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Unterhaltsame Kurzgeschichten über Menschen, die sich daheim und in ihren Beziehungen nicht wirklich geborgen fühlen. Die Geschichten erzählen unter anderem von Begegnungen auf einer Zugfahrt, von einer nackten und einer stummen Frau im Bayerischen Wald, von fünf Schulfreunden, die eine falsche Wahl treffen und von Menschen, für die das Leben auf dem Dorf schwieriger ist als gedacht.
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Helfried Stockhofe
Woanders das Zuhause finden
Woanders das Zuhause finden
Helfried Stockhofe
Copyright: © 2018 Helfried Stockhofe
Verlag: Helfried Stockhofe, 93455 Traitsching
helfried.stockhofe(at)web.de
Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Vorwort
Bei allen meinen Bücher geht es mir darum, die Leserinnen und Leser zu unterhalten. Meistens verbinde ich aber fiktive Handlungen mit realistischen Informationen.
Als ehemaliger Psychotherapeut kann ich dabei über psychotherapeutische Verfahren und die Berufswelt von Psychotherapeuten berichten und als Bayerwald-Bewohner zum Beispiel auch über Wanderziele in der oberpfälzischen und niederbayerischen Waldlandschaft.
Das ist in diesem Buch aber anders! Hier verzichte ich auf solche Kombinationen. Die acht kurzen Erzählungen enthalten keine der angesprochenen Informationen, sie sind also nur „ganz normale Unterhaltung“, natürlich nicht frei von mehr oder weniger versteckten Wertungen dazu, was im Leben wichtig und unwichtig ist. Aber klar, es geht auch in diesem Buch in erster Linie um die Beziehungen zwischen Menschen. Sie suchen bei anderen ein Zuhause.
Ich wünsche beim Lesen „gute Unterhaltung“!
Am Muttertagim Zug
1
Es waren ungefähr 20 Meter, also vielleicht 30 Schritte, vom Treppenaufgang der Bahnunterführung bis an die Stelle, wo jemand auf sie wartete. Vermutlich waren es mehr Schritte, denn die Frau zog einen Rollkoffer hinter sich her, aber keinen schweren. Und wenn, dann ließ sie sich das Gewicht nicht anmerken. Und schon gar nicht bemerkte sie selbst sein Gewicht. Den Koffer konnten die Fahrgäste im wartenden Zug nicht hören, obwohl auf dem Bahnsteig 1 noch ein Granitpflaster lag, ein moderneres zwar, mit großen hellgrauen Platten aus Flossenbürg, doch durch die Scheiben des Zugabteils, und neben dem Motorengeräusch der in Bereitschaft stehenden Lokomotive, war der Koffer sowieso nicht zu hören.
Sie war eine junge Frau, noch keine 30. Viele sahen sie, denn der Zug war voll und was soll man schon tun, wenn er auf einem Bahnhof hält. Die Frau war aber nicht diesem Zug entstiegen, denn sie kam aus der Gleisunterführung, hatte den Koffer an der Hand auf dem schwarzen Rollband hochbefördert und oben, sobald sie ihren Blick den Bahnsteig entlang richtete, strahlte sie. Und sie wendete ihren Blick nicht, auch wenn ihr manche spät kommenden Reisenden die Sicht versperrten. Sie strahlte 30 Schritte lang und wendete nie den Blick. „Sie hatte ein strahlendes Lächeln!“, wie oft gesagt wird. Aber nie hatte es mehr Berechtigung als hier, vielleicht mit der Erweiterung, dass es ein strahlendes Gesicht war. „Sie strahlte über das ganze Gesicht!“ ist also zutreffender. Eine genauere Beschreibung ist unnötig, überflüssig, womöglich in die Irre führend. Mit dem Strahlen ist alles gesagt.
Viele Augenpaare verfolgten es, wollten wissen, auf wen es gerichtet ist, wo es hingehört, wo es endet. Die Leute streckten die Hälse, bewegten ihre Gesichter nahe an die Scheiben, drehten die Köpfe. Die meisten dachten wohl an einen Mann, der die Frau zum Strahlen bringt – nicht an einen Ehemann - nein, ein Ehemann bringt seine Frau nicht so zum Strahlen, allenfalls noch am Tag der Hochzeit - nein, sie dachten an einen Liebhaber, einen Verliebten, einen zukünftigen Ehemann - vielleicht.
Man hätte sich eine Zeitlupe gewünscht, wie in schnulzigen Filmen, untermalt mit sehnsuchtsvollen orchestralen Klängen.
Doch auch ohne Musik kamen dem Rentner hinter der Scheibe die Tränen – und nicht nur ihm. Sie setzten genau in dem Moment ein, wo er das Kind sah, ein kleines Mädchen. In seinen Händen hielt es einen Zettel, eine Art Plakat, vom Vater geschrieben, aber mit Herzchen bemalt und bunten Sternen vom Kind beklebt:
Herzlich willkommen, liebe Mami,
und alles Liebe zum Muttertag!
Das Kind lachte und der Vater hockte grinsend dahinter, half dem Kind beim Halten des Blatts.
Nur ein kleines Kind bringt eine Mutter so zum Strahlen! Das war nun jedem klar. Der Mann war nur Beiwerk, natürlich auch geliebt, aber es war sicher: Die Frau hatte nur das Kind angestrahlt.
Die Mutter kauerte sich nun nieder zum Kind, umarmte es, alle drei umarmten sich. Die Mutter nahm das Mädchen hoch und herzte es weiter. Dann gab sie, mit dem Mädchen auf dem Arm, dem Mann einen kurzen, aber innigen Kuss. Das war das Letzte, das die Zuggäste sahen. Der Zug war angefahren und entfernte sich schnell. Er entließ die junge Familie ins Privatleben.
2
Zum Muttertag besuchte der Rentner seine alte Mutter. Er war im Abteil mit Abstand der Älteste, aber was heißt „Abteil“? Ein Wagen mit vielen hintereinander angeordneten Sitzen, eng hintereinander, so eng wie im Flugzeug, alle in eine Richtung schauend, aber aufgelockert durch Vierer-Sitzgruppen mit einem Tisch zwischen den Reihen. An so einem Tisch saß er. Der Zug war voll.
Eben war schnell noch eine Frau eingestiegen, die schnaufend den letzten der vier Tisch-Plätze besetzt hatte. Dem Rentner gegenüber ein Jugendlicher: Kopfhörer im Ohr, MP3-Player. Daneben ein nicht mehr so Junger: Kopfhörer mit Bügel, Smartphone wischend.
Neben dem Rentner nun die schnaufende Frau, die sich zuerst sammeln musste, erst ankommen. Sie war die einzige mit Gepäck, einer Reisetasche. Sie verstaute sie mühsam über sich auf der Gepäckablage und über die Tasche legte sie noch vorsichtig einen Kleidersack. Keiner half ihr, vielleicht, weil sie so robust aussah. Immerhin war sie noch einige Jahre jünger als der Rentner, der es im Kreuz hatte. Er war mit seinen 65 Jahren der Älteste. Und seine Mutter war mit ihren 90 Jahren auch die Älteste. Besucht man da noch seine Mutter zum Muttertag? Als er jung war, so alt wie der MP3-Hörer gegenüber, war das selbstverständlich, nicht nur für ihn Wohlerzogenen. Und auch jetzt noch war es selbstverständlich. Seiner Mutter war jetzt sein Besuch aber egal. Vielleicht war er seiner Schwester wichtig. Wenigstens ein bisschen Unterstützung, für einige Tage zumindest. Dann würde es ihn eh wieder wegziehen. Dann würde er die Schwester wieder allein lassen in ihrem Elend mit der Mutter.
Die demente Alte behandelte ihre Tochter wie eine Angestellte – und diese verhielt sich so wie ein Dienstmädchen, ließ sich alles gefallen, arbeitete sich auf, erduldete, ließ sich kränken ... Aber krank werden war unmöglich, sonst wäre die Mutter hilflos gewesen, denn auf den Bruder war ja kein Verlass, der kam nur alle heiligen Zeiten … Der Muttertag war so eine heilige Zeit.
Vielleicht kamen ihm auf dem Bahnsteig auch deshalb die Tränen. Nein, nicht wegen des gemeinsamen Leids von Mutter und Schwester, sondern weil er nie ein Kind war, das von seiner Mutter so angestrahlt wurde.
„Haben Sie vorhin das kleine Mädchen gesehen?“, sprach ihn unvermittelt die schnaufende Frau an.
Er nickte, schien froh um diesen Kontakt. Er drehte sich ein wenig seitlich, damit er die Frau besser anschauen konnte. „Ist sie Ihnen auch aufgefallen?“, erwiderte er rhetorisch.
„Ja, ich kam vom Ende des Bahnsteigs und da sah ich die Mutter strahlend auf mich zukommen!“
Er nickte wieder. Seine Banknachbarin hatte ein sehr offenes Gesicht mit einem kleinen Lächeln, während sie von ihrem Erlebnis berichtete. Offenbar hatte es auch sie beeindruckt.
„Aber dann sah ich natürlich die beiden am Boden, das Mädchen mit dem Vater. Ein süßes Kind!“
„Die machten alle einen sehr glücklichen Eindruck!“, bestätigte der Rentner. „Das Strahlen der Frau, das Lachen des Kindes … Das war etwas zum Herzerwärmen.“
„Den Mann kenne ich“, ergänzte die Nachbarin und ihre Miene wirkte vielsagend. „Die Frau kaum.“
Und das Kind?, fragte sich der Rentner. Aber plötzlich hatte er keine Lust mehr. Er wollte wohl gar nicht wissen, was diese Frau wusste und was sie ihm scheinbar erzählen wollte. Seine Sitzposition veränderte sich – und seine Nachbarin spürte, dass er sich zurückzog.
Wo war die strahlende junge Frau am Muttertag, bevor sie auf dem Bahnhof erschien? Wie lange war sie weg? Warum hatte sie das Kind nicht mitgenommen? Warum war sie nicht mit ihrem Mann verreist? Wohnt sie in dem Ort oder besucht sie die beiden nur?
Der Smartphonewischer schräg gegenüber hob seinen Kopf. Seine Blicke trafen die des Rentners, obwohl dieser eher nachdenklich ins Leere geschaut hatte. Will er mir etwas sagen?, fragte sich der Rentner. Sein Blick dauerte etwas länger als bei einer zufälligen Begegnung. Aber dann senkte der Smartphoner doch wieder sein Haupt und starrte auf das Display. Sicher ist sicher.
Der Junge gegenüber ließ sich von nichts beeindrucken. Erstaunlicherweise hatte sein MP3-Player eine moderate Lautstärke, so dass man seinen Musikgeschmack nicht erkennen konnte. Doch jeder ahnte die stampfenden und immer wieder gleichen Rhythmen, ohne variable Melodieführung und mit stumpfsinnigen Texten.
Der Rentner holte seinen eigenen Player hervor und stöpselte die Hörer ins Ohr. Die Netrebko sang zwar brillant, doch er hatte nicht die junge Schönheit vor Augen, sondern eine Diva in einem voluminösen Kleid mit mindestens 10 Meter Stoff, weil die Ärmste wohl auch vom Cortison dick geworden war.
Der rechte Ohrstecker fiel heraus. Der Rentner nahm den linken auch weg und packte alles wieder ein. Dann hielt er sich erneut an dem Strahlen fest. Doch er konnte es nicht mehr richtig genießen.
3
Ein paar Reihen weiter saß ein Schwarzafrikaner, ein Geflüchteter. Er war stark beschäftigt mit seinem Smartphone, konzentrierte sich heftig auf das, was er da sah und tat so, als ob er nichts anderes mitbekäme. An seiner Schulter lehnte ein dicker, ja eigentlich ein fetter Mann. Wenn einer so unappetitlich aussieht, darf man das ruhig so ausdrücken. Neben der Leibesfülle gab die unpassend gewordene Kleidung der Szenerie ihren Beigeschmack: Unter einem bunten engen Fußballtrikot quoll ein weißer Speckbauch hervor, der mit dem Schnarchen des schwitzenden Mannes anschwoll und sich wieder zusammenzog. Der Mann war sturzbetrunken.
Der Muttertag war der letzte Spieltag der zweiten Fußball-Bundesliga. Da gab es etwas zu feiern oder zu betäuben. Aber der Mann war schon vor dem Spiel besoffen! In der Fankurve würde er, wenn sein Rausch nach der Zugfahrt etwas nachgelassen hätte, wie immer das Spiel mit lautstarken Kommentaren begleiten. Manchmal waren es nur gewisse Laute, die er ins Spiel hineinblökte, Laute, die einen Affen imitieren sollten. Das geschah, wenn ein dunkelhäutiger Spieler der gegnerischen Mannschaft in irgendeiner Weise auffiel, sei es durch eine besonders gute oder eine fehlerhafte Leistung – oder auch nur, wenn er am Ball war. Es spornte den Fetten noch an, wenn sein rassistisches Verhalten gerügt wurde. Da blökte er noch lauter.
Jetzt aber schnarchte er, legte sein Gewicht an die Schulter des schlanken Schwarzen neben ihm und träumte bierselige Träume. Und der Flüchtling stierte auf das Smartphone-Display, als ging ihn das alles nichts an. Von seiner Mutter hatte der Flüchtling schon lange nichts mehr gehört, von einer Bundesliga noch gar nichts.
Am nächsten Bahnhof stiegen vier Frauen ein, die sich auf dort frei gewordene Plätze verteilten. Sie waren guter Stimmung, wollten miteinander den Muttertag feiern. Eine saß etwas abseits und kam auf die Idee, den Betrunkenen zu einem Platzwechsel zu überreden, um näher beieinander sitzen zu können. Vermutlich hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit den Ehemännern daheim, denn die Frauen gingen ohne Scheu an den Schnarchenden heran und weckten ihn mit grinsenden Gesichtern. Mit verständnisloser Miene erhob sich der Mann mühevoll, trat in den Gang … – doch mit einem schnellen Satz schoss der Flüchtling, nun von der Last befreit, in die Höhe, spurtete zum frei gewordenen Platz der Muttertagsausflugsfrau und ließ die anderen die Angelegenheit anders regeln. Er hatte es nicht überrissen, dass die Frauen den Fußballfan umquartieren wollten und somit er neben einer Frau gesessen hätte. Oder wäre ihm das womöglich auch unangenehm gewesen?
So wurde der Dicke mit vereinten Kräften auf den Fensterplatz des Schwarzen geschoben und die Schlankeste der Frauen bekam die Ehre neben dem Mann sitzen zu dürfen. Das Gelächter war allerorten, manchmal nur im Stillen, doch die Frauen amüsierten sich am meisten. Der Betrunkene rülpste laut, was die Frauen dazu bewog, sich die Hand vor den Mund zu halten, damit sie nicht noch mehr losprusteten. Der Schwarzafrikaner weiter hinten schloss die Augen und tat so als ob er schliefe.
Die Frauen unterhielten sich in fränkischem Dialekt miteinander, wechselten aber ins Hochdeutsche, als eine sächsisch sprechende Schaffnerin nach den Fahrkarten fragte. Nein, meinten sie, der „Herr“, der Fußballfan, gehöre nicht zu ihnen und reise nicht mit ihnen auf dem Bayernticket. Die Bahnangestellte probierte ihr Glück, aber der Betrunkene ließ sich ebenso wenig wecken, wie kurz zuvor der Flüchtling, der sich lieber schlafend stellte, als den Fremdsprachen-Dialog mit der Schaffnerin zu riskieren, bei dem angesichts einer fehlenden Fahrkarte ohnehin nichts Gescheites dabei herausgekommen wäre. Die Schaffnerin zog weiter und presste ihren Stempel auf die Karten der Reisenden, die kooperativer waren.
Die Frauen freuten sich auf die Landesgartenschau und tauschten sich aus über die Qualität der eigenen Gartenpflanzen angesichts des zu warmen Wetters. Gelächter gab es wieder, als sie zufällig auf Fetthennen zu sprechen kamen. Sie philosophierten, ob Fetthennen viel Wasser bräuchten oder ob Bier nicht doch besser wäre, ob das alkoholfrei sein müsste und ob bei zu hohem Malzgehalt Fetthennen aufplatzen würden. Manchmal stießen sie vor Begeisterung ihre fremden Sitznachbarn an und erwarteten ein ebenso begeistertes Lachen. Und wirklich, ihr Lachen hatte etwas Ansteckendes, so dass gelegentlich auch der Dicke aus seinem Bierschlaf erwachte und trotz oder wegen der Witze auf seine Kosten mitlachte. Die Dünne neben ihm fand offenbar Gefallen an ihm und meinte zwischendurch, ein richtiger Mann müsse auch einen Bauch haben, was die anderen damit konterten, dass aber sein Busen nicht unbedingt größer als der der Dünnen sein müsse. Scheinbar kannten sich die vier sehr gut und vertrugen einiges an Zoten unter der Gürtellinie.
4
Der Rentner schaute aus dem Fenster. Draußen zogen Getreidefelder vorbei: Millionen Weizenhalme, blaugrün und in perfekter Ausrichtung. Heuer viel zu früh groß geworden. Daneben ein Meer strohgelber Gerstengrannen, scheinbar kunstvoll und doch wirr ineinandergezwirbelt. Wie die Haare des America-first-Präsidenten, die Gegenwind von allen Seiten bekommen hatten. Vielleicht waren sie auch wegen seiner drehhoferschen Attitüden so durcheinander geraten. Nach der Gerste wieder die nordkoreanischen Weizensoldaten, die jedem Sturm zu trotzen schienen.
Der Rentner dachte an die geheimnisvollen und doch so zarten Morgennebel, die in den Flussauen für eine friedvolle Stimmung gesorgt hatten. Jetzt, am späten Vormittag, hatte sich die Szenerie geändert: Die beiden „großartigsten“ Führer Trump und Kim hatten sich breit gemacht! Kein Wunder bei den Vorlagen, die der rassistische Fußballfan geliefert hatte!
Der Rentner wusste, dass er sich vieles nur in seiner Fantasie zusammenreimte, aber seine Vorurteile passten ihm gut in den Kram. Und wem taten sie schon weh …
Wo war die strahlende junge Mutter, bevor sie auf dem Bahnsteig auftauchte? Was hatte meine schnaufende Nachbarin andeuten wollen?
Manchmal war er es leid, immer nur negativ zu denken. Aber das war nun einmal seine Art. Anderen erklärte er sie als Folge seines Berufs, aber er selbst wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war: In Wirklichkeit war wohl sein Beruf die Folge seiner negativen Persönlichkeit. Doch jetzt bin ich Rentner, hielt er sich oft vor, so als ob es einem Rentner erlaubt sei, positiver zu denken. Oder es jetzt nicht mehr erlaubt sei, negativ zu denken. Rentner haben es doch schön!
Selbst seine Partnerlosigkeit wurde von Bekannten schön geredet. Auch da war er sich nicht sicher, aber er stimmte zu. Denn wenn er es jemals zu einer Partnerschaft gebracht hätte, wer weiß, ob das nicht gerade jetzt zu anstrengend wäre. Andererseits, so allein ist es doch auch nicht schön ... Immer negativ denken!
Es liegt wohl an meiner Mutter, vermutete er, wenn er einmal über die Hintergründe seines Pessimismus´ spekulierte. Vielleicht hätte er es in einer Psychotherapie aufarbeiten sollen … Aber jetzt war alles zu spät.
Die junge strahlende Frau könnte, beruflich erfolgreich, zu einer Tagung geschickt worden sein. Sie hat die Tagung vorzeitig verlassen, um am Muttertag noch rechtzeitig daheim zu sein. Das wäre doch positiv gedacht! Oder sie hatte einen Zahnarzttermin in Ungarn wahrgenommen, musste über Nacht dort bleiben und kam nun mit einem strahlenden Lächeln zurück. Vielleicht hatte sie sich aber auch auswärts um eine leitende Stelle beworben oder aber sich mit ihrem Verleger getroffen, der ihr endlich einen lukrativen Vertrag angeboten hatte. Wahrscheinlich musste sie persönlich zu einer Lotto-Gesellschaft wegen der zwei Millionen, die sie gewonnen hatte ...
Fantasie hatte der Rentner genug, aber natürlich lagen ihm andere Interpretationen näher.
„Um noch einmal auf vorhin zurückzukommen ...“, durchbrach die schnaufende Nachbarin seine Gedanken, „… also, vorhin als ich zustieg. Na, Sie wissen schon ...“
Der Rentner schaute sie von der Seite an und nickte. Er wollte nicht schon wieder zurückweisend sein.
„Der Mann wohnt in einem Zelt!“
„Einem Zelt?“, wiederholte er erstaunt.
„Ja, in einem großen, so einem runden.“
„Ach, in einer Jurte?“
„Keine Ahnung, wie man das nennt. Halt so einem runden Zelt, mit geraden Seitenwänden und oben einem Loch in der Mitte.“
„Einer Jurte!“
„Meinetwegen. Ist schon seltsam, oder?“
Der Rentner zuckte mit den Schultern. „Wenn es ihm gefällt.“
Sie schaute ungläubig, weil ihr Sitznachbar das so einfach abtun konnte. „Einem Zelt!“, wiederholte sie etwas lauter und wartete auf eine Reaktion.
Der Rentner zuckte wieder mit den Schultern. Nach kurzem Zögern entschloss er sich aber doch, das Gespräch fortzuführen.
„Da wohnt er das ganze Jahr über?“, fragte er.
Sie nickte. „Das ganze Jahr über. Auch im Winter.“
„Und das Kind? Und die Frau?“
„Weiß nicht. Wahrscheinlich auch. Ich seh die nie. Die wohnen im Wald.“
„Im Wald?“
„Na ja, abseits halt, am Waldrand.“
„Also ohne viel Kontakt zu den anderen?“
„Mmh, sind seltsame Leute.“
Der Rentner mochte seltsame Leute. Er begann, sich das Leben dieser Familie vorzustellen und bemerkte, dass er sie beneidete. Es war aber nur seine Sehnsucht nach einem freien Leben.
In der Realität sieht alles viel problematischer aus, dachte er. Vermutlich lebt die junge Frau inzwischen woanders, hat es in der Jurte nicht mehr ausgehalten, war zu ihren Eltern gezogen, hat sogar das Kind zurückgelassen. Nein, das nun doch nicht. Sie wechseln sich ab: Wochenweise betreut mal der Vater, mal die Mutter das Kind.
„Also, ich möchte das nicht!“, raunte ihm die Nachbarin zu. „So primitiv.“ Dabei rollte sie mit den Augen.
Der Smartphoner, der ja der Frau gegenüber saß, schaute wieder einmal hoch. Der leisere Tonfall der Frau hatte ihm signalisiert, dass jetzt vielleicht noch etwas Interessanteres folgen könnte. Die Schnaufende bemerkte, dass er sich interessierte.
„So primitiv!“, wiederholte sie und blickte dabei den Smartphonewischer an.
Der tat so, als habe er sie nicht verstanden, nahm den Hörer vom Kopf und fragte: „Wie bitte?“
„Die wohnen in einem Zelt!“, erwiderte die Frau.
„In einer Jurte!“, korrigierte der Rentner.
„Wer?“, fragte der Smartphonewischer, zum Rentner gewandt.
„Die junge Familie vom Bahnsteig“, entgegnete dieser.
„Welche Familie?“
„Ach, unwichtig“, bog der Rentner mit einer wegwerfenden Handbewegung das Gespräch ab.
Und der Smartphonewischer setzte sich wieder den Kopfhörer auf.
5