...als ob sie Emma hießen - Emmy Werner - E-Book

...als ob sie Emma hießen E-Book

Emmy Werner

0,0

Beschreibung

Frau sein, Theater leiten, älter werden – die frühere Prinzipalin spürt all dem sehr persönlich nach. Liebt E. das Theater? Frägt man einen Fisch danach, ob er das Wasser liebt? Ihr erstes Theater schuf sie sich unter dem Esstisch der Eltern, ein Refugium des Kindes in den Kriegsjahren. Nach ersten Jahren als Schauspielerin zog es sie bald von der Bühne hinter die Kulissen. Erst hier konnte sie ihr gesamtes Potenzial entfalten – bis hin zur Rolle der Theaterleiterin. Doch wie gestaltet sich das Leben einer Frau, die nicht an der Seite eines Partners unsichtbar sein will? Mit welchen Vorurteilen ist sie konfrontiert? Emmy Werner hat ein Buch geschrieben, das Mut zeigt und Mut macht, zum Lachen anregt und dem Weg einer eigenwilligen Frau nachsinnt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 420

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Emmy Werner

… als ob sie Emma hießen

Eine Nachbetrachtung

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2018 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

ISBN ePub:

978 3 7017 4591 3

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3458 0

»Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben,sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern,um davon zu erzählen.«

GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ

Inhalt

ALTER UND ÄLTER

Eine Art Prolog

WURZELN UND FÄHRTEN

Geboren 1898–Emma Kunst–Geboren 1938–Das Tischtheater–Kuckuck, kuckuck, ruft’s aus dem Radio–Jubelmomente–Prinzessin auf der Erbsensuppe–»Pasch Handi z’samm, pasch Handi z’samm.«–»Aber ich steh’ doch schon!«–Wo schläft denn diese Griechin?–Oasen des Glücks–Die Desillusion–Auf in den Kampf in rosa Pumps–»Wenn ein junger Mann kommt, …«–Also Hochzeit, aber ein bisserl husch, husch!–Auf nach Kirgisistan–Den Zauber verloren …–Liz, Spinnenfrau und Veilchen–Lauter Gretchenfragen–Frauengeziefer–Vorbei ist vorbei …–Das Zauberwort: Allein!–Bei der Schneekönigin–Cyankali und Courage–Das dritte Zeichen

THEATERLEITEN – THEATERLEIDEN

Das »Theater Drachengasse zwei«–Eine singende Werkelfrau–Mutiges – Aufregendes – Freches–Wieso lauter Emmis?–Bühnenreif–Die junge Frau und das Mehr–Ein Vogeljunges–Platz, Platz! Bitte mehr Platz!–Rolle vorwärts–»Lebe wild und gefährlich!«–Die Frauen ins Spiel bringen–Der Traum, ein (Bühnen-)Leben.–Im »Leo«–Frauen und Macht. Macht?–Macht macht manchmal matt–Der Wolf ist die bessere Rolle!–Die Sternsekunden–Die Heldinnen – Die starken Frauen–Verabschiedungen, immer wieder Verabschiedungen …–Alle Frösche küssen?–FOXL 2–Glanzlichter–Der eigene Blick

SICHT- und andere WEISEN

Sehen-Sucht–Menschenfresser Theater–In Halb- oder Vollpension?–Tausend und eine Nachteule–Das eigene Leben aufräumen–Das Glück ist eine leichtfertige Person …–Eine Pandabärin?–Frau außer Betrieb?–Niemand da, der ein Süppchen kocht?!–Idole, Ikonen–Oskar Werner, der angebetete Schwarm–Das eigentliche Paradies–Ifabrumlyz-Zylmurbafi–Schwimmversuch im Gänsehäufel

ALTER UND ÄLTER

Eine Art Prolog

Dreizehn Paar Schuhe. Gezählte dreizehn High Heel-Paare standen jetzt wie Zinnsoldaten in E.s Vorzimmer. Bildschön, hochhackig, eng, klein, spitz. Viel zu hochhackig, viel zu eng, viel zu klein und spitz. Zeuginnen eines verlorenen Kampfes.

Es war ein Abschied, ein Abschied von – ja, wovon eigentlich? Von der Jugend, vom »Sexappeal«? Lange stand sie vor diesen stummen Mahnerinnen einer vergangenen Identität. Nein, Identität war falsch, sie war ja keine andere als damals, als sie diese Schuhe noch getragen hatte, darin herumgestöckelt war, das Zwicken in den Zehen eisern ignorierend, denn ein bisschen wehgetan hatten sie ihr ja immer, diese schönen, hochhackigen, engen, spitzen Schuhe. Feindinnen waren sie zeitlebens gewesen. Feindinnen, in denen sie sich jedoch immer so toll gefühlt hatte! Ihre Füße konnten diese schönen Schuhe nicht mehr tragen, nicht mehr er-tragen. Jetzt musste sie ihnen Ade sagen, dachte sie wehmütig und betrachtete ihren Hallux.

Insgesamt hatten ja einmal noch wesentlich mehr solcher Paare in ihrem Schuhkasten geglänzt. Wie die Trophäensammlung von einem Lustmörder, hatte sie ein Freund gerügt. Nach und nach nur hatte sie sie nicht ohne Trennungsschmerz – und ein wenig Zorn auf die Kolleginnen, die sie noch tragen konnten – verschenkt. Zuvor jedoch noch alle fotografiert. Wo zum Kuckuck waren diese Fotos jetzt? Die dreizehn Paare im Vorzimmer waren lange für die Enkeltochter aufbewahrt worden, die ja immer schon gern feine Dame in ihnen spielte. Das hatte sich dann erübrigt, denn als die Kleine alt genug war, um Stöckelschuhe tragen zu können, da hatte sie bereits Schuhnummer 39. Zwei Nummern größer! Verlorene Liebesmüh’. Also lieber selbst noch einmal reinschlupfen, noch einmal in ihnen durchs Vorzimmer staksen mit schmerzverzerrtem Gesicht – und tschüss!

Materialermüdung! Dieses reizende Wort hatte der fesche Zahnarzt gemurmelt, was bei ihr zunächst einmal einen so heftigen Lachreiz ausgelöst hatte, dass sie die zwei in ihren Mund gestopften Mulltupfer dem Herrn Doktor beinahe ins Gesicht gespuckt hätte. Der Zahn der Zeit hatte die Zeit des Zahnes also enden lassen. Materialermüdung eben. Welch ein Begriff! In ihm lag wirklich alles drin, wovor es sich zu fürchten und zu bekreuzigen galt – aus Glaubens- oder Aberglaubensgründen. Eines vor allem implizierte er: Alterung und Auflösung.

Wenn ein Mensch siebzig Jahre alt geworden ist, hat das hoffentlich noch nicht materialermüdete Herz bereits mehr als zwei Milliarden Mal geschlagen und circa hundertachtzig Millionen Liter Blut durch den Körper gepumpt. Mit achtzig Jahren hat man rund dreihunderttausendmal gegähnt und im Durchschnitt siebenundzwanzig Jahre des Lebens verschlafen. Und mit neunzig hatten Frauen auch noch circa zwölf Kilo Lippenstift runtergeschluckt.

War sie, die gute alte »E.« – das war ihr Kürzel in Schriften, Briefen und SMS –, nun alt? Ab wann genau war man und vor allem frau alt? Jeder und jede alterte doch andauernd. Wenn sie das schon las: »die alternde Schauspielerin«. Ab wann nennt man eine Frau so? Gibt es dafür einen Kodex? Einen Podex-Kodex als Altersindex? Solange der Podex noch knackig ist? Im Showbiz trifft die Verachtung der Medien meistens nur die Frauen, wenn es um das Altern geht.

Madonna, diese starke Frau, die immer wieder Risken einging und sich nicht darum scherte, was Missgünstige und Zwerge über sie dachten und redeten, wird – obwohl noch recht fesch – in einer Konzertkritik brutal als »Bitch mit dem Rollator« bezeichnet! Die Rolling Stones hingegen werden bewundert, gerade weil sie so alt und angeblich trotzdem noch so sexy seien. Künstler an und über die achtzig bezeichnet man als Altmeister, Altmeisterinnen kommen so gut wie nie vor. Ebenso müssen Politikerinnen seit jeher mit dem Vorwurf leben, sie seien schon zu alt, während unzählige männliche Aspiranten auf höchste Ämter oft schon weit über siebzig sind. Auch bei der Suche nach Führungskräften aller Arten gilt: Frauen sind alt, Männer sind reif. Die dürfen, bis sie umfallen.

Das Altern sei nur eine Sinnestäuschung, eine Illusion, hatte E. einmal gelesen. (Wo?) Nur das Dezimalsystem lasse die runden Geburtstage so schnell daherkommen. Und: Die Zeit würde uns laut Hermann Hesse nicht verwandeln, sondern nur entfalten. Ent-falten? Damit wären ja alle Antifaltencremes hinfällig. Nutzlos sind sie sowieso.

Eine Freundin hatte ihr einmal gestanden, zur Depressionsvermeidung kein Licht mehr im Badezimmer aufzudrehen, damit sie ihr Gesicht nicht mehr so genau sehen müsse. Der diffuse Schein des Smartphones genüge. Eigentlich, sagte sie, sollte man ab einem gewissen Alter alle Spiegel verhüllen, wie die Altäre zu Ostern!

Nein, das passte E. gar nicht. Frauen sollten sich ihr Spiegelbild sehr wohl zumuten, sollten sich in jedem Zustand gerne anschauen und es mit dem Ausspruch Federico Fellinis halten, Gesichter seien die Lesebücher des Lebens. Ja, das stimmte – in ihnen konnte man lesen, was erlebt worden war, und man konnte die Zeit über das Gesicht wandern sehen. Weshalb sollte denn das vertuscht werden?

Anti-Aging – welch ein dummer, sinnloser Begriff! Weg mit dem Jugendwahn endlich! Was fiel diesen armen, schlecht beratenen Frauen ein, sich ihr Gesicht operativ derart entstellen zu lassen, dass sie nach solchen Eingriffen kaum wiederzuerkennen waren? Für wen ließen sie sich ihre Lippen zu solch grässlichen Wülsten aufspritzen, dass sie Krötenfratzen ähnelten? Nicht nur Frauen sündigten in diesem Sinne, bei Männern war etwa Italiens Herr B. der Fahnenträger der Gruselmonster: Nach Dutzenden Eingriffen sah er nun aus wie ein auf westlich verunstalteter Chinese. Warum machten Menschen das mit sich? Und vor allem – für wen? Für wen trugen Frauen diese grässlichen ärmellosen Kleider – vornehmlich am Opernball, dieser Revue des meist Geschmacklosen –, die so gar nicht mehr zu ihren flatternden Oberarmen passten?

In Hermann Bahrs Komödie Das Konzert sagt Marie zu ihrem Mann: »Wenn man die Sommerkleider nicht ablegen will, damit der Winter nicht kommen soll, dann kommt der Winter aber am Ende doch, und man friert nur umso mehr!«

Also liebkoste E. ihre kleinen Fältchen, viele waren es ohnehin nicht. Keine Sonne, keine Hormone, keine Drogen, keine teuren Kosmetika – das hatte ihre Haut jung gehalten.

Allerdings wurden ihre Züge jenen ihrer Mutter immer ähnlicher, wenn etwa morgens das Haar noch wirr, die Augen noch hasenartig und die Haut noch blass waren. Guten Morgen Mama, sagte sie dann zärtlich. Eigentlich hatte sie ihr ja nie sehr ähnlich gesehen, eher dem Vater, aber jetzt begann sie auch in der Gestik, im Lachen, im Husten – ja dem Räuspern sogar – ihrer Mutter immer mehr zu gleichen. Manchmal erschrak E. geradezu, wenn ihr das auffiel. Eben hatte sie sich noch am Beginn des ersten Aktes befunden, und nun sollte sogar schon der dritte Aktschluss in Sicht sein?

Ein Liedtext ihres Vaters kam ihr in den Sinn: »Darum nütze die Zeit, denn heute ist heut’, vielleicht ist’s bei dir schon morgen so weit …« Morgen schon?

Ab wann hatte man sie eigentlich nicht mehr für wesentlich jünger gehalten? Wann war das zum ersten Mal gewesen? Das konnte doch nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen geschehen sein, dass man sich nicht mehr wunderte – so wie sie es gewohnt war –, wenn sie ihr Geburtsjahr nannte. Verschämt kokett hatte sie immer auf diesen verlässlich kommenden Jauchzer der Verblüffung gewartet: »Waaas? Nein, das kann ich nicht glauben, so jung wie Sie aussehen!« Und auf einmal also null Verblüffung, nur schnödes Zurkenntnisnehmen. Verdutzt hatte sie die Ziffer wiederholt, vielleicht hatte ihr Gegenüber schlecht verstanden, aber nein, stoisch nickte man auf einmal nur. Auch wenn sie ihre Kindheit im Krieg erwähnte, kam kein »Das gibt’s doch nicht, dass Sie damals schon auf der Welt waren!«, sondern ein bloßes Heben der Augenbrauen und ein »Tja, interessant, da sind Sie ja eine wichtige Zeitzeugin …«

Wann war es gewesen, dass an der Kassa im Museum auf ihr verschmitztes »Eine Seniorenkarte bitte« erstmals nicht mehr erstaunt »Ach so, wirklich?« gefragt, sondern diese ihr ohne Kommentar ausgedruckt wurde? War sie vielleicht an dem Tag nicht genug »hergerichtet« gewesen, wie das Sich-Hübschmachen in Wien so seltsam hieß? Die schöne, damals fünfzigjährige Grace Kelly fiel ihr jetzt ein und ihre bezaubernde Antwort auf ein Kompliment über ihr Aussehen: »Danke vielmals – aber leider dauert es bereits jeden Tag ein bisschen länger, bis ich so aussehe wie eben jetzt.«

Ganz ohne Vorwarnung war für E. der Drehmoment gekommen, an dem man sie für so alt ansah, wie sie tatsächlich war. Zu früh, dachte sie. Denn sie fühlte sich ja noch ziemlich jung, das war das Absurde daran.

»Fahr’n Sie denn no selber?« Diese unvermutete Frage eines Taxifahrers traf sie wie ein Faustschlag, verunsicherte sie. Denn nach und nach stellte sich bei ihr ohnehin eine völlig neue Wahrnehmung der Zeit ein, eine neue Zeitnehmung sozusagen. Wenn sie im Lift aufwärts fuhr, da spürte sie das Vergehen der Zeit fast körperlich – wenn ich oben bin, im obersten Stock, dann ist wieder ein Stückchen Zeit dahin. Beim Runterfahren stellte sich dieses Phänomen seltsamerweise nie ein.

Beim Ausmisten von Medikamenten zuckte sie jedes Mal zusammen: Waren die nicht eben erst gekauft worden? Und mit einem Mal sind sie schon seit drei Jahren abgelaufen? Verfallen? Die Samstagzeitung mit dem großen Rätsel: War tatsächlich seit der letzten Ausgabe schon wieder eine ganze Woche vergangen? Die fünf lebensgroßen entzückenden Pinguinfiguren, die in jeder Adventzeit auf einem Balkon am Wiener Heumarkt standen: Bis sie aufs Neue rauskamen, war man ein ganzes Jahr älter geworden. Und was war alles passiert in dem vorbeigeflutschten Jahr? So schnell alles wieder vergessen? Die kleine Biedermeieruhr im Wohnzimmer, deren Pendel die Zeit erbarmungslos in kleine Ticktackstückchen zerschnitt: Gerade erst hatte sie sie aufgezogen und schon war sie wieder stehengeblieben.

Vielleicht dauert eine Stunde umso kürzer, je älter man wird, dachte sie. Friederike Mayröcker, von der ein Freund meinte, wenn man ihr Arbeitszimmer nicht kannte, wusste man nichts über das Universum, diese große Poetin also hatte einmal vermutet, dass die Zeit sich wahrscheinlich verkürzt hätte, dass wir zwar dächten, etwas dauerte eine Stunde, aber es wäre eben keine ganze Stunde mehr, sie wäre kürzer als früher, schneller vorbei. Es wäre etwas »passiert« mit der Zeit.

Als Kind hatte E. sich immer gewünscht, die Zeit möge doch bitte, bitte viel schneller vergehen – jetzt wurde ihr dieser Wunsch, spät aber doch, erfüllt. Übererfüllt. Ab einem gewissen Zeitpunkt, so ab fünfundsiebzig, fühle sie sich wie in der Nachspielzeit eines Fußballmatches, meinte die Autorin Lida Winiewicz, eine langjährige Freundin. Oder gar wie in der Verlängerung, in der ja durchaus noch Tore fallen konnten. Ihre alte Tante hingegen hätte immer geklagt: »Da hat man eh nix g’habt vom Leben und jetzt wird man alt auch noch!«

Nein, das betraf E. absolut nicht. Sie hatte Vieles und Schönes »g’habt« vom Leben. Aber das Leben vergeht eben. Verflüchtigt sich. Schluss. Aus. Opernhaus. Aber davor sollte alles, was es so bot, noch genossen werden. Auch das Nicht-Erwartete.

Aus der Welt der darstellenden Kunst gab es dazu eine wunderbare Metapher: »Theater ist eine Kunst der Selbstverflüchtigung. Es hört immer auf, um wieder neu anzufangen.« Das war tröstlich. Außerdem: Immer jung bleibt nur ein Süßwasserpolyp namens Hydra, der altert nämlich überhaupt nicht und kann sich selbst regenerieren. Aber wer will schon eine Hydra sein? Oder ein Schwanzlurch wie dieser Axolotl, der kaputte Organe wieder nachwachsen lassen konnte? Nein, ein Axolotl wollte E. auch nicht sein. Also bloß nicht jammern, trotz des Gefühls, die einzelnen Körperorgane würden sich brav anstellen, bis sie an der Reihe wären mit dem Marodieren – wie bei der berühmten Ankeruhr in Wien: Die eine Figur verschwindet rechts, schon taucht links die nächste auf. Kaum gibt der Magen Ruhe, entzündet sich flugs die Stirnhöhle usw. … Auch kleine Selbstverletzungen standen nun auf der Tagesordnung: Fußknöchel anschlagen, Haut aufschürfen, sich in den Finger schneiden. »… fünf, sechs, sieben, eine alte Frau kocht Rüben, eine alte Frau kocht Speck und schneidet sich den Finger weg!« Der Kinderabzählreim verwies bereits auf Zukünftiges. E. trug es mit zornigem Humor.

Wirklich ärgern konnte sie sich nur über diese Gazetten, gegen die keine Proteste etwas nützten, sie wurden ihr unermüdlich zugesandt, da gab es kein Abbestellen, denn sie »war im Computer drinnen«. Schon mit fünfundfünfzig plus hatte es begonnen: »Seniorenpost« mit Werbung für Pensionistenresidenzen, Anleitungen für das Aufsetzen von Testamenten – meist zugunsten des Tierschutzes – und Ratschlägen zur Behandlung angeblich typischer Altersbeschwerden. Inkontinenz vor allem. Und mit speziellen Angeboten wie »Zu Gast bei Sisi: Besuch der Kaiserappartements, Sisi Museum, Silberkammer, samt einem Heißgetränk und einem Stück Apfelstrudel bzw. einem Paar Würstel 13,50 Euro statt 20,70 Euro!«

Beim Entsorgen solcher Altpapiere sprang ihr einmal eine Annonce besonders ins Auge: »Gelenkig bis ins hohe Alter!« So ein Unsinn! Sie war schon mit zwölf Jahren absolut ungelenkig gewesen, das angepriesene Mittel hätte man ihr also damals geben sollen. Im Turnen immer ein Fünfer. Gnadenweise dann ein Vierer im Jahreszeugnis. Nur Fechten hatte ihr Spaß gemacht, darin hätte sie es vielleicht zu etwas bringen können, hatte ihre damalige preisgekrönte Fechtlehrerin Ellen Müller-Preis gemeint. Die Trägheit hatte jedoch gesiegt. Im Übrigen waren gerade jene ihrer Altersgenossinnen, die so besonders sportlich und auch fleißige Morgenturnerinnen gewesen waren, jetzt weder gelenkiger als sie, noch litten sie weniger an Rückenschmerzen. Alles, was diese bedauerten, jetzt nicht mehr zu können, hatte sie noch nie gekonnt. Sie schwamm heute ebenso miserabel wie als Vierzehnjährige, sie fuhr nicht Ski, spielte nicht Tennis und wanderte heute noch genauso ungern wie eh und je. Als extrem unsportliche Person verweigerte sie alles, was nicht zweckorientierte Bewegung war, empfand es als enorme Zeitverschwendung, irgendwohin zu laufen, wenn man dort gar nicht hinwollte. Sport ist etwas für faule Menschen, sagte sie, und Tiere machen auch keine Gymnastik, so provozierte sie gerne die Jogger und Turner und Hantelbenutzer. »No sports«, das gefiel ihr – und Elfriede Jelineks Sportstück. In dieser Beziehung hatte sie also keinerlei Abbauprobleme. Dennoch war sie stets sehr beweglich gewesen, Pfitschipfeil war ja einer ihrer Spitznamen.

Allerdings lernte sie seit Kurzem pro Tag ein Gedicht auswendig, um – wenn schon nicht ihren Körper – zumindest ihr Gedächtnis zu trainieren. Anfangs war es schwierig gewesen, dann ging es jedoch immer flotter, und die Verse glitten nur so rein in ihren Kopf. Der Effekt war allerdings, dass sie sich, je mehr Gedichte sie sich gemerkt hatte, die alltäglichen Dinge um so schlechter merken konnte. Und die Gedichte wollte eigentlich kaum jemand von ihr aufgesagt hören, sondern eher, wen sie gestern getroffen hätte oder wie dieser neue Film denn nun hieß. Das fiel ihr dann absolut nicht ein. Dafür aber der Osterspaziergang. Fehlerlos.

Liebend gerne besuchte sie sehr alte Damen, die immer noch gut drauf waren, hellwach und voller Lust aufs Leben. Das stimmte optimistisch. Nur her mit den wilden Neunzigerinnen! Als ihre Mutter, gerade fünfundneunzig, einmal vom Geburtstagsfest einer Neunzigjährigen gehört hatte, hatte sie träumerisch gesagt: »Mein Gott, neunzig wär’ ich gern noch einmal!«

Und so wagte E. einmal auch einen Besuch in eine komfortable sogenannte Seniorenresidenz. Schon beim Betreten kamen ihr die ach so reizenden Darstellungen der lustigen, geilen, lausbübischen alten Leute in Film und TV in den Sinn. Entwürdigend waren diese, fand sie. Ja, sie waren sehr oft noch lustig, geil und spitzbübisch, aber das war ihre Privatsache. Trug es zum Verständnis für alte Menschen bei, wenn man sie tanzbeinschwingend zur Belustigung des Publikums in Alterchenfilmen vorführte – Revolte im Altersheim, Erotik im Krankenhaus, Banküberfall kurz vor dem Siechtum?

Menschenverachtend waren auch so manche Termini: »Liebestoll« war dann ein regsamer alter Herr im Heim, ein »Pärchen« waren eine alte Frau und ein alter Mann, als wären sie Teenies, und waren sie einmal nicht faserschmeichelweich, wurden ihre Nöte eben unter »Altersdepression« abgelegt. »Der Wert einer Gesellschaft wird einmal daran gemessen werden, wie sie ihre Alten behandelt.« Irgendwo hatte sie das aufgeschnappt. Und die Frauen, hatte sie damals spontan hinzugefügt, auch die Frauen.

Da waren ihr nämlich die verschleierten Frauen eingefallen, die Krähenfrauen. Gab es etwas Demütigenderes, als Menschen ihr Gesicht wegzunehmen? Als wäre es gar nicht vorhanden? Diese Macht und Kontrollsucht gegenüber Frauen, die sich nur deshalb verbergen sollten, weil sie eben Frauen waren, machte wütend und zornig. Waren jene armseligen Männer, die diese Unsichtbarkeit verlangten, derart triebgesteuert, dass sie den Anblick auch nur eines kleinen Stückchens Haut oder von ein paar Haaren nicht ertragen konnten, ohne zum Vergewaltiger zu werden?

Der Besuch in der Seniorenresidenz war dann allerdings erfreulich verlaufen. Ihre Befürchtung, man würde vielleicht nicht erkennen, dass sie eine Besucherin und keine Bewohnerin sei, war grundlos gewesen. Alte Herren hatten ihr sehnsüchtig lächelnd nachgeschaut, als wäre sie eine Verkörperung der Jugend. Das war herzerwärmend gewesen für sie als Frau »entre deux«, nein »trois âges«. Für »entre quatre âges« war eindeutig noch Zeit. Zeit?

»Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding«, singt die Marschallin im Rosenkavalier. »In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie … lautlos wie eine Sanduhr.«

Was hatte der Zahnarzt gesagt? Materialermüdung! Ach ja … Nach der Reichsbrücke, dem Autogetriebe und der Perlenkettenschnur war nunmehr also auch ihr Eckzahn materialermüdet. Hat ohnehin lang gehalten alles – und ist doch so schnell vorbeigegangen, vorübergeflutscht wie ein Urlaub – kurz, schön, mit der einen oder anderen Panne.

War es wirklich schon an der Zeit, durch Stöbern in diesem vergangenen Urlaub gleichsam die Uhr anzuhalten, »die Rosen der Erinnerung, die goldenen Tage der Jugend zurückzurufen«, wie ihr Vater einst gedichtet hatte? Und auch die gar nicht goldenen Tage? Für wen sollte sie denn den aufwendigen Versuch auf sich nehmen, diese zu beschreiben? Als einen »Versuch der alten Dame« vielleicht?

Schreiben, aufschreiben – das hieße ja auch, von sich selbst etwas preiszugeben. Das wollte sie jedoch absolut nicht, sie war ja eine eher introvertierte Person. Nein, dieser Terminus passte nicht. Präzise gesagt, war sie nicht extrovertiert, was eher eine Ausnahmeerscheinung war in ihrer Berufswelt. Mitteilungsbedürfnis darüber, wie, wann, was sie lebte und liebte, hatte sie niemals gehabt. Das gehörte ihr und sonst niemandem, die engsten Freunde und Freundinnen ausgenommen. Diese kannten sie, kannten sie gut, wussten, wer oder wie sie tatsächlich war. Das genügte.

Ein belesener Freund versuchte, mit einem Zitat zu helfen, mit Virgina Woolf zu Orlando: »Wer legt eigentlich fest, dass Dichtung und Phantasie in einer Biografie nichts zu suchen haben?« Das wäre doch ein Schlupfweg für sie, meinte er. Nein, rief sie, nein, nein, nein, sie möchte nicht phantasieren müssen, nein, und dichten auch nicht, nein, denn das könnte sie auch gar nicht mehr auf ihre alten Tag’.

»Alte Schachtel!« So hatte sie einmal ein auch nimmer taufrischer Radfahrer beschimpft, den sie vom Gehsteig runtergejagt hatte. Alte Schachtel. Der hatte ja nicht ahnen können, wie sehr sie alte Schachteln liebte. Kleine Schächtelchen kamen sogar in eine eigene große Schachtel, darauf stand in Blockschrift »Schachterln«. Seit ihrer Kindheit hortete sie diese, ihren Schätzen waren sie geduldige und langlebige Behausungen geworden, bargen geheimnisvolle Kostbarkeiten, »Glump-Art«, wie ein Freund es despektierlich genannt hatte. All die Knöpfe, die getrockneten Blumen, die Kunstkarten, die kleinen Tierfiguren, Bänder, Briefmarken, Anstecknadeln, Briefe und Fotos, vor allem die Fotos. Wo sonst sollten die denn sein, wenn nicht in alten Schachteln?

Und plötzlich, weil sie an die Schachteln mit den Fotos dachte, spürte sie eine heiße Lust in sich aufsteigen, die auf den Fotos Abgebildeten aus der Dunkelheit wieder ans Licht zu holen, sie gleichsam aufzuwecken und wieder ins Leben zurückzuholen, um vielleicht auch etwas über sie zu erzählen, denn sie sollten ja nicht in völlige Vergessenheit geraten! Wenn sie allerdings deren Geschichten erzählte, um die Erinnerung an sie nicht verwehen zu lassen, musste sie unwillkürlich auch etwas über sich selbst erzählen. Das wäre ein Beweggrund, es zumindest zu versuchen.

Sofort also die Fotoschachteln hervorgewuchtet, bevor die aufkeimende Erzähllust sich wieder davonstehlen konnte. So viele Schachteln … Kühn den allerersten Schachteljahrgang auf die Knie balancieren, vorsichtig öffnen – und da! Gleich das erste Bild betraf ihre Familienwurzeln. Der Herr auf dem dicken Fotokarton – ist das der Papa? Ihr Vater? Ja, er ist es, dieser fein herausgeputzte junge Mann mit Hut, Stock und Gamaschen! Der Hans.

WURZELN UND FÄHRTEN

Geboren 1898

Der Vater. Hineingeboren in eine recht seltsame Familiensituation. Die Vorfahren seit vielen Generationen in Wien ansässig, seine Großeltern väterlicherseits angesehene Buchbinder, der Großvater Armenrat und »Bürger von Wien«, ein hoher Ehrentitel damals. Die Liebe seines Sohnes Karl zu einer gewissen Berta Hölzensauer aus ärmlichem Haus lehnte er jedoch strikt ab und entzog dem Paar jedwede Unterstützung. Hätten die beiden nach den ersten drei unehelich geborenen Kindern nicht doch noch geheiratet, hieße E. jetzt wohl Hölzensauer. Namen waren niemals Schall und Rauch, davon war sie überzeugt, sie konnten sogar Karrieren beeinflussen – siehe die Namensänderungen von Künstlern und Politikern …

Fünf Kinder gingen aus dieser geächteten Ehe hervor, die die jungen Eheleute mangels Hilfe der hartherzigen Eltern nur mit Ach und Krach ernähren konnten. Als der Ehemann jung an Lungenentzündung starb, musste seine Witwe alleine für die Familie sorgen und arbeiten gehen – damals noch etwas Diskriminierendes für eine Frau. Drei Kinder musste die Witwe nun in eine Lehre weit weg von daheim schicken, eine Tochter zu Pflegeeltern in Böhmen geben, und das jüngste Kind, der Hans, kam im Alter von nur drei Jahren in eine Art Waiseninstitut.

Ein Leben lang hatte ihn die Erinnerung an diese Zeit bedrückt, obwohl es ihm dort nicht schlecht gegangen war: keinerlei Misshandlungen und jeden Tag ein großes Stück Rindfleisch mit Gemüse. Aber fort sein von zu Hause, von der Mutter, das war so traurig gewesen. Nächtelang hätte er in den Kopfpolster geweint, erzählte er später seiner Tochter E. Daher wäre er auch nie auf den Gedanken gekommen, seine Kinder in einem Internat, welcher Art auch immer, fremden Erziehern gänzlich auszuliefern. Seiner Mutter sollte er das allerdings als erwachsener Mann niemals vorwerfen, sondern Verständnis für ihre Notsituation haben, denn es hatte damals ja keine Sozialhilfen, keine Kindergärten, keine Beratung gegeben, rein gar nichts. Sie hatte für ihn eben nur das Beste gewollt, indem sie ihn dorthin gab, wo er gut zu essen, ein warmes Zimmer und eine solide Ausbildung bekam, denn von den wohlhabenden Schwiegereltern erhielt sie nach wie vor keinerlei Unterstützung.

Allerdings kam Hansens Großmutter, in Pelze gehüllt, alljährlich zu Weihnachten in einer Kutsche zu dem Waisenhort und verteilte Gaben an die armen Kinder, darunter auch an den kleinen Enkelsohn Hans. Warum hatte sie ihn denn nicht zu sich genommen, ihr eigenes Enkelkind, sollte E. später immer wieder betroffen fragen?

Hans maturierte später an der Handelsakademie und musste sofort danach mit erst achtzehn Jahren als Soldat einrücken. 1898 Geborene waren besondere Opfer der Kriegswut der Machthaber gewesen – sie mussten als Soldaten in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg. Es stieß ihm außer einer kleinen Verletzung glücklicherweise nichts zu in diesem Kriegsirrsinn. Nach dem Krieg wurde er Bankbeamter, schrieb alles noch händisch, jede Kontoführung, jede Überweisung, jede Zahlenkolonne fein säuberlich mit Feder und Tinte.

Seine große Liebe galt jedoch der Kunst, vor allem der Oper. Da seine Mutter inzwischen als Garderobiere am Kaiser-Jubiläums-Stadttheater, der späteren Volksoper, arbeitete, das 1898, im Geburtsjahr von Hans, eröffnet worden war, konnte er jetzt am Stehplatz beinahe täglich seine geliebten Opern hören, die er auch fast alle auswendig lernte. Dieses Theaterhaus war ihm zu seiner zweiten Heimat geworden und das sollte seinen weiteren Lebenslauf mitbestimmen, denn oben von der Galerie aus verfolgte er mittels Operngucker besonders aufmerksam auch die Ballettvorführungen.

Eine blutjunge schwarzhaarige Balletteuse, ein wunderschönes Mädchen, war ihm bald schon aufgefallen. Atemberaubende Beine hatte die Maid – die ihr auch bis ins hohe Alter erhalten bleiben sollten – und eine grazile Figur. Dieses Zaubergeschöpf würde einmal E.s Mutter werden, die Volksoper gleichsam zu ihrem eigenen Ursprung. Sechzehn Jahre alt war das Ballettmädchen damals, als Hans es zum ersten Mal sah. »Dies Bildnis, so bezaubernd schön« wollte jedoch, als er es eines Tages beim Bühnentürl abpasste, zuerst gar nichts von ihm wissen, es war nämlich sehr keusch erzogen worden. Irgendwann musste es aber dann doch gefunkt haben, sonst könnte die Familiengeschichte gar nicht weitererzählt werden.

Die junge Tänzerin war das uneheliche Kind des damals sehr bekannten Architekten Eduard Prandl und der damals siebzehnjährigen Rosa, die er 1904 geliebt, verführt und geschwängert hatte. Er war damals in den Dreißigern, Sohn eines Golddrahtziehermeisters und kinderlos verheiratet gewesen. Rosa war aufgezogen worden von einer Pflegemutter, ihres Zeichens Futtermittelgroßhändlerin und Gasthausbesitzerin auf der Simmeringer Heide, nahe der Teerfabrik, denn Rosas leibliche Mutter hatte ihr ebenfalls uneheliches Töchterchen sofort nach der Geburt in Pflege gegeben, wie es damals oft bittere Notwendigkeit war, zu der wohlhabenden Futtermittelhändlerin eben, die Kinder über alles liebte, aber keine eigenen bekommen konnte. Sie war eine wunderbare gütige Frau, eine in der Familie später dann legendäre Ahnin, ein Ahndl. Ihre Nachfahrin sollte einen Stempel, geprägt mit »Emma Kunst«, noch lange hüten wie einen Schatz.

Emma Kunst

Emma Kunst war demnach Pflegemutter sowohl für Rosa als auch für deren kleine Tochter, Spross des Architekten, die Frau Kunst nun ebenfalls liebevoll großzog. Dass dieses Mädchen – quasi ihr Adoptivenkelkind – dann ihren Vornamen Emma bekam, war nur selbstverständlich gewesen. Sie muss den ihr anvertrauten Kindern unendlich viel Liebe gegeben haben, denn sowohl Rosa als auch ihre Tochter hatten zeitlebens nur zu ihr eine tiefe Mutterbeziehung gehabt. Nichts da mit der oft überschätzten Stimme des Blutes. Der Herr Architekt stand zwar zu dem Kind, hatte aber, obwohl er gut verdiente mit seinen Bauten – einige in den Kurstädten der Monarchie, in Wien mehrere Wohnhäuser und das wunderschöne Apollotheater, auch das Johann Straußtheater (später Scala genannt) –, so ziemlich alles verjankert, wie man in Wien sagt. Großmutter Kunst hätte zwar sein Geld, das er ihr heimlich zusteckte, damals gar nicht gebraucht, aber es ging ihr ums Prinzip: »Hat er’s Vergnügen g’habt, soll er jetzt auch was zahl’n dafür!«

Das kleine Mädchen mit den ungarisch / böhmisch / wienerischen Wurzeln wurde wie ein Komtesschen in weißen spitzenbesetzten Kleidchen aufgezogen. So schwach und klein war es bei der Geburt gewesen, dass es in ein mit Watte ausgekleidetes Körbchen gelegt und in das sanft vorgeheizte Backrohr geschoben werden musste. Nach ein paar Monaten wurde es eines Nachts plötzlich sterbenskrank. Schnell war es noch fotografiert worden, um wenigstens ein Bild des Babys mit den riesengroßen schwarzen Augen zu haben, falls es nicht überleben würde. Wie durch ein Wunder hatte es die Darmentzündung mittels deftiger Hausmittel dann doch unbeschadet überstanden. Dieses angeblich so zerbrechliche Wesen, zu früh geboren und so schwach auf der Brust, ist dann übrigens siebenundneunzig Jahre alt geworden. Die Belastbarkeit von kleinen, angeblich allzu zarten Menschenskindern ist oft erstaunlich.

Sie hat lebenslang viele Geschichten erzählt aus ihrer Kindheit. Simmering war damals noch ein Land-Bezirk gewesen mit Wiesen, Gärten und Gehöften. Und Pferden, Pferden, Pferden. Für Futtermittelhändler waren sie die Grundlage ihres Wohlstandes, denn Futtermittel für Pferde wurden gebraucht wie später Benzin für Autos.

Rosa, die nur sporadisch in Simmering auftauchte, war eine sehr schöne junge Frau geworden und schleppte daher auch stets eine Armada von Verehrern hinter sich her. Einer ihrer glühendsten war der Schriftsteller Peter Altenberg, der sie auch heiraten wollte, was wiederum sie nicht wollte, weil er so viele andere Frauen gleichzeitig beglückte, vor allem die sehr jungen. Leider hatte sie später auch alle seine wunderbaren Briefe an sie verbrannt.

Rosa hätte die eine oder andere tolle Partie machen können, hat sich aber dann ausgerechnet einen Ehemann ausgesucht, der aus einer arrivierten Artistenfamilie stammte und selbst Jongleur war. Einer seiner Brüder war Impresario und sogar Direktor (!) des Apollotheaters, ein anderer Bruder der Star einer Rollschuhfahrertruppe. Rollschuh fahren war sehr beliebt in den Programmen der Varietés, von denen es damals zahlreiche gab in Wien, die Femina in der Johannesgasse etwa, das Ronacher auf der Seilerstätte, das Colosseum in der Nußdorfer Straße. Das prächtigste Varietétheater aber war jenes Apollotheater in Wien Gumpendorf.

Akkurat in diesem Etablissement, das der Vater ihres unehelichen Kindes erbaut hatte, ist die schöne Rosa dann als Partnerin ihres Artistengatten Viktor aufgetreten, hatte ihm bei seinen Jongliernummern assistiert, mit kurzem Röckchen, Schürzchen, Spitzenhäubchen. Von ihren Tourneen – die Honorare reichten damals gerade fürs tägliche Leben – schickte sie hin und wieder Postkarten und kleine Andenken. Ihr Kind wusste sie ja in guten Händen.

Mit und nach dem Ersten Weltkrieg kam jedoch auch für die Ziehgroßmutter Emma Kunst die finanzielle Katastrophe. Der erste Mann war gestorben, der zweite Mann war gestorben, Haus und Hof, Pferde und Gesinde waren dahin, das Geld wertlos geworden. So stand sie mit dem Mädchen, das die Hauptschule gerade hinter sich gebracht hatte, bitterarm und mutterseelenallein da. Sie mussten in eine winzige Bassenawohnung beim Simmeringer Friedhof ziehen und hatten kaum das Nötigste zum Überleben. Die Situation schien trostlos und ohne irgendeine Perspektive für das junge Mädchen. Als Emma Kunst jedoch eines Tages entdeckte, dass dieses Mädchen tänzerisches Talent hatte, gelang es ihr durch viele Bittgänge, es als Elevin beim Volksopernballett unterzubringen. Und die Fünfzehnjährige war dann tatsächlich mit großer Begeisterung Tänzerin geworden. Sie sollte später auch gerne allerlei erzählen aus dieser Zeit: von ihrem großen Schwarm, dem berühmten Tenor Richard Tauber, dem sie allzu gut gefallen hätte, vor dem sie jedoch auch auf der Hut gewesen wäre – oder von Leo Slezak, jenem wunderbaren Sänger, der nicht nur eine großartige Stimme, sondern auch einen großartigen Bauch hatte, mit dem er immer jene Leute wegschubste, die ihm gar zu nahe kamen.

Die Ballettmädchen mussten trotz kärglicher Gage alles selbst beisteuern: Kleider, Wäsche, Schminke, Bühnenschmuck. Das Theater hatte ja keine Subventionen oder Sponsoren, der Theaterdirektor musste alles aus seiner eigenen Tasche bezahlen! Als die Tänzerinnen einmal für eine Aida-Aufführung Ohrgehänge tragen sollten, schnitt sich das arme Simmeringer Mädchen zu Hause Klunker vom Glasluster ab und legte sie sich mit Zwirn um die Ohren. Prompt fiel das viel zu schwere Gehänge mitten im ägyptischen Tanz runter, eine Kollegin trat barfuß drauf, schnitt sich in die Zehe, schrie laut in die Musik hinein »auweh« und die Urheberin der Malaise bekam eine Rüge samt Geldstrafe.

Wenn nach einer langen Abendvorstellung die letzte Straßenbahn schon weg war, musste die blutjunge Tänzerin zu Fuß nach Hause gehen. Vom Währinger Gürtel bis nach Simmering! Emma Kunst holte sie dann immer ab und begleitete sie die eineinhalb Stunden, damit ihr nur ja nichts passierte. Wenn sie erschöpft und mit schmerzenden Füßen zu Hause ankamen, wartete oft nur ein Teller mit kargem Essen, das eine nächstenliebende Nachbarin spendiert hatte. Erst mit ihrem Verehrer Hans kam die junge Tänzerin aus dieser Not heraus – ins Schlaraffenland!

Als Noch-Bankbeamter verdiente Hans gut, verwöhnte sie und päppelte sie auf. Ausgehungert, wie sie war, konnte dieses zarte Geschöpf sogar zwei gebratene Enten hintereinander verschlingen. Sie hat gegessen und gegessen, meistens im Theatercafé Bradl vis-à-vis der Volksoper. Dort musste sie allerdings immer mit dem Gesicht zur Wand sitzen, damit sie nur ja kein anderer Mann ansehen konnte, während ihr eifersüchtiger Verehrer Schach spielte. Seltsamerweise hatte sie das damals als Liebesbeweis angesehen. »So tramhapert wie ich junges schafsgeduldiges Ding war, das gibt’s ja gar net!«, sollte sie Jahrzehnte später verärgert sagen. (»Tramhapert« bedeutet in Träumen gefangen.)

Nachdem sie gestorben war, fand die Tochter Briefe des Vaters an ihre Mutter, als sie beide jung verliebt waren. Diese Briefe verblüfften sie. Dass der eher spröde Vater solche Liebesbriefe hatte schreiben können, ließ sie zwischen Rührung und Pikiertheit schwanken. Sie erklärten aber nachträglich das bis ins hohe Alter durchaus erotische Klima zwischen den beiden.

Vier Jahre lang hatten die Eltern einander schon »erkannt« gehabt, wie die Bibel ein Gspusi nennt, als 1925 ganz schnell geheiratet werden musste. Die junge Frau war nun keine Tanzfee mehr, sondern im sechsten Monat mit einem Bübchen schwanger, der werdende Vater auf Jobsuche, weil er des Schreibens von Zahlenreihen in der Bank endgültig überdrüssig geworden war. Gerade jetzt waren sie also arm wie Kirchenmäuse. Die Kirche in Maria Enzersdorf war Ort der Trauung und zugleich das Hochzeitsreiseziel. Mit Großmutter Emma Kunst teilten sich die Jungvermählten ein einziges Schnitzel als Hochzeitsschmaus. Zu mehr hatte es nicht gereicht.

In eben dieser kleinen Kirche sollten die beiden fünfundzwanzig Jahre später ihre Silberhochzeit feiern. Mit allem Drum und Dran, mit Musik, Wein und Gesang. Die Mutter trug ein elegantes Kleid und einen schicken Filzhut samt Filzfeder. Im Fiaker kam sie vorgefahren – und verlor vor der wartenden Gästeschar beim Aussteigen das durch einen gerissenen Hosenbund ins Rutschen geratene Unterhöschen! »No, no«, sagte der Vater, »nicht gar so hitzig, junge Frau!« Die Mutter hob es gelassen auf, stopfte es in ihre Handtasche und stand dann hoserllos vor dem Altar. Der Pfarrer wusste nichts davon …

Nach der Hochzeit und der Geburt des Sohnes Robert gab es damals zwei große Ziele für die kleine Familie: Der Vater sollte sich beruflich verändern, und die Familie in eine besser gelegene Wohnung ziehen können. Simmering hatte auch nach und nach seinen ländlichen Zauber verloren, die alte Vorstadt hatte sich in die industrielle Zeit hinein gewandelt. Anstelle der großen Wiese vor dem Haus war nunmehr ein riesiges Umspannwerk.

1935 – Großmutter Emma Kunst war nach liebevoller Hauspflege inzwischen verstorben – waren beide Ziele erreicht: Der Vater arbeitete nun besser bezahlt im Wiener Musikverlag Figaro, und es gab endlich auch eine neue, größere Wohnung unmittelbar neben der Volksoper! Zwei Zimmer, Küche mit Fließwasser, ein winziges Kabinettchen und das WC nicht mehr am Gang, sondern innen – der reinste Luxus damals. Die Bassena hatten sie endlich hinter sich gelassen. Architekten des Eckhauses in der Währinger Straße, erbaut 1880, waren Hermann Helmer und Ferdinand Fellner, dieselben, die auch das Deutsche Volkstheater in Wien 1889 gebaut hatten. Aus dem Tapezier- und Möbelsalon des Hausherrn, des Wiener Stadtrates Carl Schuh, entstand an der Ecke das Kaffeehaus Orleans, das nach dem Ersten Weltkrieg in Café Weimar unbenannt wurde.

Die Dreißigerjahre wurden zu sehr guten Jahren für die junge Familie. Die Mutter ging oft mit Freundinnen ins Dampfbad oder ins Kaffeehaus, der Vater noch öfter in seine geliebte Volksoper. Sorgen oder Entbehrungen hatten sie damals keine mehr. Was fehlte, war lediglich das sehnlichst erwartete zweite Kind. Obwohl die Mutter mit dem ersten eine schwere Hausentbindung gehabt hatte, und zwar mithilfe des verstörten, aber tapferen Kindesvaters – »Haben Sie gute Nerven?«, hatte ihn der eilends herbeigeholte Arzt gefragt –, wünschte sie sich längst schon ein zweites, das aber nicht und nicht kommen wollte. »Nur net brummen, wird scho kummen«, hatte eine Tante gesagt, es kam jedoch trotz Nichtbrummens weiterhin nichts.

Dem Vater Hans öffneten sich zusätzlich neue Türen. Im Verlag hatte man ihm probeweise eine Melodie zum Textieren gegeben, und das war zum Startschuss für seinen eigentlichen Beruf geworden, dem eines Schriftstellers. Allmählich konnte er mit Liedern etwas dazuverdienen, etwa mit Es steht ein alter Nussbaum draußt in Heiligenstadt, ein Hit damals. Es ging der Familie gut, das sieht man auch auf den Fotos, alle waren ziemlich gut genährt. Alles wäre vollkommen gewesen, hätte der Vater nicht durch seine warnenden Kassandra-Rufe die gute Stimmung verdorben: »Da kommt was auf uns zu! Seht ihr das denn nicht? Seid ihr denn alle blind?«

Er war entsetzt gewesen über die Bücherverbrennungen der Nazis und die Entwicklungen in Deutschland, eines Tages brachte er das frühe Buch des »Führers«, Mein Kampf, nach Hause. »Das müssten alle lesen, erbärmlich schlecht geschrieben, aber brandgefährlich!«, rief er. Der Freundeskreis hielt das Elaborat für Blödsinn, der sei ja narrisch, dieser Adolf, so ein lächerliches Mandl! Der Vater jedoch war in Sorge, er spürte die aufgeheizte Stimmung. Würde es zu einem Umsturz, am Ende gar zu einem Anschluss Österreichs an Deutschland kommen?

Die Mutter hatte bald danach dann ein anderes, ein gesundheitliches Problem: Sie sollte sich einer Operation wegen eines Uterusmyoms unterziehen, der OP-Termin war sogleich festgelegt worden. Der vorsichtige Vater riet zu einer zweiten Konsultation, diese bestätigte zwar die erste Diagnose, ja, sie hätte ein kleines Myom, aber schwanger sei sie auch. Wahltante Grete, die einstige Ballettkollegin und nunmehr Ballettschulleiterin, hatte der Mutter wundersame Gymnastikübungen beigebracht, angeblich hätten diese den Knick in ihren Eileitern gelöst! Jeder Beginn ist zufällig?

Die Freude war groß, aber kurz. Ausgerechnet mitten im von politischem Grauen und offen ausgebrochenem Hass belasteten März 1938 erfuhren die Eltern, dass es wieder Nachwuchs geben würde, dreizehn Jahre nach dem Sohn, Jahre, in denen sie die Hoffnung auf ein zweites Kind längst aufgegeben hatten. Einen ungünstigeren Zeitpunkt, um ein Kind in die Welt zu setzen, gäbe es gar nicht, fand der Vater. Ein Krieg würde kommen, er selbst würde einrücken müssen und der Sohn Robert wahrscheinlich auch. Beide würden sie dann fort sein und die Mutter allein mit einem kleinen Kind zurückbleiben. Sei’s drum. Sie wollten dieses Kind unbedingt haben. Das Mädchen – zum Dank erhielt es ebenfalls Frau Kunsts Vornamen – kam im September in der sogenannten deutschen Ostmark auf die Welt, gezeugt und empfangen jedoch noch in Österreich. Immerhin.

Geboren 1938

So viele Gedenkjahre sind mit der Zahl Acht verbunden: 1918, 1938, 1968, 1988, 2018 … Der im Jahr 1938 geschändete Heldenplatz etwa würde sehr, sehr lange brauchen, um sich von der moralischen Last der Nazi-Jubelmassen zu befreien. »Aber«, sagte der Vater oft, »wer redet über all jene, die am Heldenplatz damals nicht dabei waren? Die zu Hause geblieben sind, so wie wir? In stiller Verzweiflung oder Resignation? Das waren auch viele damals. Mehr als die anderen …« Mitgefangen, mitgehangen. Aus Österreich zu stammen, sollte lange noch bedeuten, in einen Topf mit den Verbrechern der Nazizeit geworfen zu werden. Jahrzehnte später, als islamistische Terroristen weltweit zuschlugen, sollte genau dasselbe auch völlig unschuldigen Muslimen passieren.

Der Vater hatte zwei jüdischen Freunden dringend geraten, Österreich rechtzeitig zu verlassen. Der eine hatte seinen Rat befolgt, der andere nicht. Er hatte nicht glauben können, dass ihm irgendwer etwas zuleide tun wollte, denn »er hätte ja auch niemandem etwas zuleide getan …« Man hatte nie erfahren, was mit ihm geschehen war.

Eine absurde Episode ereignete sich damals auch in E.s Familie: Der Vater wurde vor die Reichsschrifttumskammer – was für ein Wort! – zitiert, und zwar wegen eines seiner Liedtexte:

»Das ist die Wiener Spezialität, dass man als Wiener net untergeht.

Unser Sinn is’ zu leicht, samma froh – kommt ein Erdbeben, dann kommt’s sowieso …«

Was denn das heißen solle, fragte der Verhörende, »dass man als Wiener net untergeht«? Und was bedeute »Kommt ein Erdbeben, dann kommt’s sowieso«? Der Vater brachte teils psychologische, teils seismologische Argumente vor, die nolens volens geschluckt wurden. Säuerlichen Blickes. Paranoid seien sie, die Nazis, humorlos und saudumm, murmelte der Vater, als er heimkam, und das sei eine besonders gefährliche Mischung.

E.s großes Lebensglück war es, in einem Antinazi-Umfeld aufgewachsen zu sein. Nicht allen Kindern war das vergönnt damals. Die Eltern hatten einen großen Freundeskreis, durchwegs kinderlos, was dem kleinen Mädchen viele Wahltanten und Wahlonkel in einer wunderbar umhegten Kindheit bescherte. Aus Mangel an anderen Sprösslingen wurde es zum Verwöhnungsobjekt schlechthin. Auch viele kunstnärrische Arbeitskollegen des Vaters gingen stets im Hause ein und aus, gewesene, aktive oder verhinderte Künstler und Künstlerinnen. In diesen Kreisen gab es weniger Anfälligkeit für das Böse, zudem waren ja auch viele jüdischer Abstammung. Das kleine Mädchen passte bei diesen Besuchen immer gut auf, was da so gesprochen wurde. Hatte die Ohren penibel gespitzt. Es konnte sich an Gespräche und Begebenheiten noch lange danach erinnern, selbst wenn ihre Mutter das nicht für möglich hielt, denn es wäre ja damals erst drei Jahre alt gewesen. Dennoch hatten sie sich eingebrannt in ihr Gedächtnis, wie so manche andere frühe Szene auch. Bildhaft, manchmal erschreckend genau.

Das Gewitter am Land etwa, als der Vater sie buckelkraxen (= huckepack) trug und ängstlich mit ihr ins Sommerquartier galoppiert war, einen überquellenden Bach entlang. Oder ihr Überkritzeln des Titelbildes von Ginzkeys Kinderbuch Hatschi Bratschis Luftballon mit dem Zauberer und seinen wilden Stielaugen, vor denen sie sich so sehr fürchtete. Einige Buntstiftstriche über die Augen, und der Schrecken war gebannt. Welch eine hilfreiche Abwehr! Nicht alles Unangenehme ließ sich später so einfach überkritzeln. Obwohl: Die fiesen Gesichter mancher Politiker auf Zeitungsfotos sollte sie später auch als Erwachsene quasi unsichtbar machen, indem sie sie einfach zerriss, herausriss und zerknüllte …

An eine Schallplattenaufnahme samt Trichter, die die Mutter Anfang der Vierzigerjahre als Geburtstagsgeschenk für den Vater in einem privaten Tonstudio organisiert hatte, erinnerte sie sich auch noch genau. Mama sang wunderhübsch ein Lied des Vaters, Bruder Robert sprach ergriffen einen klassischen Monolog, und das Töchterchen sagte von Onkel Erich verfasste Zeilen auf:

»Singen kann ich leider nicht, darum sprech’ ich ein Gedicht; zwar bin ich keine große Dame, ganz unbekannt ist auch mein Name; ich hab’ dich lieb für alle Zeit und die Platte dir geweiht«.

Es rührte E. zu Tränen, als sie ihr Stimmchen Jahrzehnte später dank der Computertechnik wieder hören sollte. Auch weil sie sich daran erinnerte, wie schlimm die Zeiten sehr bald danach geworden waren.

Sie hatte schon als kleines Kind gespürt, dass es da irgendetwas gab, wovor sich alle fürchteten. Irgendeine Gefahr. Nur wusste sie nicht, wo diese lauerte. Einmal hatte sie den Vater mit einer Tuchent über dem Kopf im Bett hockend entdeckt, er hörte einen ausländischen Sender, was streng verboten war, worauf die Mutter erschrocken rief: »Der Papa inhaliert, er hat Husten!« Das Kind deutete daraufhin die seltsam knarrenden Geräusche als das Rasseln aus Papas Bronchien.

Aus Tuscheleien wie »Pst, das Kind hört zu« wurde sie nicht recht klug. Sie ahnte nur, Nazi, das war irgendetwas Diffuses, vor dem sichtlich alle Angst hatten. Einmal erzählte sie ganz aufgeregt, sie hätte einen Hund gesehen, der sei auch ein Nazi gewesen. Gab’s jetzt sogar schon Hunde mit Parteiabzeichen?, rätselten die Eltern. Es hatte sich jedoch um einen Blindenhund mit einer Plakette des Roten Kreuzes gehandelt, schwarz, weiß, rot. Sah halt so ähnlich aus für das Kind. Eine Abneigung gegen Abzeichen jeder Art sollte ihr davon bleiben, sie wollte sich niemals irgendetwas anstecken lassen, sondern lieber sagen, auf wessen Seite sie stand, wogegen und wofür sie war. Auch Uniformen aller Art gegenüber war sie durch die Kriegserfahrungen immer misstrauisch geblieben.

Für den Vater waren die mit Uniformen verbundene Gleichmacherei, der Stechschritt und der Kadavergehorsam die Grundübel vieler Katastrophen. Er zitierte gerne Goethe, wonach die Uniform den Charakter verdecke. Wieso begingen ganz normale brave Männer, kaum hätten sie eine Uniform an, grässliche Taten und würden dann in Zivil wieder zum freundlichen Wirt, zum hilfsbereiten Buchhalter? Dennoch hatte der Vater in beiden Weltkriegen Uniform tragen müssen. Dagegen gab es kein Sichwehren, außer man war ein Held. Es hätte nicht zu wenige Gerechte gegeben, meinte er, sondern zu wenige Helden. Das Heldentum eines Franz Jägerstätter oder der Geschwister Scholl, die alles für Gerechtigkeit und Wahrheit zu opfern bereit gewesen wären, dieses Heldentum könne man jedoch nicht von jedem einfordern. Geringster Widerstand und die Vernaderung eines rabiaten Parteianhängers genügten damals schon, um grausame Sanktionen nach sich zu ziehen. Samt Sippenhaftung.

Es gab ein Ereignis, das den Vater ein Leben lang nicht losließ: Sein sechzehnjähriger Sohn Robert hatte eines Tages während des prononciert nationalsozialistisch geprägten Unterrichts laut gerufen, das Deutsche Reich sei ein Verbrecherregime, es geschehe großes Unrecht und der Krieg würde unzählige Tote bringen. Daraufhin wurde sein Vater sofort zur Schulleitung beordert. Vorher hatte er noch zu seinem Sohn gesagt, er verstünde dessen gerechte Wut, aber sie lebten in einer Diktatur, und nur durch eine sogenannte weiße Lüge könnten sie jetzt überleben, sonst würden sie beide eingesperrt, und die Mama stünde mit dem kleinen Kind alleine da. Dann entschuldigte er in der Vernehmung das »Vergehen« seines Sohnes als pubertäre Entgleisung und beteuerte, er habe nicht die geringste Ahnung, woher der Sohn solch eine schreckliche Meinung hätte. Tatsächlich kam er mit diesen Ausreden davon. Der Sohn allerdings wurde sofort danach zum Arbeitsdienst nach Sankt Oswald eingezogen. Immer und immer wieder sagte der Vater später leise, dass er damals eben nicht wie ein Held gehandelt hätte, sondern den Schergen gegenüber die vom Sohn rausgeschriene Wahrheit verleugnet hätte, um die Familie zu schützen.

Diese Geschichte hatte E. bei aller tiefen Verehrung für jene, die aktiven Widerstand geleistet hatten, doch versöhnlicher werden lassen gegenüber den damaligen Nicht-Helden und Nicht-Heldinnen.

Die Eltern hatten die Tochter jedoch später auf ihrem Weg vom behüteten Nesthäkchen zur erwachsenen Frau durchaus zu Widerspruch ermutigt, dazu, sich nichts gefallen zu lassen, sich zu wehren, wo es notwendig und gerechtfertigt war. Trotz ihrer elterlichen Sorge, sie könne sich eines Tages allzu viel ›zumuten‹, wie sie es nannten. Dreizehn Jahre lang gewartet hatten sie auf dieses Mädchen, nun wollten sie, dass es ihm gut ginge und ihm nichts Schlechtes zustieße.

Der prägende Schlüssel für E.s gesamtes Leben: Sie war ein erwünschtes und ersehntes Mädchen. Bereits als kleines Kind sei sie recht selbstbewusst gewesen, erzählte man ihr später. Auf einem Foto schaut sie als Dreijährige mit kritischem Blick in die Kamera, als beobachte sie akribisch die Arbeit des Fotografen, und wehe, das Ergebnis würde nicht entsprechen. Früh schon hatte sie kleine Lieder und Darbietungen »aus dem Stegreif« in den diversen Geschäften präsentiert und konnte neben Applaus stets auch eine Belohnung lukrieren, ein Stückchen Käse, ein Kipferl und natürlich ihre geliebten sauren Essiggurkerln, die ihr lieber waren als jedes Zuckerl. Die Kleine war ein gehätscheltes Kind im heimatlichen Grätzel, alle wussten, wie sehr und wie lange die Mutter auf ein Mäderl gewartet hatte. »Na, jetzt haben Sie ja endlich Ihr Mäderl, Ihre kleine Prinzessin!« Sehr oft bekam das Kind das zu hören. Wieso Prinzessin?, dachte es. Wo war denn der Prinz?

In der Familie hatte das endlich eingetroffene Mädchen tatsächlich die Position einer Prinzessin – in all der gegebenen Bescheidenheit eben. Die Wohnung war ihr Schloss, ihre Festung, ihre Wunderwelt. Der Krieg blieb draußen vor der Tür.

Eigenartigerweise hatte sie, wie viele kleine Menschen, bald schon ein großes Raumbedürfnis entwickelt, zu Hause war es jedoch recht eng gewesen. Darum hatte sie sich unter dem großen Esstisch ein autonomes Plätzchen eingerichtet, ihr eigenes kleines Reich, in dem sie ihren Phantasien freien Lauf lassen konnte.

Das Tischtheater

… so hatte sie ihr Refugium eines Tages getauft. Für sie bedeutete bereits sehr früh alles Theater, was mit Spiel und Spielen zu tun hatte, da sie von Geburt an mit Bühnenluft und Bühnenlust aufgewachsen war.

»Spielen, spielen, ich will was spielen!«, rufen die Kinder. Buben spielen meist in der Gruppe mit anderen, Mädchen hingegen spielen begeistert auch als Solistinnen, haben eine noch größere Lust am Verkleiden und Maskieren – möglichst vor einem großen Spiegel.

Ein Blick in die Schauspielschulen zeigt, dass weibliche Wesen, die dort stets bei Weitem überwiegen, auch eine stärkere Sehnsucht treibt, sich in eine erfundene Person zu verwandeln und dabei eigene Erfahrungen nachzuspielen. Das Wort »Person« bezeichnet in seiner ursprünglichen Form »Maske« – ein Zeichen dafür, dass jedermann überall mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt und durch das Spiel die Welt vielleicht besser erkennen will.

In diesem Sinne meinte auch der große Theatermann Jean Louis Barrault: »Der Mensch muß, um sein Leben zu erhalten, schlafen und essen. Und er muß spielen. Spielen bedeutet kämpfen gegen die Angst, bedeutet Glück erfinden, denn das Glück ist die Überwindung der Angst.« Also wollen Kinder, wenn sie spielen, vielleicht auch das Leben leichter und angstfreier zu bewältigen lernen. Werden sie allerdings allzu exzessiv in ihrem Spiel, kommt meistens schnell die Ermahnung von den Erwachsenen: »Mach nicht so ein Theater!«

Die kleine E. aber machte unter dem Tisch sehr wohl ein Theater. Unangefochten ihr Theater mit Puppen und Teddybären, mit Hüten, Stöckelschuhen und den Petitpointtäschchen der Mutter. Da spielte sich bereits etwas ab, da spielte es alle Stückeln!

Das überhängende Tischtuch war der Vorhang, den sie runterfallen lassen konnte, wann immer sie wollte: Rums. Das dahinter Verborgene bedeutete für sie etwas, das Möglichkeiten für Geheimnisse bot. Der Vorhang schützte sie vor der Außenwelt, denn sie wollte alleine sein in ihrer Welt der Illusion. Zuschauer hatte sie dabei nicht sehr gerne. Vom Bruder hatte sie allerdings gehört, die Grundregel des Theaters sei, dass einer einen anderen spielen und wieder ein anderer diesem zuschauen müsse. Theater ohne Publikum wäre eben nicht Theater. Also setzte sie in Ermangelung eines Publikums zwei Puppen hin, allerdings verkehrt herum.