Als der Wolf im Schafspelz kam - Gudrun Leyendecker - E-Book

Als der Wolf im Schafspelz kam E-Book

Gudrun Leyendecker

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Beschreibung

Als der Wolf im Schafspelz kamist der 19. Band der Romanreihe Liebe und mehr. Zur Jubiläumsfeier im Schloss von Sankt Augustine haben die Rossinis viele überraschende Attraktionen vorbereitet. Doch bei der Wahl der Gäste ist ihnen offenbar ein Fehler unterlaufen. Die Journalistin Abigail Mühlberg erhält den Auftrag, eine mysteriöse Person aufzuspüren, die alles zu boykottieren versucht. Spielt da jemand falsch? In der Hitze des Sommers entzündet sich so mancher Streit, auch unter Liebenden, und die junge Frau versucht, in Krisen zu vermitteln.

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Inhaltsangabe

Zur Jubiläumsfeier im Schloss von Sankt Augustine haben die Rossinis viele überraschende Attraktionen vorbereitet. Doch bei der Wahl der Gäste ist ihnen offenbar ein Fehler unterlaufen. Die Journalistin Abigail Mühlberg erhält den Auftrag, eine mysteriöse Person aufzuspüren, die alle Fäden zieht. Spielt da jemand falsch? Ein Mordfall erschüttert die Gäste und wirft viele Fragen auf. In der Hitze des Sommers entzündet sich so mancher Streit und die junge Frau versucht, in Krisen zu vermitteln und Klarheit zu schaffen.

Ein mysteriöser Koffer verschwindet, und die Recherchen führen nach Frankreich, der berühmten Parfum-Stadt Grasse…..

Der Wind wehte die letzten Blütenblätter des Jasmins zu uns auf die Schlossterrasse. „Das ist wie Schnee im Sommer“, fand Emily, meine Nichte, die ihre Sommerferien bei mir in Sankt Augustine verbrachte. Sie sah in den Himmel und beobachtete die ziehenden Wolken. „Im Augenblick ist es hier wie in einem kleinen Paradies. Es ist kaum zu glauben, dass hier schon so viel passiert ist. Wann kommen denn die restlichen Gäste für das große Fest morgen?“

Ich nahm einen Schluck Tee und benutzte diese Zeit zum Nachdenken. „Also, da muss ich nachrechnen. Die Zirkusleute sind schon vor ein paar Tagen angekommen…“

Emily unterbrach mich. „Ja, das weiß ich. Das Zirkuszelt steht schon fertig auf dem Schlossvorplatz. Aber die anderen, die Ehrengäste, wer ist das eigentlich alles?“

„Lass es mich doch einmal der Reihe nach angehen. Die Musikstudenten, die gerade Semesterferien haben, sind zum Teil überall verstreut, im Inland und im Ausland. Nur ein paar haben sich hier in den letzten Tagen eingefunden, um ein kleines Konzert zu geben. Frau Ackermann, die reiche Tante, meiner lieben Freundin Laura Camissoll, der Schauspielerin, ist gestern schon gemeinsam mit Hugo Petit eingetroffen.“

„Hugo Petit? Ist das nicht der Kunstsammler, der bei Nizza eine große Werft besitzt, dem du einmal eine ausrangierte Figur von Rossini verkauft hast?“

„Es gibt von Moro keine ausrangierten Skulpturen“, empörte ich mich. „Jedes Teil von ihm ist ein Kunstwerk, egal ob es ein Gemälde oder eine Figur ist. Sie war nur ursprünglich für einen anderen Zweck gedacht, aber künstlerisch ist es ein großes Werk gewesen.“

Ihre schönen dunklen Augen sahen mich fragend an. „Und was will der hier beim Sommerfest? Er ist doch bestimmt nicht von Südfrankreich hierhergekommen, um sich die Attraktionen im Zirkus anzusehen.“

„Sicherlich will er sich hier im Schloss all die Kunstwerke von Moro Rossini ansehen und wahrscheinlich auch das kleine Museum besichtigen. Die Ehrengäste, das sind die Mitglieder eines internationalen Kulturvereins, dessen Vorsitzender neuerdings Kevin Braun ist, Lauras Mann aus Philadelphia. Sie sind alle gestern Mittag schon angekommen.“

Emily freute sich. „Dann wird es ja interessant. Ich hatte schon befürchtet, es bleibt mit den älteren Herrschaften etwas langweilig. Sind da auch junge Leute dabei?“

„Ich habe die Liste nicht im Kopf“, gestand ich ihr. „Magst du noch ein Stück von Carlas Erdbeerkuchen?“

Sie stöhnte und betrachtete sehnsüchtig die Schlagsahne. „Er ist wahnsinnig lecker, aber ich muss auf meine Figur achten.“

„Deine Figur ist super für deine 19 Jahre“, fand ich. „Und mit etwas Kuchen wird sie bestimmt perfekt.“

Sie lächelte. „Also gut, weil heute praktisch so etwas wie Feiertag ist. Also, sind da auch hübsche junge Männer in diesem Kulturverein?“

„Bestimmt. Da gibt es zum Beispiel einen jungen, hübschen Franzosen, einen charmanten Engländer und einen reizenden Amerikaner, von denen mir die Schlossherrin schon berichtet hat. Du wirst sie alle kennenlernen, auch der Clown vom Zirkus soll ein sehr attraktiver Mann sein. Was ist denn mit deinem Freund Torben geworden. Seid ihr nicht mehr zusammen?“

Emily schüttelte den Kopf. „Wir haben uns getrennt. Er ist einfach zu jung für mich. Männer sind mit 19 noch halbe Kinder.“

In diesem Augenblick erschien Adelaide Rossini auf der Terrasse. „Die Kriminalpolizei ist da. Man hat im Zirkuszelt die Tänzerin Victoria tot aufgefunden, und es sieht ganz nach einem Mord aus. Haltet euch bitte zu Verfügung, wenn der Kommissar Meyer euch ein paar Fragen stellen will.“

Wir erschraken und stellten viele Fragen durcheinander. „Was ist passiert? Wann war das? Wo ist es passiert?“ Vor Aufregung ließ ich das Tortenstück von der Schaufel auf den Teller fallen.

„Wann hat man Victoria denn gefunden?“ fragte ich Adelaide, nachdem wir uns etwas erholt hatten. „Und wer hat sie gefunden?“

„Der Zirkusdirektor Mago, er wollte sie zur Generalprobe in die Manege holen. Da hat er sie dann im Zirkuswagen gefunden. Wir waren ja gleich dagegen, dass sie da draußen bleibt und dort schläft. Alle anderen Gäste schlafen doch auch hier im Schloss in den Gästezimmern. Wenn sie auf uns gehört hätte, dann wäre vermutlich auch nichts passiert.“

„Weiß man denn schon, was genau passiert ist?“ erkundigte sich Emily.

„Der Kommissar, beziehungsweise der Pathologe aus seinem Team, vermutet, dass es gestern Abend spät geschehen ist. Da war natürlich hier im Schloss und im Garten ein Kommen und Gehen. Da hat keiner so genau hingeschaut. Irgendwann nach dem Abendessen, vermutet er. Und in dieser Zeit haben alle Gäste ihre Koffer verstaut und ihre Zimmer ausgesucht. Die Musiker haben im Garten auf dem großen Platz für das Konzert geübt, und aus dem Zirkuszelt kam auch noch Musik. Victoria hatte sich von den Kollegen verabschiedet, weil sie früh zu Bett gehen wollte. Da hat natürlich auch keiner mehr nach ihr gesehen.“

„Wo ist Niklas? Der Kommissar kann mir doch bestimmt noch mehr erzählen“, vermutete ich.

„Ja, er weiß vermutlich noch mehr, Abigail. Aber momentan vernimmt er gerade noch die Leute vom Zirkus. Er wird später noch hierher kommen. Soll ich euch von Carla irgendetwas bringen lassen, einen Cognac vielleicht oder ein Wasser?“

„Danke liebe Ada!“ meldete sich Emily zu Wort. „Ich habe hier die jüngsten Beine. Ich kann uns schon ein Wasser aus der Küche holen. Dann werden doch bestimmt die ganzen Festlichkeiten verschoben, oder?“

„Leider nicht“, wusste die Schlossherrin. „Der Zirkusdirektor Mago besteht darauf, dass seine Vorstellung wie geplant stattfindet. Allerdings will er eine Gedenkminute für Victoria einlegen, und er hat uns auch ausdrücklich ans Herz gelegt, dass hier im Schloss alles so weiterlaufen soll, wie es geplant wurde. Er meinte, er habe Victoria sehr gut gekannt, und daher wüsste er, dass das so in ihrem Sinne wäre.“

„Dabei habe ich aber kein gutes Gefühl“, fand meine Nichte. „Es wird sicher dann kein fröhliches Fest werden.“

„Das war auch mein Argument“, teilte uns Adelaide mit. „Aber Mago meinte, unsere Traurigkeit sei in zwei Wochen noch genauso groß. Da müssten wir es schon um ein Jahr verschieben, und das sei eben unmöglich.“

„Gibt es denn schon Verdächtige?“ erkundigte ich mich.

„Nein. Es steht ja noch nicht einmal die Todesursache genau fest. Sie haben erst Vermutungen, die noch genauer untersucht werden müssen. Gut, dann wisst ihr auf jeden Fall schon mal Bescheid. Am besten wartet ihr hier, bis Niklas oder sein Kollege zu euch kommen. Und vielleicht hat er auch wieder einen Auftrag für dich, Abigail. Du bist ja sozusagen nicht nur seine freie Mitarbeiterin, sondern auch seine langjährige Freundin. Da hat er keine Hemmung, dich um Hilfe zu bitten. Ich muss jetzt noch zu den Studenten. Sie schmücken gerade draußen die große Laube mit Lampions und haben noch gar keine Ahnung, was passiert ist.“

Als sie die Terrasse verlassen hatte, klärte ich meine Nichte auf. „Ein guter Freund ist Niklas schon, und seine Lebenspartnerin Jasmin, die mit ihrer Zwillingsschwester Senta den Gutshof führt, ist eine meiner besten Freundinnen. Aber wir kennen uns noch nicht viele Jahre, das kommt Adelaide nur so vor. Als ich hierher kam, um damals Rossini zu interviewen, war Niklas noch nicht so davon überzeugt, dass ich zu der Aufklärung eines Kriminalfalles etwas Wesentliches beitragen könnte. Aber seitdem ist sehr viel passiert, es gab kaum eine große Veranstaltung hier in Sankt Augustine ohne eine mysteriöse Geschichte. Zum Glück war es selten Mord. In der Regel hat sich dann doch vieles als Unfall herausgestellt, Diebstähle und eine Entführung waren auch dabei. Und so hat Niklas dann im Laufe der Zeit eingesehen, dass es auch Vorteile haben kann, wenn man eine Journalistin in einen Kriminalfall einbindet.“

***

Etwas später erschien der Kommissar bei uns auf der Terrasse, begrüßte uns und setzte sich zu uns an den Tisch. „Ihr habt es sicher schon gehört von Adelaide, aber ich habe natürlich auch noch ein paar Fragen an euch. Ihr kennt diese Fragen ja schon: ist euch irgendetwas Verdächtiges aufgefallen? Habt ihr jemanden gesehen? Und wann habt ihr Victoria zum letzten Mal gesehen?“

„Ich habe sie bisher nur ein einziges Mal gesehen“, klärte ich ihn auf. „Und das war vorgestern in der großen Schlosshalle, als uns Rossini und seine Frau das Zirkusteam vorstellten. Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Und an all unseren Gästen ist mir bisher auch noch nichts Ungewöhnliches aufgefallen.“

„Und du, Emily, hast du irgendetwas gesehen?“ wandte er sich an meine Nichte.

„Ich bin erst heute gekommen. Ich kenne diese Victoria noch gar nicht und bin auch ihrem Team noch nicht begegnet. Von den anderen Gästen habe ich deswegen auch nur ein paar ganz flüchtig gesehen. Und an denen ist mir auch noch nichts aufgefallen. Bisher habe ich nur mit dem Schlossherrn Moro Rossini und seiner lieben Frau Adelaide gesprochen. Außerdem habe ich mich noch ganz kurz mit Carla, der Haushälterin und ihrem musikalischen Freund Bernhard, dem Gärtner unterhalten. Den traf ich nämlich zufällig mit seiner Klarinette auf dem Flur. Und das fand ich merkwürdig, weil ich ihn vorher mit einer Harke im Garten gesehen hatte. Und da habe ich ihn natürlich darauf angesprochen. So erfuhr ich dann, dass er hier bei fast allen Konzerten mitwirkt und ein großartiger Musiker ist. Er wird auch morgen bei dem Konzert mitwirken.“

„Ich weiß. Ich kenne nun Bernhard auch schon eine ganze Weile, und er sorgt hier im Schloss auch als Hausmeister dafür, dass sich Rossini in seinem Alter nicht mehr um alles allein kümmern muss. Und Moro und Adelaide kenne ich auch schon, seit sie hier in Sankt Augustine leben. Aber weil gestern hier natürlich so viel los war, haben wir schon ein Problem, der Kreis der Verdächtigen ist ziemlich groß. Der Täter könnte aus Victorias Umfeld stammen, ein Mitglied der Zirkustruppe sein, aber wir müssen ihn natürlich auch im Kreis der Gäste suchen, die seit gestern hier sind.“

„Weißt du schon etwas Näheres?“ wandte ich mich an Niklas.

„Wir wissen inzwischen nur von ihrer Kollegin, der Tänzerin Ellie, dass Victoria gestern noch einen langen Spaziergang durch den Park gemacht hat, bevor sie zu Bett ging. Und dabei kann sie natürlich jedem begegnet sein, der hier im Schloss herumläuft. Hast du etwas Zeit, Abigail? Oder erwartest du deinen Liebsten schon so bald wieder zurück von seiner Exkursion?“

Ich zwinkerte ihm vergnügt zu. „ Nein, Ermanno ist mit seinen Studenten noch unterwegs. Mit anderen Worten, du möchtest, dass ich dir helfe.“

„Na, du bist doch ein Naturtalent beim Herausquetschen von Neuigkeiten. Auch schon von Berufs wegen. Und deine Fähigkeit, mit fremden Menschen Kontakte zu knüpfen, sind beachtenswert.“

„Du verstehst es sehr gut, mir zu schmeicheln, wenn du etwas von mir möchtest“, antwortete ich lachend.

Emily grinste. „Ach Abigail, tu doch nicht so! Dich treibt doch selbst immer die Neugier. Aber mehr noch als die Neugier, möchtest du deine Finger mit im Spiel haben. Und dein stärkstes Motiv ist es doch, Probleme zu lösen und Geheimnisse zu lüften.“

Der Kommissar lachte. „Da hast du mich doch tatsächlich zum Lachen gebracht, Emily, obwohl die Umstände hier gerade sehr traurig sind. Aber mit deiner Beschreibung hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Wahrscheinlich würde Abigail krank werden, wenn ich sie nicht an der Aufklärung beteiligte.“

Ich gab ihm einen leichten Klaps auf den Arm. „Ein bisschen weniger direkt könnte nicht schaden. Hast du schon die Gästeliste und eine von den Zirkusleuten.“

Er nickte und reichte mir ein mit leserlicher Schrift beschriebenes Blatt. „Die hat Carla schon angefertigt. Und du Emily? Kann ich dich auch dabei einsetzen?“

Die junge Frau freute sich. „Na klar! Ich war schon in der Schule eine ausgezeichnete Hobbydetektivin. Da wusste ich immer, wer heimlich mit wem ging und was alles so hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde. Darf ich vielleicht die jungen Männer interviewen.“

„Interviewen lieber nicht, das kannst du deiner Tante überlassen. Es würde zu sehr auffallen. Aber du darfst dich mit den Gästen anfreunden und dich mit ihnen über den Fall unterhalten. Wenn du mir dann deine Eindrücke schilderst, bin ich vollkommen zufrieden.“

Sein Handy meldete sich, und er las die Nachricht. „Es gibt eine Neuigkeit. Inzwischen wurde die Todesursache festgestellt. Sie wurde vergiftet.“

Emily sah den Kommissar fragend an. „Kann sie das Gift nicht selbst genommen haben?“

„Es gab keinen Abschiedsbrief, und im Wohnwagen wurde keinerlei Gift gefunden. Weder in ihrem Glas, noch auf ihrem Teller, noch in ihrer Handtasche oder an ihren Händen. Und die Kollegin Ellie hat ausgesagt, dass sich Victoria schon sehr auf die Vorstellung von heute gefreut hat. Sie hatte keine Depressionen und keinen Liebeskummer, und auch sonst keine Sorgen, denn sie ist die Stieftochter einer berühmten Filmschauspielerin, die ihr ab und zu etwas Geld überweist.“

„Und wo ist die Mutter jetzt?“ fragte ich Niklas.

„Sie lebt in Kanada und wurde bereits verständigt. Sie wird so bald wie möglich hierher kommen. Also, ich werde euch auf dem Laufenden halten und mich zunächst einmal mit ihrem Kollegen unterhalten. Wir sehen uns!“ Er stand auf und winkte uns noch einmal zu.

Emily sah mich erwartungsvoll an. „Und was machen wir jetzt zuerst?“

„Uns so unauffällig wie möglich zu verhalten. Ich werde mich bei jedem gemeinsamen Essen in der Schlossküche neben eine andere Person setzen und versuchen, sie in ein Gespräch zu ziehen. Das gleiche gilt auch für meine Spaziergänge im Garten.“

„Da verlieren wir viel zu viel Zeit“, wandte Emily ein. „Wer steht alles auf der Liste? Lies mal vor, was Carla uns da aufgeschrieben hat! Wer steht ganz oben?“

Ich schaute auf das Blatt. „Also, da oben steht Will Holly aus Yorkshire. Er ist 35 Jahre alt und besitzt ein Auktionshaus.“

Emily grinste. „Genau. Und bei dem fangen wir jetzt an. Wir werden ihn kennenlernen.“

„Und unter welchem Vorwand?“

„Na, ich bin deine Nichte und will demnächst nach Yorkshire verreisen. Da brauchen wir doch ein paar Tipps aus seiner Gegend.“

Ich zögerte einen Augenblick, doch dann gab ich nach. „Na schön! Sehen wir uns diesen Engländer einmal an!“

Mit dem Geschirr auf dem Tablett bewaffnet spazierten wir in die Schlossküche, wo wir Ada und Carla bei den Vorbereitungen für das Abendessen trafen.

Wir weihten sie in unseren Auftrag ein und erkundigten uns nach Will Holly.

„Hast du eine Ahnung, wo er gerade ist, Adelaide?“ fragte Emily die Schlossherrin.

„Er interessiert sich für die Brunnen da draußen, und vermutlich findet ihr ihn bei der schönen Venus. Nach ihr hat er sich nämlich erkundigt.“

„Dann auf in den Garten!“ entschied meine Nichte zog mich hinaus.

Obwohl aus der Ferne große Wolkenfelder nahten, hielt sich der trockene Himmel über uns.

Während wir den Park durchquerten, begegneten uns die verschiedenen Düfte der blühenden Büsche. Schmetterlinge, Hummeln und auch eine Libelle begleiteten uns ein Stück des Weges.

Als wir am Venusbrunnen ankamen, saß dort ein elegant gekleideter junger Mann, der zu einem hellen Anzug einen leichten Sommerhut trug.

Emily hatte keine Hemmungen, ihn sofort anzusprechen.

„Hallo! Ich bin Emily und Abigails Nichte, die hier gemeinsam mit den Rossinis im Schloss wohnt. Sie sind bestimmt auch hier Gast und extra für das große Sommerfest angekommen.“

„Richtig. Ich bin Will Holly und komme aus England. Aber sagen wir doch du zueinander, wie das bei uns und wohl auch im Schloss hier üblich ist.“ Er legte den Hut ab.

„Nein, bitte“, fuhr meine Nichte fort, „lass doch bitte den Hut auf! Die Sonne brennt ganz schön heute. Wenn man das nicht so gewohnt ist …“

Er lächelte. „Ach, auch wenn man viel von unserem englischen Regen spricht, ein bisschen Sonne bin ich schon gewohnt. Ich verbringe meine Ferien in Italien, meist auf Sizilien, wo Maestro Rossini herkommt. Ich finde das Schloss hier übrigens sehr schön. Es sieht so ganz anders aus als unsere Schlösser in England.“

„Es ist im Barockstil gebaut“, wusste Emily. „Der französische Adelige hat es nach dem Stil vom Moritzburger Schloss umgebaut. Dieses Schloss bei Dresden hat August der Starke in diesem Stil umbauen lassen. Ich finde auch, dass es sehr freundlich aussieht.“

„Ich habe schon seit gestern nachgedacht, ob diese italienischen Gärten mit den vielen Brunnen und Skulpturen hier wirklich so gut zu dem schlichten Schloss passen. Aber dann ist mir eingefallen, dass es in Dresden auch so ist. Da findet man ebenso das Prunkvolle neben dem Schlichten und jede Menge Statuen und Brunnen. Dieser Franzose muss also einen ähnlichen Geschmack gehabt haben wie der Kurfürst von Sachsen.“

„Glücklicherweise war der Franzose nicht ganz so verschwenderisch wie Friedrich August“, fand ich. „Sonst wäre aus diesem Schloss womöglich auch noch ein Museum geworden und alle Leute müssten Eintritt bezahlen.“

Will lächelte erneut. „Und doch ist es ein Museum. Es beherbergt die ganzen wunderschönen Gemälde und Skulpturen und Fotos des Künstlers Moro Rossini, und es befindet sich darin auch das Gedenkmuseum für die verfolgten Künstler, das du, Abigail aus der Taufe gehoben hast. Das habe ich gestern jedenfalls im Stadtführer hier gelesen. Es ist ziemlich mutig von dir, hier in Deutschland so etwas zu initiieren. Die extrem rechte Politik sieht das bestimmt gar nicht gern.“

„Ich hoffe, dass die Deutschen jetzt wachsam genug sind, und sich immer wieder an ihre unrühmliche Geschichte erinnern, damit sie nicht noch einmal solche Verbrechen begehen. Tatsächlich hatte ich am Anfang bei den Recherchen auch ein paar Feinde, aber mittlerweile stehen jetzt so viele Menschen hinter dem Museum, so dass wir von allen Seiten Hilfe bekommen.“

„Schade dass es jetzt während des Festes geschlossen ist“, fand Will. „Aber ich habe schon mit der Schlossherrin gesprochen. Sobald das Fest vorüber ist, wird es für die internen Gäste geöffnet. Ich würde mir nämlich gern einmal die alten Bücher und Gemälde anschauen, die ihr da zusammengetragen habt. Ich verstehe nämlich auch ein bisschen von Kunst.“

Emily sah ihn erwartungsvoll an. „Wirklich? Bist du vielleicht selbst ein Maler?“

„Nein, leider nicht. Dazu bin ich zu ungeschickt. Aber ich habe in England ein größeres Auktionshaus, da wandern die schönen Stücke häufig von einem Besitzer zum anderen. Und es ist immer wieder eine Freude, mitzuerleben, wie sich die Menschen über die erworbenen Kunstschätze freuen.“

„Wie ist es denn so in Yorkshire?“ erkundigte sich meine Nichte. „Ich wollte eigentlich da mal Urlaub machen. Was sollte ich mir denn da unbedingt ansehen?“

„Da solltest du dir sehr viel Zeit nehmen! Ich nehme an, dass du weißt, dass es sich um eine nordenglische Grafschaft handelt. Das ist eine Gegend mit viel Kultur, und wir nennen es auch: God’s own county.“

„Das hört sich so an, als ob die Einwohner diese Gegend sehr liebten“, fand Emily. „Und wie sieht die Landschaft dort aus?“

„Da gibt es die typische Heidelandschaft aus Kalkstein, viele Plateaus und da haben wir eine Höhe von knapp 800 Metern. Und weil wir dort keine hohen Gebirge haben, fahre ich zwischendurch auch gern einmal in die Alpen, und zwar dort ganz in die Nähe, wo sich damals Adelaide und Moro kennen gelernt haben.“

Ich horchte auf. „Mühlwald? Dort habe ich auch meinen Mann Ermanno kennen gelernt, mit dem ich jetzt seit ein paar Wochen verheiratet bin. Ist das nicht eine wunderschöne Gegend?“

„Richtig. Das sehe ich auch so, und wenn ich dort bin, gehe ich wandern und klettern.“

„Dann hast du dich bestimmt auch schon mit Rossini darüber unterhalten“, vermutete ich. „Er hat früher auch einige Berge bestiegen und kennt berühmte Bergsteiger. Das war früher seine Leidenschaft, als er noch laufen konnte. Genauso wie das Skifahren.“

„Davon redest du besser mit Moro und Adelaide nicht“, riet ich ihm. „Das Thema könnte alte Wunden wieder aufreißen, sehr alte.“

Er sah mich erstaunt an. „Ach, du meinst die alte Geschichte mit dem Skihasen, mit dem Moro seine damalige Verlobte betrogen hat?“

Ich nickte. „Und woher weißt du das? Hat dir das etwa Adelaide erzählt?“

„Nein, Moro selbst hat mir die Geschichte verraten, nachdem ich ihn gefragt habe, warum er seine große Liebe nicht schon in der Jugend geheiratet hat. Da hat er mir gestanden, dass sie so sehr enttäuscht von ihm war und ihm bei seinem Heiratsantrag dann einen Korb gegeben hat.“

„Ja, sie haben sich danach zwar wieder versöhnt, und Adelaide wollte ihn verzeihen, aber bei dem zweiten Versuch hat er sich genauso tollpatschig eingestellt und vor ihren Augen mit einer anderen geflirtet. Das hat sie dann nicht verkraftet und hat einen Schlussstrich gezogen, der sie dann für ungefähr 35 Jahre trennte.“

Will seufzte. „Dann können die beiden ja nur froh sein, dass sie so alt geworden sind. Moro ist über 80 und Adelaide über 70 Jahre alt. Dieses Alter erreichen nicht alle Menschen, und Gott sei Dank hat keiner von ihnen beiden eine unheilbare Krankheit. Moro hat mir erzählt, dass er die Zeit gern noch einmal zurückdrehen möchte. Er hätte diese 35 Jahre gern mit seiner großen Liebe verbracht, weil sie sich nicht nur lieben, sondern auch gut zusammenpassen. Das Leben wäre sicher für den Künstler etwas weniger schmerzhaft verlaufen.“

Ich nickte. „Für beide! Aber ich habe darüber auch schon mit beiden philosophiert. Die Sehnsucht nach der großen Liebe hat sie beide auch immer inspiriert, sie waren sich gegenseitig so etwas wie eine Muse.“

„Ist Adelaide denn auch eine Künstlerin?“

„Sie ist nicht berühmt, aber sie hat auch ein paar kleine Talente, von allem etwas. Sie malt, sie schreibt Gedichte und kleine Geschichten für ihre Enkel. Sie spielt ein bisschen Klavier und hat auch schon ein paar Lieder komponiert. Alles mehr so für den Hausgebrauch, aber ich glaube auch dabei hat sie sich immer von ihrer Liebe zu Moro inspirieren lassen.“

Nachdem er kurz darüber nachgedacht hatte, wandte er sich an meine Nichte. „Wovon lässt du dich denn inspirieren, Emily? Von diesem wunderschönen Rosengarten ringsherum?“

Sie lächelte, und ich sah ihr an, dass ihr Will gefiel. „Ich bin zwar noch nicht so lange hier, aber, ja, diese Atmosphäre gibt Kraft. Man hat den Eindruck. die Begeisterung der Künstler zu empfinden, die all das hier geschaffen haben.“

Er nickte. „Ja, nicht wahr? So empfinde ich das auch. Man spürt den Eifer derjenigen, die diesen Garten gebaut und diese Skulpturen erschaffen haben. So ein ähnliches Gefühl habe ich immer in einer Bücherei. Da glaubt man, die vielen Gedanken in der Luft lesen zu können.“

„So geht es mir auch bisschen“, stimmte sie ihm zu. „Im Raum knistert es geradezu von der geistigen Energie, die die Bücher ausstrahlen können. Hast du denn trotz der Arbeit noch Zeit für Büchereien?“

„Im Moment weniger. Aber ich habe mir vorgenommen, in der nächsten Zeit etwas mehr für mich zu tun. Das bedeutet, mehr Urlaub und mehr Zeit für Inspirationen. Gerade heute übe ich bereits“, meinte er lächelnd.

„Das hört sich gut an“, fand Emily. „Dafür wird auch das Fest morgen geeignet sein. Es sind eine Menge Ehrengäste da, zu denen du auch gehörst. Kennst du sie alle?“

„Außer dem Ehepaar Rossini und Carla und Bernhard kenne ich niemanden hier. Aber das wird sich ja ändern, und ich freue mich auf jeden Fall, dich und deine Tante gerade kennenzulernen.“

In diesem Moment trat der Kommissar hinter uns. „Entschuldigt mich bitte, ich habe ein paar Fragen an Mister Holly. Ich muss ihm berichten, dass es hier im Schlosspark ein schreckliches Ereignis gab. Euch sehe ich dann später“, fügte er hinzu.

Das war für uns das Zeichen, sich aus dem Staub zu machen. Eilig verabschiedeten wir uns von Will und entfernten uns stumm. Als wir am Pavillon angekommen waren, platzte Emily los: „Er hat nichts gewusst. Und er kommt mir völlig harmlos vor. Und außerdem ist er ein sehr netter und charmanter Mann, trotzdem ganz vornehm und zurückhaltend.“

Ich lächelte. „Und auf so etwas Langweiliges stehst du mit deinen 19 Jahren?! Du bist doch eine total temperamentvolle Frau. Warte es ab, du wirst hier bestimmt noch mehr nette Männer kennen lernen. Wir haben eine lange Liste. Ob er wirklich nichts davon gewusst hat, weiß ich nicht. Wenn ja, dann konnte er es gut verbergen. Aber in der Regel sehen die Täter völlig harmlos aus.“

„Und außerdem hat er überhaupt kein Motiv“, überlegte Emily. „Er will hier Leute kennenlernen. Und wenn er wirklich dieser Victoria gestern im Park begegnet ist, dann hätte er sie doch erst einmal kennen lernen müssen, um ein Motiv zu haben. Warum soll er dann hier gleich am ersten Abend eine Wildfremde umbringen? So etwas macht man doch dann höchstens am letzten Abend, bevor man verschwindet.“

Ihr unschuldiges Gesicht amüsierte mich. „Aber wir wissen nicht, ob er sie nicht doch kennt. Das würde er uns jetzt bestimmt nicht auf die Nase binden. Wir müssen sie jetzt alle erstmal für Verdächtige halten, alle, die um diese Zeit hier im Schloss und im Park waren.“

„Aber er leitet doch ein Auktionshaus. Damit ist er ein seriöser Mann. Da kann er sich so etwas auch nicht leisten“, argumentierte meine Nichte.

„Bei Taten im Affekt denkt der Täter nicht lange nach, ob er sich einen Mord leisten kann oder nicht. Die Emotionen sind spontan. Da überlegt ein Mensch nicht erst, ob er eine seriöse Existenz hat oder nicht.“

„Ein Mord mit Gift ist aber nicht im Affekt“, behauptete Emily. „Das muss man doch von langer Hand geplant haben.“

„Nicht unbedingt. Wir wissen noch nicht, an welchem Gift Victoria gestorben ist. Vielleicht war es ein Gift gegen Mäuse, das da irgendwo herumgestanden hat. Und den Rest hat der Täter dann vielleicht mitgenommen, weil da an der Verpackung vielleicht seine Fingerabdrücke waren.“

Sie lachte. „Ja, ich merke schon. Du hast schon einige Fälle hier in Sankt Augustine erlebt. Bei dir ist eben alles möglich. Vermutlich verdächtigst du auch die sympathischen Menschen.“

Ich nickte. „So ist es. Dabei habe ich mir nicht nur Freunde gemacht. Ich musste sehr oft Personen in den Kreis der Verdächtigen einbeziehen, die ich sehr sympathisch fand. Aber manchmal hatten sie eben ein Motiv und kein Alibi.“„Also wenn du mich fragst, dann ist er ein harmloser, netter Engländer“, entschied sie. „Und wen sehen wir uns jetzt an?“

„Ich denke, die meisten werden wohl inzwischen in der Halle sein, weil man sie befragen wird. Gehen wir doch einmal zum Schloss zurück und sehen, wer uns da als nächstes begegnet.“