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Eine attraktive Frau schleicht sich, unter Zuhilfenahme gestohlener Identitäten, in das Leben von anderen ein und macht sie mehr oder weniger absichtlich unglücklich. Sie versucht jedoch, alles wieder gut zu machen. Ihre Aktionen führen zu neuen Beziehungen unter ihren Opfern. Sie sucht schließlich auch für sich selbst nach einer neuen lebenswerten und ehrlichen Zukunftsperspektive.
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Impressum
Helfried Stockhofe: Die Unglücksbringerin
Text und Umschlaggestaltung: © 2024 Copyright Helfried Stockhofe
Coverfoto von darksouls1 in pixabay.com
Verlag: Helfried Stockhofe, Untere Ringstr. 22, 93455 Traitsching
Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Das Glück will fliehen,das Unglück bleiben.
Eine schmerzhafte Trennung
1»Glück und Unglück sind untrennbar miteinander verbunden. Das große Glück gibt es nur für den Preis eines vorhergehenden Unglücklichseins. Und großes Unglücklichsein ist immer eine Folge des Verlusts von Glück.«
Sie öffnete leicht ihre Lippen, so dass die oberen Schneidezähne sichtbar wurden. Ihre Mimik lag irgendwo zwischen Erstaunen und Erschrecken, zwischen Naivität und Unwissenheit.
»Schau«, fuhr er fort, »bei den meisten filmischen Liebesromanzen ist doch in den Jahren davor die Partnerin der überaus attraktiven Hauptperson gestorben, meist die Mutter seiner kleinen Kinder, und dann lernt er eine Neue kennen und erlebt, selbstverständlich mit gebotenem Zögern, endlich wieder das große Glück. Oder, wenn es dramatischer sein soll, dann ist der weiblichen Hauptrolle vorher ein Kind gestorben oder beide Eltern, bevor sie Glück in einer neuen Beziehung erfährt.«
Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Sie sah ihn direkt an, mit ihren geöffneten Lippen, so wie er es auch aus unzähligen Filmen kannte. Er fragte sich sogar, ob sie die Schauspielerinnen imitierte. In anderen Situationen hätte sie damit auch attraktiv gewirkt, wie eine Frau, der man gerne auf die Sprünge hilft. Aber, wie sie so starr neben dem Küchenblock mitten im Raum stand, wirkte sie eher bedrohlich.
»Oder die Fußballer! Todunglücklich sind sie, wenn sie zur Pause mit 0:3 hinten liegen. Aber total happy, wenn sie am Schluss noch das 3:3 schaffen. Beim selben Endergebnis wären sie todunglücklich gewesen, wenn sie zur Halbzeit 3:0 vorne gelegen hätten. Unglücklichsein führt zum Glücklichsein und umgekehrt.«
Sie sagte kein Wort. Sie bewegte sich langsam auf ihn zu, er wich zurück. Mit der rechten Hand fuhr sie an der Kante der Kochinsel entlang und berührte dabei kurz den Messerblock. Er schaute nun doch etwas erschrocken. An der Pfanne, die voller gebräunter Zwiebel auf der schon ausgeschalteten Kochplatte stand, schwebte ihre Hand vorbei. Er stand nun fast in der Ecke, im Winkel zwischen zwei Boden- und Hängeschränkchen mit Geschirr. Sie fixierte ihn und er fühlte sich wie festgenagelt.
»Du bist im Moment sicher verwirrt, das verstehe ich«, sagte er. »Du fühlst dich vielleicht auch unglücklich. Wir waren ja doch sehr glücklich miteinander. Aber sei versichert: Das Unglück führt zu großem Glück!«
Nun war sie am Ende des Kochblocks angelangt und stand ihm direkt gegenüber. Ohne ihren eiskalt gewordenen Blick von ihm zu wenden, öffnete sie mit der rechten Hand eine Schublade. Dort klapperten die selten benutzten Küchenutensilien, wie Dosenöffner, Korkenzieher, alte Bestecke, aber auch Geflügelschere und diverse Schneidegeräte.
»Du wirst doch wohl keinen Blödsinn machen!«, sagte er, als er ein schmales, extrem scharfes Tranchiermesser in ihrer Hand sah. Doch sie überlegte nun nicht mehr lange, sondern stach zu.
2Er hatte vorher oft darüber nachgedacht, wie er es ihr beibringen sollte. Natürlich wäre ihm eine WhatsApp-Nachricht oder eine Abschieds-Mail lieber gewesen, vielleicht auch eine SMS oder tröstende Worte auf dem Anrufbeantworter. Aber er lebte mit ihr nun seit sechs Wochen in derselben Wohnung, wollte sich nicht extra zum Schlussmachen draußen herumtreiben und sie aus sicherer Entfernung kontaktieren. Er war ja kein Feigling. Er wollte sich auch nicht nachsagen lassen, er habe sie kühl abserviert. Sie würde aber auch bei persönlicher, also direkter Mitteilung, mit Entsetzen darauf reagieren, das wusste er. Doch er war kein Meister einer wirklich geschickten und schmerzarmen Umkleidung.
Er war eher ein Meister aller Ungeschicklichkeiten, ungelenk im Kopf, nicht in seinem Körper! Es hatte ihn verwundert, dass eine Frau wie Sinia überhaupt an seiner Art etwas Attraktives gefunden hatte. Sie hingegen erschien nicht nur ihm begehrenswert – und sie war eine Frau, die man nicht verlässt, niemals! Sie war nicht einer romantischen Tragikomödie entsprungen, war noch nie von jemand verlassen worden, hatte nie jemand verloren, an dem ihr Herz hing, dachte er jedenfalls. Vielleicht hatte er deshalb nie bei ihr gespürt, dass sie mit ihm richtig glücklich war. Ohne vorheriges Unglück kein Glück!
Manchmal glaubte er, dass Sinia bei ihm geblieben war, weil er gut kochen konnte. Oder umgekehrt, weil sie das Kochen hasste. Es störte sie jedenfalls nie, dass er oft mit einer Kochschürze herumlief, oft mit Omas Rezepten in der Bauchtasche des sich langsam auflösenden braun-gelb karierten Kleidungsstücks, das vielleicht auch noch von seiner Großmutter stammte. Es störte sie auch nicht, wenn er wieder einmal zu lange weder die schmuddelig gewordene Kochschürze noch die Kleidung gewechselt hatte, die kräftig nach Zwiebeln und anderen Küchengerüchen roch. Allenfalls seine Haare störten sie, wenn er sie lustvoll aus dem auf dem Teller liegenden Essen herauszog, ganz langsam, fast zelebrierend, damit sie nicht abrissen. Und wenn er so ein Haar auch noch auf den Fußboden schweben ließ, statt aufzustehen und in den Abfall gleiten zu lassen, dann schaute sie tadelnd.
Hin und wieder bemerkte er bissig, sie hätte sich doch lieber einen Koch anstellen sollen, statt einen Partner, der außer im Bett und für seine Kochkünste, auch noch anderweitig beachtet werden will. Und wenn er besonders verärgert oder frustriert war, schob er ironisch nach, dass ein Geld verdienender Partner, so wie er, natürlich praktischer wäre als ein Geld kostender Koch. Das könne er schon verstehen. In solchen Situationen öffnete sie nicht erstaunt ihre Lippen, sondern biss die Zähne zusammen und schaute verkniffen. Aber so richtig auf die Palme bringen konnte er sie selten, eigentlich nie. Vermutlich staute sich die Aggression bei ihr an, wurde weggeschlossen hinter einer kühlen Fassade und wartete dort auf den einen großen Ausbruch, der unweigerlich einmal kommen musste. Doch war das schon der große Ausbruch gewesen?
3Nun saß Raidu auf dem Boden in der Ecke seiner nach Zwiebeln riechenden Küche, regungslos angelehnt mit ausgestreckten Beinen und herabhängenden Armen. Seine braungelbe Kochschürze war überschwemmt von einem Schwall dunklen Rots, das gelegentlich auch noch aus seinen Haaren und seiner Nase tropfte und langsam auch vom aufgeschlagenen Hinterkopf herabrann. Am Boden um ihn herum eine rote Lache, als hätte er schon über einen Liter Blut verloren. Glasscherben waren darin verstreut, klebten teilweise aber auch an seiner Kochschürze. In seinem Bauch steckte ein langes schmales Tranchiermesser.
Es vergingen mehrere Minuten, bis er zur Besinnung kam und sich vorsichtig aufrappelte. Die von der Schürze aufgefangenen Scherben fielen klirrend herab. Noch bevor er aus dem Kreis der Lache, bestehend aus verschüttetem Rotwein und Blut herausstieg, zog er sich wie in Trance das Messer heraus, das in Omas Rezeptbuch steckte, und legte es auf dem Regal dort ab,
wo zuvor die Weinkaraffe neben einigen Gläsern gestanden hatte. »Schade um die Karaffe«, murmelte er geistesabwesend, »schade um den Barolo«, fügte er an und mit Blick auf die vom Messer durchstochene Schürze: »Schade um die Schürze«. Erst dann schaute er sich um: Sinia war nicht mehr da. Er wankte ins Bad und warf die Kochschürze in die Wanne, nachdem er Omas Rezepte mit »Man kann sie noch lesen« herausgenommen hatte. Dann wusch er sich Gesicht und Hände. In die blutende Nase steckte er ein Stück eines zusammengefalteten Papiertaschentuchs. Beim Griff zum schmerzenden Hinterkopf bemerkte er, dass er auch dort blutete. Er kramte eine Mullbinde aus dem Arzneischrank und wickelte sie und noch eine weitere in vielen Lagen um den Kopf herum. »Das hätte böse enden können«, stellte er fest und begann, die Küche zu reinigen. »Sie wollte mich nicht umbringen«, sagte er zu sich. »Sie hat gewusst, dass in der Bauchtasche der Schürze das Rezeptbuch steckt!« Beim Blick auf das Regal fuhr er fort: »Sie wollte nicht, dass ich gegen das Regal falle und mir den Kopf anschlage.« Er kombinierte, dass die Karaffe oder ein Glas beim Herabfallen wohl auch irgendwie die Nase erwischt hatte. »Das konnte sie nicht ahnen!«, sagte er. »Zum Glück ist bei mir nichts gebrochen«, stellte er mit Griff an die Nase fest.
Er ging weder vor noch nach dem Beseitigen der Streit-folgen die Räume seiner Wohnung ab, denn er wusste, dass sie nicht mehr hier war. Sie hatte sicher vieles zurückgelassen, aber es war jetzt nebensächlich, was mit den Sachen seiner Freundin geschehen sollte. Statt des Barolos nahm er sich eine Flasche Portwein, die im Schrank zur Herstellung besonders raffinierter Soßen stand. Zur Not ließ sich der Portwein auch trinken, wenngleich er ihm zu süß war. Er trank die halbe Flasche leer. »Das war knapp«, bestätigte er erneut die Dramatik des Geschehenen. »Aber nun bin ich sie los.«
4»Ja, du machst Sachen!«, staunte seine Freundin Zilly, als sie auf seinen Anruf hin in Raidus Wohnung gelaufen kam und nun den lädierten Freund sah. Auch sie öffnete leicht ihre Lippen und zeigte ihre Zähne, so wie es Frauen eben machen, bevor sie nach einer kleinen Pause ihr Erschrockensein zur Seite schob und spottete: »Der Turban steht dir aber gut!«
»Ja, ja, ich weiß«, reagierte Raidu mit einer Mimik, die seinen Schmerz der Freundin sichtbar machen sollte.
»Und jetzt ist es endgültig aus?«, fragte Zilly.
»Endgültig«, antwortete Raidu.
»Und du willst sie nicht anzeigen?«
Raidu machte eine abwehrende Handbewegung. »Blödsinn, das war doch nichts!«
Zilly wiegte ihren Kopf hin und her. »Na, ich weiß nicht. Man könnte es als Mordversuch sehen.«
»Nein, nein, so unkontrolliert ist Sinia nicht. Ganz im Gegenteil: Sie hat das Kochbuch gesehen und genau dort hineingestochen. Wollte mir nur Angst machen. Und dass ich rückwärts an die Schränkchen anschlage, konnte sie doch nicht wissen.«
»Dann war es zumindest unterlassene Hilfeleistung!«
»Ach, was. Vermutlich hat sie mich abgecheckt, bevor sie ging«, entgegnete Raidu, spürte aber, dass sein Wunsch Vater dieses Gedankens war. Eigentlich war er sich unsicher.
Zilly schüttelte den Kopf. »Mann, Mann, Mann«, sagte sie.
Die beiden setzten sich an den Küchentisch und Raidu schenkte vom restlichen Port ein. Seit Sinia eingezogen war, hatten sie sich nicht mehr gesehen, denn Sinia reagierte mit Eifersucht, wenn Raidu seine Nachbarin Zilly erwähnte. Es war eine Eifersucht voller Schweigen, die immer mit heftiger Versöhnung beendet wurde.
»Und ich dachte, eure Beziehung ist etwas für die Ewigkeit. Ihr beide habt es doch sicher immer ganz toll miteinander getrieben«, bemerkte Zilly grinsend.
»Haben wir auch! Ja, haben wir auch …« Scheinbar gedankenverloren philosophierte er: »Lust und Glück sind zwei paar Stiefel.«
»Aha, jetzt theoretisierst du wieder. Bist also wieder bei Sinnen. Aber naja, dann erklär das mal deiner minderbemittelten Freundin.« Sie nahm ihren Kopf zwischen die Hände und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte auf. So schaute sie Raidu erwartungsvoll an.
Raidu riss sich von seinen Erinnerungen los und begann, ihr spöttisches Grinsen ignorierend, mit dem Dozieren: »Glück erlebt man besonders nach Unglück, das hab ich ihr auch gesagt. Aber Lust kannst du immer haben, also immer erleben, ohne vorher negativ drauf zu sein.«
»Aha, der Herr Psychologe! Aber bei mir ist das anders: Ich bin glücklich über jeden lustvollen Orgasmus, du nicht?«
»Nein, du bist nicht glücklich!«, behauptete Raidu. »Das glaubst du nur, Zilly, das ist aber eine Täuschung! Selbst überwältigende Lust bedeutet nicht unbedingt Glück. Glücklich bist du nur, wenn du intensive Gefühle mit einer oder mehreren anderen Personen teilen kannst. Das Teilen ist das Entscheidende.«
»Und mit Sinia hast du nichts geteilt? Die konntest du doch mit deinen Sexualkünsten zur großen Lust bringen.«
»Exakt! Das war das Problem. Lust hat sie wohl intensiv erlebt, aber nur ohne mich. Und ich ohne sie. Also schon bei ihr, aber nicht mit mir, verstehst du?«
»Naja, so genau will ich es gar nicht wissen. Jedenfalls haben eure sexuellen Begegnungen die Beziehung nicht wirklich zusammengehalten.«
»So würde ich es nun auch wieder nicht ausdrücken«, widersprach Raidu. »Ohne die Sexualität wäre alles noch viel schneller den Bach runtergegangen.«
»Mann, Mann, Mann«, sagte Zilly erneut und schüttelte den Kopf. »Gut, dass du mich angerufen hast. Du spielst wie immer alles herunter. Oder überdeckst es mit Philosophiererei. Komm, leg dich hin, ruh dich aus nach diesem Schrecken. Deine wirkliche Freundin kocht dir was Gutes.«
Ausnahmsweise, wirklich ausnahmsweise, ließ sich Raidu das heute gefallen, Zilly konnte fast noch besser kochen als er. »Ich bin so froh um dich!«, sagte Raidu. »Schön, dass du wieder da bist! Gut, dass ich dich nicht verloren hab.«
5Am nächsten Tag lenkte sich Raidu durch Arbeit ab. Er ging ins Labor, seinem Arbeitsplatz in einer der vielen Niederlassungen einer bekannten Pharma-Firma. Er ging gerne ins Labor, zum einen, weil er tatsächlich nur einen kurzen, aber entspannenden Fußweg hatte, zum anderen der Arbeit wegen. Sinia hatte dafür viel Verständnis gehabt, denn auch sie arbeitete leidenschaftlich gerne. Sie war aber oft auf Abruf, wurde angefordert, wenn wieder einmal in einem Betrieb mit der EDV etwas nicht funktionierte. Ihre Arbeitsplätze erreichte sie meist durch lange und langweilige Autofahrten. Sie war angestellt bei einer kleinen IT- und Beratungsagentur, war aber ständig unterwegs, um die von ihrer Chefin angenommenen und ihr zugeteilten Aufträge auszuführen.
Raidu lebte zur Miete in einer Wohnung, die der Pharma-Firma gehörte. Sinias Einzug bei Raidu sahen beide als Experiment. Nun, ein Experiment, das offensichtlich gescheitert war. Es kam ja auch viel zu früh. Sie hatten sich zuvor auch nur kurz gekannt, waren viel ausgegangen, hatten geplaudert in Lokalen und hatten viel Sex - nur bei ihm. Raidu war nie in Sinias Wohnung gewesen. Sie hatte sie, was sich jetzt wohl als Glück für sie herausstellte, bisher noch nicht aufgegeben. Vielleicht würde Raidu jetzt die Wohnung einmal kennenlernen, denn er nahm sich vor, Sinia alle ihre bei ihm deponierten Gegenstände zu bringen.
Am zweiten Tag nach ihrem Auszug versuchte er, Sinia telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ans Handy. Daraufhin sah er sich in seinen Räumen gründlich nach den zurückgelassenen Sachen um. Er wollte sie zusammentragen, womöglich in Plastiktüten, Kartons oder Koffern verstauen, um sie jederzeit wegbringen zu können oder abholen zu lassen. Sinia hatte sicher während seiner Bewusstlosigkeit überstürzt die Wohnung verlassen. Das meiste an ihrer Kleidung und Kosmetikartikeln, ihren wenigen Geschirrteilen und einzelnen Möbeln war noch da, auch wenige Bücher und schriftliche Unterlagen. Laptop, Ausweis, Schlüsselbund und Portemonnaie hatte sie aber mitgenommen.
Am dritten Tag konnte er sie immer noch nicht erreichen, doch er fand in einer Schublade ihr auf »Flugmodus« geschaltetes Telefon. Dass sie dieses nicht bei sich hatte, erstaunte ihn sehr. Vielleicht würde dies dazu führen, dass sie bald wieder zurück käme. Er kaufte in einem Baumarkt ein neues Schloss für seine Wohnung. Keinesfalls wollte er riskieren, dass sie während seiner Abwesenheit die Wohnung heimlich betrat – besonders nicht, wenn er schlafend daheim wäre …
Am vierten Tag nahmen bei ihm Grübeleien zu. Er bekam auch Anfälle plötzlichen Herzrasens und unklarer Angstgefühle. Er verspürte keinerlei Sehnsucht danach, Sinia wiederzutreffen. Warum rief aber sie nicht an? Wollte sie wirklich auf all das Zurückgelassene verzichten? Versteckte sie sich, weil sie glaubte, ihn getötet zu haben. Hatte sie Angst davor, dass er zur Polizei gehen würde?
Seine Freundin Zilly, die Arzthelferin, hatte ihn täglich angerufen und nun kam sie vorbei. »Du hast eine Angststörung«, bemerkte sie lapidar. »Du musst die Sache beenden, sonst wird es schlimmer!«
»Was meinst du? Welche Sache?«
»Naja, du musst dich von allem trennen, was ihr gehört. Schmeiß es einfach weg!«
»Was? Nein, wirklich nicht. Das Zeug ist doch auch einiges wert. Schau dir nur mal ihre Schuhe an oder die Designerkleidung.«
»Und warum holt sie nichts ab?«
»Na, das ist klar. Sie will mir nicht mehr begegnen. Die rechnet wohl damit, dass ich es ihr vor die Tür stelle.«
»Was du Gutmensch natürlich tun wirst«, sagte Zilly und verdrehte die Augen. »Hast du ihre Adresse?«
»Freilich, die Adresse hab ich, die hab ich auch bei ihren Unterlagen gefunden, aber ich war noch nie dort. Hinschicken kann ich das viele Zeug nicht.«
»Okay, ich komme mit. Wir fahren es gemeinsam mit zwei Autos hin.«
»Das wird nicht reichen. Da werden wir zwei Mal fahren müssen.«
»Dann halt zwei Mal. Die paar Stunden können wir uns schon Zeit nehmen. Es muss endlich abgeschlossen sein! Neurosen brauchst du keine kriegen.«
Sie begannen mit den wenigen Kleinmöbeln, die leicht in den beiden Autos unterzubringen waren. Dazwischen legte Raidu Schachteln und Taschen mit den Utensilien aus dem Bad, mit Geschirr und Büchern und natürlich mit dem Handy.
»Das andere passt in die zweite Fuhre. Hat Sinia dort einen Festnetzanschluss?«, fragte Zilly. Raidu schüttelte den Kopf. »Sollen wir dann auf gut Glück fahren oder stellen wir ihr das Zeug einfach vor die Tür?« Raidu zuckte mit den Schultern. »Naja, Hauptsache, das Zeug ist mal weg!«, führte Zilly fort. Sie notierte die Adresse in ihr Navi und fuhr voraus.
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Raidu fragte sich, ob sie dort alles in den Regen stellen sollten. Der Niederschlag wurde heftiger und Raidu musste sich sehr konzentrieren, um seine vorausfahrende Freundin nicht zu verlieren. Und während der Scheibenwischer kaum mehr in der Lage war, die Scheibe frei zu machen, wurde Raidu immer ängstlicher. Schließlich begann er zu weinen und auf sein Schicksal zu fluchen. Das Fluchen half mehr als das Weinen, doch als der Regenschauer vorüber war, stellte sich erneut eine Ängstlichkeit ein. Dieses Mal aber war es eine benennbare Angst: Er fürchtete sich vor der Begegnung mit Sinia! Je mehr sie sich ihrem Ziel näherten, umso mehr hoffte er, dass sie nicht daheim sein würde, dass er nicht ihre Wohnung betreten müsste, dass das Abladen schnell getan sein würde und sie wieder fahren könnten. Mit dem Gedanken »Einer großen Angst folgt die große Erleichterung« beruhigte er sich etwas. Doch als Zilly langsamer wurde und schließlich ihre Hand aus dem Autofenster streckte und auf ein großes Haus zeigte, war aus der großen Erleichterung erneut wieder eine bedrückende Angst geworden - und ihm fiel kein tröstender Spruch mehr ein.
6Das Ziel war eine große Wohnanlage, idyllisch an dem rauschenden Fluss gelegen, an dem sie vorher schon viele Kilometer entlanggefahren waren. Auf dem Klingelbrett neben dem Eingang stand eine lange Liste mit Namen.
»Sie heißt?«, fragte Zilly, die in der Namensliste suchte.
»Mayer mit Ypsilon. Sinia Mayer«, antwortete Raidu.
Zilly fand das Klingelschild Mayer und klingelte. Keine Reaktion. »Sollen wir woanders klingeln?«, fragte sie.
»Weiß nicht. Müssen wir wohl, wenn wir die Sachen zumindest ins Haus stellen wollen. Aber wir können auch warten, bis jemand kommt.«
Zilly klingelte erneut bei Mayer. Keine Reaktion. Dann aber kam tatsächlich eine junge Frau in Joggingbekleidung zur Tür heraus. »Entschuldigen Sie!«, sprach sie Zilly an. »Wissen Sie, ob Frau Sinia Mayer daheim ist?«