Am Anfang war das Wort - Václav Havel - E-Book

Am Anfang war das Wort E-Book

Václav Havel

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Beschreibung

Der Brief an Alexander Dubček wurde kurz vor dem ersten «Jahrestag» des sowjetischen Einmarsches in die Tschechoslowakei geschrieben.   «Politik und Gewissen» wurde anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Toulouse an Václav Havel am 14.5.1984 als Rede gehalten.   «Anatomie einer Zurückhaltung» war bestimmt für den Amsterdamer Friedenskongreß.   «Unser Schicksal ist unteilbar» wurde als Rede aus Anlaß des Festaktes zur Verleihung des niederländischen Erasmus-Preises gehalten.   «Ereignis und Totalität» ist Ladislav Hejdánek zum sechzigsten Geburtstag gewidmet.   «Ein Wort über das Wort» ist Havels Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

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Václav Havel

Am Anfang war das Wort

Texte von 1969 bis 1990

Aus dem Tschechischen von Joachim Bruss

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ich bin für ‹antipolitische Politik›. Für eine Politik nicht als Technologie und Manipulation der Macht oder als Kunst des Zweckmäßigen, Praktischen und der Intrige, sondern für eine Politik als praktizierte Sittlichkeit, als Dienst an der Wahrheit, als wesenhaft menschliche und nach menschlichen Maßstäben sich richtende Sorge um den Nächsten. Es ist wahrscheinlich eine in der heutigen Welt äußerst unpraktische Art und im täglichen Leben schwer anzuwenden. Trotzdem kenne ich keine bessere Alternative.»

Über Václav Havel

Václav Havel wurde am 5. Oktober 1936 in Prag geboren. Seiner «bourgeoisen» Herkunft wegen – sein Vater unterhielt bis zur Verstaatlichung 1948 ein gutgehendes Restaurant in Prag – durfte er zunächst kein Abitur machen. Er war als Taxifahrer und Chemielaborant tätig und besuchte das Abendgymnasium, um 1954 das Abitur abzulegen. Da er weder zum Studium der Kunstgeschichte noch zur Filmhochschule oder zur Theaterfakultät der Akademie der Künste zugelassen wurde, absolvierte Havel von 1955 bis 1957 ein Studium der Automation des Verkehrswesens an der Technischen Hochschule Prag.

In diese Zeit fielen auch seine ersten dramatischen und essayistischen Versuche. Havel gehörte zum Kreis junger Dichter um die Literaturzeitschrift Tvář, die 1965 verboten wurde. Ende der fünfziger Jahre leistete er seinen Wehrdienst ab. Danach war er Kulissenschreiber am Prager Theater «ABC», dann arbeitete er im «Theater am Geländer», erst als Bühnenarbeiter, dann als Beleuchter und schließlich als Sekretär, Lektor und ab 1960 als Dramaturg. In diesem Theater wurden auch Havels erste Stücke aufgeführt: 1963 «Gartenfest», 1965 «Die Benachrichtigung» und 1968 «Erschwerte Möglichkeit der Konzentration».

Im Juni 1967 erregte Havel Aufsehen, als er auf dem IV. Schriftstellerkongreß in Prag die Zensur und den Machtapparat des kommunistischen Regimes kritisierte. Er engagierte sich dann während des «Prager Frühlings» 1968 als Vorsitzender eines «Clubs unabhängiger Schriftsteller». Nach der Intervention sowjetischer Truppen erhielt Havel Aufführungs- und Publikationsverbot im gesamten Ostblock. Er verließ Prag und wurde Hilfsarbeiter in einer Brauerei in Trutnov.

In seinem «Offenen Brief» an Gustáv Husák, den damaligen Staatspräsidenten, rechnete er schonungslos mit dem System der absoluten «Tiefendemoralisierung» ab und machte den totalitären Existenzdruck des Regimes verantwortlich für die Angst, die die Menschen der Heuchelei, der Depression und der Passivität ausliefere. 1977 wurde die Bürgerrechtsgruppe Charta 77 von Havel und anderen gegründet, die unter Berufung auf die Schlußakte der KSZE-Konferenz in Helsinki Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten auch in der ČSSR forderte. Havel wurde einer ihrer Wortführer und in dieser Rolle mehr und mehr zum «politischen Gewissen» der Nation.

Von März bis Mai 1977 war er inhaftiert und wurde im Oktober 1977 wegen «versuchter Schädigung der Interessen der Republik im Ausland» zu vierzehn Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Im Dezember 1977 wurde Havel aus seiner Prager Wohnung ausgewiesen und erhielt nach erneuten Aktivitäten als Bürgerrechtler Hausarrest. Dennoch beteiligte er sich auch weiterhin an der Verbreitung der Werke verbotener Schriftsteller und schrieb neue Bühnenstücke, die nur im westlichen Ausland erscheinen und aufgeführt werden konnten.

Am 29. Mai 1979 wurde er – zusammen mit weiteren Bürgerrechtlern erneut – verhaftet und im Oktober desselben Jahres wegen «Gründung einer illegalen Vereinigung (Komitee für die Verteidigung zu Unrecht Verfolgter) und Aufrechterhaltung von Kontakten zu Emigrantenkreisen» zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Angebot, sein Land zu verlassen, lehnte Havel ab. Daraufhin wurden seine Haftbedingungen verschärft. In dieser Haftzeit entstanden die bewegenden «Briefe an Olga», seine Frau. Im Februar 1983 wurde der erkrankte Havel nach Appellen und Protesten internationaler Organisationen und vieler Schriftsteller in ein ziviles Krankenhaus verlegt. Wenig später wurde der Strafvollzug «aus Gesundheitsgründen» ausgesetzt.

Als Havel am 16. Januar 1989 die Gedenkveranstaltung zum zwanzigsten Todestag des Studenten Jan Pallach mitorganisierte, der sich anläßlich der sowjetischen Intervention während des «Prager Frühlings» selbst verbrannt hatte, wurde er erneut festgenommen und am 21. Februar 1989 zu neun Monaten Haft unter verschärften Bedingungen (für rückfällige Straftäter) verurteilt. Gegen dieses Urteil legten zahlreiche westliche Länder, Organisationen und Gruppen Protest ein. Zum erstenmal erreichten das Regime aber auch Protestschreiben aus sozialistischen Ländern: aus Polen, der UdSSR, der DDR und Ungarn. Auch zahlreiche Künstler und Intellektuelle in der ČSSR selbst protestierten gegen das Urteil. Im März 1989 verkürzte ein Berufungsgericht die Haftstrafe Havels auf acht Monate und hob die «verschärften Bedingungen» auf. Nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe beantragte Havel Haftentlassung, am 17. Mai 1989 entsprach das Gericht seinem Antrag: die vier verbleibenden Monate wurden für achtzehn Monate zur Bewährung ausgesetzt.

Am 15. Oktober 1989 erhielt Havel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung des Stiftungsrates hieß es, «er habe nie Zweifel daran gelassen, daß er persönlich, selbst unter Verlust seiner Freiheit, für seine Überzeugung einstehe». Von den tschechoslowakischen Behörden erhielt er keinen Paß für die Reise nach Deutschland.

Am 20. November 1989 gründete sich in Prag das Bürgerforum, das eine zentrale Rolle beim Sturz des kommunistischen Regimes spielte. In kurzen Ansprachen auf dem Wenzelsplatz analysierte Václav Havel fast täglich die revolutionäre Umbruchsituation und formulierte die politischen Forderungen des Bürgerforums. Schließlich mußte auch Husák, der sich anfänglich beharrlich geweigert hatte, zurücktreten.

Neuer Staatspräsident der Tschechoslowakei wurde am 29. Dezember 1989 Václav Havel.

Inhaltsübersicht

«Die Zeit des ...Brief an Alexander Dubček August 1969Offener Brief an Gustáv Husák April 1975Politik und Gewissen Februar 1984(1)(2)(3)(4)(5)Anatomie einer Zurückhaltung April 1985(1)(2)(3)(4)(5)(6)(7)(8)(9)(10)Unser Schicksal ist unteilbar März 1986Ereignis und Totalität April 1987Ein Wort über das Wort Oktober 1989Projekt Hoffnung Oktober 1989Von welcher Republik ich träume Neujahrsansprache 1990Zu den Texten

«Die Zeit des ‹klassischen Dissidententums› ist vorbei», so schrieb er im Oktober 1989. «Leicht beunruhigend» sei die historische Stunde, in der «wir nicht mehr das sind, was wir waren» und «noch nicht sind und sein können (und vielfach gar nicht sein wollen), was wir offenbar sein sollen».

Wenige Wochen später, am 29. Dezember 1989, wurde Václav Havel in das Amt als tschechischer Staatspräsident eingeführt. Er hat es immer der besonderen Verantwortung des Schriftstellers abgefordert, sich nicht nur durch sein literarisches Schaffen in den Dienst der Wahrheit zu stellen, sondern sich auch für die Bürger- und Menschenrechte zu engagieren. Keine Gefängnismauer war dick genug, die «Stimme des Gewissens», die er gegen die totalitäre Staatsmacht erhob, zum Schweigen zu bringen. Weder Drohung noch Demütigung, weder Verurteilung noch Gefängnis haben ihn von seinem Glauben abbringen können, daß der «Augenblick der Wahrheit» kommen und die Macht der Ohnmächtigen obsiegen würde.

Wir haben die Texte Václav Havels verlegt, als er verfolgt wurde – Ausdruck des Respekts vor einem großen Autor und einem unbeugsamen Kämpfer für die Menschenrechte. Der vorliegende Band versammelt Essays vornehmlich aus dieser Zeit. Er enthält aber auch die erste große Rede, in der der ehemalige «Dissident» als Staatspräsident spricht.

 

Ingke Brodersen

 

Reinbek, Februar 1990

Brief an Alexander Dubček

«Ich weiß nicht, ob etwas dran ist, doch habe ich gehört, Sie sollten der Hauptankläger gegen Ihre eigene Politik sein, der als erster öffentlich Zustimmung zu dem Eingreifen äußert, das diese Politik verhindern sollte.

Ich denke, daß Sie so etwas um keinen Preis tun dürfen. Schon lange nämlich geht es nicht mehr nur um Ihre persönliche Ehre, Ihren Stolz und Ihre Würde. Es geht heute um viel mehr: um die Ehre und den Stolz all derer, die Ihrer Politik Vertrauen schenken und die heute – zum Schweigen gebracht – sich Ihnen als Ihrer letzten Chance zuwenden, in der Hoffnung, daß Sie – und Sie als einziger haben dazu die Möglichkeit – dem tschechoslowakischen Versuch das einzige erhalten, was offenbar noch zu erhalten ist: die Selbstachtung.»

Sehr geehrter Herr Dubček,

 

ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern (wir haben nur einmal miteinander gesprochen: vor einem Jahr bei einem engeren Treffen von Politikern mit Schriftstellern); ich weiß nicht, ob Sie mich als Schriftsteller kennen, und ich weiß natürlich auch nicht, ob Sie meinen Brief so auffassen werden, wie er gedacht ist, nämlich als den aufrichtigen Ausdruck einer aufrichtigen Überzeugung. Trotz allem habe ich mich nach längerer Überlegung entschlossen, Ihnen zu schreiben, weil ich zu der Ansicht gelangt bin, daß dies in diesem Augenblick wohl die einzige Art ist, wie ich – im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten – etwas für die Sache tun kann, die ich für schicksalhaft wichtig für das Land halte, in dem ich lebe und in dessen Sprache ich schaffe. Im übrigen haben Sie den Leuten eher geglaubt als nicht geglaubt (manchmal haben Sie ihnen sogar mehr geglaubt, als angemessen war), und so habe ich wohl zumindest die Hoffnung, daß Sie meine Überlegungen nicht mit dem voreingenommenen Widerwillen betrachten werden, mit dem heute alles betrachtet wird, was nicht die offizielle politische Linie lobt.

Man muß kein allzu erfahrener politischer Beobachter sein (und ich bin es entschieden nicht), um zu begreifen, daß die Zustimmung zur sowjetischen Intervention und das vorbehaltlose Akzeptieren der sowjetischen Erläuterung der tschechoslowakischen Ereignisse des Jahres 1968 durch die höchsten Partei- und damit auch Staatsorgane die Frage einiger Wochen, wenn nicht Tage ist, und daß die gegenwärtige offizielle Propaganda nichts anderes ist als die ideologische Vorbereitung dieses Schrittes, der definitiv die tschechoslowakische Politik nach dem August in eine politische, ideologische und moralische Kapitulation verwandeln soll. Und je geringer die Hoffnung ist, daß es dem Druck der Volksschichten, der Intelligenz oder bestimmter Kräfte in der politischen Führung doch noch gelingt, diesen beschämenden Schritt abzuwenden, desto mehr fällt der Blick aller Tschechen und Slowaken (und mit ihnen zusammen auch der der Weltöffentlichkeit) auf Sie und einige Ihrer Freunde in der gespannten Erwartung, wie Sie sich – vor die Notwendigkeit gestellt, zu der ganzen Sache einen Standpunkt einzunehmen – verhalten werden.

Ihre Situation ist wahrscheinlich sehr schwierig – und vom menschlichen Standpunkt aus ist es wohl nicht gerecht, daß eine so ernste Entscheidung auf die Schultern eines einzigen Mannes gelegt wird –, und doch ist es unendlich wichtig, daß gerade Sie sich gerade jetzt so verhalten, wie immer noch die Mehrheit von uns hofft, daß Sie es tun werden. Vielleicht klingt das übertrieben, doch von welcher Seite auch immer ich es betrachte, mit wem auch immer ich darüber spreche, immer wieder muß ich mir klarmachen, daß in gewisser Hinsicht jetzt die Hoffnung auf eine sinnvolle Zukunft für uns alle gerade von Ihrer Haltung abhängt. Das Bewußtsein dieser Bedeutung ist auch der unmittelbare Beweggrund für diesen meinen Brief, mit dem ich mit aller Dringlichkeit, deren ich fähig bin, an Sie appellieren will, nicht die letzte Hoffnung zu enttäuschen, die die Menschen heute haben und die sich gerade in Ihnen konzentriert. Ich maße mir hierbei nicht das Recht an, Sie zu belehren, noch habe ich die Absicht, mich zum «Gewissen der Nation» aufzuspielen – meine Absicht ist nichts anderes, als in die Überlegungen, die Sie wahrscheinlich in dieser Zeit beschäftigen, etwas andere Ansichten und Argumente hineinzutragen als jene, von denen Sie in Ihrer unmittelbaren Umgebung überschwemmt werden, und Ihre inneren Gewißheiten zu stärken, die wohl heute den stärksten äußeren Angriffen und inneren Zweifeln ausgesetzt sind. Mein Appell ist also nicht ein Ausdruck des Mißtrauens, sondern im Gegenteil des Vertrauens: ohne das Vertrauen in Ihre Urteilsfähigkeit und Ehrenhaftigkeit hätte ich mich nie zu einem solchen Brief entschlossen.

Für unsere beiden Völker sind Sie das Symbol aller Hoffnungen auf ein besseres, würdigeres und freieres Leben, mit denen die erste Hälfte des Jahres 1968 verbunden war; für die Weltöffentlichkeit sind Sie das Symbol des tschechoslowakischen Versuchs eines «Sozialismus mit menschlichem Antlitz». Die Menschen sehen in Ihnen den ehrenhaften, aufrichtigen und mutigen Menschen; Sie sind für sie ein für die gerechte Sache entbrannter Politiker; sie haben Ihren aufrichtigen Blick und das menschliche Lächeln gern; sie glauben, daß Sie des Verrats nicht fähig sind. Das wissen selbstverständlich auch diejenigen gut, die heute unter dem Schutz der sowjetischen Kanonen in unserem Land die alten Ordnungen erneuern und allmählich alles liquidieren, was der tschechoslowakische Frühling 1968 gebracht hat. Deshalb ist es heute wahrscheinlich eines ihrer Hauptziele, nicht nur Sie dazu zu zwingen, sich ihrer Ideologie unterzuordnen, sondern auch zu erreichen, daß gerade Sie es sind, der das entscheidende Wort zugunsten ihrer Politik sagt. Ich weiß nicht, ob etwas dran ist, doch habe ich sogar gehört, Sie sollten der Hauptankläger gegen Ihre eigene Politik sein, der als erster öffentlich Zustimmung zu dem Eingreifen äußert, das diese Politik verhindern sollte.

Ich denke, daß Sie so etwas um keinen Preis tun dürfen. Schon lange nämlich geht es nicht mehr nur um Ihre persönliche Ehre, Ihren Stolz und Ihre Würde. Es geht heute um viel mehr: um die Ehre und den Stolz all derer, die Ihrer Politik Vertrauen schenkten und die heute – zum Schweigen gebracht – sich Ihnen als ihrer letzten Chance zuwenden, in der Hoffnung, daß Sie – und Sie als einziger haben dazu die Möglichkeit – dem tschechoslowakischen Versuch das einzige erhalten, was offenbar noch zu erhalten ist: die Selbstachtung.

Die Gründe, die Ihre Widersacher dazu führen, sich um Ihre Stimme zu bemühen, sind durchsichtig: die eigene unsaubere Arbeit wollen sie hinter Ihrem sauberen Namen verbergen, und etwas, was nur von Unfähigkeit und Ohnmacht herkommt, wollen sie durch Ihre Vermittlung den Schein einer Art verborgenen politischen Voraussicht geben; zugleich jedoch – und gerade dadurch – wollen sie Sie öffentlich diskreditieren, erniedrigen und um das bringen, was sie an Ihnen am meisten stört und wodurch Sie sich von ihnen am meisten unterscheiden: nämlich um das Vertrauen der Menschen. Ihrem Sehnen, Sie auf die Knie zu zwingen, kann es nicht genügen, daß Sie die Macht verloren haben; es verlangt nach mehr: Sie sollen das Gesicht verlieren – erst so kann es wirklich befriedigt werden. Alle diese Anstrengungen sind freilich mit etwas noch Schlimmerem verbunden: mit dem gänzlich kaltblütigen Bemühen, den Menschen die letzte Hoffnung zu nehmen und in ihnen tiefe Depression, Gleichgültigkeit und Skepsis hervorzurufen – also genau das, was Ihre Nachfolger zur ungestörten Machtausübung benötigen. Die Ziele sind klar: sich an Ihnen für all das zu rächen, wodurch Sie über sie hinausragen; Sie aus dem Denken der Menschen zu tilgen; durch Sie das Volk zu manipulieren. (Und auf diese Weise natürlich – unter anderem – allmählich auch die Bedingungen zu Ihrer endgültigen und durch nichts mehr gestörten Verurteilung vorzubereiten.)

Die Argumentation Ihrer Widersacher kann ich mir lebhaft vorstellen: vor allem mißbrauchen sie wohl Ihren kommunistischen Glauben – sie betonen das Interesse der Partei, der Bewegung, das Interesse des Sozialismus; sie appellieren an Ihre Parteidisziplin; und das, was sie von Ihnen fordern, fordern sie als Dienst an der Sache, die Ihnen die teuerste ist und der Sie Ihr Leben geweiht haben (wie auffällig erinnert das an die Art und Weise, in der in den Jahren der Prozesse von disziplinierten Kommunisten im Namen der Partei selbstbeschuldigende Aussagen erpreßt wurden, die zur Verwirrung der Öffentlichkeit und zur leichteren Verurteilung bestimmt waren!). Zugleich bemühen sich Ihre Widersacher sicherlich auch, Ihre verantwortungsbewußte Beziehung zu den Interessen unserer Völker auszunutzen: sie betonen, falls Sie nicht das tun, was Sie tun sollen, werden Sie eine neue Krise hervorrufen; Sie machen die Konsolidierung der Verhältnisse unmöglich; Sie bringen das Land erneut ins Chaos, wenn nicht gar an den Rand eines Bürgerkriegs; Sie rufen eine neue Intervention hervor, Massendeportationen und eine eventuelle Anbindung an die UdSSR; Sie spielen Hasard mit der Existenz und dem Leben von Millionen von Menschen, die auf Ihre Geste nicht neugierig sind und in Ruhe arbeiten wollen. Sie werden sich wohl nicht einmal schämen, den Anspruch auf Ihre Unterstützung darauf zu stützen, daß sie auch Sie unterstützt hätten (es war eine sehr schöne Unterstützung, die unter dem Mantel der äußeren Zustimmung lange vor der Intervention eine Bauern- und Arbeiterregierung und ein Revolutionstribunal gegen Sie organisiert hat!).

Wie schwer auch immer dies für Sie sein wird, Sie dürfen dieser demagogischen Argumentation nicht erliegen. Denken Sie an das Dilemma, in dem sich Edvard Beneš zur Zeit des Münchner Abkommens befand: damals ging es nicht nur um bloße Demagogie, sondern um die reale Gefahr der Ausrottung des Volkes. Und gerade sie, die Kommunisten, waren es, die es damals schafften, der suggestiven Kapitulations-Argumentation zu widerstehen, und die ganz richtig begriffen hatten, daß eine faktische Niederlage nicht auch eine moralische Niederlage sein muß und daß ein moralischer Sieg sich später auch in einen faktischen Sieg verwandeln kann, eine moralische Niederlage jedoch niemals.

Wenn Sie widerstehen und bei Ihrer Wahrheit bleiben, fügen Sie möglicherweise der Politik der heutigen Führung Ihrer Partei einen Schlag zu, nicht jedoch der Partei als solcher: der erweisen Sie im Gegenteil mit einer solchen Haltung – vom Gesichtspunkt der Zukunft aus – einen großen Dienst: Sie geben den Menschen ein Stück Hoffnung auf diese Partei zurück, weil Sie deutlich zeigen, daß der Kommunismus nicht unteilbar mit Lüge und Charakterlosigkeit verbunden ist. Vielleicht leisten Sie einen Beitrag zur Diskreditierung einiger Personen aus der heutigen Führungsspitze der Partei, gewiß aber werden Sie den Kommunismus und seine Ideale nicht diskreditieren: diese können Sie einzig rehabilitieren, wenn Sie andeuten, daß auch Kommunisten Rückgrat haben können und daß die Wahrheit für sie wichtiger sein kann als Parteidisziplin und der Wille von Parteiorganen. Wenn Sie aber im Gegenteil widerrufen, können Sie den Kommunismus mehr als jeder andere diskreditieren: Sie würden damit definitiv demonstrieren, daß im Rahmen dieser Partei und dieser Bewegung Werte wie Wahrheit, Charakter und Freiheit sinnleere Illusionen sind.

Natürlich habe ich keine Informationen über die Verhältnisse innerhalb der Parteiführung, über das vorbereitete Vorgehen und über Ihre objektive Situation. Trotzdem werde ich versuchen, über die einzelnen Alternativen nachzudenken, die ich mir – als einfacher Bürger – vorstellen kann:

Ihre erste Möglichkeit – die, von der ich annehme, daß sie Ihnen aufgezwungen wird – besteht darin, umfassend Selbstkritik zu üben, die Schwäche und Blindheit Ihrer Führung einzugestehen, vollständig auf die sowjetische Interpretation der tschechoslowakischen Entwicklung einzugehen, einzugestehen, daß Sie das wirkliche Wesen und die Richtung dieser Entwicklung nicht «begriffen», Ihre Pflicht versäumt, daher den konterrevolutionären Kräften in die Hände gespielt und dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt haben, indem Sie die sowjetische Intervention verurteilten. Und dann betonen, daß erst mit dem Abstand der Zeit Ihnen die Unvermeidlichkeit dieses Einschreitens klargeworden sei und Sie begriffen hätten, daß wir in Wirklichkeit der sowjetischen Führung dankbar sein müßten für die «brüderliche Hilfe», die sie in der Form von Panzern aussandte, um hier unsere sozialistischen Errungenschaften zu retten.

Diesen Weg zu gehen würde bedeuten, im «Interesse der Partei» sich selbst, seine Wahrheit, seine Überzeugung, seine Arbeit, seine Ideale zu bestreiten; das eigene Werk zu bespucken und alle Hoffnungen, die mit Ihrem Namen verbunden sind, zu verraten; sich selbst zu erniedrigen und die Mehrheit der Tschechen und Slowaken tief zu beleidigen, die wissen, wie die Dinge wirklich waren; den Menschen die letzte Gewißheit zu nehmen, das letzte Ideal, die letzten Reste von Glaube an die menschliche Ehre, daran, daß es sinnvoll ist, sich charaktervoll zu verhalten, an eine bessere Zukunft und an den Sinn jeglichen Opfers für das Ganze und sie tief in die moralische Armut hineinzuwerfen, die mit dem Verlust aller höheren Werte verbunden ist und zur allgemeinen Entwicklung von Egoismus, Anpassungswille, Karrierismus und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer führt.

Durch ein solches Vorgehen würden Sie selbstverständlich der heutigen Parteiführung sehr helfen, jedoch um den Preis, daß Sie damit der moralischen Konsistenz unserer Völker einen schrecklichen Schlag versetzten: der Schock aus dem Fall des letzten Ideals könnte zu nichts anderem führen als zu einem sittlichen Kater und Marasmus, von dem wir uns möglicherweise über eine ganze Generation hinweg nicht erholen werden; es wäre die Liquidierung sowohl der letzten Reste des nationalen Selbstbewußtseins wie auch der letzten Reste des Vertrauens in den Kommunismus. Sie würden wahrscheinlich – zumindest eine gewisse Zeit – in bedeutenderen Partei- und Staatsfunktionen belassen (dabei aber ohne realen politischen Einfluß); unsere Völker jedoch würden Sie als einen Verräter verurteilen, wie es ihn in der Geschichte der tschechischen und slowakischen Politik noch nicht gegeben hat (ich zumindest erinnere mich an keinen Fall, in welchem ein Vertreter einer bestimmten Politik aktiv militärisches Eingreifen gegen seine Politik gutgeheißen hätte).

Die zweite Möglichkeit, die Ihnen angeboten wird, ist Schweigen: weder üben Sie Selbstkritik, noch treten Sie andererseits in eine Polemik mit dem Vorschlag zur Zustimmung zur Okkupation ein – Sie unterwerfen sich einfach still dem angenommenen Beschluß und warten auf die Dinge, die da kommen sollen.

Ich glaube nicht, daß diese Alternative real ist, aber nehmen wir eimal an, sie sei es. Wozu würde sie führen? Aus den bedeutenderen Funktionen würden Sie wohl wesentlich schneller als im ersten Fall entfernt, und Sie würden wohl weit eher und weit schonungsloser als Hauptschuldiger verurteilt. In den Augen der Menschen jedoch sähen Sie auch nicht besser aus: Ihre «Lösung» würde zwar nicht eine so starke und unmittelbare Erschütterung hervorrufen wie die aktive Zustimmung zur Okkupation, nichtsdestoweniger würde Sie das Vertrauen des Volkes in Sie nicht retten: dieser ziemlich peinliche Versuch, sich in der Menge zu verstecken und sich ohne Verwundungen herauszulavieren, könnte schwerlich etwas anderes erwecken als allgemeine Verachtung. Der Parteiführung würden Sie mit einem solchen Vorgehen weder allzusehr helfen noch allzusehr schaden, und Ihr Bemühen, durch schweigende Zustimmung sich selbst zu überlisten und sich auf schwejksche Art durch die Geschichte zu lavieren, könnte dabei schließlich nur zu derselben sittlichen Krise führen, zu der auch die erste Alternative führen würde.

Die dritte Haltung, die Sie einnehmen können – nämlich die, die ich Ihnen empfehle und die, wie mir scheint, auch von der Mehrheit der Menschen von Ihnen erwartet wird –, ist die anspruchsvollere: sie besteht nämlich darin, daß Sie trotz allen ausgeübten Drucks erneut sachlich, offen und wahrheitsgemäß Ihre Absichten erläutern, Ihre Politik und Ihr Verständnis der Entwicklung nach dem Januar; Sie werden klar Ihre Überzeugung betonen, daß der Demokratisierungsprozeß nicht mit einer Existenzbedrohung für den Sozialismus verbunden war, sondern im Gegenteil seine Regenerierung versprach; und was die sowjetische Intervention betrifft, schildern Sie Ihre Beziehung dazu ganz offen und wahrhaftig: von Anfang an haben Sie sie verstanden, und bis heute verstehen Sie sie als unberechtigtes und unbegründetes Eingreifen gegen den Demokratisierungsprozeß (ein Eingreifen, das darüber hinaus in grobem Widerspruch zu den Prinzipien des Zusammenlebens der sozialistischen Staaten und des Völkerrechts steht, wie die August-Erklärung des Präsidiums des ZK der KPČ festgestellt hat); wobei Sie zuerst von dem Einfall der Armeen als vor allem von einer großen Schande, Verrat und Unrecht schockiert waren, später jedoch haben Sie die Anwesenheit der Truppen als Realität akzeptiert und sich bemüht, solche politischen Auswege zu finden, die es ermöglichten, auch in dieser neuen «Realität» die inneren Verhältnisse sowie die internationalen Verhältnisse zu konsolidieren, ohne daß dies durch ein Abrücken von Ihrer Überzeugung, die Intervention sei unberechtigt, bezahlt werden müßte. Es geht also mit anderen Worten darum, die Wahrheit zu sagen, auf ihr zu bestehen und alles abzulehnen, was sie auf den Kopf stellt.

Was wird geschehen, wenn Sie sich auf diese anspruchsvollste, doch zugleich aus einem gewissen Blickwinkel natürlichste Art und Weise verhalten?

Soweit Sie durch Ihr Auftreten nicht die Rücknahme dieser ganzen Frage von der Tagesordnung erreichen – und das ist sehr unwahrscheinlich –, werden Sie offenbar gleich nach der Zustimmung zur Okkupation durch das Zentralkomitee (zusammen mit einigen anderen, die sich Ihnen anschließen) aus dem ZK ausgeschlossen und wohl auch aus der KPČ, und Sie werden zumindest so verurteilt wie vor einiger Zeit Dr. Kriegel. Der Parteiführung und deren Politik versetzen Sie damit einen schweren Schlag, denn Sie weisen ihr charakterloses und durch keine politische Taktik zu entschuldigendes Verzerren der Wirklichkeit nach; den Konsolidierungsprozeß, wie man ihn heute versteht, erschweren Sie ernstlich; wahrscheinlich rufen Sie eine neue «Krise» hervor: vielleicht brechen Unruhen aus, oder es wird Streiks zu Ihrer Unterstützung geben. Schließlich jedoch wird es gelingen, alles so gerade eben zu «beruhigen», die Unruhen werden unterdrückt (einige weitere Funktionäre werden aufgrund dessen ausgewechselt und einige Dutzend Menschen kommen ins Gefängnis), und nach einigen Wochen ist alles wieder in den alten Verhältnissen, die wir kennen und uns vorstellen können. Vom Standpunkt der augenblicklichen Situation aus bringt Ihre Tat nichts Positives, eher im Gegenteil: sie wird zu weiteren Repressionen mißbraucht. Das alles jedoch ist völlig vernachlässigenswert im Vergleich mit der eminenten sittlichen – und damit vom Gesichtspunkt der langfristigen Entwicklung aus auch gesellschaftlichen und politischen – Bedeutung, die dieses Ihr Vorgehen für das zukünftige Schicksal unserer Völker hätte: die Menschen würden begreifen, daß man seine Ideale und sein Rückgrat immer bewahren kann; daß man der Lüge entgegentreten kann; daß es Werte gibt, für die es Sinn hat, sich zu schlagen; daß es noch Führer gibt, denen man glauben kann; daß keine augenblickliche politische Niederlage zur totalen historischen Skepsis berechtigt, wenn die Betroffenen ihre Niederlage würdig zu tragen imstande sind.

Durch Ihre Tat würden Sie uns allen einen ähnlich mächtigen moralischen Spiegel vorhalten, wie es Jan Palach getan hat – die Wirksamkeit Ihres Schrittes wäre aber offensichtlich längerfristig. Ihre Tat würde für viele Mitbürger zum Maßstab des eigenen Verhaltens, zur Magnetnadel, die auf eine sinnvollere Zukunft weist, zu einer dauerhaften und konkreten politischen und menschlichen Stärkung. Sie würden nicht vergessen, sondern lebten im Gegenteil – sei es auch zurückgezogen – als lebendige und durchgehend wirkende Hoffnung aufrichtiger Bürger und zugleich als permanenter und nicht zu beseitigender Vorwurf für alle Karrieristen, die ihren Vorteil aus der Okkupationssituation ziehen. Unermeßlich würden Sie das Prestige des tschechoslowakischen Kampfes vor der Weltöffentlichkeit stärken; der kommunistischen Bewegung würden Sie die Dimension einer ihrer besseren Perspektiven lebendig erhalten. Nach einigen Jahren (besonders im Falle einer Machtverschiebung innerhalb der KPdSU) würden Sie offensichtlich – obwohl wahrscheinlich recht unauffällig, wie das in der Geschichte der kommunistischen Bewegung zu sein pflegt – rehabilitiert, weil man die Geschichte nicht aufhalten kann und die Zeit Ihnen früher oder später wird recht geben müssen. Und bis sich einmal wieder die Möglichkeiten eröffnen – vielleicht allmählicher, dafür aber um so konsequenter – noch einmal das zu versuchen, was im Jahre 1968 nicht gelungen ist, könnte die Gesellschaft gerade dieses riesige moralisch-politische Potential nutzen, das in ihr – dank Ihrer festen Haltung – erhalten geblieben ist, gewirkt und sich entwickelt hat. Für die Weltöffentlichkeit und für die internationale kommunistische Bewegung bliebe dabei aufgrund Ihres Verdienstes der tschechoslowakische Versuch des Jahres 1968 keine abgeschlossene und vergessene historische Episode, sondern wäre eine ständig gegenwärtige Alternative, mit der manche, die ansonsten die ganze Sache gern aus Bequemlichkeit vom Tisch wischen würden, immer wieder sich auseinanderzusetzen gezwungen wären.

Sicher, ich weiß, daß ich gut reden habe, stecke ich doch nicht in Ihrer Haut und trage nicht Ihre Verantwortung. Doch die Tatsache, daß ich nicht Sie bin, entbindet mich in keiner Weise – jedenfalls nicht vor meinem Gewissen – von der Pflicht, einen Standpunkt einzunehmen und Sie darüber zu informieren, und das um so mehr, als ich nicht gezögert habe, die Möglichkeiten zu nutzen, die mir Ihre politische Konzeption in besseren Zeiten gewährt hat, und so fühle ich darüber hinaus die natürliche Notwendigkeit, mich auch in bösen Zeiten zu meinem bescheidenen Teil der Mitverantwortung für deren Schicksal zu bekennen. Im übrigen glaube ich, daß ich mich als dramatischer Autor – wenn Sie gestatten – zumindest in gewissem Maße in Ihre Situation einleben kann: mir scheint, daß ich einiges von Ihrer Mentalität, Ihren Problemen, Ihrer Bitterkeit, Ihren Rücksichten, Ihren gedanklichen und politischen Traditionen, Beziehungen, Vorurteilen, Überlegungen und Gefühlen verstehe.

Und obwohl ich mich bemühe, mich in Ihre Situation einzuleben, und gerade weil ich mich bemühe, die Dinge aus Ihrer Perspektive so verantwortungsbewußt wie möglich aufzufassen, muß ich so sprechen, wie ich spreche, und als einzigen sinnvollen Weg Ihnen den anbieten, der für Sie – leider – der wohl schwierigste und gefährlichste ist: den Weg der Wahrheit.

Andererseits muß ich natürlich im Interesse der Objektivität offen meine Überzeugung eingestehen, daß in gewisser Hinsicht auch Sie selbst ein Stück Schuld daran tragen, daß Sie sich in der Situation befinden, in der Sie sich befinden; wenn von Ihnen heute eine Entscheidung unter so außergewöhnlich schwierigen Umständen gefordert wird, so liegt darin leider zugleich ein Stück erbarmungsloser historischer Gerechtigkeit: Ihr Versuch, nach dem August eine eindeutige Antwort auf die Frage der Intervention zu vermeiden, ist mißlungen nicht nur aufgrund der Schuld des verantwortungslosen Volkes, wie Sie sich vielleicht in schwachen Momenten selbst haben einreden wollen, sondern aufgrund Ihrer eigenen Schuld: seien Sie nicht böse, wenn ich mich auf mich selbst berufe, aber ich kann es nicht vermeiden, mich in diesem Zusammenhang an meine eigene Reaktion auf Ihre Rückkehr aus Moskau im August des vergangenen Jahres zu erinnern: zwar war ich tief beeindruckt von allem, was Sie physisch und psychisch hatten durchmachen müssen, keinen Augenblick habe ich an Ihren äußerst ehrenhaften Absichten und verantwortungsbewußten Überlegungen gezweifelt, habe die Kompliziertheit der Situation, in der Sie zu Entscheidungen gezwungen waren, durchaus begriffen und habe mich verbeugt vor Ihrem zähen Bemühen, Ihren Kampf nicht aufzugeben – trotz alldem aber war ich vom ersten Augenblick an überzeugt, daß Sie mit der Unterschrift unter die Moskauer Abkommen einen schrecklichen Fehler begangen haben, für den Sie früher oder später teuer werden bezahlen müssen. Meine Annahme erfüllt sich jetzt leider. Die Moskauer Abkommen waren nämlich nichts anderes als ein bloßes Aufschieben der Notwendigkeit, zur Intervention entweder «Ja» oder «Nein» zu sagen; dieser Frage auszuweichen konnte nur zu einem Provisorium führen, jedoch niemals Ausgangspunkt irgendeiner längerfristigen politischen Konzeption sein; die schizophrene Spannung, die sich in den ersten Monaten nach der Intervention herausbildete, mußte früher oder später entweder in ein neues Aufeinandertreffen oder die definitive Kapitulation münden, wobei die zweite Möglichkeit aus vielerlei Gründen unverhältnismäßig viel wahrscheinlicher war. Den Akt des Aufschiebens selbst verurteile ich selbstverständlich im allgemeinen nicht – Aufschieben am rechten Ort und zur rechten Zeit kann eine sehr effektive politische Waffe sein –, doch hier ging es – und darin gerade bestand meiner Meinung nach der Kern Ihres Irrtums – um eine für die Tschechoslowakei äußerst ungünstige Aufschiebung: nämlich eine solche, die nicht für Sie, sondern einzig gegen Sie arbeiten konnte. Falls nämlich eine bestimmte Form Ihres «Nein» (und wenn es nur darin bestanden hätte, vor der Unterschrift unter die Abkommen eine Konsultation mit dem Volk zu verlangen) zu dieser Zeit noch bestimmte reale Chancen auf konkrete politische Ergebnisse haben konnte (der Zusammenbruch des innerparteilichen Putsches, das Fiasko der politischen Absicherung der Okkupation und die Ratlosigkeit der sowjetischen Führung hätten für Sie gearbeitet), so konnte die Art und Weise des Ausweichens vor einer eindeutigen Antwort, die Sie gewählt haben, zu nichts anderem führen, als daß die Notwendigkeit einer solchen Antwort auf eine für Sie immer ungünstigere Zeit verschoben wurde, bis Ihr eventuelles «Nein» – heute – nur noch die perspektivische Bedeutung haben kann, von der ich gesprochen habe. Es ist verständlich: die Moskauer Abkommen waren de facto ein Instrument, sich selbst zu belügen – indem Sie kein «Ja» aussprachen, boten sie die Illusion des Erfolgs, dabei stellten sie aber zugleich alle faktischen Voraussetzungen dafür sicher, daß Sie in der Zukunft ein gänzlich unzweideutiges «Ja» würden sagen müssen, und zwar beginnend mit der Annullierung des 14. Parteitags und dessen Verschiebung und endend mit der Vereinbarung über einen baldigen Ockupationsvertrag. Das Moskauer Protokoll gab die Zeit und schuf alle notwendigen Bedingungen zur ruhigen und ungestörten Stabilisierung all der regressiven Strukturen, die sich unter Ihrem Schutz darauf vorbereiteten, Sie zu schlucken, und die im August des vergangenen Jahres noch nicht existierten und nicht existieren konnten. Die allmähliche psychologische und organisatorische Auflösung der Aktionseinheit, auf die Sie sich im August so wirksam stützen konnten, war nur die natürliche und geplante Folge des Aufbaus gerade jener Strukturen, die Sie in Ihrem eigenen Namen und unter Ihrem eigenen Schutz um all die wichtigen Quellen Ihrer Autorität und Macht bringen. Verstehen Sie mich recht: das alles sage ich nicht, um Ihnen die Vergangenheit vorzuwerfen, um jetzt den Klugen zu spielen und, mit allen Erfahrungen ausgerüstet, die Sie damals noch nicht hatten, Ihnen zu erklären, was Sie alles falsch gemacht haben und hätten besser machen können. Darum geht es jetzt überhaupt nicht, und ich spreche darüber auch nur, um anzudeuten, daß die außerordentlich belastenden Umstände Ihrer heutigen Pflicht, sich zu entscheiden, nicht vom Himmel gefallen sind, sondern gesetzmäßig aus den vergangenen Dingen erwachsen als die ungewollte Folge Ihrer eigenen früheren politischen Entscheidungen, Absichten und Illusionen. (Wobei ich – um mich nicht noch weiter von den Fragen zu entfernen, die heute zu lösen sind – mit Absicht einige ernsthafte Fehler Ihrer Politik vor dem August nicht weiter ausführe, die aus naivem Vertrauen in die «Vernünftigkeit» der sowjetischen Führung keine der realen Maßnahmen durchführte – dabei keineswegs die Volksbewegung «bremsend», sondern sich auf sie stützend –, die präventiv die Möglichkeit eines sowjetischen Eingreifens hätten abwenden oder zumindest erschweren und Sie so vor dem schrecklichen Dilemma hätten bewahren können, in die Sie die sowjetische Intervention gebracht hat.) Die Aufrichtigkeit Ihrer Überlegungen und die Ehrenhaftigkeit Ihrer Absichten ändert – leider – an dieser Ihrer Mitverantwortung wenig: in der Politik entscheiden nicht die Absichten, sondern die Ergebnisse.

Übrigens haben, obwohl Ende August vorigen Jahres die Mehrheit unserer Bürger mit mir offenbar die kritische Beziehung zu der gewählten Lösung geteilt hat, alle diese Lösung zugleich respektiert als eine mögliche Alternative, wenn auch nicht die glücklichste, so doch als begreifliche und ehrenhaft gemeinte. Und deshalb haben sich auch nach all den Maßnahmen, die Sie nach dem August mit zusammengebissenen Zähnen durchführen mußten, um Ihren Verpflichtungen nachzukommen, die Tschechen und Slowaken das Vertrauen in Sie bewahrt, haben Sie unterstützt und Ihre Maßnahmen – ebenfalls mit zusammengebissenen Zähnen – akzeptiert. Nichtsdestoweniger hat sich das unbarmherzige Rad der geschichtlichen Logik unaufhaltsam weitergedreht und hat allmählich all die freudlosen – zuerst kaum wahrnehmbaren, im Kern jedoch leider gesetzmäßigen – Folgen des Vorgehens, das gewählt worden war, an die Oberfläche gebracht.