ Alle Gäste erkannten den Sarkasmus in der Frage des neu Hinzugekommenen, dem es eine Genugtuung zu sein schien, Horst, den seltenen Gast, für seine erfolglose Jagd nach den Tierfrevlern eine reinzuwürgen. Nur die beiden Fremden am Nachbartisch, die ohnehin nicht die Hellsten waren, hielten alles für bare Münze, zumal sie mit der hiesigen Szene nicht vertraut waren. Immerhin hatten sie schon einmal von dem
Holzbaron
gehört, einem reichen Gutsbesitzer von hier. Das musste dieser Mann am Nebentisch sein!
Horst reagierte nicht. Er zahlte schweigend und ging. Und die beiden Fremden wunderten sich und verstanden das Ganze nicht.
„
War wohl nicht so erfolgreich!“, sagte der hinzugekommene Gast grinsend zu den anderen, die meist die Köpfe reinsteckten und vielsagend lächelten.
3. In die Falle getappt
Horst ärgerte sich, dass der Jäger wieder einmal davongekommen war. Nur die Pfoten vor dem Naturschutzzentrum waren Tagesgespräch. Dass er selbst vom Saulus zum Paulus mutiert war, scherte ihn bei seinen Gerechtigkeitsüberlegungen wenig.
Er war im Künischen Gebirge unterwegs, stapfte missmutig an der tschechischen Grenze entlang und schaute sich nach der Fotofalle der Fremden um. Es waren die heißen Wochen im Sommer 2015. Schon lange hinter sich gelassen hatte Horst die jetzt trockenen Wälder, in denen ein Pumpspeicherwerk gebaut werden sollte.
Nun, diese Pläne schienen endgültig vom Tisch zu sein. Der Grundstücksbesitzer, also die katholische Kirche, wollte nicht gegen den überwiegenden Willen der hiesigen Bevölkerung den Wald für dieses Vorhaben veräußern. So hieß es zumindest.
Horst hatte dazu keine Meinung, schon gar nicht an so einem heißen Tag, an dem er schweißtriefend über die großen Steine stolperte, die den Weg schwierig machten und volle Aufmerksamkeit erforderten. Eigentlich bestand der Weg nur aus diesen Steinen und manchmal musste er von Felsblock zu Felsblock springen, weil sich das Dazwischentreten nicht lohnte. Die armen Grenzer, die seinerzeit hier entlang patrouillierten!
Dort hinten könnte die Fotofalle sein!
Horst war erschöpft. Vielleicht war er deshalb eine Sekunde unaufmerksam. Er stolperte, blieb an Felsen hängen, stürzte. Und bevor es dunkel um ihn wurde, griff er sich an seinen Kopf und ihm wurde an seiner blutigen Hand bewusst, dass er sich bei seinem Sturz mächtig angeschlagen haben musste.
Als er wieder zu sich kam, war es immer noch dunkel. Lediglich durch den Spalt zwischen dem Hüttenboden und der Tür kroch ein fahles Licht hinein. Aber eigentlich hatte die Hütte – falls es überhaupt eine Hütte war - keinen Boden, keine Holzbohlen, keinen festen Lehm oder gar Ziegelsteine. Die Bretter der Wände standen mehr oder weniger senkrecht auf weichem Untergrund, auf jahrhundertealten Schichten von Fichtennadeln vielleicht oder auf vertrockneten Resten von Heidelbeersträuchern. Die Bretter standen auch gar nicht darauf, sondern schienen hineingerammt oder eingegraben. Und sie waren sorgfältig abgedichtet, alle Ritzen ausgestopft mit trockenen Moosen, vermutlich mit Lehm vermischt. So drang kein Licht herein, nur unten beim Türspalt – wenn es denn eine Tür war.
Horst brummte der Schädel. Er lag auf dem Rücken. Das Atmen fiel ihm schwer. Durch den Mund sog er die Luft ein, die dumpf-schimmlige, holz-morsche und erdige Luft. Reflexartig, aber mühsam, versuchte er, sich Richtung Türspalt zu schieben, zum Hellen, zur frischen Luft. Er wollte sich umdrehen, wollte auf allen Vieren die zwei Meter überwinden, so als ahnte er, dass Aufstehen eh nicht zur Diskussion stand. Doch es tat einen kurzen Ruck, einen dumpfen Klick und sein Handgelenk wurde festgehalten, die Bewegung erstarrte. Er war angekettet!
Draußen stieß der Wind gegen die Hütte, der böhmische Wind, der vom Tal heraufzog und Nebel mitbrachte. Die Hütte mit ihren seltsamen Wurzeln und Astgebilden, die an ihren Außenwänden kunstvoll angebracht waren, wurde in Nebel gehüllt und gab sich gespenstisch. Sollten die knorrigen Arme, Beine und Gesichter ein Blickfang sein oder eine Tarnung? Ein Hexenhaus mit grauen und moosig überzogenen Stecken, statt mit Lebkuchen. Und drinnen die Beute, angekettet, bereit zum Anfüttern und vorbereitet zum Gefressenwerden.Horst zog die Luft ein mit kurzen und schnellen Atemzügen, dann wieder mit einem tiefen Zug. Er wollte Kraft hineinpumpen in seinen kraftlosen Körper. Vielleicht auch seine Umgebung riechend erkunden. Er horchte, versuchte etwas zu erkennen. Er wusste nicht genau, ob seine Wahrnehmungen irgendetwas mit der Realität zu tun hatten. Er wusste nicht, wo er war, was mit ihm passiert war, konnte sich an nichts erinnern. Er zog an der Kette. Wieder und wieder. Er rief um Hilfe, immer wieder. Er bemerkte, dass sein Ziehen die Hüttenwände erschütterte. Das glaubte er zumindest. Aber er spürte, dass er sich nicht würde losreißen können.
Er war total erschöpft. Sein Kopf dröhnte. Sein Handgelenk schmerzte vom festen Widerstand der Kette. Was war los? Was war geschehen? Angestrengt dachte er nach, angestrengt und erfolglos. Wie lange lag er hier schon? Stunden? Tage? Er betastete seinen Kopf und – Autsch - zog schnell seine Hand wieder zurück. Er spürte eine Wunde, nicht mehr blutend, ohne Verband. Vielleicht lag er schon Tage hier. Wer hatte ihm auf den Kopf geschlagen? Und warum? Seine Vergangenheit, sein ganzes Leben schien ihm ausgelöscht. Wahrscheinlich vom Schlag auf den Kopf, dachte er. Hoffte er! Es konnte doch nicht sein, dass er schon immer hier lebte? Nein, Unsinn! Er verspürte weder Hunger noch Durst. Warum? Er lauschte. Er hörte den Böhmischen draußen. Einige Vogelstimmen. Er lehnte sich zurück. Lauschte weiter. Dann schlief er wieder erschöpft ein. Und in der Ferne hörte er das Geschrei seiner Eltern:
4. Eingesperrt und angebunden
„
Den Hundskrüppel müsste man erschlagen!“, schrie der Vater. „Und dich dazu!“, schrie er der Mutter hin.
„
Du blöder Hund!“, schrie die Mutter. „Du bist doch selber an allem schuld!“
Und der kleine Horst zitterte vor Angst hinter der Tür. Auf der steilen Treppe, die in den dunklen Keller hinabführte. Es roch modrig, nach faulen Kartoffeln und staubigen Kohlen, nach ausgeschüttetem Bier. Und es war finster. Horst glaubte die Ratten zu hören, die er einige Jahre später jagen würde. Er hatte Angst, wimmerte und traute sich nicht, an die Tür zu klopfen oder gar zu schreien. Wenn er seinen Vater reizen würde, würde der ihn holen und zusammenschlagen.
Die Mutter hatte den Vater dazu gebracht, den Sohn in den dunklen Keller zu sperren – statt ihm mit dem Gürtel oder dem stets bereitliegenden Rohrstock das Gesäß zu malträtieren.
„
Sperr dein Gewehr doch weg, dann passiert auch nichts!“, schrie wieder die Mutter.
„
Der Saukrüppel hat gefälligst seine Pfoten von meinem Gewehr zu lassen!“, schrie wieder der Vater.
Und Horst zitterte und wimmerte. Er schwitzte. Vielleicht das Fieber. Draußen zerrte noch der Böhmische an den Brettern.
„
Hilfe! Hört mich denn keiner!“, wollte er gerade rufen, aber er zögerte. Er dachte an seinen Vater. Aha, die alten Erinnerungen waren noch da. Oder wieder da.
Irgendeiner musste ihn ja hier angekettet haben. Und wenn der sein Rufen hört? Wenn der zurückkommt und mir einen Knebel in den Mund steckt! Oder mich erschlägt?
Er riss an seiner Kette. Mit beiden Händen. Nahm alle Kraft zusammen. Riss wieder und immer wieder. Die Holzwand zitterte. Das Dach, die Decke – oder was auch immer da droben war – ächzte und der Staub rieselte herunter. Horst hustete. Und wieder ging ihm die Luft aus. Er atmete schnell und flach.
„
Hör auf!“, schrie seine Mutter. „Du schmeißt mir noch den Tisch um!“
Sie zog an der Schnur, mit der sie den Sohn angebunden hatte. Damit er nicht wegläuft. Damit sie nicht nachlaufen muss. Damit sie weiterarbeiten kann an ihrer Nähmaschine.
„
Sortier die Knöpfe!“ Sie warf ihm einen Becher unterschiedlichster Knöpfe hin. Die Hälfte der Knöpfe rollte davon. Unerreichbar für den Jungen. Er setzte sich und schob die restlichen Knöpfe hin und her, schoss sie davon, bis keiner mehr erreichbar war.
„
Du Depp!“, schrie sie wieder. „Wer sammelt mir die wieder ein?“ Und sie zog den Sohn am Strick herbei und schlug ihm auf den Hinterkopf.
Horsts Schädel brummte. Er war wieder aufgewacht. Vorsichtig kontrollierte er die Kopfwunde. Sie blutete nicht. Er tastete sich weiter ab. Alles noch dran. Er war vollständig bekleidet, auch die Schuhe hatte er noch an. Seine Liegestatt schien eine Extra-Polsterung zu haben, vermutlich Moos. Die Wand, an der er lag, war rau. Die Bretter waren nicht gehobelt und nicht abgekantet. Wie frisch aus dem Baum herausgeschnitten. Er klopfte dagegen. Vielleicht zwei, drei Zentimeter dick, schätzte er. Die Kette war aber an einem Balken befestigt, an einem Längsbalken des Grundgerüsts der Hütte. Horst mühte sich hoch und kam ins Sitzen. Gleich wieder erschöpft, lehnte er sich an die Wand. Dann probierte er, ins Stehen zu kommen. Aber dafür war die kurze Kette zu weit unten am Balken angeschlagen. Er legte sich wieder hin. Lauschte wieder dem Böhmischen. Und den Vogelstimmen.
Die Taube des Nachbarn auf dem väterlichen Dachgiebel hatte keine Chance: „Peng!“ Und schon fiel sie herab, rollte über die Dachziegel und ließ sich zum Glück auch nicht von der Dachrinne aufhalten. Die Überlebenden flogen in die Luft und die Ängstlichen verschwanden im Loch des nachbarlichen Stadels. Daneben ein zweites Loch. Dort schaute unverzüglich das aggressive Gesicht des Nachbarn heraus.
„
Du Mistkerl!“, schrie er. „Das wirst du mir büßen! Elende Bagage! Alle miteinander!“ Aber weiter ging sein Mut nicht. Der Nachbar fürchtete die Rache des Vaters, dem er alles zutraute. Aber er drohte dem Kind, lief oft mit einem Prügel hinter ihm her, wenn es die Gelegenheit ergab – aber er erwischte Horst nie. Später legte er sich einen Hund zu. Den machte er scharf. Und der rannte immer mit furchtbarem Gebell an der Grundstücksgrenze hinter dem Zaun entlang. Das verstand der Horst. Und schoss nicht mehr auf die Tauben des Nachbarn.
Und irgendwann – Horst war schon ein Jugendlicher – blieb der Hund regungslos liegen. Irgendjemand hatte ihn vergiftet.
5. Malinda traut sich was
Die frei zugängliche Höhle im Silberberg schillert in ihren typischen metallischen Farben: Eine wunderbare Melange aus blau-braun-gelb-schwarz-weißer Farbe, wie angemalt. Von drinnen sieht man durch die Löcher im Berg auf die schöne Umgebung im Bodenmaiser Tal. Imposant öffnet sich der Blick von der Bischofshaube nach Nordwesten auf das Zeller Tal, das von bekannten Bayerwaldbergen eingerahmt ist. Aber auch der Schwenk zu den südlicheren Vorwaldbergen verspricht viele schöne Wanderungen.
Malinda war verärgert, dass ihr Freund sie wieder mit seinen Eifersuchtsanfällen gequält hatte. Um sich und ihm ihre Selbstbestimmung zu beweisen, war sie zu einer kleinen Wanderung aufgebrochen, allein – was ihr Freund ihr natürlich nicht glaubte. Der Silberberg wartete aber mit Herausforderungen auf, die sie nicht bewältigen konnte – und auch nicht wollte. So war es ihr unmöglich, den Barbarastollen zu besuchen, der den Touristen einen Einblick in das Innere des Berges gibt. Sie wusste, dass sie in Panik geraten würde, wenn sie einen engen Gang durchqueren müsste. Aber die kurze Wanderung den Berg hinauf, die kleine buntschimmernde Höhle und die schöne Aussicht droben auf den Felsen der Bischofshaube, waren auch einen Besuch in Bodenmais wert. Dafür konnte sie auf den Bergwerksstollen verzichten. Und, um sich doch noch etwas mehr zu beweisen, entschloss sie sich, statt abwärts zu Fuß zu wandern, mit dem Sessellift den Berg hinabzufahren, was für die ängstliche Malinda ein gewagtes Unternehmen war.
Die fast 50-jährige Malinda war keine „einfache Frau“. Sie arbeitete an einer psychiatrischen Klinik als ausgebildete Krankenschwester und hatte sich durch Zusatzausbildungen Qualifikationen erworben, die sie zu einem psychologisch fundierten Umgang mit ihren Patienten befähigten. Und natürlich wusste sie genau, dass ihrer Verbindung zu ihrem eifersüchtigen Freund ein neurotisches Bindungsmuster zu Grunde lag. Aber das Wissen allein half nicht viel. Ihre Freundinnen und Kolleginnen hielten nicht mit entsprechenden Kommentaren zurück. Sie bewunderten zwar irgendwie, dass Malinda mit dem Reichen zusammen war, den alle den
Holzbaron
nannten, aber sie bezeichneten sie immer als naiv, wenn sie glauben würde, so eine Beziehung könnte gut gehen – noch dazu, wo der sie eifersüchtig bewachte. Sie und so einer, der Geld, Güter, ja sogar ein schlossähnliches „Gut“ besitzt und auch seine Partnerin besitzen möchte, nein, das könne unmöglich gut gehen.
Wegen ihrer klaustrophobischen Ängste, die auch ihr Alltagsleben einzuschränken begannen, hatte Malinda erst kürzlich eine Psychotherapie begonnen – manche meinten, es sei höchste Zeit gewesen - und schnell war dort die Partnerproblematik im Gespräch. Abhängigkeit vom Partner und Einengung war das Hauptthema, Einengung also auf allen Ebenen...
Die Seilbahn glitt geschmeidig den Berg hinab und die Insassen der hinaufführenden Zweiersessel grüßten freundlich.
Plötzlich ein Ruck!
Das Seil wurde angehalten und die Sessel kamen ins Schwingen. Wie auf einer Schnur aufgereihte Glocken schwangen sie hin und her – doch es kam kein Läuten und kein Laut. Alles war gespenstisch still. Malinda saß allein in ihrem Doppelsessel und hielt sich erschrocken fest, wie wohl die meisten der Touristen und müden Wanderer. Dann, als die Sessel sich langsam beruhigten, fanden manche zur Sprache zurück, gar zu Scherzen, die von Sessel zu Sessel hinübergerufen wurden.
Der dicke Mann: „Da hat einer nicht bezahlt!“
Sein hagerer Freund, der in der nächsten Gondel fuhr: „Du bist zu schwer. Hättest doch deine Hungerkur durchziehen müssen!“
Der Übernächste: „Die machen wohl eine Zigarettenpause!“
Auffallend war, dass es Männer waren, die mit Scherzen ihr mulmiges Gefühl überspielen mussten. Frauen und Kinder konnten es sich eher erlauben, ängstlich dreinzuschauen und sich gegenseitig noch mehr zu ängstigen oder aber zu beruhigen. Nach der Scherzphase gab es ernsthaftere Spekulationen über die Ursachen des Stopps. Dann über die Dauer des unfreiwilligen Aufenthalts. Aber keiner hätte gedacht, dass der Stunden dauern würde!
Der Wind blies sacht den Berg hinauf und die Menschen schauten zum Boden hinab, auf dem zwischen hohen Heidelbeersträuchern wohl etliche Felsbrocken lagen. Manchem kam der Gedanke, er könnte da vielleicht sogar hinabspringen. Andere kalkulierten die Überlebenschance, falls es zu einem Absturz käme.
Die Betreiber suchten fieberhaft nach einer Möglichkeit, die Bahn wieder in Gang zu bringen. Sie „vergaßen“ dabei, Rettungskräfte zu alarmieren, man wollte ganz offensichtlich öffentliches Aufsehen vermeiden und die kleine Panne selbst beheben. Immerhin konnten einige der schwankenden Fahrgäste mit Durchsagen beruhigt werden. Aber mit der Zeit machte sich Unruhe breit. Nach über einer Stunde hatte man sich endlich zur Evakuierung entschlossen. Das Herannahen von Bergwacht, Krankenwagen und der Polizei, einschließlich eines Hubschraubers, steigerte aber eher die Spannung, statt sie zu lösen.
Malinda klammerte sich nur noch am Metallgestänge fest. Ihr Gesicht war angstvoll erstarrt, auf Zurufe konnte sie nicht antworten. Und der Wind wurde stärker!
Die kleine Malinda hatte wieder einmal getrödelt. Die Geschwister waren schon weit weg. „Hey!“, schrie sie. „Wo seid ihr?“ Aber aus dem Wald war keine Antwort zu hören. „Philipp!“ - „Felicitas!“ - „Wartet auf mich!“ Die Kinder waren unterwegs, um Fichten- und Tannenzapfen zu sammeln. Nein, nicht zum Spielen, sondern für ein zusätzliches Taschengeld. Große Säcke hatten sie gefüllt. So, dass sie diese gerade noch auf ihren Leiterwagen heben konnten, den sie mit gemeinsamen Kräften aus dem Wald zogen. Und Malinda hatte wieder einmal getrödelt. Hatte kleine Tiere am Wegesrand betrachtet, Steinchen gesammelt – und allen Aufforderungen, endlich weiterzugehen, widerstanden.
Vielleicht wollten die Geschwister sie auch nur bestrafen für ihr Trödeln. „Wo seid ihr?“, rief sie wieder. „Ihr könnt rauskommen!“, versuchte sie ihr Glück. Aber es blieb still. Es rauschte nur der Wind in den Bäumen. Malinda versuchte es noch mit einem zaghaften „Hilfe!“, dann begann sie zu weinen, schließlich zu schreien, lauthals, wie am Spieß. Aber wenn sie auf Reaktionen lauschte, antwortete nur der Wind.
Es war wohl wirklich wahr: Sie hatte ihre Geschwister verloren, sie war allein im Wald zurückgeblieben! Malinda bekam eine schreckliche Angst, lief den Weg entlang, den der Leiterwagen genommen haben musste, und kam an eine Weggabelung. Hätte sie auf dem Herweg nur aufgepasst! Aber wie es so ist mit Kleinen: Sie verlassen sich auf die Großen. Malinda hatte keine Ahnung, welcher Weg der richtige war! Sie war verzweifelt.
Dann sah sie ihn!
Er war riesig. Mit schwerfälligen Schritten, ohne Rücksicht auf Wege, Steine, Wurzeln oder Äste, stapfte er durch den Wald. Kam direkt auf sie zu. Er schaute nicht auf, hatte sie noch nicht gesehen. Instinktiv duckte sie sich, versteckte sich hinter einer vom Sturm halb niedergestreckten Fichte, hielt den Atem an. Plötzlich blieb er stehen. So als hätte er etwas gewittert. Er schaute hoch. Malinda schloss die Augen, presste sie zusammen. Vielleicht konnte er sie so nicht sehen. Was sich die Kleinen so ausmalen! Er ließ sich nieder, lehnte sich an einen Baum, keine 30 Meter entfernt.
Malinda öffnete die Augen und sah, dass der riesige Mann ruhig dort saß und geradeaus starrte. Sie zitterte vor Angst. Was sollte sie tun?
Die Minuten verronnen, sie kamen ihr wie Stunden vor.
Fliehen konnte sie nicht. Einen Ausweg gab es nur nach oben. Malinda entschloss sich, den halb vom Sturm gefällten Baum hochzusteigen. Ganz langsam, vorsichtig, ohne einen Laut. Anfangs war es mühsam, dann kamen die ersten Äste, die ihr den Aufstieg erleichterten, obwohl es nun steiler wurde. Die Fichte hatte sich verfangen im Geäst einer Buche, stand nicht mehr, aber konnte sich nicht legen, lehnte sich schon lange in dieser misslichen Lage an den anderen, war schon leicht durchgebogen, drohte bald zu zerbrechen. Droben war Malinda vor seinen Blicken geschützter, aber droben schwankte die Fichte. Der Wind spielte mit ihrem Leben.
„
Lassen Sie los!“ Der Mann von der Bergwacht versuchte, ihre verkrampfte Hand vom Metallgestänge zu lösen. „Lassen Sie doch los! Ich halte Sie doch fest!“ Mit festem Griff gelang es ihm schließlich, Malindas Hand vom Gestänge wegzureißen. „Hallo! Hören Sie mich?“, rief er wiederum sehr laut. Sie schaute nur entgeistert. Der Bergwachtler drehte sich zu einem Kollegen um und schüttelte mit dem Kopf.
Zum Glück konnte man Malindas Sessel mit einer Drehleiter erreichen, an deren Ende ein „Korb“ für eine sichere Bergung eingesetzt wurde. Manch andere mussten mit Hilfe eines Polizeihubschraubers geborgen werden.
„
Lassen Sie doch los!“ Diesmal klammerte sich Malinda an den Bergwachtler, der sie im Korb nach unten begleitete und dort an den Sanitäter übergeben wollte. Sie war nur eine von vielen, die psychischen Beistand benötigten.
Erst in den nächsten Tagen entdeckten Mechaniker ein kleines Teil eines fernsteuerbaren Quadrokopters, das an einer Stütze der Seilbahn in eine Laufrolle geraten war...
6. Gescheiterte Geldübergaben
Im Bayerischen Wald verschwinden manchmal Menschen – wie andernorts auch. Der eine überquert die Grenze und vagabundiert in Tschechien herum, der andere wird angekifft in einem niederländischen Billighotel gefunden. Und wenn es ganz schlimm kommt, hängt manchmal einer an einem Baum oder liegt unter der Erde.
Der alte Vater des Holzbarons nahm die Telefonate entgegen. Er sah dies nicht als lästige Aufgabe an, sondern als eine gute Möglichkeit, seinem Sohn noch auf die Finger schauen zu können.
So erhielt der alte Gutsbesitzer eines Tages einen Anruf: Ja, so sagte der Anrufer, er habe seinen Sohn in seiner Gewalt und Hundertausend Euro wäre der doch sicher wert. Der Anrufer kündigte an, er werde sich wieder melden und legte sofort wieder auf. Natürlich erschrak der Alte furchtbar. Aber nachdem er bald seinen angeblich entführten Sohn wohlbehalten zur Tür hereinkommen sah und auch sonst in seiner Familie oder bei seinen Angestellten keiner abgängig war, verständigte er die Polizei. Die hielt alles für einen schlechten Scherz, denn es war auch niemand anderer als vermisst gemeldet worden.
Das zweite Telefonat des Erpressers gestaltete sich ähnlich kurz wie das erste. Der Anrufer gab einen Übergabeort für das Lösegeld bekannt und wartete keine Einwände des Alten ab.
Die Übergabe ging aber schief! Sie sollte am Silberberg stattfinden. Auf ein Zeichen hin sollte das Lösegeld aus dem Sessellift abgeworfen werden. Eine technische Störung am Lift verhinderte aber die Aktion. So jedenfalls interpretierte es der Entführer. In Wirklichkeit saß natürlich niemand in einem der Sessel, der eine Geldtasche bei einem Signal abgeworfen hätte. Denn keiner wusste, dass der Tierfreund Horst an Stelle des Holzbarons in einer einsamen Berghütte gefangen war.
Am Tag nach der gescheiterten Übergabe lag Horsts Handy im Briefkasten des Gutsbesitzers. Es solle als Beweis dienen, schrieb der Entführer, dass er wirklich den Holzbaron in seiner Gewalt habe und der Geldüberbringer solle das Handy nach Ringelai mitnehmen und dort die Schlucht der Wolfsteiner Ohe hinaufwandern. In der Buchberger Leite werde er weitere Anweisungen bekommen.
Für Hauptkommissar Flinker war ein Spaziergang in der Buchberger Leite eine willkommene Abwechslung. Die Hartnäckigkeit des „Spinners“, der seinen schlechten Scherz nun doch etwas übertrieb, machte ihn neugierig. Seine Kollegen im Kommissariat hatten sehr schnell den blassen Flinker als Geldboten auserkoren, weil sie - eher schmunzelnd als bewundernd - an seine bisherigen Einsätze in der freien Natur dachten und ihn deshalb als den Geeignetsten lobten. Außerdem schade es seiner Gesundheit nicht, wenn er wieder einmal spazieren gehe. Flinker nahm an, dass diese Bemerkung eine Anspielung auf seine Blässe und somit ironisch gemeint gewesen war, weil in die Schlucht der Wolfsteiner Ohe sicher eher wenig Sonne hineindringt.
Flinker war allein unterwegs. So war es vom Entführer gefordert worden. Zudem wurde von allen immer noch vermutet, dass der Entführer harmlos war. Horsts Prepaid-Handy hatte Flinker dabei.