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Ein Schriftsteller mit einer Verunsicherung über seine Arbeit und seine Gesundheit kommt in Kontakt mit einer Dirigentin, die in einer Krise steckt. Der Autor lernt ihre Familie kennen und bekommt den Auftrag, über den berühmten Vater der Dirigentin eine Biografie zu schreiben. Dies erweist sich wegen des Alters und der Persönlichkeit des Vaters als schwierig.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Impressum
Helfried Stockhofe: Das Leben mit des Vaters Gaben
Text und Umschlaggestaltung: © 2024 Copyright Helfried Stockhofe Verlag: Helfried Stockhofe, Untere Ringstr. 22, 93455 Traitsching
Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Ich danke Melinda, Gerhard und Christoph für ihre Anregungen und Korrekturen
Hätten die im Roman handelnden Figuren Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen gleichen Namens, wäre das reiner Zufall.
Wenn ein gewöhnlicher Schriftsteller eine eher gewöhnliche Schreibblockade hat, dann schreibt er einen Roman über einen bekannten attraktiven Schriftsteller, der eine ungewöhnlich hartnäckige Schreibblockade hat und eine sehr schöne Frau trifft, die die Blockade löst, indem er wegen ihr über einen attraktiven Schriftsteller schreibt, der eine ungewöhnlich hartnäckige Schreibblockade hat, die von einer ungewöhnlich schönen und besonders attraktiven Frau gelöst wird. Wenn eine gute Dirigentin eine Dirigierblockade hat, nutzt ihr die Schönheit eines Mannes herzlich wenig. Vielleicht hilft ihr jedoch die Begegnung mit einem Schriftsteller, der eine leichte Schreibblockade hat.
Die Dirigentin
Der enthusiastische Beifall des Publikums war ihr gewiss und sie war von ihm ebenso angetan wie vom Enthusiasmus ihres bekannten Orchesters: Es hatte die Brandenburgischen Konzerte von Bach brillant interpretiert! Dennoch: Bei ihrem Dirigieren hatte etwas gefehlt. Doch das war ihr nicht bewusst. Den Kritikern fiel dies auch nicht auf – und schon gar nicht den meist silberhaarigen Zuhörern. Auch nicht denen, die feinste und teuerste Hörgeräte in oder hinter ihren Ohrmuscheln versteckten. Sie alle ließen sich täuschen von der Ausstrahlung dieser jungen, attraktiven und schon berühmten Dirigentin, von ihren geschmeidigen Bewegungen, ihren wehenden dunkelblonden Haaren, den strahlenden Augen und dem Lachen, das an manchen Stellen ebenso über ihr Gesicht huschte, wie an anderen Stellen der ernsthafte Blick und die angestrengte Falte auf ihrer Stirn. Sie war es inzwischen gewohnt, dass viele Kameras alles aufzeichneten, ein jedes Zucken und eine jede Schweißperle. Ihre Kleidung hatte sie stets so gewählt, dass es gewiss niemals zu sichtbaren Schweißflecken kommen konnte. Diesmal lenkten ihre jungen muskulösen Arme textilfrei die Aufmerksamkeit bis in die Achselhöhlen hinein und lösten damit Fantasien der Zuschauerschaft aus, die ein wenig von den Brandenburgischen Konzerten ablenkten. Niemand hätte gedacht, dass der kometenhafte Aufstieg dieser in interessierten Kreisen bekannten Orchesterleiterin einmal abrupt enden könnte und der Komet als Meteorit vom Himmel herunterfallen und sein Verglühen oder Aufschlagen als Rätsel übrig lassen würde.
Die Zugaben setzten sich immer ein wenig ab von den Hauptwerken des Abends. Die Dirigentin wollte dabei ganz bewusst eine andere Seite der Kompositionskunst zeigen. Und da berührte die Musik manchmal auch eine andere Seite in ihr, was aber niemand bemerkte oder gar irritierte. Sie wusste es zu verbergen. Alles war genau durchdacht, durchgeplant und funktionierte wie erhofft, ja wie erwartet.
In den Tagen nach einem Konzert wurde ihr stets etwas mulmig. Ihr übergroßer Erfolg und die damit verbundenen gesteigerten Erwartungen an ihre zukünftige Leistung lasteten auf ihr. Doch sie lenkte sich ab, indem sie sich in neue Projekte stürzte, die sie mit Akribie anging. Sie konnte inzwischen auswählen, welche Stücke sie mit welchen Orchestern erarbeiten und aufführen wollte. Sie hatte sich noch nie länger an ein Orchester gebunden, obgleich es verlockende Angebote gab. Angebote gab es auch von Agenturen oder einzelnen Agenten oder Managern, die sie vermitteln und vertreten, ihr also die lästige Arbeit abnehmen wollten. Anfangs wehrte sie sich noch dagegen, aber bald merkte sie, dass sie ihre ganze Konzentration nur auf das Künstlerische lenken musste. Schließlich gestattete sie auch ihrem Vater, ihr zu helfen. Am Tag ihres Untertauchens wusste aber auch kein Agent die Gründe für ihren Rückzug und hätte sie der Mutter kein Lebenszeichen gegeben, wäre sicher die Polizei eingeschaltet worden. Eltern und Agenten dachten sich aber Gründe aus, um die Medien damit zu füttern, damit sich Unruhe und Spekulationen in Grenzen hielten.
Der Anfang vom Ende wurde ungewollt von einem Kritiker besiegelt, dem in der Nachbetrachtung des Konzerts in seiner Mediathek etwas auffiel: Nach Brandenburgischen Konzerten im ersten Teil, durften im zweiten Teil einige Sängerinnen und Sänger glänzen, die barocke Arien zum besten gaben. Als letzte Zugabe aber wurde auf besonderen Wunsch eines Sängers, der sein zwanzigjähriges Bühnenjubiläum feierte, eine Arie aus Puccinis Oper »Turandot« gespielt. Die Dirigentin hatte sich anfangs dagegen gesträubt, doch sie beugte sich schließlich dem Wunsch des bekannten Tenors – und das Orchester hatte die Arie »Nessun dorma« ohnehin im Repertoire. Der Kritiker bemerkte, dass sich bei »Nessun dorma« etwas Ungewöhnliches ereignete. Er schrieb darüber mit Erstaunen, aber voll des Lobes, weil ihm diese menschliche Regung des Dirigentenstars berührte. Es bemerkte bei einer unverschämt großen Nahaufnahme eine winzig kleine Träne, die sich aus dem langsam mit Flüssigkeit füllenden linken Auge der Dirigentin herauswagte, über Wange und Backe herabkullerte, vom Kinn heruntertropfte und vom schwarz-seidigen Stoff der Bluse aufgesogen wurde, als hätte es ihn schon lange danach gedürstet.
Die Dirigentin hatte es natürlich auch bemerkt und war darüber sehr erschrocken, besonders am übernächsten Tag, als sie las, dass es dem Kritiker aufgefallen war. Im Nachhinein wunderte sie sich nicht über ihre Träne, doch es ärgerte sie maßlos, dass sie sich überhaupt darauf eingelassen hatte, »Nessun dorma« zu spielen. Für das Publikum war diese Arie selbstverständlich eine große Freude. Alle Anwesenden kannten den Meisterinterpreten dieses Bravour-Stücks, den leider zu früh verstorbenen Pavarotti, und hatten seine Interpretation, mit der er und seine beiden Mitstreiter der »Drei Tenöre« diese Arie so populär machten, x-mal gesehen. Die unerreichbare Qualität der drei Tenöre stand bei diesem Konzert natürlich nicht zum Vergleich, doch mit der Arie wollte der bekannte Sänger unbedingt glänzen.
Die Dirigentin hatte es in den Tagen zuvor schon geahnt. Ungewohnte Gefühle waren schon bei der Zusammenstellung des Programms heraufgestiegen aus einem Gefängnis, in das sie bisher eingeschlossen waren und dessen Tore sich nun einen Spalt geöffnet hatten. Dass da etwas schlummerte, war ihr bisher nur selten bewusst geworden und jedes Mal verunsicherten sie diese Regungen. Wie hatte ihr Vater stets gesagt: »Die Kontrolle hast du!« Und die Mutter hatte mit den Augen gerollt über seine Strenge, aber keine Korrektur angebracht. Die Mutter gab sich zufrieden, ja, sie war froh darüber, dass ihre Tochter so beglückende Interpretationen großer Werke der Musik abliefern konnte, die in ihren Augen die Emotionalität nicht vermissen ließen. Sie wäre auch nicht darauf gekommen, dass ihre Tochter vor dem Spiegel Gestik und Mimik übte. Der Vater jedoch war davon stets ausgegangen, aber er fragte nicht danach, um nicht alte Wunden wieder aufzureißen. Selbst die Orchester ließen sich täuschen und sich mitreißen von den vorgespielten Gefühlen und erreichten so, dass die Interpretationen vom Publikum mit nahezu orgiastischem Genuss aufgenommen wurden. Sie verschlangen die Werke, wie die Seidenbluse die Träne der Dirigentin verschlang, und trugen sie weit und anhaltend in ihren Lebensalltag hinein.
Erst mit dem unerwarteten Auftreten unkontrollierbarer Emotionen ahnte die Dirigentin, warum sie bisher eher nüchterne Werke, vergleichsweise nüchterne, wie etwa Kompositionen der sogenannten Alten Musik aufgeführt hatte. Renaissance-Komponisten, wie Claudio Monteverdi oder Orlando di Lasso, Barockgrößen, wie Vivaldi oder Scarlatti, allenfalls noch Frühklassiker oder Haydn aus der Wiener Klassik, solche Komponisten waren ihr Metier. Die Brandenburgischen Konzerte von Bach waren schon fast zu gewagt. Es fehlten in ihrem Repertoire zum Beispiel die Romantiker. Auch um Opern machte sie einen Bogen, besonders um die der italienischen Komponisten. Bei »Nessun dorma« von Puccini musste sie wieder einmal feststellen, ihr Herz war nicht kalt und ihre Gefühle waren nicht absolut beherrschbar.
Freilich gab es früher einige Gelegenheiten in ihrem Leben, bei denen Gefühle deutlich hervorbrachen, Gefühle, die nichts zu tun hatten mit der Genugtuung über gelungene Leistungen oder dem Glück, das ihr die geliebte Musik schenkt. Es waren die negativen Gefühle von Trauer und Wut, die ihr das Leben auch bescherte, Gefühle von Einsamkeit, Enttäuschung und Ohnmacht. Diese Gefühle waren aber von kurzer Dauer, gemessen an dem, wie lange andere Menschen darunter litten. In der Kindheit gab es die wohl zuhauf, doch daran wollte sie nicht denken. Und nur ganz am Anfang waren solche Gefühle mit Weinen verbunden, später war Weinen verboten, war die Selbstkontrolle das oberste Prinzip.
Auch die Enttäuschung über das Zerbrechen ihrer ersten Liebe ließ sich nicht aus dem Gedächtnis verbannen. Sie war immer dann besonders präsent, wenn ihr einmal durch einen großen Zufall ein Mann begegnete, der ihr gefiel. Doch es blieb bei der Erinnerung und dem kurzen Aufflackern, dann gelangen ihr das vordergründige Vergessen und die Verdrängung. Nein, sie wollte das nicht noch einmal durchleben und widmete ihre Liebe und Aufmerksamkeit der Musik. Gerne verglich sie sich mit den katholischen Geistlichen, mit Priestern, Mönchen und Nonnen, die ihre Liebe auf einen fiktiven Jesus, Maria oder Gott richteten und es nicht zuließen, dass sich ein reales menschliches Gegenüber in solche Emotionen einschlich. Bei ihr war es eben die Musik, der die Liebe galt. Aber sich im Rausch der Musik ganz zu verlieren, also die Gefühlskontrolle ganz zu verlieren, das wollte sie unbedingt vermeiden!
Der Schriftsteller
Die absolut größten Fakes in der nun schon lange dauernden Geschichte der Menschheit sind die Behauptungen und Versprechungen der Religionen, unmittelbar gefolgt von denen der Politik. Wenn Religionsführer zugleich politische Führer sind oder politische Führer sich der Religion bedienen, addieren sich die Fakes dramatisch.
Leider beeinflussen nicht nur die fragwürdigen Behauptungen und Versprechungen, sondern auch die echten Drohungen aller Religionen und fanatischen politischen Führer fatal das Verhalten der Menschen. Milliarden von Menschen lassen sich somit in die Irre führen. Das hat gewaltige Auswirkungen auf ihr eigenes Leben und auf das Leben derjenigen anderen, die nicht mit den allgemeinen Anschauungen konform gehen.
Es ist aber unbestreitbar, dass wegen des Mechanismus´ der Suggestion auch der Glaube an Gott oder an einen Führer hilfreich sein kann, besonders denen, die keinen eigenen guten Vater hatten oder ihn zu früh verloren. Und dieser Glaube kann ihnen insbesondere dann helfen, wenn sie vor ungewöhnlichen oder besonders schwierigen Lebensaufgaben stehen – gerade auch vor dem Lebensende -, und diese Situationen zu bewältigen haben. Doch der Missbrauch von Religion und Herrschaft ist gang und gäbe, das wusste bekanntlich schon Karl Marx.
Die religiösen und politischen Fakes sind vermutlich auch mitverantwortlich für die unausweichliche Auslöschung der Menschheit, weil sie letztlich deren Lebensgrundlage auf der Erde nicht schützen, sondern sie, falsches Vertrauen suggerierend, zerstören.
Er wusste, dass er mit solchen Sätzen keinen schriftstellerischen Erfolg haben würde. Und er war sich sicher, dass all die gläubigen Menschen, die diese Zeilen lesen, sich unverstanden oder verletzt fühlen oder gar angegriffen. Im besten Fall würden sie ihn für einen Spinner oder Ketzer halten und schweigen. Im schlechtesten Fall würden sie ihm den Kopf abschneiden. Auf keinen Fall aber würden sie weitere Bücher von ihm kaufen und das käme bei seiner Verlegerin gewiss nicht gut an.
Er sollte lieber etwas Positives schreiben. Ein wenig Drama, okay, aber dann wenigstens mit Happy End! Etwas Aufbauendes, das die Menschen ihren Alltag vergessen lässt, etwas Rührendes, etwas Hoffnung-machendes, lieb gewonnene Klischees mit Herzschmerz und folgendem Liebesglück. So etwas ließe sich bei Sonnenschein und dem Duft von Jasmin, bei einem Cappuccino und später dann mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse genießen, endlich ungestört und nur begleitet vom Gesang einer Amsel oder dem Zirpen von Grillen.
Er war allein. Er fühlte sich so allein. Und sein Alleinsein war keines zum Genießen.
Letztlich bist du immer allein. Selbst bei Gesprächen mit Freunden gelangst du irgendwann zu dieser Einsicht. Auch in der Partnerschaft, in der Familie. Auch bei gemeinsamen Aktivitäten. Es sei denn, du feierst viele gemeinsame Erfolge oder erleidest gemeinsame Niederlagen – also, wenn du dasselbe spürst, wie auch dein Gegenüber. Dann, ja dann kannst du dir vormachen, nicht allein zu sein, für diesen kurzen Moment des gleichsinnigen Gefühls. Wenn du dich nicht allein fühlen willst, dann suche also unbedingt nach gemeinsamen Aktivitäten, und dabei nach möglichst großen Krachern, hinter denen die lauten Unterschiede nicht mehr zu hören sind. Letztlich bist du aber immer allein. Selbst wenn du dich noch so anstrengst oder dich betäubst, irgendwann wirst du dieses Alleinsein spüren. Irgendwann lassen die Räusche nach, platzt die Illusion und die traurige Wahrheit wird dir bewusst: Du bist anders als die anderen, du denkst anders, du fühlst anders. Das musst du aushalten, das ist das Leben. So ist halt das Leben.
Nun, das war auch nicht der richtige Einstieg zu einem erfolgreichen Roman. Vielleicht zu einem psychologischen Ratgeber. Leider aber auch nicht aufbauend ... Auch das wäre nichts für seine Verlegerin.
Der Schriftsteller stellte das Radio an. Vielleicht fehlte ihm einfach eine Aufmunterung, ein guter Zuspruch. Doch statt Zuspruch berieselten ihn angeblich so witzige Sprüche. Übertriebene Heiterkeit schlug ihm entgegen, flache Unterhaltung mit lustigen Späßen überdrehter Moderatoren. Der Tag ist ja so schön und wir sind gut drauf. Er wählte einen Klassiksender: Brandenburgische Konzerte von Johann Sebastian Bach. Der war doch Thomaskantor in Leipzig, also Sachsen, nicht Brandenburg. Egal. Beides braun verseucht. Und Bach? Gewiss superreligiös. Die Konzerte hatte er vermutlich seinem Gott oder einem Politiker, einem Landesvater, gewidmet. Auf jeden Fall einem Vater. Oder auch mal einer Mutter oder Jungfrau. Auch Bach fiel auf die Fakes herein. Nun ja, Gott- und Politikgläubigkeit kann auch mal etwas Gutes hervorbringen.
Die Brandenburgischen gefielen dem Schriftsteller. Die Konzerte waren eine Live-Übertragung. Doch was heißt das schon? Vermutlich live aufgezeichnet und anschließend zum Vorteil aller gründlich bearbeitet, auf dem Mischpult gemischt. Gibt es überhaupt noch Mischpulte? Vermutlich übernimmt Künstliche Intelligenz die Fertigstellung eines idealen Musikprodukts. Im Radio schließlich der Beifall, stürmisch, langanhaltend. Nun ja, das gehört unbedingt auch dazu. Ist womöglich hinzugeschnitten worden.
Vielleicht sollte er über Übertreibungen schreiben. Oder über Misstrauen. Darin sei er doch ein Meister, sagen die anderen.
Ihm wurde schnell klar, dass dies schon wieder zu psychologisch werden würde, zu ernst. Was macht einen Witz zu einem Witz? Diese Überlegung wäre auch zu psychologisch und nichts Neues. Hatte das nicht auch schon Freud dargelegt? Nicht über Witze schreiben, sondern Witze schreiben, das wäre eine andere, eine viel bessere Möglichkeit.
Er wusste aber, dass er keiner war, der Witze schreiben konnte. Eine Komödie oder gar ein Kriminalklamauk à la Rita Falk lag weit außerhalb seiner Möglichkeiten. Eine Romanze – oder Schnulze, wie er es nannte – hasste er. Er hasste die unendlich vielen Klischees, immer dieselben Klischees, die erfolgreich die Handlungen in Romanzen gestalteten. Es schien ihm, als ob jede Schnulze eine Umschreibung einer anderen Schnulze wäre, hundert Klischees neu gemischt, mit voraussagbarem Ende. Alles Fakes.
Einer seiner Lektoren – besser gesagt Korrektoren, denn er ließ sich nicht viel reinreden in die Handlung – also, einer seiner wenigen Korrektoren, genauer: seiner »Korrektor*innen« - dieses verdammte Gendern musste sein, zumindest seiner Korrektorin gegenüber! -, also, seine erfahrene Lektorin, die er als Korrektorin engagiert hatte und die sich ihr Korrektorat gut von ihm bezahlen ließ, war spezialisiert auf Biographien. Sollte er sich an eine Biographie wagen? Unsinn! Biographien schreibt man über prominente Leute und prominente Leute ließen Biographien von bekannten Biographen schreiben. Er wusste ja nicht einmal, ob er »Biografie« oder »Biographie« schreiben sollte. Und er kannte Prominente allenfalls über mehrere Ecken.
Eine dieser Ecken war ein früherer Bekannter von ihm, der angeblich verstoßene Sohn eines angeblich Prominenten. Nun, was er über dessen prominenten Vater gehört hatte, ließ ihn glauben, dass dieser Mensch niemals seine Biographie von einem andern schreiben ließe. Der würde sie selbst schreiben. Es sei denn, das Alter würde ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Der Bekannte meinte aber, als sie einmal auf das Thema zu sprechen kamen, dass der Alte sicher so starrsinnig und von sich selbst überzeugt wäre, dass er auch noch als Demenzverfallener an seine Allmacht glauben würde. Der ließe sich nie in etwas reinreden.
Nun, der Schriftsteller hatte schon länger nicht mehr mit dem verstoßenen Sohn gesprochen. Womöglich lebte der inzwischen noch älter gewordene Vater nicht mehr, trotz seiner großen Prominenz. Eine Biografie über ihn war ihm aber noch nicht in die Hände gekommen. Und womöglich war dies auch gar nicht die Familie seines Bekannten, denn dieser neigte zu Drogenkonsum und man konnte seinen Aussagen nicht vertrauen. Vielleicht hatte er seine prominente Familie nur erfunden. Vielleicht trug er nur zufällig denselben seltsamen Nachnamen.
Es waren aber schon einige Jahre vergangen, seit er mit dem verstoßenen Prominentensohn, dem hoffnungslosen Junkie, Kontakt hatte. Der Bekannte war ihm eigentlich nicht mehr bekannt. Womöglich lebte auch dieser nicht mehr. Es gibt Menschen, die früh sterben, und alte Väter, die um ihre Söhne trauern – auch wenn sie sie verstoßen hatten. Vielleicht sollte er versuchen, den Bekannten zu kontaktieren. Konnte nicht schaden, alte Beziehungen wieder aufzuwärmen. Ob er ihn noch immer in dieser alten Kneipe fände?
Die prominente Familie
Für den Vater des Junkies existierte sein Sohn nicht mehr. Er hatte nicht mehr genügend Energie für ihn, für eine Versöhnung zum Beispiel, was er natürlich niemals zugeben würde – und wonach ihm auch nicht war. Der Alte konzentrierte sich auf seine Tochter, die sein Ego fütterte, nachdem er selbst keine Erfolge mehr einfahren konnte. Die Bemerkung des Kritikers, dass er eine Träne im linken Auge der Tochter gesehen hatte, gefiel ihm gar nicht. Sie würde doch nicht zu schwächeln beginnen? Nicht, dass er etwas gegen Gefühle hätte, doch sie sollten einen doch nicht übermannen! Er würde sie fragen, ob vielleicht die Träne gezielt von ihr eingesetzt worden wäre, um die Kritiker zu überraschen. Das wäre einigermaßen akzeptabel. Ja, er war davon überzeugt: Die Träne wurde gezielt eingesetzt!
Seine Frau interessierte den Alten wenig. Sie hatte wohl auch kein Interesse mehr an ihm. Gesprächsstoff war allenfalls die Tochter – neben dem wenigen Alltäglichen selbstverständlich. Die Frau wagte sich auch selten an das Thema Sohn heran. Zu viel hatten sie schon darüber gestritten und weitere Diskussionen schienen beiden sinnlos. Wenn sie über die Tochter und deren Erfolge sprachen – und Misserfolge, die es in den Augen des Vaters auch gab -, war die Mutter stets die Bremserin, die immer auf Ausgleich bedachte Schiedsrichterin. Sie verteidigte die Tochter in deren Abwesenheit und er beschimpfte die Mutter stellvertretend, weil er seine Beschimpfungen der Tochter gegenüber nicht äußern wollte, um sie nicht zu demotivieren. Doch die Mutter musste es aushalten, die war ohnehin schon demotiviert.
Der alte Vater der Dirigentin hatte seine eigene Dirigenten-Karriere aufgegeben. Sein Parkinson gestattete ihm kein makelloses Auftreten mehr. Selbst im Privaten konnte er nicht mehr makellos auftreten. Mit kurzen, dafür aber schnellen Schritten tippelte er von der Haustür zum Briefkasten, überflog die Post und warf das Meiste gleich in die Papiertonne. Drinnen im Haus bewegte er sich wenig, stockte bei jedem Durchschreiten der Tür und versuchte doch, seine Unsicherheiten zu überspielen. Oft blätterte er in Alben, die gespickt waren mit Fotos und Zeitungsausschnitten über seine Konzerte. Ein paar andere Alben gab es über die Auftritte seiner Tochter. Er pflegte sie nicht weniger sorgfältig. Wenn er Schallplatten oder CDs mit Orchesterwerken unter seinem Dirigat in seinem Musikzimmer hörte, dann blätterte er nicht in den Alben, denn es gehörte sich nicht, diese hervorragenden Aufnahmen nur so nebenher zu hören!
Die Mutter interessierte das alles wenig. Sie verfolgte konsequent eine bestimmte Strategie: Nichtbeachtung dient dem Einbremsen von Höhenflügen, lobende Beachtung stärkt nur den Größenwahn. Freilich verfolgte auch der Vater diese Strategie, allerdings seiner Tochter gegenüber, seiner Frau gegenüber schien ihm das ja völlig unnötig. Über die Tochter schwärmte er nur bei anderen, aber ihr selbst gegenüber reichte ihm ein spartanisches Loben, allerdings bei gleichzeitiger Hervorhebung kritischer Punkte. Sie sollte nicht übermütig werden.
Als eine Art Manager der berühmten Dirigentin war er jedoch für diese ein großer Gewinn – früher mehr, jetzt weniger. Sie konnte aber von Glück reden, dass die Geschäftspartner ihres Vaters sie und ihn zu unterscheiden wussten. Doch die Kompetenz des Vaters in solchen Fragen kam der Tochter sehr gelegen, seine Kompetenz in künstlerischen Fragen war ihr weniger recht, zumal diese von ihm stark in den Vordergrund geschoben wurde. Sie habe ihren eigenen Stil, betonte sie, selbst wenn sie oft mit derselben Musik auftrete. Manchmal akzeptierte das der Vater zähneknirschend. Er hatte sich zu seinen Hoch-Zeiten schon schwer getan, den Stil anderer Dirigenten zu akzeptieren. Doch gelegentlich kam bei ihm so etwas wie Altersweisheit zum Vorschein, kurz vor der Demenz. Die Tochter hielt ihm insgeheim auch zugute, dass er sicher unter seiner Parkinson-Erkrankung leide, auch wenn er sich das nie anmerken ließ. Unter diesen Umständen, dachte sie, ist es schon ein Wunder, wie engagiert und immer noch psychisch stabil er auftreten kann.
Der Vater war fast 30 Jahre älter als die Mutter. Das sah man beiden an, doch es spielte anscheinend keine Rolle. Sein einst dunkles Haar war fast weiß und hatte sich sehr gelichtet. Früher strich er sich, bevor er den Taktstock aufnahm, stets mit beiden Händen durchs Haar. Für diese Geste war er bekannt, doch keiner wusste, warum er das tat. Jetzt strich er sich über den Kopf, weil ihn die Kopfhaut juckte. Altersbedingt hatte er auch einige Zentimeter Körpergröße verloren. Er wirkte nun noch kleiner, wenn er neben seiner Frau stand, besonders, wenn sie Stöckelschuhe trug – und auch deswegen, weil er nun nicht mehr seine Plateauschuhe benutzen konnte, mit denen er einst um einiges größer erschien.
Der Dirigent hatte seiner Frau seinerzeit schnell ein Kind gezeugt, damit sie beschäftigt wäre, während er auf Tourneen durch die Welt reiste. Manchmal kam ihm der Gedanke, dass er als über 80-Jähriger nur noch deshalb am Leben sei, weil er für seine Tochter da sein müsste. Um seine Frau machte er sich weniger Gedanken, denn er hielt sie durchaus für lebenstüchtig. Sie käme ohne ihn zurecht, jetzt und auch nach seinem Ableben, dachte er, und hatte wohl recht damit.
Über die Herzlichkeit seiner Frau zur Tochter, eine eher sparsame Herzlichkeit, spottete er und seine Altersweisheit reichte nicht aus, um zu seiner Tochter auch ein herzliches Verhältnis zu entwickeln. Die Tochter war mit ihren 35 Jahren noch nicht reif genug, um sich eher an der Mutter ein Beispiel zu nehmen, sie schien auf den Vater fixiert und nahm sich ihn in vielen Dingen als Vorbild. Zweifellos hatte sie vom Vater die Liebe zur Musik, egal, ob als Erbe oder als Ergebnis ihrer Sozialisation. Ihre Begabung war eine Vatergabe.
Der Alte fragte sich selten, ob es richtig war, die viel jüngere Frau so schnell zu heiraten. Das Ergebnis, eine lange Ehe und eine großartige Tochter, gab ihm recht. Und die Mutter hatte bisher nie daran gedacht, den älteren Ehemann zu verlassen, schon um die Entwicklung ihrer Tochter willen. Jetzt, wo der Partner alt und krank war und seine Pflege nicht mehr weit weg sein konnte, stand eine Trennung natürlich auch nicht zur Debatte. Sie würde sich selbstverständlich, auch um ihre Tochter nicht zu belasten, selbst um den Vater kümmern.
Der Sohn, ein Jahr älter als seine Schwester, war außen vor. Manchmal erinnerte sich die Mutter an ihn und erschrak, dass sie ihn fast vergessen hatte. Wenn sie nachts nach Alpträumen aufwachte und ihr der Sohn in den Sinn kam, kreisten ihre Gedanken angstvoll um sein Schicksal. Am Tag aber gelang es ihr, sich nicht um ihn zu sorgen, dachte dann auch, dass dies nicht notwendig wäre, weil der Sohn immer wieder einmal betont hatte, dass er niemanden brauche. Nur zu Weihnachten gab es einen zuverlässigen, jedoch nur sehr kurzen Kontakt.
Nicht immer war die Tochter an diesen Tagen dabei, weil sie zeitnah irgendwo ein Weihnachtskonzert dirigieren musste. Die Mutter nahm an, dass ihre Tochter keineswegs in solchen Sachzwängen steckte, sondern dass es der recht war, eine Ausrede zur Vermeidung des Familientreffens zu haben. Das nahm sie ihr nicht übel, sondern verstand es allzu gut.
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