Moral in Zeiten der Globalisierung - Václav Havel - E-Book

Moral in Zeiten der Globalisierung E-Book

Václav Havel

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Václav Havel hat stets darauf beharrt, die Texte seiner Reden selbst zu verfassen. Ihre Lektüre macht schnell klar, warum dies so ist. Ob Havel vor dem Wirtschaftsgipfel in Davos spricht oder in der Neujahrsansprache vor den Bürgern seines Landes, ob er vor Bundestag und Bundesrat das tschechisch-deutsche Verhältnis reflektiert oder die Ehrendoktorwürde der neuseeländischen Victoria-Universität entgegennimmt – es gibt wohl kaum einen Politiker und Staatsmann, der es vermochte, sein Publikum an so persönlichen, bisweilen intimen Erfahrungen teilhaben zu lassen und zugleich über den Anlaß des Tages hinaus die globale, ja metaphysische Dimension politischen Denkens zu entfalten. Die ausgewählten Texte in diesem Band, entstanden zwischen Anfang 1992 und Ende 1997, widmen sich einer Vielfalt von Fragen, Entwicklungen und Problemen: so beschäftigen sie sich mit dem schwierigen Erbe der posttotalitären Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa und der Schwäche der Freiheit im Westen, mit der Zukunft Europas und der multikulturellen globalen Zivilisation sowie den Werten, die ihr Überleben befördern könnten, mit dem Ende der technisch-wissenschaftlichen Moderne und der Rolle der Intellektuellen in offenen und totalitären Gesellschaften, mit dem Theatralischen in der Politik und der Einsamkeit des Dissidenten wie des Präsidenten, mit elementaren Erfahrungen angesichts der Hoffnungslosigkeit und des Todes.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 265

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Václav Havel

Moral in Zeiten der Globalisierung

Aus dem Tschechischen von Joachim Bruss und Eva Profousová

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Václav Havel hat stets darauf beharrt, die Texte seiner Reden selbst zu verfassen. Ihre Lektüre macht schnell klar, warum dies so ist. Ob Havel vor dem Wirtschaftsgipfel in Davos spricht oder in der Neujahrsansprache vor den Bürgern seines Landes, ob er vor Bundestag und Bundesrat das tschechisch-deutsche Verhältnis reflektiert oder die Ehrendoktorwürde der neuseeländischen Victoria-Universität entgegennimmt – es gibt wohl kaum einen Politiker und Staatsmann, der es vermochte, sein Publikum an so persönlichen, bisweilen intimen Erfahrungen teilhaben zu lassen und zugleich über den Anlaß des Tages hinaus die globale, ja metaphysische Dimension politischen Denkens zu entfalten.

Die ausgewählten Texte in diesem Band, entstanden zwischen Anfang 1992 und Ende 1997, widmen sich einer Vielfalt von Fragen, Entwicklungen und Problemen: so beschäftigen sie sich mit dem schwierigen Erbe der posttotalitären Gesellschaften in Mittel- und Osteuropa und der Schwäche der Freiheit im Westen, mit der Zukunft Europas und der multikulturellen globalen Zivilisation sowie den Werten, die ihr Überleben befördern könnten, mit dem Ende der technisch-wissenschaftlichen Moderne und der Rolle der Intellektuellen in offenen und totalitären Gesellschaften, mit dem Theatralischen in der Politik und der Einsamkeit des Dissidenten wie des Präsidenten, mit elementaren Erfahrungen angesichts der Hoffnungslosigkeit und des Todes.

Über Václav Havel

Václav Havel wurde am 5. Oktober 1936 in Prag geboren. Seiner «bourgeoisen Herkunft» wegen – sein Vater unterhielt bis zur Verstaatlichung 1948 ein gutgehendes Restaurant in Prag – durfte er zunächst kein Abitur machen. Er war als Taxifahrer und Chemielaborant tätig und besuchte das Abendgymnasium, um 1954 das Abitur abzulegen. Da er weder zum Studium der Kunstgeschichte noch zur Filmhochschule oder zur Theaterfakultät der Akademie der Künste zugelassen wurde, absolvierte Havel von 1955 bis 1957 ein Studium der Automation des Verkehrswesens an der Technischen Hochschule Prag.

In diese Zeit fielen auch seine ersten dramatischen und essayistischen Versuche. Havel gehörte zum Kreis junger Dichter um die Literaturzeitschrift «Tvár», die 1965 verboten wurde. Ende der fünfziger Jahre leistete er seinen Wehrdienst ab. Danach war er Kulissenschieber am Prager Theater «ABC», dann arbeitete er im «Theater am Geländer», erst als Bühnenarbeiter, dann als Beleuchter und schließlich als Sekretär, Lektor und ab 1960 als Dramaturg. In diesem Theater wurden auch Havels erste Stücke aufgeführt: 1963 «Gartenfest», 1965 «Die Benachrichtigung» und 1968 «Erschwerte Möglichkeit der Konzentration».

Im Juni 1967 erregte Havel Aufsehen, als er auf dem IV. Schriftstellerkongreß in Prag die Zensur und den Machtapparat des kommunistischen Regimes kritisierte. Er engagierte sich dann während des «Prager Frühlings» 1968 als Vorsitzender eines «Clubs unabhängiger Schriftsteller». Nach der Intervention sowjetischer Truppen erhielt Havel Aufführungs- und Publikationsverbot im gesamten Ostblock. Er verließ Prag und wurde Hilfsarbeiter in einer Brauerei in Trutnova.

In seinem «Offenen Brief an Gustáv Husák», den damaligen Staatspräsidenten, rechnete er schonungslos mit dem System der absoluten «Tiefendemoralisierung» ab und machte den totalitären Existenzdruck des Regimes verantwortlich für die Angst, die die Menschen der Heuchelei, der Depression und der Passivität ausliefere. 1977 wurde die Bürgerrechtsgruppe Charta 77 von Havel und anderen gegründet, die unter Berufung auf die Schlußakte der KSZE-Konferenz in Helsinki Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten auch in der ČSSR forderte. Havel wurde einer ihrer Wortführer und in dieser Rolle mehr und mehr zum «politischen Gewissen» der Nation.

Von März bis Mai 1977 war er inhaftiert und wurde im Oktober 1977 wegen «versuchter Schädigung der Interessen der Republik im Ausland» zu vierzehn Monaten Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Im Dezember 1977 wurde Havel aus seiner Prager Wohnung ausgewiesen und erhielt nach erneuten Aktivitäten als Bürgerrechtler Hausarrest. Dennoch beteiligte er sich auch weiterhin an der Verbreitung der Werke verbotener Schriftsteller und schrieb neue Bühnenstücke, die nur im westlichen Ausland erscheinen und aufgeführt werden konnten.

Am 29. Mai 1979 wurde er – zusammen mit weiteren Bürgerrechtlern – erneut verhaftet und im Oktober desselben Jahres wegen «Gründung einer illegalen Vereinigung (Komitee für die Verteidigung zu Unrecht Verfolgter) und Aufrechterhaltung von Kontakten zu Emigrantenkreisen» zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Angebot, sein Land zu verlassen, lehnte Havel ab. Daraufhin wurden seine Haftbedingungen verschärft. In dieser Haftzeit entstanden die bewegenden «Briefe an Olga», seine Frau. Im Februar 1983 wurde der erkrankte Havel nach Appellen und Protesten internationaler Organisationen und vieler Schriftsteller in ein ziviles Krankenhaus verlegt. Wenig später wurde der Strafvollzug «aus Gesundheitsgründen» ausgesetzt.

Als Havel am 16. Januar 1989 die Gedenkveranstaltung zum zwanzigsten Todestag des Studenten Jan Pallach mitorganisierte, der sich anläßlich der sowjetischen Intervention während des «Prager Frühlings» selbst verbrannt hatte, wurde er erneut festgenommen und am 21. Februar 1989 zu neun Monaten Haft unter verschärften Bedingungen (für rückfällige Straftäter) verurteilt. Gegen dieses Urteil legten zahlreiche westliche Länder, Organisationen und Gruppen Protest ein. Zum erstenmal erreichten das Regime aber auch Protestschreiben aus sozialistischen Ländern: aus Polen, der UdSSR, der DDR und Ungarn. Auch zahlreiche Künstler und Intellektuelle in der ČSSR selbst protestierten. Im März 1989 verkürzte ein Berufungsgericht die Haftstrafe Havels auf acht Monate und hob die «verschärften Bedingungen» auf. Nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe beantragte Havel Haftentlassung, am 17. Mai 1989 entsprach das Gericht seinem Antrag.

Am 15. Oktober 1989 erhielt Havel den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung des Stiftungsrats hieß es, «er habe nie Zweifel daran gelassen, daß er persönlich, selbst unter Verlust seiner Freiheit, für seine Überzeugung einstehe».

Am 20. November 1989 gründete sich in Prag das Bürgerforum, das eine zentrale Rolle beim Sturz des kommunistischen Regimes spielte. In Ansprachen auf dem Wenzelsplatz analysierte Václav Havel die revolutionäre Umbruchsituation und formulierte die politischen Forderungen des Bürgerforums. Schließlich mußte auch Husák, der sich anfänglich beharrlich geweigert hatte, zurücktreten. Neuer Staatspräsident der Tschechoslowakei wurde am 29. Dezember 1989 Václav Havel.

Als die friedliche Teilung der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Republiken beschlossen wurde, trat Václav Havel, der bis zuletzt für die tschechoslowakische Föderation eingetreten war, am 20. Juli 1992 von seinem Amt zurück. Am 1. Januar 1993 wurde die unabhängige Tschechische Republik ausgerufen, deren Parlament Václav Havel am 26. Januar 1993 zum ersten tschechischen Präsidenten gewählt hat.

Inhaltsübersicht

Die Krise des ObjektivismusRede vor dem Weltwirtschaftsforum • Davos, 4. Februar 1992Die Erfahrung der DissidentenRede vor der Universität Wrocław • Wrocław, 21. Dezember 1992Die Schrecken des PostkommunismusRede an der George-Washington-Universität • Washington, 22. April 1993Demokratie Auge in AugeAthinai-Preis • Athen, 24. Mai 1993Europa mangelt es an EthosRede auf dem Gipfeltreffen des Europarates • Wien, 8. Oktober 1993Die Mitverantwortung des WestensAufsatz für die Zeitschrift Foreign Affairs • 22. Dezember 1993Auf der Schwelle zur multikulturellen EpocheRede zur Verleihung des Indira-Gandhi-Preises • Delhi, 8. Februar 1994Wir brauchen ein neues Verständnis unserer WerteRede zur Verleihung der Freiheitsmedaille • Philadelphia, 4. Juli 1994Das Gedächtnis des SeinsRede anläßlich der Verleihung des Jackson-H.-Ralston-Preises • Stanford, 29. September 1994Die politische Stimme der SchriftstellerRede auf dem Weltkongreß des Internationalen PEN-Clubs • Prag, 7. November 1994Gründer einer besseren ZukunftRede zur Verleihung der Medaille De Geuzenpenning • Vlaardingen 13. März 1995Autorität und Demokratie in der heutigen WeltRede vor der Presse und im Fernsehen • Canberra, 29. März 1995Die offene Gesellschaft am Ende des 20. JahrhundertsRede anläßlich des Ehrendoktorats der Victoria-Universität • Wellington, 31. März 1995Über Moral und PolitikRede zur Verleihung des Internationalen Katalanischen Preises • Barcelona, 11. Mai 1995Die Zukunft der HoffnungRede vor der Konferenz «Zukunft der Hoffnung» anläßlich der Verleihung der gleichnamigen Medaille • Hiroshima, 5. Dezember 1995Die Seele EuropasRede anläßlich der Verleihung des Ehrendoktortitels durch das Trinity College • Dublin, 28. Juni 1996Über das Theatralische in der PolitikRede zur Verleihung des Ehrendoktortitels der Akademie der musischen Künste • Prag, 4. Oktober 1996Botschaft des LebensNeujahrsansprache im tschechischen Fernsehen und tschechischen Rundfunk • Prag, 1. Januar 1997Was Heimat istRede vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrates im Plenarsaal des Bundestages • Bonn, 24. April 1997Lehren aus LidiceRede zum 55. Jahrestag der Zerstörung von Lidice • Lidice, 14. Juni 1997Verantwortung für das GanzeRede zur Eröffnung der Konferenz FORUM 2000 • Prag, 4. September 1997Vorbeugen, um den Frieden zu gewinnenRede zur Entgegennahme des Fulbright-Preises • Washington, 3. Oktober 1997

Die Krise des Objektivismus

«Mit der ihr eigenen Kaltblütigkeit beschreibt die traditionelle Wissenschaft die verschiedenen Möglichkeiten unseres Untergangs, eine tatsächlich wirksame und praktikable Anleitung, wie sie abzuwenden wären, kann sie aber nicht bieten. (…) Der neuzeitliche Mensch war stolz darauf, dank seiner unpersönlichen Vernunft einen gewaltigen Dschinn aus der Flasche befreit zu haben, und jetzt kann er nur noch unpersönlich feststellen, daß er ihn nicht zurückbefördern kann.»

Rede vor dem Weltwirtschaftsforum Davos, 4. Februar 1992

Sehr geehrte Damen und Herren,

geehrte Anwesende,

 

viele Jahre, ja Jahrzehnte lang hat sich der Westen vor dem Hintergrund der Existenz einer kommunistischen Welt definiert. Die kommunistische Welt hat – als gemeinsamer Gegner und gemeinsame Bedrohung – den Westen politisch und sicherheitstechnisch zusammengehalten und half ihm – gegen ihren Willen – alle seine bewährten Prinzipien und Werte, wie die der bürgerlichen Gesellschaft, parlamentarischen Demokratie, Marktwirtschaft und die Idee der Menschen- und Bürgerrechte, zu verfestigen, zu kultivieren und weiterzuentwickeln. In ständiger Konfrontation mit der düsteren, gefährlichen und expansiven Welt der kommunistischen Totalität erfuhr sich der Westen immer wieder als ein Garant von Freiheit, Wahrheit, Demokratie, sich vertiefender gegenseitiger Zusammenarbeit und Prosperität; anders gesagt, die kommunistische Welt war ein Instrument westlicher Selbstbestätigung. Diese Selbstbestätigung aber war in gewisser Weise ambivalent: sie trug etwas Einschläferndes in sich. Sie förderte zwar die Entwicklung von viel Gutem, trieb jedoch die westliche Politik unwillkürlich in die Arme gewisser Stereotype, die aus dem Gefühl eigener Untadeligkeit hervorgingen. Die Zeit- und Geschichtslosigkeit des Totalitarismus hat den Westen angesteckt. Allzu sehr gewöhnte er sich an die Realität der Teilung der Welt in zwei Ideologie- und Machtblöcke, an den Status quo des Kalten Krieges, den atomaren Frieden und die Unveränderlichkeit der Dinge überhaupt.

Die ganze sogenannte zweite Welt, so wie sie bisher allen bekannt und vertraut war, ist an der Wende von den achtziger zu den neunziger Jahren explodiert und dann erdrutschartig in sich zusammengebrochen. An ihrer Stelle tauchte vor der erstaunten Welt plötzlich ein Krater auf, der eine Lava postkommunistischer Überraschungen ausspuckte. In dieser Lava vermengt sich wiedererwachte Geschichte, die längst vergessen zu sein schien, mit Tausenden von Problemen ökonomischer, sozialer, nationaler, territorialer, kultureller und politischer Art, von deren latentem Gärungsprozeß unter der Oberfläche totalitärer Langweile kaum jemand gewußt hatte.

Es scheint mir, daß diese Explosion den Westen genauso wie den Osten überrascht und die westliche Politik geradezu schockiert hat. Tagtäglich können wir uns davon überzeugen, wie schwer der Westen sich damit tut, auf die neue Wirklichkeit zu reagieren, sich ihr anzupassen und sich von seinen bisherigen Gewohnheiten zu trennen. Er spürt, daß alles plötzlich anders geworden ist, weiß aber nicht recht damit umzugehen. Hier und da klingt sogar eine nostalgische Sehnsucht nach einer Zeit an, in der die Welt besser zu verstehen war. Welche Stellung angesichts der neuen Staaten beziehen, deren Entstehung jegliche in Helsinki, Jalta und Versailles festgelegten Ordnungen außer Kraft setzt? Wie auf das Ende von zentralistischer Wirtschaft und auf die Drohung ökonomischer und sozialer Krisen reagieren, die dieses Ende begleiten werden? Wie auf die verschiedensten regionalen Konflikte und Konfliktherde reagieren, auf die Eruption von ethnischen Leidenschaften und von Haß? Wie sich mit den schwer vorhersagbaren geopolitischen Veränderungen auseinandersetzen, die all das zu Folge haben wird? Es scheint, daß der Westen nicht nur in Verlegenheit ist, sondern angesichts der östlichen Erschütterungen auch ein wenig ins Wanken gerät, seitdem das Gewebe seiner bisherigen Gewißheiten fadenscheinig wird. Plötzlich lebt auch im Westen eine bunte Skala unterschiedlichster und bis vor kurzem schlummernder geopolitischer Interessen, Rivalitäten und Ambitionen auf, plötzlich werden bisher festgefügte Bindungen in Frage gestellt, weil der Druck gewichen ist, der sie erzwungen hat, plötzlich beginnen partikulare Interessen, die längst von der Geschichte begraben zu sein schienen, sich zu differenzieren, zu polarisieren und aufeinanderzuprallen. Hier und da werden sogar Zeichen einer Versuchung sichtbar, das Ende der geteilten Welt zum Anlaß neuerlicher Spaltungen zu nehmen.

Das Ende des Kommunismus hat nämlich uns alle überrascht. Aber das ist noch nicht die Hauptsache, sondern letztlich eine mehr oder weniger offensichtliche und allgemein bekannte Tatsache.

Wenn Sie erlauben, möchte ich hier gerne einen anderen Aspekt dieser Entwicklung erwähnen, einen mehr im verborgenen liegenden, tiefgehenderen und durchgreifenderen Aspekt, der bisher, soweit mir bekannt, noch nicht zum Thema von Leitartikeln aller Zeitungen der Welt geworden ist. Das Ende des Kommunismus bedeutet nämlich in erster Linie eine Botschaft an die Menschheit, eine Botschaft, die wir noch nicht ausreichend imstande sind, zu dechiffrieren und zu begreifen.

Ich denke, daß der Zusammenbruch des Kommunismus in seiner tiefgehendsten Bedeutung einen Punkt hinter eine große Ära der menschlichen Geschichte gesetzt hat. Einen Schlußpunkt nicht nur hinter das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert, hinter die moderne Zeit also, sondern hinter die Neuzeit überhaupt. Hinter die Neuzeit als einer Zeit, in der sich in allen möglichen Formen die Überzeugung ausgedrückt und durchgesetzt hat, die Welt und das Sein an sich stelle ein einheitliches und schlüssiges System dar, das sich nach einer endlichen Zahl allgemeiner Gesetzmäßigkeiten richte und vom Menschen – je mehr er es durchschaut und begreift – beherrscht und zu seinem Vorteil rational gesteuert werden könne. Die Neuzeit, deren Vorspiel die Renaissance war, stand von der Aufklärung bis hin zum Sozialismus, vom Positivismus bis hin zum Szientismus, von der industriellen bis hin zur informationellen Revolution im Zeichen des Fortschritts der rationalen Erkenntnis. Daraus leitet sich die stolze Vorstellung des Menschen ab, als Krönung alles Seienden, alles Seiende objektiv beschreiben, erklären und beherrschen sowie die alleinige Wahrheit über die Welt in Besitz nehmen zu können. Es war die Ära des Kultes der entpersönlichten Objektivität, die Ära des Sammelns von objektiven Erkenntnissen und ihrer technischen Verwertung, die Ära des Vertrauens in eine Automatik des Fortschritts, mittels der wissenschaftlichen Methoden. Es war die Ära der Systeme, Institutionen, Mechanismen, statistischen Mittelwerte, die Ära der Informationen, welche als frei übertragbar und daher keiner existentiellen Begründung unterworfen verstanden wurden. Es war die Ära der Ideologien, Doktrinen, absoluten Interpretationen der Wirklichkeit, eine Ära, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die universale Theorie der Welt herauszufinden und somit auch den Universalschlüssel zu ihrem Wohlstand.

Der Kommunismus war das monströse Extrem jener modernen Grundhaltung. Er war ein Versuch, anhand einiger Lehrsätze, die für die einzig gültige wissenschaftliche Wahrheit ausgegeben wurden, das gesamte Leben ohne Rücksicht auf seine Bedürfnisse nach einem einzigen Modell zu organisieren, zentral zu planen und zu lenken.

Der Zusammenbruch des Kommunismus kann auch als ein Zeichen verstanden werden, daß sich das neuzeitliche, auf der Prämisse der objektiven Erkennbarkeit der Welt und der völligen Generalisierbarkeit des Erkannten errichtete Gedankengebäude endgültig in einer Krise befindet. Diese Ära hat der Menschheit viel gegeben, sie hat die erste globale – oder planetare – technische Zivilisation geschaffen, ist jedoch an der Grenze ihrer Möglichkeiten angelangt, hinter der sich ein Abgrund auftut. Ich glaube, daß das Ende des Kommunismus eine ernste Warnung an die ganze moderne Menschheit bedeutet. Es ist ein Signal, daß sich die Ära des vermessenen Absolutheitsanspruchs der Vernunft ihrem Ende zuneigt und daß es höchste Zeit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen.

Der Kommunismus wurde von keiner militärischen Macht geschlagen, sondern vom Leben, vom menschlichen Geist und Gewissen, vom Widerstand des Seins und des Menschen gegen Manipulation, durch eine Meuterei der mannigfaltigen Natur, der reich gegliederten Geschichte und der menschlichen Individualität gegen ihre Inhaftierung im Kerker der unifizierenden Ideologie.

Dieses mächtige Signal, diese beredte Botschaft an die Menschheit erreicht uns fünf Minuten vor zwölf.

Wir alle wissen, daß sich unsere Zivilisation in Gefahr befindet. Die Bevölkerungsexplosion, der Treibhauseffekt, die Ozonlöcher, Aids, die Gefahr eines nuklearen Terrorismus, der dramatisch sich vertiefende Abgrund zwischen dem immer reicher werdenden Norden und dem immer ärmeren Süden, drohende Hungersnöte, der Raubbau an den biologischen und mineralogischen Ressourcen des gesamten Planeten, die Expansion der konsumorientierten Fernsehkultur, die wachsende Gefahr von regionalen Kriegen – all das, zusammen mit tausend anderen Dingen, steht für einen Zustand allgemeiner Bedrohung der Menschheit.

Das große Paradoxon dieser Situation ist, daß der Mensch – ein großer Sammler von Informationen – das alles einerseits sehr gut weiß, andererseits in keiner Weise imstande ist, diese Bedrohung abzuwenden. Mit der ihr eigenen Kaltblütigkeit beschreibt die traditionelle Wissenschaft die verschiedenen Möglichkeiten unseres Untergangs, eine tatsächlich wirksame und praktikable Anleitung, wie sie abzuwenden wären, kann sie aber nicht bieten. Es gibt zuviel zu wissen, die Informationen sind unübersichtlich und inkohärent geworden, diese Prozesse sind nicht mehr zu erfassen und zu begreifen, geschweige denn zu bändigen und anzuhalten. Der neuzeitliche Mensch war stolz darauf, dank seiner unpersönlichen Vernunft einen gewaltigen Dschinn aus der Flasche befreit zu haben, und jetzt kann er nur noch unpersönlich feststellen, daß er ihn nicht mehr zurückbefördern kann.

Wir können ihn nicht mehr zurückbefördern, weil wir nicht über unseren Schatten springen können. Wir können es nicht, weil wir das, was wir selbst entfesselt haben, auf die gleiche Art zu bekämpfen versuchen, wie wir es entfesselt haben. Wir suchen nach neuen wissenschaftlichen Anleitungen, neuen Ideologien, neuen Steuersystemen, neuen Institutionen, neuen Mechanismen, mit deren Hilfe wir die verheerenden Folgen unserer vorherigen Anleitungen, Ideologien, Steuersysteme, Institutionen und Mechanismen abwenden könnten. Die verhängnisvollen Folgen der Technik werden von uns wie ein technischer Defekt behandelt, der wiederum nur technisch zu beheben ist. Wir suchen nach einem objektivistischen Ausgang aus der Krise des Objektivismus.

Alles deutet darauf hin, daß dieser Weg nicht begehbar ist. Im Rahmen der traditionellen neuzeitlichen Einstellung zur Wirklichkeit ist kein System zu erfinden, das alle fatalen Folgen vorangegangener Systeme beseitigen würde. Es ist kein Gesetz oder keine Theorie zu entdecken, deren technische Anwendung alle fatalen Folgen der technischen Anwendung früher entdeckter Gesetze und Theorien beseitigen würde.

Nötig ist etwas anderes und etwas mehr. Die Einstellung des Menschen zur Welt muß sich radikal ändern. Wir müssen uns von der vermessenen Vorstellung befreien, daß die Welt ein Rebus ist, das man nur zu lösen braucht, daß sie eine Maschine ist, deren Anleitung man bloß finden muß, daß sie ein Datensatz ist, den man bloß in den Computer einzugeben braucht – in der Hoffnung, daß er früher oder später die Universallösung auswirft.

Ich bin zutiefst davon überzeugt: Aus ihrer Verdrängung ins Private befreit und wieder belebt werden müssen Kräfte wie die natürliche, besondere und unwiederholbare Erfahrung der Welt, elementarer Gerechtigkeitssinn, Einfühlungsvermögen, transzendentales Verantwortungsbewußtsein, archetypale Weisheit, Geschmack, Mut, Mitleid und Vertrauen in die Wirkung konkreter Schritte, die nicht nach universeller Geltung streben und damit nach einem objektiven oder technischen Schlüssel zur Erlösung. Man muß den Dingen eine neue Chance geben, sich so zu zeigen, wie sie sind, und in ihrer Einzigartigkeit wahrgenommen zu werden. Man muß die Pluralität der Welt wahrnehmen und sie nicht immer wieder durch die Suche nach einem gemeinsamen Nenner zusammenschnüren wollen. Man muß mehr begreifen als erklären. Der Weg nach vorn führt nicht so sehr über die Konstruktion von universalen Systemlösungen, die der Wirklichkeit von außen appliziert werden, sondern auch über das persönliche Bemühen, sie von innen heraus zu begreifen. Eine solche Haltung begünstigt ein Klima von toleranter Solidarität und Einheit in der Verschiedenheit, die auf allgemeinem Respekt, echter Pluralität und Gleichstellung beruht. Kurz gesagt – die menschliche Einzigartigkeit, die menschliche Tat und die menschliche Seele müssen rehabilitiert werden.

Auch die Welt besitzt so etwas wie eine Seele. Und sie ist mehr als ein Komplex äußerlich wahrnehmbarer und objektivierbarer Informationen, die man nur mechanisch zu sammeln braucht. Das bedeutet nicht, daß wir zu ihr keinen Zugang hätten. Die menschliche Seele besteht – bildlich gesprochen – aus demselben Stoff wie die Seele der Welt. Der Mensch ist nicht nur ein Beobachter der Welt, ihr Zuschauer, Analytiker oder ihr Manager. Der Mensch ist ein Teil der Welt und seine Seele ist ein Teil ihrer Seele. Wir sind lediglich eine eigentümliche Verknotung des Seins, ein lebendiges Atom oder besser eine Zelle in seinem Inneren, die – wenn sie sich ausreichend sich selbst und ihrem Mysterium öffnen kann – imstande ist, ebenfalls das Mysterium, den Willen, den Schmerz und die Hoffnung der Welt zu erfahren und wahrzunehmen.

Ich glaube, daß die heutige Welt – mit ihrer Krise des Allgemeinen, der Objektivität und Universalität – eine große Herausforderung auch für die Politik darstellt, die mir immer noch einer technokratischen und utilitaristischen Haltung zum Sein und dadurch auch zur politischen Macht verpflichtet zu sein scheint. Originelle Ideen und Taten, einzigartig und deshalb immer auch riskant, werden, nachdem sie durch die Mühle objektiver Analyse und Prognose gedreht worden sind, oft ihres menschlichen Ethos und de facto auch ihrer Seele beraubt. Manche der traditionellen demokratischen Mechanismen, die die moderne Zeit hervorgebracht, entwickelt und gleichzeitig konserviert hat, sind dem Kult der Objektivität und des statistischen Mittelwertes derart verhaftet, daß sie es fertigbringen, die menschliche Individualität zu annullieren. Dies ist auch an der politischen Rede festzustellen, in der häufig Klischees den persönlichen Ton verdrängen; taucht der persönliche Ton auf, so ist er meist eher kalkuliert denn authentischer Ausdruck des Redners.

Ich habe das Gefühl, daß früher oder später die Politik vor die Aufgabe gestellt werden wird, ihr neues postmodernes Gesicht zu finden. Der Politiker muß wieder zu einem Menschen werden, der nicht nur an das wissenschaftliche Abbild und die fachliche Analyse der Welt glaubt, sondern auch an die Welt selbst; nicht nur an die soziologischen Daten, sondern auch an die Menschen; nicht nur an die objektive Interpretation der Wirklichkeit, sondern auch an ihre Seele; nicht nur an die übernommene Ideologie, sondern auch an den eigenen Gedanken; nicht nur an die morgendlichen Presseagenturberichte, sondern auch an die eigene Intuition. Die Seele, die eigene Spiritualität, die eigene Einsicht in die Dinge, der Mut, man selbst zu sein und seinen eigenen Überzeugungen zu folgen, die das Gewissen diktiert, die Demut vor der geheimnisvollen Ordnung des Lebens, das Vertrauen in seinen natürlichen Lauf und vor allem das Vertrauen in die eigene Subjektivität als Hauptverbindung zur Subjektivität der Welt – das sind meines Erachtens die Eigenschaften, die von den Politikern der Zukunft gepflegt werden sollten.

Meine «innere Einsicht» in die Politik hat mich in der Überzeugung bestätigt, daß die heutige, sich dramatisch verändernde und die Möglichkeit ihrer globalen Vernichtung leugnende Welt für Politiker eine besondere Herausforderung darstellt. Es geht nicht um die Suche nach neuen und besseren Möglichkeiten der Steuerung von Gesellschaft, Wirtschaft und der Welt insgesamt. Es geht darum, sich von Grund auf anders zu verhalten. Und wer sonst als die Politiker sollte hier den Anfang setzen? Aus ihrer neuen Beziehung zur Welt, zu sich selbst und zu ihrer Verantwortung kann eine wahrhaftig wirksame Veränderung des Systems und der Institutionen erwachsen.

 

Sie kennen sicherlich den «Schmetterlingseffekt». Es ist die Vorstellung, daß alles auf der Welt in einer so geheimnisvollen und komplexen Verbindung zueinander steht, daß der kaum merkliche und scheinbar ganz bedeutungslose Flügelschlag eines Schmetterlings am einen Ende des Planeten an einem Tausende Kilometer entfernten Ort einen Taifun hervorrufen kann.

Ich bin der Meinung, daß man in der Politik an diesen Effekt glauben muß. Man darf nicht denken, daß unsere zwar mikroskopischen, in Wirklichkeit jedoch einmaligen tagtäglichen Taten nur deswegen keinen Sinn haben, weil sie die gigantischen Probleme der heutigen Welt nicht lösen können.

Eine solche a priori nihilistische Behauptung wäre Ausdruck genau jener stolzen neuzeitlichen Vernunft, die glaubt, begriffen zu haben, wie es auf der Welt läuft.

Aber was wissen wir darüber?

Was wissen wir darüber, ob ein zufälliges Gespräch zweier Bankiers mit dem Prinzen von Wales beim heutigen Abendessen in Davos nicht der Samen ist, aus dem einmal eine wunderschöne Blume wachsen wird, über welche die ganze Welt staunen wird?

In der Welt einer globalen Zivilisation kann nur derjenige verzweifeln, der nach einem technischen Trick zu ihrer Rettung sucht. Für denjenigen aber, der ganz bescheiden an die geheimnisvolle Kraft des eigenen menschlichen Seins glaubt, das ihn mit der geheimnisvollen Kraft des Seins der Welt verbindet, gibt es überhaupt keinen Grund zu verzweifeln.

Die Erfahrung der Dissidenten

«Wir haben gewisse Erfahrungen gesammelt, gewisse Erkenntnisse gewonnen, und das – wie ich behaupten möchte – verpflichtet uns geradezu, den Sinn dieser Erfahrungen und Erkenntnisse neu zu bewerten und dadurch die Politik zu bereichern.»

Rede vor der Universität Wrocław Wrocław, 21. Dezember 1992

Sehr geehrter Herr Rektor,

meine Damen und Herren,

 

ich habe viele Freunde in Polen, die jahrelang als sogenannte Dissidenten dem kommunistischen Regime getrotzt haben. Ich selbst war lange in einer ähnlichen Lage. Wir trafen uns, machten uns die Nähe, wenn nicht sogar die Identität unserer Ausgangspunkte und Ziele bewußt und spürten, daß wir alle im gleichen Boot saßen. Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bemühten wir uns um gegenseitige Hilfe und Zusammenarbeit. Später wurden manche von uns durch große historische Veränderungen in die Welt der hohen Politik getragen. Wir wurden gezwungen, für die politische Entwicklung in unseren Ländern direkte Verantwortung zu übernehmen.

Heute – etwa drei Jahre nach diesen Veränderungen – können wir in der Tschechoslowakei und bis zum gewissen Grade auch in Polen eine interessante Erscheinung beobachten: Menschen mit Dissidentenvergangenheit stoßen häufig auf Kritik oder sogar Abneigung, und ihre Vergangenheit wird ihnen eher zum Nachteil als zum Vorteil angerechnet. Seit langem werden sie nicht mehr als Helden einer antitotalitären Revolution oder sogar Erlöser ihrer Länder wahrgenommen. Des öfteren werden sie durch die sich weiterentwickelnden demokratischen Verhältnisse ganz aus der Politik hinausgedrängt, so daß auch für weniger bekannte Menschen Raum entsteht, die außerdem – ob tatsächlich oder nur vermeintlich – realistischer veranlagt sind und sich in praktischer Alltagspolitik insofern besser behaupten können. Dieses Phänomen hat viele unterschiedliche Gründe und könnte für ein längeres Essay, wenn nicht ein ganzes Buch das Thema abgeben.

Ich möchte gerne diesen Augenblick, in dem mir der Ehrendoktortitel der Universität Wrocław – dieses bedeutenden geistigen Zentrums – verliehen wird, zu einer kleinen Betrachtung über ein Thema nutzen, das mit dem soeben erwähnten Phänomen in einem gewissen Zusammenhang steht: über das Thema «Geistigkeit und Politik» bzw. «die geistige Dimension der Politik». Den ehemaligen Dissidenten, oder zumindest einigen von ihnen, wird unter anderem vorgeworfen, sie seien Träumer, Idealisten oder Moralisten, die in der realen Politik nichts zu suchen haben, denn sie, die «Wolkenfürsten» – wie Baudelaire in seinem berühmten Gedicht «Der Albatros» den Dichter tituliert – werden in ihrem Gang über die Erde von «Riesenschwingen» behindert.

Bei dem einen oder anderen mag dies zutreffen, dem einen oder anderen mag damit Unrecht getan werden. Wie auch immer, das Thema der geistigen oder moralischen Dimension der Politik wird hier nicht zufällig angeschnitten: der politische Aspekt in der Haltung eines sogenannten Dissidenten hatte einen etwas anderen Charakter, eine etwas andere Struktur und einen anderen Ursprung als die normale politische Betätigung unter freien Bedingungen. Der gewaltigen Übermacht des totalitären Systems standen Individuen gegenüber, welche – allen damit verbundenen Risiken zum Trotz und ihrer Unsicherheit ungeachtet, ob jemals eine reale Veränderung herbeizuführen sei – immer und immer wieder behaupteten, daß der Kaiser ja gar nichts anhabe. Diese Sisyphus-, beinah Don-Quijote-Haltung hatte ihren Ursprung vor allem im moralischen oder existentiellen Bereich und im verstärkten Gefühl einer persönlichen Verantwortung für die Welt. Naturgemäß trat also in politischer Tätigkeit der Dissidenten viel offensichtlicher, als unter freien Bedingungen möglich, gerade das zutage, was als eine geistige oder ethische Dimension ihrer Haltung zu bezeichnen wäre. Ihre Art, zu denken und sich zu verhalten, ihre Wertskala, ihr Arbeitsstil, ihre spezifische Auffassung von Erfolg und Niederlage und alles weitere, was diese Haltung hervorgebracht hat, mag bei Übertragung in reale Politik unter demokratischen Bedingungen zu Recht als etwas Unpassendes, Fremdartiges, Unpraktisches und Idealistisches wirken.

Die Frage, die ich mir stelle, lautet: Wenn wir in praktischer Politik bestehen wollen, müssen wir die eigene Vergangenheit vergessen, müssen wir von unserer bisherigen Art, zu denken und zu handeln, Abstand nehmen und uns vollständig den komplett neuen Verhältnissen anpassen? Oder sollten wir uns von der neuen Situation, in der wir uns befinden, eher zu dem Versuch herausgefordert fühlen, die praktische Politik zu beleben und zu bereichern, indem wir etwas in sie hineintragen, was uns eigen war? Sollten wir nicht versuchen – selbstverständlich auf eine der neuen Situation angemessene Weise – genau das zu verstärken, was die heutige Politik so häufig vermissen läßt: ihre geistige und ethische Dimension? Anders formuliert: sollen wir unter dem Druck der Konventionen, Stereotype und Verhaltensmodelle, die in der heutigen Politik überwiegen, auf jene Imperative verzichten, nach denen wir in der Vergangenheit gelebt haben, und uns selbst verändern, oder sollen wir im Gegenteil versuchen – unter dem Druck dieser Imperative – die Politik zu verändern?

Wie Sie sicherlich bereits erahnen, neige ich persönlich der zweiten Alternative zu. Selbstverständlich: der pathetische Ruf eines Dissidenten aus dem dunklen Abgrund der totalitären Verhältnisse stellt in der Tat ein etwas anderes Genre menschlicher Betätigung dar als, zum Beispiel, die schwierigen Verhandlungen über einen internationalen Vertrag. Viele Arbeitsformen, Gewohnheiten und stilistische Merkmale sind in die praktische Politik nicht übertragbar. Ein Versuch, dies doch zu tun, wäre nicht nur sinnlos, er könnte sogar viel Böses anrichten. Aber ich spreche hier nicht von Genres und Formen. Ich spreche von Wesen und Inhalt. Und auch wenn ich dabei das Risiko eingehe, vielen meiner Gegner ein weiteres Argument für ihre Behauptung zu liefern, ich sei ein unverbesserlicher Träumer, möchte ich darauf bestehen, daß der Versuch, etwas von unserer Dissidentenerfahrung in die praktische Politik hineinzubringen, auf jeden Fall unternommen werden sollte. Und nicht nur das: ich bin sogar der Meinung, daß wir dazu verpflichtet sind. Wir haben gewisse Erfahrungen gesammelt, gewisse Erkenntnisse gewonnen, und das – wie ich behaupten möchte – verpflichtet uns geradezu, den Sinn dieser Erfahrungen und Erkenntnisse neu zu bewerten und dadurch die Politik zu bereichern. Vielleicht ist dies riskant, vielleicht ist es von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber warum sollten sich ausgerechnet diejenigen vor Risiko und Mißerfolg fürchten, die zu ihrer Zeit gerade deswegen einen Sieg haben davontragen können, weil sie sich vor ihnen nicht gefürchtet haben?

Freilich: Manche Dinge sind leichter gesagt als getan. Zweieinhalb Jahre war ich der nach langen Jahren erste nichtkommunistische Präsident und gleichzeitig auch der letzte Präsident meines Landes: Die Tschechoslowakei, wie Sie sicherlich wissen, hört in neun Tagen auf zu existieren. Und daher weiß ich besser als alle anderen, wie schwer es manchmal einem Politiker fällt, hinter seinen Grundsätzen und Idealen zu stehen, wenn er sich inmitten eines dramatischen Spiels von frei sich entfaltenden politischen Kräften befindet, im Mittelpunkt einer breiten Skala von jedem nur denkbaren gesellschaftlichen Druck. Wenn ich, diesen unlängst gemachten Erfahrungen zum Trotz, das zum Ausdruck bringe, was ich eben gesagt habe, wird man vielleicht glauben können, daß ich es ernst meine.

Wie aber soll der Politik jene geistige und moralische Dimension eingeprägt werden, die ich im Sinne habe? Was hat dies in praktischer Umsetzung zu bedeuten?

Typisch für alle Dissidentenbewegungen scheint mir ihr apolitischer Charakter zu sein. Selbstverständlich: der eine war eher rechts, der andere links eingestellt, einige fühlten sich der einen gedanklichen oder politischen Strömung nah, die anderen sympathisierten wiederum mit einer anderen. Das scheint mir jedoch nicht das Wichtigste gewesen zu sein. Das Wesentliche lag in etwas anderem: im Mut, gemeinsam und solidarisch dem Bösen zu trotzen, im Willen, Vereinbarungen zu treffen und zusammenzuarbeiten, in der Bereitwilligkeit, das eventuelle persönliche oder gruppenbezogene Interesse dem Interesse der Allgemeinheit und der Gemeinschaft unterzuordnen, im Gefühl einer Mitverantwortung für die Welt und im Entschluß, für die eigenen Taten persönlich einzustehen. Die Wahrheit und gewisse elementare Werte wie zum Beispiel die Achtung der Menschenrechte, die bürgerliche Gesellschaft, das Bewußtsein von Unteilbarkeit der Freiheit, die Herrschaft des Rechts verbanden uns und waren es uns wert, immer wieder den ungleichen Kampf mit der Macht aufzunehmen.