Am Beispiel meines Bruders - Uwe Timm - E-Book

Am Beispiel meines Bruders E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Ein kurzes Leben, das lange nachwirkt – Uwe Timm erzählt die Geschichte seines älteren Bruders Karl Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in einem Lazarett in der Ukraine – Erst nach dem Tod von Mutter und Schwester fühlt Uwe Timm sich frei genug, über seinen sechzehn Jahre älteren Bruder zu schreiben, der sich 1942 freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte und nicht mehr zurückkehrte. Der Neunzehnjährige lebt weiter in der Trauer der Eltern, ihren Erzählungen, den sprachlichen Wendungen, die für sein Schicksal bemüht wurden, aber auch in den Träumen des jüngeren Bruders, der kaum eigene Erinnerungen an ihn hat. Warum wurden diese Träume nach einem halben Jahrhundert immer drängender? Der Impuls, über den Bruder zu schreiben, sich ein Bild von ihm zu machen, von seiner Generation im Nazikrieg, erwächst bei Uwe Timm auch aus der Notwendigkeit, über die Voraussetzungen der eigenen Biographie Klarheit zu gewinnen. Es ist die Frage nach familiären Prägungen, nach Werten und Erziehungszielen, nach Liebe, Nähe und Respekt unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs. Warum hat sich der Bruder freiwillig zur SS gemeldet? Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen? Wo ist der Ort der Schuld, wo der des Gewissens bei den Eltern, die ihn überlebt haben? Uwe Timms neues Buch ist ein bewegender und nachdenklicher Versuch über den Bruder, über Schuld und Erinnerung, es ist auch ein Porträt der eigenen Familie und eine Studie darüber, welche Haltungen den Nationalsozialismus und den Krieg möglich machten, was das mit uns zu tun hat und wie man darüber sprechen kann. Ein schönes, kluges und trauriges Buch, das einen nicht loslässt.

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Uwe Timm

Am Beispiel meines Bruders

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Titelseite

Über Uwe Timm

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Uwe Timm

Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.a.: »Heißer Sommer« (1974), »Morenga« (1978), »Der Schlangenbaum« (1986), »Kopfjäger« (1991), »Die Entdeckung der Currywurst« (1993), »Rot« (2001), »Am Beispiel meines Bruders« (2003), »Der Freund und der Fremde« (2005), »Halbschatten« (2008), »Vogelweide« (2013), »Ikarien« (2017), »Der Verrückte in den Dünen« (2020).

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Über dieses Buch

Ein kurzes Leben, das lange nachwirkt – Uwe Timm erzählt die Geschichte seines älteren Bruders Karl Heinz Timm, geboren 1924 in Hamburg, gestorben 1943 in einem Lazarett in der Ukraine – Erst nach dem Tod von Mutter und Schwester fühlt Uwe Timm sich frei genug, über seinen sechzehn Jahre älteren Bruder zu schreiben, der sich 1942 freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet hatte und nicht mehr zurückkehrte. Der Neunzehnjährige lebt weiter in der Trauer der Eltern, ihren Erzählungen, den sprachlichen Wendungen, die für sein Schicksal bemüht wurden, aber auch in den Träumen des jüngeren Bruders, der kaum eigene Erinnerungen an ihn hat. Warum wurden diese Träume nach einem halben Jahrhundert immer drängender? Der Impuls, über den Bruder zu schreiben, sich ein Bild von ihm zu machen, von seiner Generation im Nazikrieg, erwächst bei Uwe Timm auch aus der Notwendigkeit, über die Voraussetzungen der eigenen Biographie Klarheit zu gewinnen. Es ist die Frage nach familiären Prägungen, nach Werten und Erziehungszielen, nach Liebe, Nähe und Respekt unter den Bedingungen des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs. Warum hat sich der Bruder freiwillig zur SS gemeldet? Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen? Wo ist der Ort der Schuld, wo der des Gewissens bei den Eltern, die ihn überlebt haben?

 

Uwe Timms neues Buch ist ein bewegender und nachdenklicher Versuch über den Bruder, über Schuld und Erinnerung, es ist auch ein Porträt der eigenen Familie und eine Studie darüber, welche Haltungen den Nationalsozialismus und den Krieg möglich machten, was das mit uns zu tun hat und wie man darüber sprechen kann. Ein schönes, kluges und trauriges Buch, das einen nicht loslässt.

Inhaltsverzeichnis

Motto

Am Beispiel meines Bruders

Nachwort

above the battle’s fury –

clouds and trees and grass –

William Carlos Williams

Erhoben werden – Lachen, Jubel, eine unbändige Freude – diese Empfindung begleitet die Erinnerung an ein Erlebnis, ein Bild, das erste, das sich mir eingeprägt hat, mit ihm beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis: Ich komme aus dem Garten in die Küche, wo die Erwachsenen stehen, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester. Sie stehen da und sehen mich an. Sie werden etwas gesagt haben, woran ich mich nicht mehr erinnere, vielleicht: Schau mal, oder sie werden gefragt haben: Siehst du etwas? Und sie werden zu dem weißen Schrank geblickt haben, von dem mir später erzählt wurde, es sei ein Besenschrank gewesen. Dort, das hat sich als Bild mir genau eingeprägt, über dem Schrank, sind Haare zu sehen, blonde Haare. Dahinter hat sich jemand versteckt – und dann kommt er hervor, der Bruder, und hebt mich hoch. An sein Gesicht kann ich mich nicht erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich ist diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben – ich schwebe.

 

Es ist die einzige Erinnerung an den 16 Jahre älteren Bruder, der einige Monate später, Ende September, in der Ukraine schwer verwundet wurde.

 

30.9.1943

Mein Lieber Papi

Leider bin ich am 19. schwer verwundet ich bekam ein Panzerbüchsenschuß durch beide Beine die die sie mir nun abgenommen haben. Das rechte Bein haben sie unterm Knie abgenommen und das linke Bein wurde am Oberschenkel abgenommen sehr große Schmerzen hab ich nicht mehr trößte die Mutti es geht alles vorbei in ein paar Wochen bin ich in Deutschland dann kanns Du Mich besuchem ich bin nicht waghalsig gewesen

Nun will ich schließen

Es Grüßt Dich und Mama, Uwe und alle

Dein Kurdel

 

Am 16.10.1943 um 20 Uhr starb er in dem Feldlazarett 623.

 

Abwesend und doch anwesend hat er mich durch meine Kindheit begleitet, in der Trauer der Mutter, den Zweifeln des Vaters, den Andeutungen zwischen den Eltern. Von ihm wurde erzählt, das waren kleine, immer ähnliche Situationen, die ihn als mutig und anständig auswiesen. Auch wenn nicht von ihm die Rede war, war er doch gegenwärtig, gegenwärtiger als andere Tote, durch Erzählungen, Fotos und in den Vergleichen des Vaters, die mich, den Nachkömmling, einbezogen.

 

Mehrmals habe ich den Versuch gemacht, über den Bruder zu schreiben. Aber es blieb jedes Mal bei dem Versuch. Ich las in seinen Feldpostbriefen und in dem Tagebuch, das er während seines Einsatzes in Russland geführt hat. Ein kleines Heft in einem hellbraunen Einband mit der Aufschrift Notizen.

Ich wollte die Eintragungen des Bruders mit dem Kriegstagebuch seiner Division, der SS-Totenkopfdivision, vergleichen, um so Genaueres und über seine Stichworte Hinausgehendes zu erfahren. Aber jedes Mal, wenn ich in das Tagebuch oder in die Briefe hineinlas, brach ich die Lektüre schon bald wieder ab.

Ein ängstliches Zurückweichen, wie ich es als Kind von einem Märchen her kannte, der Geschichte von Ritter Blaubart. Die Mutter las mir abends die Märchen der Brüder Grimm vor, viele mehrmals, auch das Märchen von Blaubart, doch nur bei diesem mochte ich den Schluss nie hören. So unheimlich war es, wenn Blaubarts Frau nach dessen Abreise, trotz des Verbots, in das verschlossene Zimmer eindringen will. An der Stelle bat ich die Mutter, nicht weiterzulesen. Erst Jahre später, ich war schon erwachsen, habe ich das Märchen zu Ende gelesen.

 

Da schloss sie auf, und wie die Türe aufging, schwomm ihr ein Strom Blut entgegen, und an den Wänden herum sah sie tote Weiber hängen, und von einigen waren nur die Gerippe noch übrig. Sie erschrak so heftig, dass sie die Türe gleich wieder zuschlug, aber der Schlüssel sprang dabei heraus und fiel in das Blut. Geschwind hob sie ihn auf und wollte das Blut abwaschen, aber es war umsonst, wenn sie es auf der einen Seite abgewischt, kam es auf der anderen Seite wieder zum Vorschein.

 

Ein anderer Grund war die Mutter. Solange sie lebte, war es mir nicht möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im Voraus gewusst, was sie auf meine Fragen geantwortet hätte. Tote soll man ruhen lassen. Erst als auch die Schwester gestorben war, die Letzte, die ihn kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen.

 

Hin und wieder träume ich vom Bruder. Meist sind es nur Traumfetzen, ein paar Bilder, Situationen, Worte. Ein Traum hat sich mir recht genau eingeprägt.

Jemand will in die Wohnung eindringen. Eine Gestalt steht draußen, dunkel, verdreckt, verschlammt. Ich will die Tür zudrücken. Die Gestalt, die kein Gesicht hat, versucht, sich hereinzuzwängen. Mit aller Kraft stemme ich mich gegen die Tür, dränge diesen gesichtslosen Mann, von dem ich aber bestimmt weiß, dass es der Bruder ist, zurück. Endlich kann ich die Tür ins Schloss drücken und verriegeln. Halte aber zu meinem Entsetzen eine raue, zerfetzte Jacke in den Händen.

 

Der Bruder und ich.

 

In anderen Träumen hat er dasselbe Gesicht wie auf den Fotos. Nur auf einem Bild trägt er Uniform. Von dem Vater gibt es viele Fotos, die ihn mit und ohne Stahlhelm, mit Feldmütze, in Dienst- und in Ausgehuniform, mit Pistole und mit Luftwaffendolch zeigen. Vom uniformierten Bruder hingegen findet sich nur diese eine Aufnahme, die ihn, den Karabiner in der Hand, bei einem Waffenappell auf dem Kasernenhof zeigt. Er ist darauf nur von fern und so undeutlich zu sehen, dass allein meine Mutter behaupten konnte, sie habe ihn sofort erkannt.

 

Ein Foto, das ihn in Zivil zeigt, wahrscheinlich zu der Zeit aufgenommen, als er sich freiwillig zur Waffen-SS meldete, habe ich, seit ich über ihn schreibe, in meinem Bücherschrank stehen: Ein wenig von unten aufgenommen, zeigt es sein Gesicht, schmal, glatt, und die sich andeutende steile Falte zwischen den Augenbrauen gibt ihm einen nachdenklichen strengen Ausdruck. Das blonde Haar ist links gescheitelt.

 

Eine Geschichte, die von der Mutter immer wieder erzählt wurde, war die, wie er sich freiwillig zur Waffen-SS melden wollte, sich dabei aber verlaufen hatte. Sie erzählte es so, als wäre das, was dann danach kam, vermeidbar gewesen. Eine Geschichte, die ich so früh und so oft gehört habe, dass ich alles wie miterlebt vor mir sehe.

 

1942, im Dezember, an einem ungewöhnlich kalten Tag, spätnachmittags, war er nach Ochsenzoll, wo die SS-Kasernen lagen, hinausgefahren. Die Straßen waren verschneit. Es gab keine Wegweiser, und er hatte sich in der einbrechenden Dunkelheit verlaufen, war aber weiter an den letzten Häusern vorbei in Richtung der Kasernen gegangen, deren Lage er sich auf dem Plan eingeprägt hatte. Kein Mensch war zu sehen. Er geht hinaus ins offene Land. Der Himmel ist wolkenlos, und nur über den Bodensenken und Bachläufen liegen dünne Dunstschwaden. Der Mond ist eben über einem Gehölz aufgegangen. Der Bruder will schon umkehren, als er einen Mann entdeckt. Eine dunkle Gestalt, die am Rand der Straße steht und über das verschneite Feld in Richtung des Mondes blickt.

Einen Moment zögert der Bruder, weil der Mann wie erstarrt dasteht, sich auch dann nicht bewegt, als er die ihm näher kommenden, im Schnee knirschenden Schritte hätte hören müssen. Der Bruder fragt ihn, ob er den Weg zur SS-Kaserne kenne. Einen recht langen Augenblick regt sich der Mann nicht, als habe er nichts gehört, dreht sich dann langsam um und sagt: Da. Der Mond lacht. Und als mein Bruder nochmals nach dem Weg zu der Kaserne fragt, sagt der Mann, er solle ihm folgen, und geht auch sogleich voran, schnell, schreitet rüstig aus, er geht, ohne sich umzudrehen, ohne Rast durch die Nacht. Längst ist es zu spät, um noch zur Musterungsstelle zu kommen. Mein Bruder fragt nach dem Weg zum Bahnhof, aber der Mann geht, ohne zu antworten, vorbei an dunklen Bauernhäusern, an Ställen, aus denen das heisere Muhen der Kühe zu hören ist. In den Radspuren splittert unter dem Tritt das Eis. Mein Bruder fragt nach einiger Zeit, ob sie denn auf dem richtigen Weg seien. Der Mann bleibt stehen, dreht sich um und sagt: Ja. Wir gehen zum Mond, da, der Mond lacht, er lacht, weil die Toten so steif liegen.

Nachts, als er nach Hause kam, erzählte mein Bruder, wie ihn einen Moment gegraust habe, und dass er später, nachdem er zu dem Bahnhof zurückgefunden hatte, zwei Polizisten getroffen habe, die einen Irren suchten, der aus den Alsterdorfer Anstalten entlaufen war.

Und dann?

Am nächsten Tag war er frühmorgens losgefahren, hatte die Kaserne und das Musterungsbüro gefunden, wurde auch sofort genommen: 1,85 groß, blond, blauäugig. So wurde er Panzerpionier in der SS-Totenkopfdivision. 18 Jahre war er alt.

 

Die Division galt unter den SS-Divisionen als eine Eliteeinheit, wie auch die Divisionen Das Reich und Leibstandarte Adolf Hitler. Die Totenkopfdivision war 1939 aus der Wachmannschaft des Dachauer KZ gebildet worden. Als besonderes Zeichen trugen die Soldaten nicht nur wie die anderen SS-Einheiten den Totenkopf an der Mütze, sondern auch am Kragenspiegel.

 

Seltsam war an dem Jungen, dass er hin und wieder in der Wohnung verschwand. Und zwar nicht, weil er eine Bestrafung zu befürchten hatte, er verschwand einfach so, ohne ersichtlichen Grund. Plötzlich war er unauffindbar. Und ebenso plötzlich war er wieder da. Die Mutter fragte, wo er gesteckt habe. Er verriet es nicht.

Es war die Zeit, als er körperlich recht schwach war. Blutarmut und Herzflimmern hatte Dr. Morthorst diagnostiziert. In der Zeit war der Bruder nicht zu bewegen, draußen zu spielen. Er ging nicht aus der Wohnung, er ging auch nicht in den Laden, der von der Wohnung aus über eine Treppe zu erreichen war, auch nicht in die Werkstatt, von dem Vater Atelier genannt. Er blieb in der überschaubaren Wohnung mit den vier Zimmern, einer Küche, einer Toilette und einer Abstellkammer verschwunden. Die Mutter war eben aus dem Zimmer gegangen, kam wenig später zurück. Er war nicht mehr da. Sie rief, guckte unter den Tisch, in den Schrank. Nichts. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Es war sein Geheimnis. Das einzig Sonderbare an dem Jungen.

Später, Jahre später, erzählte die Mutter, habe sie, als die Fenster der Wohnung gestrichen wurden, das hölzerne Podest entdeckt, das, die Wohnung lag im Parterre, eine Fensterbank vortäuschte. Dieses Podest konnte man abrücken, und dahinter lagen Steinschleudern, eine Taschenlampe, Hefte und Bücher, die Tiere in der freien Wildbahn beschrieben, Löwen, Tiger, Antilopen. An die Titel der anderen Bücher konnte sich die Mutter nicht mehr erinnern. Dort drin muss er gesessen und gelesen haben. Er lauschte, hörte die Schritte, die Stimmen, der Mutter, des Vaters und war unsichtbar.

Als die Mutter das Versteck fand, war der Bruder schon beim Militär. Das eine Mal, als er noch auf Besuch kam, hatte sie versäumt, ihn zu fragen.

 

Blass, regelrecht durchsichtig soll er als Kind gewesen sein. Und so konnte er verschwinden und plötzlich wieder auftauchen, saß am Tisch, als sei nichts gewesen. Auf die Frage, wo er gesteckt habe, sagte er nur, unter dem Boden. Was ja nicht ganz falsch war. Sein Benehmen war sonderbar, aber die Mutter fragte nicht weiter, spionierte ihm auch nicht nach, erzählte dem Vater nichts.

Er war ein eher ängstliches Kind, sagte die Mutter.

Er log nicht. Er war anständig. Und vor allem, er war tapfer, sagte der Vater, schon als Kind. Der tapfere Junge. So wurde er beschrieben, auch von entfernten Verwandten. Es waren wörtliche Festlegungen, und sie werden es auch für ihn gewesen sein.

 

Die Eintragungen in seinem Tagebuch beginnen im Frühjahr 1943, am 14. Februar, und enden am 6.8.43, sechs Wochen vor seiner Verwundung, zehn Wochen vor seinem Tod. Kein Tag ist ausgelassen. Dann, plötzlich, brechen sie ab. Warum? Was ist am 7.8. passiert? Danach gibt es nur noch eine undatierte Eintragung, aber davon soll später die Rede sein.

 

Feb. 14.

Jede Stunde warten wir auf Einsatz. Ab ½10 Alarmbereitschaft.

Feb. 15.

Gefahr vorüber, warten.

 

So geht es weiter, Tag für Tag. Dann heißt es mal wieder warten, dann der alte Trott oder Appelle steigen.

 

Feb. 25.

Wir gehen zum Angriff auf eine Höhe. Der Russe zieht sich zurück. Nachts Rollbahnbeschuß.

Feb. 26.

Feuertaufe. Russe wird in Stärke von 1 Battalion zurückgeschlagen. Nachts in Stellung ohne Winterkleidung am MG.

Feb. 27.

Gelände wird durchkämmt. Viel Beute! dann geht es wieder weiter vor.

Feb. 28.

1 Tag Ruhe, große Läusejagd, weiter nach Onelda.

 

Es war eine dieser Stellen, an denen ich früher innehielt, beim Weiterlesen zögerte. Könnte mit Läusejagd nicht auch etwas ganz anderes gemeint sein, nicht einfach das Entlausen der Uniform? Andererseits würde dann nicht dastehen 1 Tag Ruhe. Aber dann dieses: Viel Beute!

Was verbirgt sich dahinter? Waffen? Warum dieses Ausrufezeichen, das sich sonst selten in seinen Notizen findet?

 

März 14.

Flieger. Iwans greifen an. Mein überschweres Beute Fahr-MG schießt wie toll ich kann die Spritze kaum halten, paar Treffer

März 15.

Wir gehen auf Charkow vor kleine reste der Russen.

März 16.

In Charkow

März 17.

ruhiger Tag

März 18.

unaufhörliche Bombenangriffe der Russen 1 Bombe in unser Quartier 3 Verw. Mein Fahr MG schießt nicht ich nehme mein MG 42 und knalle drauf 40 H Schuß Dauerfeuer

 

So geht es weiter, kleine Eintragungen, mit Bleistift, in einer unregelmäßigen Schrift, vielleicht auf einem Lastwagen geschrieben, in der Unterkunft, vor dem neuen Einsatz, Tag für Tag: Waffenmusterung, Regen und Matsch, Ausbildung MG Scharfschießen, Exerzieren Flammenwerfer 42.

 

März 21.

Donez

Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.

 

Das war die Stelle, bei der ich, stieß ich früher darauf – sie sprang mir oben links auf der Seite regelrecht ins Auge –, nicht weiterlas, sondern das Heft wegschloss. Und erst mit dem Entschluss, über den Bruder, also auch über mich, zu schreiben, das Erinnern zuzulassen, war ich befreit, dem dort Festgeschriebenen nachzugehen.

 

Ein Fressen für mein MG: ein russischer Soldat, vielleicht in seinem Alter. Ein junger Mann, der sich eben die Zigarette angezündet hatte – der erste Zug, das Ausatmen, dieses Genießen des Rauchs, der von der brennenden Zigarette aufsteigt, vor dem nächsten Zug. An was wird er gedacht haben? An die Ablösung, die bald kommen musste? An den Tee, etwas Brot, an die Freundin, die Mutter, den Vater? Ein sich zerfaserndes Rauchwölkchen in dieser von Feuchtigkeit getränkten Landschaft, Schneereste, Schmelzwasser hatte sich im Schützengraben gesammelt, das zarte Grün an den Weiden. An was wird er gedacht haben, der Russe, der Iwan, in dem Moment? Ein Fressen für mein MG.

 

Er war ein Kind, das lange gekränkelt hatte. Unerklärlich hohes Fieber. Scharlach. Ein Foto zeigt ihn im Bett, das verwuschelte blonde Haar. Die Mutter erzählt, dass er trotz Schmerzen so erstaunlich gefasst war, ein geduldiges Kind. Ein Kind, das viel mit dem Vater zusammen war. Die Fotos zeigen den Vater mit dem Jungen, auf dem Schoß, auf dem Motorrad, im Auto. Die Schwester, die zwei Jahre älter war als der Bruder, steht unbeachtet daneben.

Seine Kosenamen, die er als Kind sich selbst gegeben hatte: Daddum, Kurdelbumbum.

 

Von mir, dem Nachkömmling, glaubte der Vater, ich sei zu viel unter Frauen. In einem Brief, den mein Vater, der damals bei der Luftwaffe diente und in Frankfurt an der Oder stationiert war, an meinen Bruder in Russland geschrieben hat, steht der Satz: Uwe ist ein ganz netter kleiner Pimpf, aber etwas verzogen, na, wenn wir erst wieder im Hause sind, dann wird es schon wieder –.

Ich war das, was man damals ein Muttersöhnchen nannte. Ich mochte den Duft der Frauen, diesen Geruch nach Seife und Parfum, ich mochte und suchte – eine frühe Empfindung – die Weichheit der Brüste und der Schenkel. Während er, der große Bruder, schon als kleiner Junge immer am Vater hing. Und dann gab es noch die Schwester, 18 Jahre älter als ich, die vom Vater wenig Aufmerksamkeit und kaum Zuwendung erfuhr, sodass sie etwas Sprödes, Brummiges bekam, was der Vater wiederum als muffig bezeichnete und was sie ihm nur abermals fernrückte.

Der Karl-Heinz, der große Junge, warum ausgerechnet der. Und dann schwieg er, und man sah ihm das an, den Verlust und die Überlegung, wen er wohl lieber an dessen Stelle vermisst hätte.

Der Bruder, das war der Junge, der nicht log, der immer aufrecht war, der nicht weinte, der tapfer war, der gehorchte. Das Vorbild.

 

Der Bruder und ich.

 

Über den Bruder schreiben, heißt auch über ihn schreiben, den Vater. Die Ähnlichkeit zu ihm, meine, ist zu erkennen über die Ähnlichkeit, meine, zum Bruder. Sich ihnen schreibend anzunähern, ist der Versuch, das bloß Behaltene in Erinnerung aufzulösen, sich neu zu finden.

 

Beide begleiten mich auf Reisen. Wenn ich an Grenzen komme und Einreiseformulare ausfüllen muss, trage ich sie mit ein, den Vater, den Bruder, als Teil meines Namens, in Blockschrift schreibe ich in die vorgeschriebenen Kästchen: Uwe Hans Heinz.

Es war der dringliche Wunsch des Bruders, mein Pate zu sein, mir seinen Namen als zusätzlichen Namen zu geben, und der Vater wünschte, ich solle als Zweitnamen seinen Namen tragen: Hans. Wenigstens mit dem Namen weiterzuleben, im anderen, denn 1940 war schon deutlich, dass der Krieg nicht so schnell ein Ende finden würde und der Tod an Wahrscheinlichkeit gewann.

 

Auf die Frage, warum der Bruder sich zur SS gemeldet habe, gab die Mutter einige naheliegende Erklärungen. Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. Sich nicht drücken. Sie, wie auch der Vater, machte einen genauen Unterschied zwischen der SS und der Waffen-SS. Inzwischen, nach Kriegsende, nachdem die grauenvollen Bilder, die bei der Befreiung der KZ gemachten Filme, gezeigt worden waren, wusste man, was passiert war. Die Mistbande, hieß es, die Verbrecher. Der Junge war aber bei der Waffen-SS. Die SS war eine normale Kampftruppe. Die Verbrecher waren die anderen, der SD. Die Einsatzgruppen. Vor allem die oben, die Führung. Der Idealismus des Jungen missbraucht.

Erst ein Pimpf, dann bei der Hitler-Jugend. Fanfarenmärsche, Kampfspiele, Singen, Fangschnüre. Es gab Kinder, die ihre Eltern denunzierten. Dabei hat er, der Bruder, im Gegensatz zu dir, nie mit Soldaten spielen mögen.

Ich war dagegen, sagte sie, dass sich der Karl-Heinz zur SS meldet.

Und der Vater?

 

Der Vater hatte sich, im November 1899 geboren, schon im Ersten Weltkrieg freiwillig gemeldet und war zur Feldartillerie eingerückt. Das Sonderbare ist, dass ich so gut wie nichts aus dieser Zeit von ihm weiß, Fähnrich sei er gewesen, wollte Offizier werden, aber das war nach dem verlorenen Krieg nicht mehr möglich, und so hat er sich wie tausend andere aus dem demobilisierten Weltkriegsheer einem Freikorps angeschlossen und im Baltikum gegen die Bolschewisten gekämpft. Aber wo genau und wie lange und warum, weiß ich nicht. Und da fast alle Urkunden und Briefe mit der Ausbombung des Hauses 1943 verbrannt sind, ist es nicht mehr in Erfahrung zu bringen.

 

Ein paar Fotos in einem Album zeigen den Vater in dieser Zeit. Auf dem einen, mit der rückseitigen Beschriftung »1919«, ist eine Gruppe junger Männer in Uniformen zu sehen. Einige tragen Stiefel, andere Gamaschen. Sie sitzen auf einer breiten Steintreppe, die möglicherweise zu einem Denkmal gehört. Er liegt mit einem anderen jungen Mann vor den Sitzenden, wie man damals gern Gruppenfotos stellte. Den linken Arm hat er am Boden aufgestützt und lacht, ein blonder, gut aussehender junger Mann. Die jungen Soldaten, bartlos, sorgfältig gescheitelt, könnten Studenten sein, waren es wohl auch. Einer trägt sichtbar am kleinen und am Ringfinger Ringe, ein anderer einen Siegelring. Lässig sitzen sie da und lachen. Vermutlich hat der vorn liegende Vater einen Witz gemacht. Andere Fotos zeigen ihn mit