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Warum die Zeit nicht alle Wunden heilt Als Zehnjähriger floh Caro Matzkos Vater aus Ostpreußen. Er verlor seine Heimat, seine Kindheit und erlebte Dinge, die kein Mensch je vergisst. Achtzig Jahre später reist seine Tochter seine Fluchtroute zurück, auf der Suche nach Antworten. Sie will verstehen, wie sich die seelischen Verletzungen ihres Vaters in ihrem eigenen Leben fortpflanzen konnten. Wo liegt der Ursprung ihrer durchlebten Magersucht, ihrer Kämpfe gegen Depression und Burn-out? Und wie vererben sich Traumata von einer Generation auf die nächste? Mit schonungsloser Ehrlichkeit und unerschrockenem Humor – der auch nicht vor den Tragödien des Lebens Halt macht – erzählt die bekannte Journalistin und Moderatorin von einer schmerzhaften Reise, die ihr alles abverlangt hat. »Tolle Frau, tolles Buch.« Jürgen von der Lippe »Was für eine berührende Geschichte über die deutsche Geschichte und über eine von ihr berührte moderne Frau. Die darüber offen reden und schreiben will, und vor allem ihre damit verbundene eigene Geschichte brillant erzählen kann. Mit vollem Herzen. Caroline Suchmaschine hat mit diesem Buch das für uns Menschen Wichtigste gefunden: Frieden!« Hannes Ringlstetter
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
Cover & Impressum
Inhalt
Karte
Knallo
2 Die Jalousien am Ende der Sackgasse
3 Klopse
4 Panik im Panic Room
5 Weißenfels – in der Echokammer des Sozialismus
6 Nationale Fronten
7 Me, myself and Matzko
8 Das Einhorn von Horst
9 Deep Dive in den Megadeth
10 Go East
11 Lech und der Punkt auf Google Maps
12 Die Turborutsche am Drewenzsee
13 Seeblick oder: »Ich bin so froh, dass ich ein Mädchen bin«
14 Das Kind im Wasser
15 Arschbombe der Liebe
16 Aufbruch West
17 History Repeating
Epilog
Danke …
Literatur
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Aus U1 erstellen
»Die Linken wollen nur verhindern, dass Russland und Deutschland zusammen eine Wirtschaftsmacht werden. Und die Amis wollen das auch!«
Mein Vater sitzt auf der Rückbank unseres VW-Caddys und redet sich wie so oft in Rage. Ich spüre, wie ich reflexartig die Luft anhalte, mein ganzer Körper sich verspannt und ich wütend werde. Entspann dich, Caroline Deeskalationsmaschine, flüstere ich mir zu. Auf vier: einatmen, auf fünf: ausatmen. Vagusnerv beruhigen, parasympathisches System runterfahren. Konzentriere dich auf die positiven Dinge.
Eigentlich ist der Tag doch bis gerade eben ganz passabel gelaufen. Es ist Viertel vor drei an einem Märzsonntag des Jahres 2024 und die letzten zwei Stunden war Papa so lustig und verspielt wie ein tapsiger Hundewelpe mit Hut. Gut, einmal hat er »Polacken« gesagt statt Polen, einmal »Beutedeutsche« statt Ärzte mit Migrationshintergrund, und einmal »Negerkampf im Tunnel«, als er von der militärischen Ausbildung seines Schwiegervaters berichtet hat, aber sonst war alles »normal« – im Rahmen unserer Familienverhältnisse. Normalität, soll der Schweizer Psychoanalytiker und Freud-Schüler C. G. Jung gesagt haben, ist das Ideal der Mittelmäßigen.
Mittelmäßigkeit war in unserer Familie nie eine Option. Seit ich denken kann, leben wir in Extremen, die zu Extremismen werden. Sofern wir unsere inneren freien Radikalen nicht durch Alltäglichkeiten festketten. Traumata und deren transgenerationale Weitergabe haben uns fest im Griff. Darum hat es lange gedauert, bis ich das Entspannungspotenzial der Mittelmäßigkeit für mich entdeckt habe – und mir es auch erlaube, mittelmäßig zu sein. Zum Beispiel jetzt: Nichts sagen. Einfach weiteratmen. Auf vier: ein, auf fünf: aus, wie es die Physiotherapeutin gesagt hat.
Ich denke kurz daran, dass dieselbe Physiotherapeutin mir auch zum Kauf eines Vibrators geraten hat, damit sich mein verkrampfter Beckenboden entspannen kann, und dass ich am liebsten jetzt sofort in diesem Moment wahnsinnig gern rechts ranfahren und nach Vibratoren googeln würde, um mein Dopaminlevel zu erhöhen und um mein neurodivergentes Hirn glücklich zu machen. Aber der Gedanke ist jetzt am Sonntag um 14:46 Uhr in diesem Auto, in dem mein neunundachtzigjähriger Vater und meine elfjährige Tochter sitzen, so deplatziert wie das Prinzip »Nackt aus der Torte springen« bei einem Leichenschmaus.
»Rechts ranfahren tun eh schon andere«, murmle ich halblaut.
»Hast du was gesagt?«, tönt mein Vater von der Rückbank.
»Nein, nein!«, rufe ich nach hinten, schicke den gedanklich bestellten Vibrator wieder zurück und öffne das Fenster gegen den leichten Fischgeruch, der aus meinem Wollpulli steigt.
Jeder riecht nach Fisch, der das Haus meiner Eltern betritt. Denn seit Papa das Kochen zu Hause übernommen hat und die Plastiktüten, in denen der Skrei und der Schellfisch verpackt sind, unter dem Waschbecken hortet, weil man sie ja wiederverwenden kann, riecht das ganze Haus nach Fisch, inklusive seiner zwei Bewohner. Wobei Mama dem Geruch vor zwei Wochen entkommen ist.
»Warum hast du das Fenster auf? Kein Wunder, dass du einen steifen Nacken hast«, beschwert sich Papa von der Rückbank. »Da vorne, die zweite Ausfahrt im Kreisverkehr, musst du zur Uniklinik raus. Aber pass auf – da kommt gleich noch eine Radarfalle! Abzocken wollen die einen! Abzocken! Das mit den Taurus-Marschflugkörpern für die Ukraine – das ist ein solcher Schwachsinn alles!«
»Mama, was sagt Opa?«, fragt meine Tochter, die auf dem Beifahrersitz thront, mit Kopfhörern Die drei !!! hört und ausgesprochen vergnügt wirkt.
»Opa sagt, dass ich aufpassen soll, damit ich nicht geblitzt werde. Taurus ist lateinisch und heißt Stier.«
»Oma ist Stier. Ich bin Wassermann! Du Löwe«, schreit sie, wegen der Kopfhörer.
»Das ist richtig. Einmal Möwe, immer Möwe«, schreie ich zurück, damit sie mich hören kann, aber auch um Druck abzubauen und um mich an irgendwelchen Fakten festzuhalten. In der Hoffnung, die alternativen Fakten, die ich beim Mittagessen zur Gulaschsuppe serviert bekommen habe, irgendwie verdauen zu können.
»Die linken Idioten!«, zischt mein Vater noch mal halblaut, atmet mit leichtem Kopfschütteln dramatisch schwer ein und aus und erwartet eine Antwort auf keine Frage.
»Papa, ich will jetzt nicht über Politik sprechen, das ist mir alles zu anstrengend. Wir fahren jetzt einfach zu Mama in die Klinik.«
»Hast du schon einen Weihnachtsbaum gekauft?«, ulkt er jetzt, um die Stimmung aufzuhellen, dabei aber zu signalisieren, dass er mich für politikverdrossen bis linksversifft hält und ihm ein Themenwechsel absurd erscheint angesichts der Brisanz des Themas, die er fühlt.
»Ha, ha, Opa, Weihnachten ist doch gerade erst gewesen!«, korrigiert meine Tochter mit Buchhalterinnenmentalität.
Mein Smartphone, das mir den Weg zur Uniklinik weisen soll, wechselt jetzt die Bildschirmoberfläche, weil mein Mann anruft, um in Erfahrung zu bringen, ob noch alles in Ordnung ist und wie es meiner Mutter geht.
Ich klicke auf das Lautsprechersymbol, weil meine Freisprechanlage nicht funktioniert, und rufe: »Hallo, Rainer!«
»Knallo, knallo, Rainer!«, echot mein Vater fröhlich, weil er »Hallo« als Anglizismus verabscheut und alle, die »Hallo« statt »Guten Tag« oder meinetwegen »Grüß Gott« benutzen – er ist aus der Kirche ausgetreten –, als amerikanisierte Knallköpfe betrachtet.
»Knallo, Papa, hier ist Knannolinchen!«, kräht die Tochter. »Wir sind in fünf Minuten bei Oma!«
Wir sind auf dem Weg in die Uniklinik Ulm, um meine Mama zu besuchen, die dort mit Nierenversagen und Influenza kämpft. Wir laden meinen Vater aus, der nicht mehr gut zu Fuß ist, setzen ihn in einen Rollstuhl, bitten ihn, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten unauffällig zu verhalten, parken unser Auto in der Tiefgarage und rennen zurück, um gemeinsam die Nephrologie im Dschungel der Uniklinik zu suchen. Meine Tochter schiebt meinen Vater im Rollstuhl mit astreiner Oktoberfest-Fahrgeschäft-Stimmung vom Eingang Nord bei Gebäude C durch die weißen Krankenhausgänge, gefühlt einmal von A bis Z und an allen Umlauten vorbei, bis wir endlich die korrekte Abteilung finden.
»Irgendwie zieht der Rollstuhl immer nach rechts«, entschuldigt sie sich, als sie Opa kurz vor Omas Zimmer an die Wand fährt.
»Das liegt an meiner politischen Gesinnung«, meint er selbstironisch und grinst.
Er hat aus seiner AfD-Mitgliedschaft nie einen Hehl gemacht und schätzt außerdem die kleine Radikale in seiner Enkelin. Als sie noch im Babyalter befindlich beim Großelternbesuch einen Briefbeschwerer auf den Wohnzimmer-Glastisch fallen ließ und eine riesige Ecke abbrach, lachte er nur vergnügt, klebte die Bruchstelle mit Paketband ab, behauptete, die Ecke habe ihn ohnehin immer gestört und taufte die Bruchstelle »Fanny-Gedächtnis-Ecke«. Es verging eine Ewigkeit, bis meine Eltern sich einen neuen Couchtisch kauften. Ästhetik im Haushalt war noch nie die Priorität meines Vaters, Funktionalität dagegen schon. Darum parkt er Stifte, herumliegende Schrauben, Krims und Krams auch gern in alten Joghurt-Eimern. Da fiel die fehlende Tischecke nicht weiter auf – und seine Bücher, Volks-Zeitungen, die beleuchtbare Riesen-Lupe und sein Glas Bier hatten trotzdem noch genug Platz auf dem Tisch.
Fanny hat Opa im Rollstuhl wieder auf die Zielgerade gebracht und lauscht den Anweisungen der diensthabenden Pflegerin: »Sie müssen sich bitte noch einen Schutzkittel, eine Haube, Mundschutz und Handschuhe anziehen. Ihre Mutter ist noch isoliert.«
»Mega! Mit Schutzkleidung!«, jubelt meine Tochter und ich bin ihr für ihre Begeisterung inmitten der traurigen Gesamtsituation unendlich dankbar.
Ich helfe Kind und Opa beim Anziehen und schiebe sie nacheinander ins Krankenzimmer. Dann verpacke ich mich selbst in grünen Zellstoff und spüre, dass ich schon wieder die Luft anhalte. Das mache ich immer, wenn ich angespannt bin.
Ich habe Angst davor, meine Mutter hilflos im Bett liegen zu sehen. Ich habe Angst vor ihren Schmerzen und ihrer Traurigkeit, die sich schon seit ich klein bin auf mich übertragen haben, durch eine Art semipermeable Membran. Ich habe Angst, sie diesmal nicht retten zu können. Und ich habe Angst vor der Wut, die jetzt in mir zu brodeln beginnt, als ich in grünen Gummihandschuhen langsam die Klinke drücke. Wut, weil meine Eltern nicht auf meinen Bruder und mich gehört haben, als wir im Herbst gesagt haben: »Lasst euch gegen Grippe und Covid impfen.«
»Wir lassen uns nicht mehr impfen«, hat mein Vater entgegnet, »Impfschäden.«
Und jetzt haben wir den Salat. Jetzt haben die Viren Mamas Schrumpfniere den Rest gegeben.
Hey, aber noch lebt sie, also mach ein lustiges Gesicht, Caroline Optimismusmaschine, befehle ich mir. Auf vier: ein- und auf fünf: ausatmen. Eins, zwei, drei, vier … Fünf, vier, drei, zwei, eins …
Ich straffe die Schultern und sage laut zu mir: »Ich geh da jetzt rein!«
Mama sitzt auf dem Bett und sieht ganz zart, fast durchsichtig aus. Sie ist sehr blass, ihre Hände sind geschwollen, sehe ich, als sie nach meinen greift. »Schnecke, ich hab gedacht, dass ihr gar nicht mehr kommt.«
»Mama!«, sage ich und die Wut weicht Wiedersehensfreude und Erleichterung, »Natürlich kommen wir, wenn wir sagen, dass wir kommen.«
Mein Vater zeigt auf mich. »Das ist unser Fernsehstar!«, ruft er der anderen Patientin im Zimmer zu, die erst »Aha!« macht und dann rasselnd Bronchialschleim abhustet.
»Haben Sie auch Influenza?«, erkundige ich mich bei ihr.
Sie nickt und spuckt nasse Brocken in eine Nierenschale. »Wir haben Sie im Fernsehen gesehen!«, krächzt sie dann und hustet wieder. »Wie heißen Sie noch mal?«
Ich heiße Carolin Matzko, Künstlername: Caroline von Monatzko. Die meisten nennen mich Caro. Im Kindergarten haben sie »Caroline Waschmaschine« gerufen und damit meinen Waschzwang vorweggenommen. Die Humorarbeiter des Schaugeschäfts, in dem ich tätig bin, adaptierten es als »Caroline Moderationsmaschine« und viele Zuschauerinnen und Zuschauer machen nun gern eine Maschine aus mir. Meine Mutter nennt mich »Schnecke« oder »Chouchou«. Mein Vater hat früher »Mausi« oder »Liebi« zu mir gesagt. Mein Mann und meine beste Freundin sagen heute »Mizi« zu mir, mein Kind nennt mich »Mama« oder »Schnubbu«.
So weit, so wenig aussagekräftig. Aber wer bin ich? Die meisten Menschen versuchen, sich zu beschreiben, indem sie sagen, was sie beruflich machen. Auf LinkedIn steht, dass ich Journalistin, Keynotespeakerin, Moderatorin und Autorin für Funk, Fernsehen, Buch und den Eventbereich bin und es an der Uni bis zum Magister Artium ausgehalten habe. Ich arbeite gern und viel. Aber das tun andere auch.
Versuchen wir es daher mit ein paar Informationen abseits meines medialen Tagwerks: Ich bin Mitte vierzig, 1,74 groß, außerdem Mama einer Tochter und Patchwork-Stiefmutter eines Sohnes. Ich bin Hausstaub-, Katzen- und Pollenallergikerin, Löwe mit Aszendent Schütze, vertrage keine Milch, keinen Fruchtzucker, keine Larmoyanz, kein Geschrei oder das Bereuen ungelebten Lebens. Auf Höhe L 5 S 1 habe ich einen Bandscheibenvorfall, auf beiden Augen an die sechs Dioptrien, im Schlepptau einen alten italienischen Tierschutzhund und im Schrank auch nicht mehr Tassen als alle anderen. Ich mag Tiere, Weichspüler aus aller Welt, Weißwein-Spritzer, Gmundner Porzellan, die Berge, das Meer, Dinnerjazz, Sprühsahne, gebügelte Wäsche, alte Hörspiele, Gartenarbeit und hatte mal sechs Wochen lang Sledgehammer von Peter Gabriel als Ohrwurm. Ich versuche, Tennisspielen und besser Englisch sprechen zu lernen, dreimal die Woche Yoga zu machen, mehr Kräutertee und weniger Alkohol zu trinken, acht Stunden zu schlafen, zehntausend Schritte pro Tag zu gehen, kälter zu duschen und tiefer zu atmen. Unter meinen Schreibtisch habe ich mir eine Tretmühle gestellt, ein sogenanntes Schreibtisch-Fahrrad, mit dessen Hilfe ich mein hyperaktives Flirren in Bewegungsenergie erden kann – eine Art Blitzableiter meiner überschüssigen Energien, denn selbst mein Hund hat oft keine Lust mehr, permanent um den Block zu gehen, um die Spurrillen meiner Rastlosigkeit mit seinem Mittelstrahl zu markieren.
Insgesamt verbringe ich mehr Zeit damit, etwas zu tun, als etwas zu sein. An meinem Grab wird meine Familie ziemlich sicher erwähnen, dass ich ihnen mit meiner Strichlisten-Disziplin, meinen Nachfragen, ob sie mich noch lieben, meiner Reservetank-Mentalität und meinem Putzfimmel auf die Nerven gegangen bin. Rainer behauptet, ich habe einen Waschzwang. Aber ich brauche diese Illusion von äußerer Kontrolle, um die freie Radikale in mir einzuhegen.
Mein Freund Helmut, der seit vielen Jahren als Psychologe tätig ist, hat mich darin bestärkt: Es sei eine smarte Überlebensstrategie von mir, mir viel Verantwortung und Struktur ans Bein zu binden, da ich um mein zerstörerisches Potenzial weiß, das das Zeug dazu hat, die fragile Architektur meines Soziallebens und damit den Humus, aus dem meine Zufriedenheit wächst, in die Luft zu jagen. Dennoch gibt es Tage, da empfinde ich meine sorgsam designte Lebensstruktur als Fußfessel, und es nagt die Frage in mir, ob das, was ich glaube, an meinem öffentlichen Erscheinungsbild kontrollieren zu können, in Wahrheit nicht mich kontrolliert.
Manche behaupten, wenn man mehr an die Vergangenheit denkt als an die Zukunft, dann wird man alt. Wenn dem so ist, dann bin ich seit ungefähr zehn Jahren geriatrisch. Denn da ging es los, dass ich begann, meine Vergangenheit, die ich wie eine Leiche im Keller meines Unterbewusstseins eingemauert hatte und für die ich mich wahnsinnig schämte, auszugraben. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, die alte Caro, die ich als unsympathisch und uncool in Erinnerung hatte, mit den Augen der neuen Caro anzugucken. Außerdem hatte ich unzählige Stunden bei Therapeutinnen verbracht, um meine Kindheit und Jugend zu erzählen und zu verstehen und mir einen Werkzeugkasten mit Selbsthilfe-Tools zu kompilieren.
Doch trotz der vielen Psychotherapien merkte ich irgendwann, dass ich immer wieder an denselben Punkt komme: dass ich mich wie ein großes schwarzes Loch fühle, in dem alle Liebe und Bestätigung ins Bodenlose verschwindet.
Aber von vorne.
Geboren wurde ich 1979 in Ulm an der Donau, also in Württemberg. Aufgewachsen bin ich allerdings auf der anderen Donauseite, in Neu-Ulm, was geografisch gesehen Bayern ist. Bayerisch gibt man sich aber nur dann gern, wenn es einen Vollrausch im Bierzelt verspricht. Neu-Ulm ist nichts Halbes und nichts Ganzes, im Kern ein Gewerbegebiet mit vielen Baustellen, von dem aus man einen schönen Blick auf das Ulmer Münster hat, was aber wiederum auf der baden-württembergischen Seite der Donau steht.
Ich wuchs in einem der vielen eingemeindeten Dörfer auf, die sich als Neu-Ulmer Ortsteile verstehen: Reutti – ein hübsches Achtzigerjahre-Örtchen, in der Mitte mit einem Schloss auf einem Hügel, einer kleinen evangelischen Kirche, zwei Bushaltestellen und fünf Kilometer Landstraße bis zum Beginn des offiziellen Neu-Ulmer Gewerbegebietes. Unser erstes Haus stand am Wendehammer einer Spielstraße. Als Kind fand ich das idyllisch, als Teenager fühlte ich mich isoliert in dieser Sackgasse. Zumal mein zehn Jahre älterer Bruder mit achtzehn das Elternhaus verließ und ich daraufhin mit der Aufgabe, die Stimmungen meiner Eltern aufzufangen, allein war.
Meine Mutter ist zehn Jahre jünger als mein Vater. Die beiden haben sich in Westfalen kennengelernt, wo mein Vater eine Zeit lang beruflich tätig war. Mama war gerade mal zwanzig Jahre alt, ein wunderhübsches Nesthäkchen, das noch bei ihren Eltern und ihren zwei großen Brüdern wohnte. Sie verließ für ihren feschen Ehemann das heimische Nest und folgte ihm in die Fremde – nach Württemberg zu den Schwaben. Die Eingeborenen dort sprachen Dialekt und Mama verstand als Steuerbevollmächtigte lange kein Wort und musste viel weinen. Sie sah in ihrer Grace-Kelly-Haftigkeit viel zu gut aus für das Finanzamt Neu-Ulm und kleidete sich viel zu exzentrisch für die schwäbischen Fußgängerzonen mit ihren K&L Rupperts, Müller-Märkten, Peek & Cloppenburgs und C&As. Ihr Lieblingskleidungsstück war jahrelang ein schwarz-goldenes Cape, das sie sich »in Paris« aus dem Katalog bestellt hatte, gewitzt kombiniert mit Metallic-Leggings und Leoparden-Stiefeletten.
Als sich Mama trotz der Sprachbarriere eingelebt hatte und mein großer Bruder Matthias aus dem Gröbsten raus war, wie man das so sagt, machte sie sich als Steuerberaterin selbstständig und verbrachte fortan Tag und Nacht hinter einer Rechenmaschine, auf der sie mit rot lackierten Fingernägeln unheimlich flink Zahlen eintippte, worauf die Maschine mit kaltem Rasseln Papierschlangen ausspuckte, die Mama mit einem Klebestift in absurd große Geschäftsbücher pappte. Wenn ich Glück hatte, drehte sie mir die Lukas-der-Lokomotivführer-Schallplatte im Wohnzimmer um, aber wenn die Tür zu ihrem Büro verschlossen war, dann durfte ich keinesfalls stören. Ein paar Mal lugte ich als kleines Mädchen, das seine Mama vermisste, sehnsüchtig durch den Türspalt, erntete aber nur enervierte Blicke ihrer Klienten.
Meine Mutter war zwar physisch anwesend, aber trotzdem nicht da. Spaß machte ihr ihr Job und der ganze Rest irgendwie nicht. Aber der Kredit für das Haus musste bezahlt werden und das Haus war wichtig, das hatte ich verstanden – ein Eigenheim mit Jalousien, Asbest-Verschalung, Doppelgarage für die zwei Mercedes und Garten. Dort wurde anlässlich der Geburt meines Bruders 1969 eine Blautanne gepflanzt, die dann zehn Jahre später Servus sagte zu einer kleinen, krummen Kiefer, die mir zugedacht war und nach weiteren zehn Jahren bei einem Sturm umknickte und dann gefällt werden musste. Es gab auch die obligatorischen Mittelstands-Rosen, die man in den Siebzigern noch mit Chemie-Spritzen vor Schädlingen schützte, und unzählige Beerenbüsche, die mein Bruder ernten musste. Stundenlang saß er auf einem Holzhocker vor den Sträuchern und hörte beim Pflücken seine selbst überspielte Wham!-Kassette – Club Tropicana vor der Stachelbeere.
Mittags gab es Quark mit Sauerkirschen aus dem Glas. Danach musste Mama schnell wieder in ihren Keller, wo sie kaum Tageslicht hatte und ihr oft kalt war. Eine Zugehfrau half, den Haushalt zu erledigen. Ich war viel mit meiner einzigen Freundin aus dem Nachbarhaus unterwegs, auf dem Spielplatz, im Wald, in der Sackgasse mit unseren Fahrrädern, oder saß allein an meinem Maltisch, neben meinem Kassettenrekorder, auf dem meine Fünf-Freunde-Kassetten liefen.
Mama teilte schon früh ihre Probleme mit mir: die Unzufriedenheit über die viele »Arbeiterei«, die Sehnsucht nach mehr Geselligkeit, nach ihrer Mutter und ihren Brüdern, nach Reisen in ferne Länder und immer wieder die Angst vor Konflikten mit meinem Vater. Manchmal mischte ich mich in ihre Streitigkeiten ein und ergriff Partei für meine Mutter. Papa quittierte diese meine Grenzüberschreitungen mit einem eisigen »Si tacuisses, philosophus mansisses«.
Erst Jahre später verstand ich, dass das bedeutete: Wenn du geschwiegen hättest, wärest du Philosoph geblieben. Sprich: Wär’ smarter gewesen, wenn du die Bappen gehalten hättest. Tacuisses, mansisses: zweite Person, Singular, Plusquamperfekt, Konjunktiv, aktiv. Ich dagegen: passiv, weil wehrlos den Entscheidungen der Erwachsenen ausgeliefert.
Als meine Freundin aus dem Nachbarhaus wegzog, fühlte ich mich unglaublich allein. Zu den anderen Kindern im Dorf fand ich nicht den richtigen Draht – mein Vater meinte, das läge daran, dass ich nicht Schwäbisch schwätzte. Wobei er auf korrektes Hochdeutsch großen Wert legte und stolz darauf war, dass wir keine Schwaben waren. Ich kam da nicht ganz mit, denn ich war doch in Ulm geboren. Machte mich das nicht automatisch zu einer Schwäbin? Oder war man nur dann eine richtige Schwäbin, wenn man in Württemberg wohnte? Ich wohnte aber in Bayern, nur sprach hier auch keiner Bairisch.
Schon damals habe ich bezweifelt, dass der Geburtsort viel zur Identitätsstiftung beiträgt. Höchstens zur Distinktion: Denn für meinen Vater war es sehr wohl von Bedeutung, auf welcher Seite der Donau er wohnte. Nach dem Krieg und der Vertreibung aus der Heimat hatte man ihn in Ulm nämlich erst als »Hureflüchtling« bezeichnet und ihn schließlich – angeblich aus Versehen – ausgebürgert. Das konnte mein Vater den Behörden nie verzeihen und schwor, nie wieder in Württemberg zu wohnen. Dann lieber in Bayern, dessen Blasmusik- und Bierzelt-Folklore generell anschlussfähiger ist.
