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Birtele ist der neue Mitarbeiter von Kriminalhauptkommissar Flinker. Er erzählt von seinen ersten Fällen in der Oberpfalz, lässt sich von seinem Chef und einer Psychotherapeutin über kriminalistisches und psychoneurotisches Verhalten belehren und geht selbst manchmal unbelehrbar ein Stück zu weit in seinem Denken und Handeln. Explosive Schachspieler, eifersüchtige Messerstecher und schlaue Brandstifter sind die Gegenspieler der drei Aufklärer.
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Selbst wenn ich mich einmalbeim Schreiben meiner Bücher von wahren Begebenheiten und real existierenden Personen inspirieren lasse, sind deren literarischen Ausgestaltungen immer frei erfunden.
Die den Romanfiguren zugeschriebenen Symptomatiken werden in psychologischen Fachbüchern häufig besprochen und sind natürlich auch mehrfach in meiner Psychotherapiepraxis vorgekommen. Aber keinesfalls schildere ich Krankheits- oder Therapieverläufe meiner ehemaligen Patienten!
Die Namen der handelnden Personen wurden von mir nach bestimmten Kriterien oder rein assoziativ gewählt. Sollten dabei Namensgleichheiten mit real existierenden Menschen oder mit Romanfiguren aus anderen Büchern vorkommen, sind diese rein zufällig – oder meinem Unbewussten anzulasten, vermutlich als Freudsche Fehlleistung…
In der ersten Kriminalgeschichte spielen Schachaufgaben eine wichtige Rolle. Sie werden am Schluss des Buchs mit ihren Herkunftsnachweisen nochmals angeführt. Aber auch ohne Schachkenntnisse lässt sich die Geschichte lesen!
Helfried Stockhofe
„Ich hoffe, daß die von mir zusammengestellte Blütenlese interessanter und formvollendeter Schöpfungen moderner Problemkomponisten eine freundliche Aufnahme beim Publikum finden und daß das Studium derselben sich für die Löser zu einer Quelle geistigen Genusses gestalten möge.“
(H. von Gottschall, 1898, im Vorwort zu einer Sammlung von Schachaufgaben)
1Früher dachte ich, dass es besondere Menschen wären, die gerne Schach spielen. Vielleicht besonders gescheite oder exotische, die mit den Späßen ihrer Generation nichts anfangen können und sich lieber dem königlichen Spiel verschreiben. Exotisch wollte ich nie sein, dazu war ich viel zu spießig. Aber vermutlich wollte ich mich als etwas Besonderes fühlen. Nachdem ich aber in späteren Jahren viele andere Schachspieler kennengelernt hatte, kam ich zu der Überzeugung, dass es ganz normale Menschen wären – also keine exotischen, sondern ganz normale und genauso gestörte. Meistens hatten sie das Spiel von ihren Vätern erlernt. Mütter spielen selten Schach. Als ich damit anfing, gab es keine Frauen in meiner Umgebung, die Schach spielten. Auch in unserem Schachverein, bei dem ich jahrelang am zweiten Brett punkten wollte, gab es keine Frauen. Am ersten Brett, das sollte man wissen, spielt immer der Beste. In meinem Verein war es zuerst der alte Georg, der zu den Gründern des Vereins zählte, und nach seinem Tod der Hans, der damals besser war als ich, aber nur einen Hauch...
Schachgenies waren wir alle nicht, aber solche gibt es natürlich. Das sind dann keine normalen Menschen. Nachdem ich schon als Kind meinen Vater besiegt hatte, meinte der, ich sei ein Genie. Es ist immer besser, von einem Genie besiegt zu werden als vom kleinen Sohn.
Aber was verliere ich mich schon wieder in solchen Erinnerungen? Wegen der Dunkelheit, in der ich hier sitze, oder wegen des ewigen Wartens? Ob da noch jemals einer kommt? War es ein schlimmer Fehler?
Wenn ich durch den Spalt der alten Tür luge, fällt mein Blick auf das Schachbrett. Eigentlich kann ich es eher erahnen als wirklich sehen. Ein Brett mit wenigen Figuren. Mit einem Schachrätsel. Oder wie wir Schachspieler sagen, mit einer „Schachkomposition“.
Wenn ich nur beim Schach geblieben wäre! Es hat mir doch so viel Spaß gemacht! Vielleicht hätte es zum Profi gereicht… Aber ich habe zu früh aufgegeben. Doch wenn man nicht einmal im Verein der Beste ist… Was soll´s, ich bin Polizist geworden. Auch ein interessanter Beruf. Und damit war das Schachspielen im Verein vorbei. Wie vieles vorbei ist, wenn man Schichtdienste schieben muss.
Als ich hier in die Oberpfalz zu meiner neuen Dienststelle versetzt wurde, erwähnte ich aber dennoch meinem Vorgesetzten gegenüber, dass ich Schach spielen könne. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen. Vielleicht hatte ich sein Schach-Tischchen entdeckt, das er zur Ablage alter Akten benutzte. Welches Sakrileg! Ein paar Quadratzentimeter italienischen Marmors blitzten hervor zwischen dem immer noch ungeklärten Todesfall im Altenheim und einer Tötung auf Verlangen. Vielleicht war es ein und derselbe Fall, ich weiß es nicht mehr. Nicht, dass der Chef sein Marmortischchen immer so geputzt hätte, aber er schob seine Akten immer darauf herum, so dass sich kein Staub auf dem edlen Gestein breitmachen konnte. Es kommt mir gerade: Vielleicht schob er die Akten genau deswegen hin und her! Auf jeden Fall erkannte ich sofort das edle Stück und dabei muss ich mich damals wohl als Schachspieler geoutet haben.
Ich hätte aber gleich dazusagen sollen, dass ich auch schon einmal höherklassig in einem Verein gespielt habe! Aber ich wollte nicht angeben – und nicht riskieren, dass ich mich blamieren würde, falls mir tatsächlich einmal einer begegnet, der besser spielt als ich. Ich sagte also nichts. Und so war der ahnungslose Hauptkommissar Flinker sehr erfreut und forderte mich gleich heraus, zum Einstand sozusagen, damit man sich besser kennenlerne, auf dass das Eis gebrochen werde…
Er hat nur ein einziges Mal gegen mich gespielt! Und das auch nur kurz. Gut, er wusste, was eine Rochade ist und kannte die Bedingungen, unter denen sie nicht mehr ausgeführt werden darf, auch hatte er davon gehört, dass ein Bauer unter Umständen en passant geschlagen werden kann, aber schon mit meinem Gardez konnte er nichts mehr anfangen – dabei wollte ich ihn doch nur warnen – und als ich einmal J´adoube sagte, meinte er, er könne kein Französisch und Indisch schon gar nicht. Ich murmelte ihm nämlich hin, dass seine indische Verteidigung sehr unkonventionell sei…
Damals hatte keiner von uns angenommen, dass danach das Schachspiel noch jemals in der Dienststelle eine Rolle spielen würde. Das Tischchen verschwand wieder unter der Tötung auf Verlangen, und der Todesfall im Altenheim wurde wieder hin- und hergeschoben.
Aber wir hatten uns getäuscht! Denn vor kurzem hat sich Kommissar Flinker – ich nenne ihn nur selten mit seinem Dienstgrad „Hauptkommissar“, sage aber auch selten „Kommissar“, meistens einfach nur „Flinker“, so wie er es sich wünscht - also, vor kurzem hat sich Flinker wieder an meine Schachkenntnisse erinnert! Schuld daran war ein anonymer Brief, der an eine Polizeidienststelle geschickt und uns per Fax weitergeleitet worden war. Flinker zeigte mir das Schreiben und wollte mit einem verlegenen Lächeln wissen, was ich davon halten würde. Ich sei doch ein guter Schachspieler, meinte er. Dabei mischte sich in sein Lächeln eine gewisse Ironie oder gar Bitterkeit. Er ist wohl ein schlechter Verlierer und hat mir nicht verziehen, dass ich damals seine freundschaftliche Einladung zu einem Schachspiel so schamlos bestraft hatte.
Das Schreiben bestand aus wenigen Buchstaben und Zahlen:
W: Kf1, Dd7, La2, Sf7, c2, e5, f2, g2
S: Ke4, Sc1, Sc7, f4
Natürlich hatte Flinker die Schachnotation erkannt. Und ich nickte ihm anerkennend zu.
„Stellen wir´s auf?“, fragte ich.
Flinker ging an seinen Schreibtisch und kramte aus der untersten Schublade sein Kästchen mit Schachfiguren hervor. Von seinem kleinen Beistelltisch wuchtete er die dort liegenden Akten hoch und schob sie auf einen Schrank. Triumphierend zeigte er auf die todesfallpolierte Platte des Tischchens:
„Mein Schachbrett! Edler Marmor!“
„Ach ja“, sagte ich mit einem unterkühlten Schmunzeln, „ich erinnere mich.“
Ich stellte die Spielfiguren, die auch aus Stein waren - vermutlich aus Speckstein von armen Leuten in Nordafrika herausgeschnitzt - auf die angegebenen Felder und bemerkte, dass die Notation nicht aus einem regulären Spiel stammen konnte. Es musste eine Schachaufgabe sein, wie sie als Rätsel in Schach- oder Tageszeitungen als Matt in soundsoviel Zügen angeboten wurde – also eine Schachkomposition.
„Das ist ein Matt in einigen Zügen“, erklärte ich meinem Vorgesetzten, der flugs nickte, so als hätte er das natürlich selbst schon lange erkannt.
„Und was sagt uns das?“, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung!“
„Können Sie die Schachaufgabe lösen?“
„Schon möglich, aber das dauert. Doch weiterhelfen würde uns das auch nicht, oder?“
Der Chef nickte wieder. „Vielleicht ein blöder Scherz.“ Dabei schaute er mich schräg an und ich vermutete, dass er überlegte, ob es ein Aprilscherz von mir sein könnte. Aber der 1. April war schon vorbei.
„Na, von mir ist das nicht!“, beteuerte ich und grinste dabei.
„Da will uns jemand herausfordern!“, unkte er. „Vielleicht hat einer zu viele Krimis angeschaut und will uns rätseln lassen.“
Damit war die Sache vorerst erledigt. Wir hatten Wichtigeres zu tun, als uns über einen blöden Scherz viele Gedanken zu machen. Und die Tötung auf Verlangen kam wieder an ihren angestammten Platz.
Wenn wir den angeblichen Scherz ernst genommen hätten, säße ich heute nicht hier allein in meinem dunklen Verlies! Und würde nicht warten. Vermutlich völlig vergeblich warten.
Draußen ist immer noch nichts zu hören. Kein Laut. Selbst die Vögel sind nicht gewillt, mir mit fröhlichen Liedern Beistand zu leisten. Manchmal ein kurzes Pfeifen, ein leises Plätschern...
Statt weiter über das anonyme Schreiben mit dem Schachrätsel nachzudenken, fuhr Flinker damals aber lieber „aufs Land“, in Richtung tschechischer Grenze. Er musste einer Vermisstenmeldung nachgehen, die von einer anderen Dienststelle an uns delegiert worden war: In einem Dorf mitten in der oberpfälzischen Pampa war ein Mann verschwunden. Flinker wollte mit den Familienangehörigen reden. Ich war natürlich dabei. Es war eine wunderschöne Gegend, aber kein schönes Dorf – und vor allem kein schönes Haus. Wir schauten uns an und ahnten, dass wir dasselbe dachten: Das konnte keine Entführung sein!
Die Frau hatte uns erwartet, denn unser Besuch war ihr von der Dienststelle angekündigt worden. Sie versuchte, einigermaßen cool zu sein, doch sicher hatte sie nicht jeden Tag zwei Kriminalbeamte im Haus. Schon bei der Begrüßung verschluckte sie sich und begann zu husten. Sie bat uns hinein und bot „Wasser oder Kaffee“ an. „Alkohol dürfen Sie ja wohl nicht trinken“, meinte sie lächelnd. Mein Chef, der nicht nur äußerlich blass wirkt, verstand es sehr gut, mit dieser „einfachen“ Frau umzugehen. Aber auch er brachte es nicht übers Herz, die Einladung anzunehmen. Angesichts der nur grob überdeckten Hässlichkeit der Frau – Sorry, aber anders kann ich es gar nicht beschreiben, oder doch? Vielleicht war es eher eine Schmuddeligkeit, Unsauberkeit, passend zur Wohnung, für die wir gerne in unsere Tatort-Overalls geschlüpft wären – angesichts dieser Umstände also, schien es uns jedenfalls nicht ratsam, Getränke anzunehmen, selbst „Wasser“ nicht.
Es stellte sich heraus, dass der Mann schon zwei Tage abgängig war. Die Ehefrau hatte etwas mit der Anzeige gewartet, weil es schon einmal vorkomme, dass ihr Angetrauter auswärts schlafe – oder auch nicht schlafe, sondern sich herumtreibe. Außerdem unternehme ja die Polizei sowieso nichts, wenn nicht eine gewisse Zeit vergangen sei. Die Frau hatte offensichtlich keine Ahnung, wo ihr Mann war und was passiert sein könnte. Er habe keine Freundin, auch keine Feinde, Gott bewahre. Er sei mit dem Auto weggefahren, weil er noch etwas erledigen wollte.
Flinker berichtete der scheinbar besorgten Dame, dass Nachforschungen in Krankenhäusern nichts gebracht hätten. Auch von einem Unfall mit dem Auto des Vermissten sei nichts bekannt. Das sei doch ein gutes Zeichen, meinte er. Vielleicht brauche der Mann eben einmal eine Auszeit. Dabei schaute Flinker auffällig im Zimmer umher, was ich als sehr despektierlich erlebte, weil ich mir dachte, dass er der Frau signalisieren wollte: Bei dieser Umgebung und dieser Ehefrau braucht man mal eine Auszeit!
Nein, nein, erwiderte die Frau. Das habe es ja noch nie gegeben!
Nach dem Gespräch überraschte mich Flinker mit seinem Vorhaben, jetzt auch noch eine alte Freundin besuchen zu wollen. Die wohne gar nicht mehr so weit entfernt und er wisse, die verstünde etwas von Schach. Er wollte mich ärgern! Ganz offensichtlich hatte mein Chef das anonyme Schreiben mit der Schachnotation dabei, um es seiner Freundin zu zeigen. Das Ganze kam mir unverschämt vor: Entweder war es ein offener Misstrauensbeweis in meine Schachkenntnisse oder es war es nur ein Vorwand, um seine Freundin besuchen zu können.
„Aber ich dachte, Sie hätten das Schreiben schon beiseite gelegt.“
„Ja, schon. Aber wenn wir nun einmal schon hier sind.“
„Und wenn sie nicht daheim ist.“
„Die ist daheim, ich hab uns angekündigt.“
Aha. Ich schwieg. Der Chef ist eben der Chef. Ich war gespannt, ob es den Abstecher wert war.
Es öffnete uns eine attraktive Frau so um die Vierzig. Respekt, dachte ich mir, der blasse Flinker und die! Ich kann nicht verhehlen, dass ich mir schon vorher Gedanken gemacht hatte. Immerhin war Flinker verheiratet. Doch nachdem ich die Freundin gesehen hatte, nahm ich an, dass seine Ehefrau ähnlich blass wie er selbst sein müsste und ihm an mehr Frische gelegen war. Trotz der alten und zum x-ten Male wiederholten und immer wieder sehenswerten Krimiserie „Columbo“, in der alte Männer immer junge Frauen haben, überraschte mich Flinker mit seiner jungen Geliebten, zumal er ja nur alt und keineswegs reich oder berühmt ist, wie es die alten amerikanischen Männer in den alten amerikanischen Krimis zu sein pflegen. Flinker erinnerte mich übrigens schon beim Kennenlernen nicht an die alten Reichen, sondern an Columbo selbst, den von den Mördern stets unterschätzten Zigarren rauchenden Kommissar mit knittrigem Mantel und noch knittrigerem Auto …
Doch die attraktive Geliebte an der Haustür entpuppte sich als treue Ehefrau! Zumindest dachte ich das, weil der hinter ihr auftauchende Mann grinsend zusah, wie sich Flinker und die Frau umarmten. Mir wurden Alina Winner, eine Psychologin, und ihr Mann Bernd, ein Energiefachmann, vorgestellt.
Das weitere Treffen entwickelte sich aber dann doch etwas einseitig, denn bevor ich mich versah, saß ich zusammen mit dem Energiefachmann über der Schachaufgabe, während Flinker den Garten seiner Freundin besichtigte, immer eng an ihrer Seite, was dem Energiefachmann doch einige kontrollierende Blicke abnötigte. Natürlich besaß Bernd nicht im Entferntesten die Schachgenialität, die den Umweg gerechtfertigt hätte. Und seine Frau könne mit Schachaufgaben dieser Art schon gar nichts anfangen, meinte er. Er muss mein fragendes Gesicht gesehen haben, denn er ergänzte, dass sich seine Frau und der Kommissar schon länger kennen würden und vieles miteinander erlebt hätten. So ganz glücklich schien er darüber nicht zu sein, denn sein Schmunzeln enthielt eine Unsicherheit, die selbst ein Nicht-Psychologe wie ich erkannte.
Am Tag nach diesem Ausflug in das schöne Oberpfälzer Land rief uns die Ehefrau des Vermissten an und meinte, ihr Mann sei nun wieder daheim! Er habe keinen Unfall gehabt, habe nur etwas erledigen müssen, eine alte Geschichte, über die er nichts weiter erzählt habe. Flinker bat die Ehefrau, ihrem Mann auszurichten, dass er doch noch den Weg zur Dienststelle auf sich nehmen müsse, um mittels eines Protokolls den Fall abzuschließen.
Das war Flinkers zweiter Fehler. Also, den Fall abzuschließen. Eigentlich ist er schuld an meiner jetzigen Lage! Er hätte alles viel ernster nehmen müssen! Aber egal, jetzt sitze ich in der Falle. Ja, wenn Flinker mich nicht so abgekanzelt hätte! Dann wäre das alles ganz anders gelaufen. Aber wie ging das damals weiter?
Der ehemals vermisste Mann kam schön brav auf die Dienststelle. Er war sehr nervös. Er berichtete, dass er eine Auszeit gebraucht hätte – Flinker nickte verständnisvoll, obwohl der Mann in puncto Attraktivität seiner Frau in nichts nachstand – und er sich deshalb in eine einsame Hütte am See zurückgezogen habe. Dort habe er die drei Nächte geschlafen und auch etwas getrunken. Nein, eine andere Frau sei nicht im Spiel gewesen. Die genaue Lage der Hütte könne er jetzt nicht erklären, sagte er, aber er kenne sie von früher und würde sie wiederfinden, wenn sie der Kommissar unbedingt sehen wolle. Selbst wenn vielleicht doch mehr Alkohol im Spiel gewesen wäre.
Flinker ließ den Mann das Vernehmungsprotokoll unterschreiben und damit war die Sache für ihn erledigt.
Vielleicht dachte Flinker noch darüber nach, ob eine dreitägige Auszeit auch für ihn attraktiv sein könnte. Ich bin leider nicht in der Lage, mir Auszeiten von einer langweiligen oder kritischen Partnerschaft zu wünschen. Dreitägige Auszeiten von meinem Singleleben wären schon etwas, aber nicht einmal dazu reicht es bei mir.
Die Auszeit hier in diesem Versteck ist jedenfalls nicht das Gelbe vom Ei, aber ich hab es ja nicht anders gewollt. Ist ja nur eine Nacht! Tatsächlich ist es eine Art Auszeit von meiner Partnerschaft mit Flinker, ein Alleingang – mit hoffentlich gutem Ausgang!
Einige Tage nach der Vernehmung des verschwundenen und wieder aufgetauchten Mannes erhielten wir erneut ein anonymes Schreiben mit einer Schachaufgabe! Korrekterweise muss ich anmerken, dass uns auch dieses Schreiben per Fax von einer anderen Dienststelle zugeschickt wurde – wie schon beim ersten Mal. Dieses Mal packte Flinker aber eine Intuition! So wie es sein muss, wenn man ein guter Ermittler sein will! Er nahm telefonisch Kontakt auf mit den Beamten der anderen Dienststelle und erkundigte sich nach dem Original des anonymen Briefs. Ich weiß nicht, wie er das ahnen konnte, aber die genaue Beschreibung des Blatts mit der Schachaufgabe schien ihn zu bestätigen. Er interessierte sich besonders für die Rückseite des Schreibens. Und er beschimpfte in der Folge die armen Kollegen am anderen Ende der Leitung für ihren Dilettantismus – nun vielleicht hat er es nicht so grob ausgedrückt, aber mich bezeichnet er auch manchmal als Azubi, was er angeblich nur scherzhaft meint.
„Sagen Sie mal, Birtele“, wollte Flinker wissen, „haben Sie das erste Schachrätsel gelöst?“
Birtele, das bin ich. Der Kommissar redet auch mich mit dem Nachnamen an.
„Ja“, antwortete ich, „war ja nur ein Matt in zwei Zügen! Aber eines mit en passant.“
„Ach so“, erwiderte Flinker, der durch die Zähne pfiff und so tat, als ob er die Besonderheit würdigte. „Und dann können Sie doch sicher diese neue Aufgabe auch lösen.“
„Vermutlich. Wenn es wieder nur ein Zweizüger ist.“
Flinker kramte in der Schublade, räumte sein Schach-Marmortischchen frei und begann, die Steine aufzustellen:
Die weißen Steine: König auf das Feld g2, Dame auf b6, Läufer auf d8, Springer auf e6, Springer auf g3 - und die schwarzen: König e5, Läufer b8, Bauern auf c4, d5, g7 und h7.
„Das muss ich mir genauer anschauen“, gestand ich nach einigen Minuten, was Flinker offenbar gefiel. Er legte mir väterlich die Hand auf die Schulter: „Sie schaffen das schon.“ Und er fand es durchaus in Ordnung, dass ich mich direkt neben seinem Schreibtisch gemütlich machte, um mich mit der Schachaufgabe zu beschäftigen. Und ich muss sagen: Diese Form der Polizeiarbeit gefiel mir!
„Die Wanderkarte hat etwas zu bedeuten!“, murmelte der Kommissar, während er stirnrunzelnd auf und ab lief.
„Die Schachaufgabe und die Wanderkarte...“
Es war der kopierte Ausschnitt aus einer Wanderkarte, auf dessen Rückseite die Schachnotation vermerkt war. Die Kollegen hatten sie uns nachträglich zugefaxt.
„Die Schachaufgabe und die Wanderkarte...“
Ich schaute ihn vorwurfsvoll an und er verstand, dass er meine Konzentration störte. Wiederum legte er seine Hand auf meine Schulter: „Ich bring Ihnen einen Kaffee, Birtele!“ Es verging einige Zeit. Flinker setzte sich, aber konnte sich dennoch nicht still halten. Mit den Fingern klopfte er auf den Schreibtisch.
„Vielleicht sollten wir zu einem Fachmann“, brummte er. Das war wieder so eine Unverschämtheit! Immer noch die Rache für seine Niederlage? Fast hätte ich die Schachsteine vom Tisch gewischt. Ich sah ihn böse an. Er klappte, sich entschuldigend, seine Handflächen hoch.
Nach einigen Minuten sah ich es!
„Es ist wieder ein Zwangsmatt in zwei Zügen!“, rief ich. „Schauen Sie!“
Ich zeigte ihm den Lösungszug, indem ich den weißen Springer von e6 auf das Feld f4 stellte.
„Aber da wird er doch geworfen!“, wandte Flinker ein. „Und wo soll da die Matt-Drohung sein?“
Es dauerte, bis er begriff, dass Schwarz, nur weil er ziehen musste, den Weg für ein Matt im nächsten Zug freigab. Und das Springer-Opfer änderte daran auch nichts.
„Beim ersten Mal war es ein Zwangsmatt mit einem Bauern, der en passant geschlagen werden konnte und jetzt das Zwangsmatt nach einem Springeropfer.“
„Beide Male Matt, weil Schwarz ziehen musste?“
Ich nickte.
„Und wie hieß der Lösungszug beim letzten Mal?“, fragte Flinker.
Ich dachte nach. „Bauer auf g4, wenn ich mich nicht irre.“
Das brachte Flinker wieder zum Pfeifen und mächtig ins Grübeln. Endlich schien er kapiert zu haben, um was es ging!
2Liebe Alina,
erinnerst du dich noch an mich? Ist schon lange her… Und trotzdem: Das ist natürlich nur eine rhetorische Eröffnungsfrage, nur eine Einleitung, um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, vielleicht ein fishing for compliments. Natürlich erinnerst du dich! Also, ich fange nochmals an:
Liebe Alina,
nachdem ich seit so vielen Jahren nichts mehr habe von mir hören lassen, mag es dich überraschen, dass ich dir maile. Ich habe dafür natürlich einen konkreten Anlass. Oder ist es umgekehrt: Ich habe mir einen Anlass gesucht, um dich endlich wieder einmal kontaktieren zu dürfen? Nein. Es geht um Folgendes: Im kommenden Semester werde ich meinen Studenten ausgewählte psychotherapeutische Verfahren veranschaulichen. Dafür benötige ich exemplarische Gesprächssequenzen aus realen Therapiesitzungen. Und wer könnte mir diese perfekter liefern als du? Schon zu unserer gemeinsamen Studentenzeit habe ich dich für deine psychotherapeutische Begabung bewundert, die in den entsprechenden Seminaren und Übungen allen deutlich wurde. Sicher hast du dein Wissen und Können noch ausgebaut und ich hoffe, dass es für dich keine allzu große Überwindung und Arbeit bedeutet, mir zu helfen. Ich schreib jetzt mal nicht ausführlich, warte erst einmal auf deine Reaktion.
Gruß
Dein Kim!
Lieber Kim,
vermutlich kannst du dir vorstellen, was deine Mail bei mir ausgelöst hat. Vielleicht auch nicht. Es war jedenfalls erst an zweiter Stelle Freude, von dir wieder einmal etwas zu hören! Zuerst haben mich ganz andere Gefühle eingeholt. Vielleicht ist es bei uns Frauen anders als bei euch Männern. Mir ist jedenfalls sofort unser „unguter Abschied“ wieder in Erinnerung gekommen. Aber du willst dieses Thema offenbar nicht berühren. Meinetwegen. Bleiben wir also auf der sachlichen Ebene.
Wenn ich dir Materialien aus Therapiesitzungen zur Verfügung stelle, müssen wir darüber selbstverständlich genaueste Abmachungen treffen. Doch grundsätzlich bin ich dazu bereit – nicht unbedingt dir zuliebe, sondern im Interesse der Qualifizierung deiner Studenten. Es mag sein, dass ich nicht zu den schlechtesten Therapeuten gehöre, aber an die Stelle deines übertriebenes Lobs sollten wir doch eher die nüchterne Feststellung setzen, dass du als Regensburger Professor aus Gründen der Anonymität nicht auf Therapien Regensburger Kolleginnen zurückgreifen willst und dass du dir erhoffst, mit mir Land-Ei schneller und unkomplizierter zu einem Agreement zu kommen. Also schreib mir, wie du dir das alles vorstellst.
Gruß Alina.
Liebe Alina,