Heisser Sommer - Uwe Timm - E-Book

Heisser Sommer E-Book

Uwe Timm

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Geschichte des Studenten Ullrich Krause ist ein moderner Entwicklungsroman, in dem Uwe Timm ein atmosphärisch dichtes Bild von den Anfängen der Studentenbewegung zeichnet. Spannend, witzig, mit einem ironischen Blick auf die bisweilen komischen Züge der Studentenrevolte erzählt »Heißer Sommer« von allen exemplarischen Stadien der Politisierung jener Jahre.»Heißer Sommer«, eines der wenigen literarischen Zeugnisse der Revolte von 1967, ist heute, 40 Jahre nach seinem ersten Erscheinen im Herbst 1974, selbst ein Stück Geschichte. Durch seine Genauigkeit, seine Ironie und Authentizität hält es gleichzeitig uneingeholte politische Erwartungen wach. Die Atmosphäre eines bewegenden historischen Moments mit all seinen Spannungen, Aufbrüchen, beschleunigten Entwicklungen wirkt ungebrochen lebendig und aktuell. »Für mich, der ich damals draußen stand, ist ›Heißer Sommer‹ eines der wichtigsten Bücher.« Alfred Andersch

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 392

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Timm

Heißer Sommer

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Uwe Timm

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1

Sie hatte aufgehört zu weinen. Nur hin und wieder noch schluchzte sie auf.

Er lag unbeweglich.

Von der Straße herauf Stimmen, Schritte, dahinter: das gleichmäßige Rauschen der Stadt.

Er roch ihren Schweiß: sauer mit einem Stich Parfum. Das zerknüllte Laken drückte im Rücken.

In einer Wiese liegen, stellte sich Ullrich vor. In der hereinbrechenden Dämmerung die aufsteigende feuchte Kühle spüren.

Im Nebenzimmer setzte das Geigenspiel wieder ein.

Plötzlich richtete sich Ingeborg auf. Die Sprungfedern unter der Matratze quietschten. Er drehte den Kopf zu ihr hinüber.

Unter ihren Augen die schwärzlichen Tränenspuren.

Als sie etwas sagen wollte, sagte er: Hör auf.

Sie starrte ihn an, dann drehte sie sich mit einer jähen Bewegung aus dem Bett, raffte ihre Sachen zusammen und warf sie auf den Sessel. Auf den Ellenbogen gestützt, sah er ihr zu. Er hatte ihr einmal gesagt, dass er es lustig finde, wie sie sich immer zuerst den Büstenhalter umbindet. Sie hatte ihn auch jetzt schon in der Hand, zögerte aber, legte ihn zurück und griff zum Slip. Sie kehrte dabei Ullrich den Rücken zu. Das hatte sie sonst nie getan. Zweimal verfehlte sie die Öse an ihrem Büstenhalterverschluss.

Nebenan hatte sich Lothar schon wieder verspielt, brach ab und setzte wieder neu an.

Als sie sich das Kleid über den Kopf zog, waren für einen Augenblick nur die Beine und der Hintern zu sehen, dann kamen die Arme zum Vorschein und schließlich mit einem Ruck der Kopf. Sie schüttelte ihr Haar. Mit dem Zeigefinger den Fersenriemen hochziehend, stieg sie in ihre Sandaletten, zog den Reißverschluss an der Seite ihres Kleides hoch und suchte nach ihrem schwarzen Lackgürtel. Er lag unter dem Sessel. Wortlos zeigte Ullrich auf die Stelle, wo der Gürtel lag.

Während sie die Schnalle schloss, starrte sie sich einen Moment auf den Bauch.

Einen Augenblick stand sie unschlüssig im Zimmer, dann strich sie sich entschlossen das Haar hinter die Ohren und sah zu ihm hinüber. Ullrich ließ sich zurückfallen, knautschte das Kissen zusammen, schob es sich unter den Kopf und starrte wieder zur Decke.

Bitte, sagte sie.

Lothar verspielte sich schon wieder.

Hörst du, sagte sie.

Er versuchte, sie möglichst gleichgültig anzusehen.

Sie drehte sich um, ging zur Tür, schloss auf, das Gefiedel wurde lauter, sie zog die Tür von außen ins Schloss. Die Tür sprang wieder auf.

Diese Misttür, dachte er und hörte Ingeborg mit schnellen Schritten über den Gang gehen.

Er dachte, dass er sie jetzt zurückrufen müsste, aber er blieb liegen. Die Wohnungstür schlug zu. Im selben Augenblick brach auch Lothars Gefiedel ab.

Ullrich stand auf und ging zum Fenster.

Draußen war es noch hell. Die Föhnzirren wurden orange von der untergehenden Sonne angestrahlt. Nackt stand er am Fenster und sah über die Dächer. Plötzlich glaubte er, etwas wie Erleichterung zu spüren.

Doch dann hörte er unten das Picken ihrer Absätze, gleichmäßig und energisch. Er beugte sich aus dem Fenster, obwohl er wusste, dass er über den Dachansatz hinweg nicht sehen konnte, wie sie unten am Haus entlangging.

In der Dachrinne gurrten die Tauben.

Schön, sagte Ullrich.

Ein leichter warmer Wind ging. Er hatte plötzlich keine Kopfschmerzen mehr. Er zog seinen Bademantel an, warf die Bettdecke über den Sessel und sammelte die Papiertaschentücher vom Boden auf.

Als er sich wieder aufrichtete, war ihm, als würde die schräge Mansardenwand auf ihn stürzen.

2

Mach doch das Fenster auf, sagte Ullrich, draußen ist es schon kühler. Er versuchte, möglichst wenig von dem warmen Mief einzuatmen, der in dem abgedunkelten Zimmer stand.

Du tropfst, Lothar zeigte auf den Fußboden.

Ullrich rieb sich die nassen Beine mit einem Zipfel seines Bademantels ab.

Lothar zog die Heftzwecken heraus, mit denen er die beiden Handtücher am Fensterrahmen festgepinnt hatte.

An heißen Sommertagen schloss Lothar schon frühmorgens das Fenster und verhängte es mit feuchten Handtüchern. Auch die Zimmertür musste verschlossen bleiben. Dadurch sei es in seinem Zimmer am kühlsten, behauptete Lothar. In Lothars Zimmer sei es am heißesten, behauptete Ullrich.

Lothar hatte das Fenster geöffnet und faltete sorgfältig die feuchten Handtücher zusammen.

Was macht dein Referat, fragte Ullrich, bist du weitergekommen.

Ja, es ging, sagte Lothar und wischte sich die Hände an dem Unterhemd ab, das er trotz der Hitze trug. Er raffte die Manuskriptseiten zusammen, vor denen Ullrich stehen geblieben war. Er stieß die drei Blätter sorgfältig auf Kante und legte ein Buch darauf. Dann ein weiteres. Langsam und genau stapelte er immer mehr Bücher darauf.

Und du, was hast du gemacht, fragte Lothar.

Ullrich ging zum Fenster. Er rubbelte sich mit einem Ärmel seines Bademantels die Haare trocken. Die Dächer der gegenüberliegenden Häuser lagen noch immer im Licht. Die Straße unten war schon im Schatten.

Das Herz ist wach, doch bannt und hält in

Heiligem Zauber die Nacht mich immer.

Hemmt die erstaunende Nacht mich immer, sagte Ullrich. Wieso erstaunt die Nacht? Die werden bald auch noch ausgraben, was der schrieb, als er im Turm hauste, rostige Nägel sammelte und jeden mit Eure Heiligkeit ansprach.

Mit Untertänigkeit Scardanelli, Ullrich machte eine leichte Verbeugung.

Lothar lachte.

Von den Göttern geschlagen, hatte Ziegler in die überfüllte Aula gerufen und dabei mit der rechten Hand auf das riesige Mosaik an der Rückwand gezeigt, wo Phöbus vier Pferde mit Jugendstilaugen lenkte.

Die Pferde mit den Basedow-Augen, hatte Ingeborg Ullrich einmal zugeflüstert.

Ingeborg, die jetzt mit verweinten Augen auf dem Weg nach Hause war.

Ich hätte sie nicht einfach so gehen lassen sollen, sagte Ullrich.

Lothar sortierte seine Karteikarten ein.

Ich hab Schluss gemacht, sagte Ullrich.

Ohne von seinen Karteikarten hochzublicken, sagte er nur: So. Und dann nach einer Weile: Besser jetzt als später.

Einen Augenblick zweifelte Ullrich, ob Lothar ihn überhaupt verstanden hatte. Ob Lothar etwa glaubte, dass Ullrich mit seinem Referat Schluss gemacht habe. Dass er es nicht fertigschreiben würde.

Er setzte sich auf Lothars Bett. Es quietschte genauso wie seins. Er hatte Ingeborg mit dem üblichen flüchtigen Kuss begrüßt. In den letzten Wochen hatte er schon öfter daran gedacht, es ihr zu sagen, flüchtig nur und undeutlich, aber heute hatte er nicht daran gedacht. Er wollte nur nicht mit ihr im Zimmer herumhocken oder ins Bett gehen. Er wollte raus.

Als sie kam, hatte er gefunden, dass sie zu viel Parfum genommen hatte. Ein Parfum, das sie immer benutzte, und das er eigentlich mochte. Je reviens. Er hatte es plötzlich als aufdringlich empfunden. Er hatte ihr vorgeschlagen, spazieren zu gehen, oder sich einen Film anzusehen. Sie war sofort einverstanden gewesen, wollte aber erst noch eine Zigarette rauchen. Sie setzte sich wie gewöhnlich aufs Bett und schlug die Beine übereinander. (So sitzen Fotomodelle auf den Zigarettenreklamen.)

Unter dem hochgerutschten Kleid sah er die Innenseite ihres Oberschenkels.

Er hatte sie nur ganz wenig gestreichelt, dann hatten sie sich wortlos ausgezogen.

Komm, Lothar, sagte er, wir zischen ein Bier. Auf jeden Fall raus.

Und meine Arbeit, fragte Lothar.

Wie hältst du das nur aus, bei dieser Hitze, und dann dieses Professorengequatsche über Hölderlin. Mich kotzt das an, rief Ullrich.

Lothar hatte sich eine Büroklammer vom Schreibtisch genommen und begann sie aufzubiegen.

Ullrich wollte nicht im Zimmer hocken, aber er wollte auch nicht allein draußen herumlaufen.

Als Lothar noch immer zögerte, fragte Ullrich: Was macht denn deine Tunesierin?

Nur einmal noch habe er sie getroffen, zufällig, erzählte Lothar. Grußlos sei sie an ihm vorbeigegangen und habe dabei die weiße Wand des Seminarflurs angestarrt. Allerdings habe auch er sich nicht mehr gemeldet.

Fast vier Wochen lang war Lothar in eine Vorlesung gerannt, in der Aisha saß. Die Vorlesung hieß: Interpretationen ausgewählter Maqamen des Hariri.

Schließlich hatte er Aisha angesprochen, auch zweimal auf sein Zimmer geschleppt. Aber das Bett hatte nicht gequietscht. Ullrich hätte das gehört. Und dann hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Lothar hatte später gesagt, ins Bett wolle sie nur mit einem Ehering.

Lothar, der meist verbissen schwieg, während die anderen redeten, wurde, wenn er eine Ausländerin traf, plötzlich gesprächig. Als Junge in Bamberg habe er Stunden über Landkarten verbringen können.

Lothar legte die auseinandergebogene Büroklammer auf den Schreibtisch: Lothar hatte eine Drahtplastik gemacht.

Die Sonne war inzwischen untergegangen. Der Himmel war jetzt blaugrau. Nur die Föhnzirren leuchteten an den Rändern noch orange.

Danach hatten sie schwitzend nebeneinandergelegen, und plötzlich hatte Ingeborg gefragt: Was macht denn dein Referat?

Ihre Hand war feuchtkalt vom Schweiß, glitschig fand er und versuchte, von ihr abzurücken.

Wir hätten lieber spazieren gehen sollen.

Sie drehte sich mit einer abrupten Bewegung weg.

Er hatte sie absichtlich verletzt, das wurde ihm plötzlich quälend bewusst. Da brüllte er sie an: Du hängst mir zum Hals raus, ellenlang.

Sie hatte ihn angestarrt, Verblüffung in den Augen, dann Angst.

Wie war er nur auf dieses Wort gekommen: ellenlang.

Lothar stand am Schreibtisch, klein, dunkelhaarig, in seinem Trägerunterhemd.

Los, sagte Ullrich, ich zieh mich schnell an. Und dann schon in der offenen Tür: Bis gleich.

3

Zum Beispiel Gert: Der ist im Schuss und in perfekter Eiform den Hang hinunter, federnd über die Bodenwellen, bis er ganz weit unten hinter einem Hügel verschwunden war. Erst am nächsten Tag haben wir ihn wiedergesehen: im Kreiskrankenhaus, in einem Streckverband.

Lothar lachte. Lothar lachte und sah dabei die beiden Frauen an ihrem Tisch an. Aber die beiden unterhielten sich.

Ullrich und Lothar hatten im Vorgarten vom Rolandseck gestanden. Lothar hatte sich an den erstbesten Tisch setzen wollen, an dem noch zwei Plätze frei waren. Aber Ullrich hatte gezögert und schließlich auf den Tisch gezeigt, an dem die beiden saßen, eine Schwarzhaarige in einem lindgrünen Kleid, das zwar lange Ärmel hatte, dafür einen tiefen Ausschnitt, und eine Frau mit lila Fingernägeln.

Die Schwarzhaarige mit dem grünen Lidschatten hatte hochgesehen, dann aber doch noch Guten Abend gesagt, wenn auch schon beinahe wieder zu ihrer Freundin hin.

Sie hatten sich hingesetzt und Lothar fragte die beiden, welchen Wein sie empfehlen könnten.

Wir kennen doch Ihren Geschmack nicht, hatte die Schwarzhaarige gesagt und mit ihrer Freundin weitergeredet.

Als die Kellnerin kam, bestellten Lothar und Ullrich Bier.

Die mit den lila Fingernägeln erzählte von der Documenta.

In dem Moment hatte Ullrich sich nach Gert erkundigt, dem As auf Skiern, und gleich auch die Geschichte miterzählt, die Geschichte vom schnellen Gert im Streckverband.

Als Lothar endlich lachen durfte, fand Ullrich, dass Lothar viel zu laut lachte. Es war ihm peinlich für Lothar, wie Lothar lachte und zu den beiden Frauen hinübersah.

Die Schwarzhaarige zog eine Zigarette aus ihrer Atika-Packung. Ullrich wühlte in der Hosentasche nach seinem Feuerzeug, musste dann doch aufstehen, weil die Jeans zu eng waren.

Aber da hatte sie schon mit ihrem goldenen Feuerzeug geschnippt. An dem rechten Mittelfinger trug sie einen sternförmigen, mit Brillanten besetzten Ring.

Ein Nachteil der Jeans, sagte Ullrich und stellte sein Feuerzeug auf den Tisch: Fürs nächste Mal.

Diesmal lächelte sie wenigstens.

Am Nebentisch erzählte einer von einer Regatta auf dem Ammersee. Er war disqualifiziert worden. Wegen Behinderung.

Ich trage das gelassen, sagte er mehrmals und fuhr sich mit der flachen Hand unters Hemd, das bis zur Hälfte aufgeknöpft war, und kratzte sich die braungebrannte Brust. Zerstreut zog die Schwarzhaarige an ihrer Zigarette und blies langsam den Rauch in Richtung des Regattaseglers.

Da waren plötzlich Fallböen in den Segeln und ein roter Spinnaker platzte mit einem Knall.

Kennst du die Geschichte von der Gans unterm Sofa, fragte Ullrich.

Nein, sagte Lothar und lachte schon im Voraus.

Ullrich erzählte von Ullrich, der damals noch Ulli hieß, und von Moritz dem Foxterrier. Also:

Es war kurz nach der Währungsreform, da hatten sie einmal einen Kriegskameraden seines Vaters besucht. Mit dem war sein Vater in Russland durch dick und dünn gegangen, wie der immer sagte. Sie standen also, sein Vater, seine Mutter (sein kleiner Bruder Manfred war damals noch nicht da), der Foxterrier Moritz und er, der kleine Ulli, an einem Sonntagnachmittag bei dem Kameraden vor der Tür und klingelten. Aber niemand öffnete und sein Vater sagte: Komisch, da ist doch jemand, man hört doch Geschirrklappern, und klingelte nochmals das vereinbarte Doppelzeichen. Vielleicht haben die schon gegessen.

Die beiden Familien besuchten sich nämlich manchmal unangekündigt zur Essenszeit.

Die mit den lila Fingernägeln hörte Ullrich bereits zu.

Endlich wurde die Haustür geöffnet, und der Kamerad sagte: Hallo, ihr, das ist ja eine Überraschung.

Es riecht nach Gebratenem und Ullis Vater fragt, ob sie auch nicht stören beim Essen. Aber der Kamerad sagt: Selbstverständlich nicht, sie seien leider gerade mit dem Essen fertig geworden, schade, etwas früher und sie hätten mitessen können, es sei fast zu reichlich gewesen. Und die Tochter des Kameraden trägt gerade das Geschirr in die Küche.

Was gab es denn?

Was ganz Außergewöhnliches, sagt der Kamerad, Gänsebraten.

Alle seufzen und sagen: Gänsebraten.

Woher hast du denn die Gans?

Organisiert beim Tommy, getauscht gegen ein Deutsches Kreuz in Gold und eine silberne Nahkampfspange.

Donnerwetter, sagt Ullis Vater, du bist ja doch noch der alte. Der Kamerad lacht und sagt, ja, ja, man tut, was man kann, aber er sagt das so merkwürdig hastig, leider müssten sie gleich weg, und Ullis Vater sagt darauf: Sie hätten auch nur mal kurz vorbeisehen wollen, schnell mal Guten Tag sagen. Wir gehen gleich wieder. Aber da schlägt der Kamerad Ullis Vater auf die Schulter, kameradschaftlich, was dem kleinen Ulli immer gefallen hat, und sagt: Kommt doch wenigstens einen Augenblick rein.

Der hat dabei nicht an den Hund gedacht, ergänzt Lothar zu den beiden Frauen hinüber.

Und Ullrich fährt fort: Den Moritz, den hatte der Kamerad nämlich nicht gesehen. Sie gehen alle ins Wohnzimmer, wo es besonders gut riecht, und da kriecht Moritz sofort unters Sofa, wobei sich der Kamerad und seine Frau ansehen, und der Kamerad ist auf einmal ganz einsilbig, was er doch sonst nie ist, sonst ist er immer zu Scherzen aufgelegt, greift Ulli in die Haare und so, aber jetzt, jetzt sagt er gar nichts, und Ullis Eltern setzen sich auf das Sofa, unter dem es kratzt und zerrt, und Ullis Vater sagt: Pfui und ksch und willst du wohl.

Aber der Kamerad sagt, Mensch, lass doch den Hund spielen, der stört doch niemanden, aber er sagt das gar nicht so überzeugend, wie er sonst etwas sagt, und seine Frau wird erst rot und dann wieder blass, während unter dem Sofa ein Geschmatze und Geschlappe anfängt, und der Kamerad sagt, er hätte neulich, rein zufällig, den Zörn getroffen, der damals den Stoßtrupp geführt hat, bei Woronesh, als auch der Bataillonskommandeur fiel.

Nicht Woronesh, sagt Ullis Vater, das war bei Kursk, und weil das Geschmatze unter dem Sofa immer lauter wird und weil der Kamerad schon wieder einen Angriff auf Charkov mit einem Ausbruch aus dem Kessel von Tscherkassy verwechselt, fragt sein Vater, was denn der Hund da unten treibt, und gibt Ulli den Befehl, sofort den Köter unter dem Sofa hervorzuholen, wogegen der Kamerad heftig protestiert und sagt, man solle doch wenigstens dem Hund seine Freude lassen, in diesen Hundezeiten, und die Frau des Kameraden will Ulli, als der sich auf den Boden legen will, sogar festhalten.

Und jetzt kommt der Clou, sagt Lothar.

Greif doch nicht immer vor, sagt Ullrich.

Also, der kleine Ulli kriecht an das Sofa ran und ruft: Der frisst da was. Aber was, das konnte er nicht erkennen, und er versucht, Moritz am Halsband unter dem Sofa hervorzuziehen. Aber der schnappt nach seiner Hand, was Moritz noch nie getan hat, und knurrt.

Alle sind aufgesprungen und reden durcheinander, und die Tochter des Kameraden lacht und lacht.

Sofort raus mit dem Köter, befiehlt Ullis Vater.

Ulli stöbert Moritz auch endlich auf, und der kriecht mit dem Hinterteil voran unter dem Sofa hervor, und hinter sich her zieht er eine große gebratene Gans.

Er hatte schon ganze Batzen herausgerissen. Rückwärts zieht er die Gans über den Teppich quer durchs Wohnzimmer zum Vertiko und knurrt und reißt und schlingt.

Als Ullis Mutter eingreifen will, sagt der Kamerad immer noch: Nun lass doch den Hund.

Endlich lacht auch die Schwarzhaarige. Selbst am Nebentisch war es still geworden. Der Regattasegler sieht herüber.

Die Schwarzhaarige mit dem grünen Lidschatten lächelt Ullrich an. Nein, ist das herrlich, sagt sie und lässt sich von Ullrich Feuer geben.

Die Freundin will wissen, wie alt Ullrich damals war.

So fünf Jahre.

Lothar fragt die mit den lila Fingernägeln, ob sie aus München kommt.

Aber die überhört einfach Lothars Frage und sagt zu Ullrich: Da waren Sie ja noch sehr klein. Dass Sie das behalten haben.

Sie lachen, sie bieten Ullrich Zigaretten an. Lothar sitzt daneben.

Ullrich erzählt die Geschichte mit den Milben. Als Lothar behauptet hatte, in der Wohnung sei Ungeziefer. Als Lothar sich die Haare mit einem Mittel gegen Hundeflöhe gewaschen hatte.

Mitten in das Gelächter hinein sagt Lothar, er wolle jetzt gehen. Er müsse noch arbeiten.

Mein schlechtes Gewissen, sagt Ullrich, auf Lothar zeigend, denn eigentlich müsste auch ich arbeiten.

Auch die mit dem grünen Lidschatten will plötzlich gehen.

Warum, fragt Ullrich, es ist doch noch früh, nicht mal zehn. In Schwabing geht’s jetzt doch erst los.

Zu lange können wir unsere Männer nicht warten lassen, sagt sie.

Ein lustiger Abend, sagt die mit den lila Fingernägeln.

Die Kellnerin kommt. Sie zahlen alle.

Die Schwarzhaarige steckt Wechselgeld und Feuerzeug in ihre Krokotasche und sagt: Auf Wiedersehen und viel Vergnügen noch.

Wiedersehen.

Ihr plissiertes Kleid wippte, als sie über den knirschenden Kies ging. Ihr Kleid war ziemlich kurz.

Ein tolles Fahrgestell, sagte Ullrich, aber dann schwieg er. Er war plötzlich wütend, weil Lothar zum Aufbruch getrieben hatte, noch bevor er die Schwarzhaarige nach ihrer Telefonnummer hatte fragen können.

Da wärst du doch nicht rangekommen, sagte Lothar, deren Mann hat Zaster.

Ullrich zuckte nur mit den Schultern.

Der Regattasegler erzählte einen Witz. Jemand war mit einem Farbtopf um einen Gasometer gelaufen. Den Rest konnte Ullrich nicht verstehen. Am Nebentisch wurde wieder gelacht, aufdringlich und wiehernd, fand Ullrich.

Kannst du nicht das Bein ruhig halten, sagte Ullrich zu Lothar.

Gut, sagte Ullrich, gehen wir nach Hause.

Er trank noch einen Schluck Bier, stand dann aber schnell auf.

Ob er den Unterschied zwischen einem Gürteltier und einem deutschen Professor kenne, wollte Ingeborg einmal in der Mensa wissen.

Er hatte nachgedacht und dann, während sie schon kicherte, Nein gesagt.

Was ist denn der Unterschied?

Sie hatte plötzlich aufgehört zu lachen und grübelte, während nun er zu lachen anfing.

Sie hatte es vergessen.

Sie hatte vergessen, was der Unterschied ist zwischen einem Gürteltier und einem deutschen Professor, beteuerte aber, das sei sehr witzig.

Beim Lachen legte sie immer den Kopf etwas in den Nacken.

Als sie vor dem Rolandseck auf der Straße standen, sagte Ullrich plötzlich: Geh allein nach Hause.

4

Immer noch stand die Hitze in den Straßen.

Ullrich ging unter den Kastanien an den Mauern und Zäunen der Vorgärten entlang. Er sah die erleuchteten Fenster, die Gartentüren der Villen.

Und über mir die immerfrohen Blumen, die blühenden Sterne glänzen.

Sie hatte geweint. Sie hatte im Bett gesessen, die Beine angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt und hatte geweint. Ihre Wimperntusche war zerlaufen, und einen Moment lang hatte er ihr den Arm um die Schultern gelegt. Sie hatte geschluchzt und den Rotz in der Nase hochgezogen, schließlich nach einem Taschentuch verlangt. Er zog aus dem am Boden liegenden Päckchen ein Papiertaschentuch heraus und legte es ihr in die ausgestreckte Hand.

Danke, sagte sie und schluchzte einige Male ganz kurz hintereinander. Sie saßen nackt nebeneinander in dem zerwühlten Bett, und sie hatte Danke gesagt, als sie das Taschentuch von ihm nahm.

Ullrich überquerte die Straße. Der Asphalt war noch weich. Der Gedanke an sein leeres aufgeheiztes Zimmer beunruhigte ihn plötzlich so sehr, dass er wieder zurückging. Er nahm sich vor, auf der Leopoldstraße noch ein Bier zu trinken. In der Siegfriedstraße stand eine riesige Reklametafel: Mister L hört die zärtlichsten Worte. Von den zärtlichsten Frauen.

Jetzt sitzt sie sicherlich in ihrem Zimmer auf dem Bett, dachte Ullrich. Ihr Bett ist so schmal, dass er, wenn sie dort nebeneinandergelegen hatten, seinen Arm um sie legen musste. Vom Bett aus konnte man das Bild an der gegenüberliegenden Wand sehen: Sindbad der Seefahrer.

Ein trauriges Bild, hatte sie gesagt, als er es ihr zum Geburtstag schenkte. Das Ungeheuer sieht gar nicht gefährlich aus, eher unglücklich mit den zwei Blutstropfen.

Er hörte das Dröhnen eines Flugzeugs. Über ihm, in der Dunkelheit, gleichmäßig auf- und abblendende Positionslampen. Unter einem geschwungenen Dachaufsatz leuchtete ein großes Atelierfenster. Er zögerte, überlegte, ob er nicht doch umkehren sollte, kurz vor der Herzogstraße, wo Ingeborg wohnte, wo sie jetzt in ihrem Zimmer saß, weinend, stellte sich Ullrich vor. Vielleicht war sie aber auch zurückgekommen und wartete jetzt in seinem Zimmer.

Gleich hinter dem Hertie-Hochhaus schob er sich in das Gedränge der Menschen, die über die Leopoldstraße schlenderten. Im Leopold lief King-Kong in der Nachtvorstellung. Er blieb vor den Schaukästen des Kinos mit den Fotos stehen. King-Kong, der an dem Empire State Building emporsteigt. Die zärtliche Gebärde, mit der King-Kong die blonde Frau auf den Boden der Plattform legt, bevor er von den MG-Garben der Jagdflieger tödlich verletzt vom Wolkenkratzer stürzt. Ullrich zögerte einen Augenblick, ob er sich den Film noch einmal ansehen sollte, aber dann ging er doch weiter, langsam schob er sich mit der Menschenmenge an den Geschäften und Cafés vorbei. Jemand rief, Donnerwetter, eine Försterstochter. Er sah vor sich die Kniekehlen, den dreieckigen Einschnitt des Slips unter dem engen Rock. Er ging an der Frau vorbei, streifte flüchtig ihren nackten Oberarm, roch Parfum.

Wo die Tische und Stühle der Straßencafés auf dem Bürgersteig standen, stauten sich die Passanten. Ullrich schob sich am Cadore vorbei. Die Tische waren dicht besetzt, da war kein Platz zwischen den lachenden und redenden Menschen. Er fühlte sich plötzlich beobachtet, wie im Zoo, dachte er. An einem weißen runden Metalltisch entdeckte er einen freien Stuhl, einem Pärchen gegenüber, das vor zwei Eisbechern saß, still und andächtig. Mit einer Hand löffelte er, die andere lag wie schützend auf ihrer Schulter.

Ullrich zögerte, ging dann doch weiter.

Hier hatten sie an dem ersten Sonntagnachmittag im Mai gesessen. Ingeborg in einem neuen grünen Kleid. Grün steht ihr nicht, dachte er und sah in dem großen tropfenförmigen Ausschnitt ihren geröteten Brustansatz mit den kleinen Hitzebläschen. Sie hatte sich über Mittag auf dem Balkon ihrer Wirtin gesonnt. Er schlug ihr vor, abends in einen Krimi zu gehen, im Türkendolch. Stumm löffelte sie in ihrem Eisbecher herum. Er beobachtete eine braungebrannte Frau am Nachbartisch, die den Schenkel ihres Freundes streichelte.

Mir hängen die Krimis zum Hals raus, sagte sie. Wir können uns doch auch mal unterhalten.

Noch vor zwei Wochen bist du begeistert in jeden Krimi gerannt.

Sie bestritt das. Diese Übertreibungen seien mal wieder typisch für ihn. Sie sei nicht in Krimis gerannt. Du verdrehst alles, wie es dir gerade passt.

Ach, was soll’s, sagte er.

Daraufhin wandte sie demonstrativ den Kopf ab. Hinten in ihrem Haar entdeckte er eine matte Haarsträhne, wo sie das Trockenshampoo nicht richtig ausgebürstet hatte.

Die braungebrannte Frau am Nebentisch beugte sich vor und küsste ihren Freund, ganz kurz nur. Ullrich hatte die Hand von Ingeborgs Stuhllehne genommen. Plötzlich sah sie ihn an, die Augenbrauen zusammengezogen, eine steile Falte auf der Stirn. Er hätte aufspringen und weglaufen mögen. Hastig löffelte sie ihren Eisbecher aus. Er solle wenigstens in ihrer Gegenwart keine anderen Frauen angaffen.

Du gehst mir auf den Wecker, sagte er ruhig.

Sie stand sofort auf und riss dabei einen Stuhl um. Von den anderen Tischen sahen sie herüber. Er trank aus der längst leeren Kaffeetasse und musste sich darauf konzentrieren, dabei die Hand ruhig zu halten.

Abends war sie zu ihm gekommen. Er war im Zimmer hin- und hergelaufen und hatte sie gefragt, wie das weitergehen solle. Später hatten sie dann nebeneinandergelegen und über Lothars Geigenspiel gelacht.

Ullrich überquerte die Leopoldstraße. Vor dem Picnic saßen die Gammler auf ihren Schlafsäcken und auf den Fenstersimsen der Schaufenster, einer spielte auf einem Banjo. Davor standen Neugierige. Ein älterer Mann in einer Freizeitjacke schrie: Hier herrschen ja saubere Zustände.

Ein Junge mit einem dünnen, fusseligen Bart und einer Schaffellweste, die er über dem nackten Oberkörper trug, sagte, die Ölflecke da kommen von Autos.

Und das da, der Mann zeigte auf feuchtdunkle Stellen an einer Mauer des Stehrestaurants.

Hundepisse, sagte der Junge.

Und diese Bettelei, fragte der Mann.

Sehr richtig, sagte einer der Umstehenden.

Ullrich spürte plötzlich Hunger. Er drängte sich zwischen den Neugierigen hindurch, betrat das Picnic, holte sich ein Tablett, ließ sich am Büffet eine Gemüsesuppe geben, zahlte an der Kasse und ging dann zu einem Automaten, warf dreißig Pfennige ein, öffnete eine kleine Luke und zog einen Vanillepudding auf einem roten Plastikteller heraus. Er löffelte die Suppe an einem der Stehtische und beobachtete währenddessen durch das Fenster die Gruppe um den Jungen in der Schaffellweste. Der Mann in der Freizeitjacke schob jedes Mal beim Reden den Oberkörper vor und fuchtelte mit dem Zeigefinger vor dem Gesicht des Jungen. Dann ging er einen Schritt zurück, sah sich nach den Zuhörern um, wenn die zustimmend mit den Köpfen nickten, schoss er wieder auf den Jungen zu und fuchtelte erneut mit der Hand.

Ullrich hatte einmal abends in seinem Zimmer, als er über einer Lateinübersetzung brütete, gehört, wie sein Vater draußen auf dem Korridor zu einem Bekannten, der sich verabschiedete, sagte: Der Ullrich ist ein richtiger Halbstarker geworden.

Ullrich spürte, wie ihm plötzlich vor Wut heiß wurde. Er schob den Teller zur Seite und löffelte den Vanillepudding.

Lothar hatte behauptet, der Picnicpudding sei eine Reklame für IG-Farben.

In den ersten Tagen, nachdem er in die Mansardenwohnung eingezogen war, hatte Ullrich jeden Abend mit Lothar Schach gespielt. Lothar war als Schüler in Bamberg in einem Schachklub gewesen. Das hatte Lothars Stiefvater als Zeitverschwendung bezeichnet und ihm schließlich verboten. Lothars Stiefvater war Lastkraftwagenfahrer in einem Zementwerk. Ursprünglich hatte er Metzger gelernt, verdiente aber als Lkw-Fahrer besser. Einmal im Jahr, zu Weihnachten, schlachtete er ein Schwein, und zwar stach er es in ihrem Robert-Ley-Haus ab. Lothar musste dann die Schüsseln mit dem Blut tragen. Die Blutwurst sei sehr lecker gewesen, behauptete Lothar. Als Lothar an einem Abend fünfmal hintereinander gewonnen hatte, in dem darauffolgenden Spiel aber einen übereilten Zug machte und seine Dame verlor, meinte Ullrich, nachdem er beiläufig schachmatt gesagt hatte: Schach verblödet auf die Dauer.

Danach hatte er nie wieder mit Lothar Schach gespielt.

Ullrich sah den Mann wieder auf den Jungen in der Schaffellweste einreden, er zeigte jetzt mit dem Arm über die Straße, in Richtung des Englischen Gartens.

Einen Augenblick sah Ullrich das Gesicht des Mannes, verkniffen und wütend.

Ullrich ging hinaus und stellte sich zu den Passanten, die den Jungen und den Mann umringten.

Arbeiten müsst ihr.

Warum, fragte der Junge.

Ihr denkt wohl, wir sind blöd, ihr gammelt und wir schuften für euch.

Gammeln Sie doch auch, sagte der Junge.

So eine Frechheit, sagte eine junge Frau, dieser Lümmel.

Der Mann hob die Hand und brüllte, du kriegst gleich eine in die Fresse, in deine ungewaschene.

Er hätte sich heute Morgen gewaschen, sagte der Junge, wie jeden Morgen, und zwar ganz, was sicher nicht alle täten, die hier aufgedonnert herumliefen. Er sagte das nicht laut, fast unverständlich, und versprach sich dabei.

Der hat Angst, dachte Ullrich und wartete, ob der Mann in der Freizeitjacke zuschlagen würde. Aber da fragte ein junger Mann in einem großkarierten Hemd: Was hat der Ihnen eigentlich getan? Der Mann in der Freizeitjacke sah ihn überrascht an, zögerte, winkte ab, drängte sich durch die Neugierigen und rief etwas von der Jugend von heute.

Die Gruppe der Neugierigen löste sich auf.

Das war ’ne Arschgeige, sagte der Junge.

Ullrich sagte, wieder einer, der Hitler nachtrauert.

Ist nicht gesagt. Der hat nur ’ne Sauwut im Bauch, sagte der Mann im karierten Hemd. Der würde doch auch lieber Däumchen drehen.

Habt ihr fünfzig Pfennig, fragte der Junge.

Der Mann im karierten Hemd sagte, nee, ich muss mein Geld ziemlich schwer verdienen.

Ullrich gab dem Jungen fünfzig Pfennig und fragte ihn, wo er das Schaf geschlachtet habe, dessen Fell er da trüge.

Das kommt direkt aus der Heide, von einer kapitalen Heidschnucke. Tschüs.

Der Junge setzte sich wieder auf seinen zusammengerollten Schlafsack.

Ullrich fragte den Mann im karierten Hemd, wo er sein Geld so schwer verdienen müsse.

In einer Druckerei. Ich bin Drucker.

Ingeborg hatte gesagt, man kann doch darüber reden, man kann über alles reden. Sie wird bestimmt heute Abend wiederkommen, dachte Ullrich.

Er fragte den Drucker, der Wolfgang hieß, ob er auch Durst habe, vielleicht auf ein Bier.

Ja, bei dieser Hitze.

Sie gingen zum Europa-Café hinüber. Ullrich ging suchend an den Tischreihen vorbei. Aber da war kein Tisch, an dem oder in dessen Nähe Mädchen saßen. Wolfgang zeigte auf einen unbesetzten Tisch: Ullrich zögerte. Sie setzten sich.

Unangenehmer Typ vorhin, sagte Ullrich.

Wolfgang behauptete, er könne den verstehen, der hat sich halt aufgeregt, weil er schuften muss, während die da rumflaggen.

Na ja, sagte Ullrich, das sind doch die Typen, die alle Langhaarigen gleich vergasen wollen.

Ach nee, dem sind die Nerven durchgegangen.

Ullrich bestritt das. Ein typischer Altnazi mit einem Kochtopfhaarschnitt und in einer Freizeitjacke.

Eine Freizeitjacke besagt noch nix, sagte Wolfgang. Albert zum Beispiel, unser Fahrer in der Druckerei, trägt auch immer eine Freizeitjacke, aber in der Nazizeit hat er mit dem Lieferwagen immer einen Umweg gemacht. Der wollte nicht die SS-Ehrenwache an der Feldherrnhalle grüßen. Das war Pflicht damals, auch im Auto, da musste man die rechte Hand vom Steuerrad nehmen und den da machen.

Wolfgang hob den rechten Arm mit der ausgestreckten Hand.

Wer das nicht tat, wurde angehalten und bekam Stunk. Den konnte sich Albert auch wieder nicht leisten. Darum machte er immer einen Umweg.

Am Nebentisch lobte jemand einen Godard-Film, der sehr sozialkritisch sein sollte, was ein anderer bestritt: bitte wo, wo denn. Da war doch eine Einstellung, in der die Sozialkritik geradezu aufdringlich deutlich wurde, dieser Schwenk von Marina Vlady zu den monotonen Fassaden der Wohnblocks. Der das sagte, schlug dabei mit der Handkante mehrmals auf den Tisch, aber so, dass der Kaffee nicht aus den Tassen schwappte. Da war doch Sozialkritik bis ins Zoom.

Und warum konnte sich Albert keine Schwierigkeiten leisten?

Wolfgang sagte: Albert war Mitglied der KP.

Das war schon konsequenter gelöst. Beispielsweise in Pierrot le Fou, sagte der andere, die letzte Sequenz, als Belmondo mit den Dynamitstäben um den blau angemalten Kopf die brennende Zündschnur mit den Händen auslöschen will, mit den Händen den Boden abtastet, bis zur Detonation, dann der bläuliche Rauch.

Die Flugblätter, sagte Wolfgang, die von Genossen in der Besenkammer abgezogen wurden, versteckte Albert im Kaninchenstall in seinem Schrebergarten. Das war so um achtunddreißig, Flugblätter gegen Hitler. Eines Nachts, an einem Sonnabend, ist Albert zu seinem Kaninchenstall geschlichen, vorsichtig hat er den Kaninchenbock beiseitegeschoben, an der hinteren Stallwand ein Stück Pappe losgelöst und die Flugblätter herausgeholt. Er wollte damit nach Giesing fahren und sie heimlich in die Hausflure legen. Plötzlich steht der Nachbar am Zaun. Ein Blockwart und Hundertfünfzigprozentiger, und sagt nur: na.

Na, und da hat der Albert Hosensausen bekommen, hat gesagt, Altpapier, Altpapier, will ich noch verbrennen, und das, obwohl der gar nicht gefragt hatte, was er da in der Hand hält.

Bei Godard ist das gelungen, die Revolution der Sehweisen, sagte der Mann am Nebentisch.

Ja, und Albert zündet noch am gleichen Abend ein Feuerchen in seinem Garten an und verbrennt die Flugblätter und legt sich erleichtert ins Bett. Doch seine Frau hat Bedenken und will nicht einsehen, warum er gleich alle Flugblätter verbrannt hat. Aber Albert meint, sie danach noch aufzubewahren, das sei zu riskant, schließlich sei er ja für die Genossen mitverantwortlich. Am nächsten Morgen, einem Sonntag also, kommt Alberts Frau von der Pumpe zurück, ohne Wasser im Kessel, und sagt: Mensch, draußen liegen überall die verkohlten Papierschnitzel. Auch in den Nachbargärten, und auf einigen kann man noch lesen: Nieder mit dem Henker Hitler.

Und da stürzt der Albert raus und steigt über Zäune, Hecken und so, sagt immer: Schönen Guten Morgen, schönes Wetter heute, ich hab da gestern Papier verbrannt und das hat der Wind weggeweht, das verschandelt die ganze Gartenkolonie, na, und das sammel ich jetzt zusammen.

Das sahen auch alle ein, besonders sein Nachbar, der Blockwart, denn der sagte immer: Ordnung ist das A und O.

Albert hatte noch mal Glück, sagte Wolfgang.

Die beiden am Nebentisch hatten gezahlt und standen jetzt auf. Ullrich hatte nicht heraushören können, wie der Godard-Film hieß, über den sie diskutiert hatten.

Diese Action-Filme hängen mir zum Hals raus, hatte Ingeborg gesagt. Sie würde gern mal in ein Kellertheater gehen.

Diese Schwabinger Atmosphäre kotzt mich an.

Und die Action-Filme?

Das ist etwas anderes, hatte er gesagt.

Sie hatte gelacht, aber so, dass er merken sollte, dass sie das längst nicht mehr komisch fand.

Was machst du, fragte Wolfgang, beruflich mein ich.

Ich studiere, Germanistik.

Willst du Lehrer werden?

Ja, sagte Ullrich zögernd. Ihm war aufgefallen, dass Wolfgang ihn duzte.

Wolfgang wollte wissen, ob es Spaß macht, das Studieren.

Manchmal ja.

Wieso manchmal?

Na ja, es macht keinen Spaß, wenn man über etwas arbeiten muss, was keinen Spaß macht. Ich muss gerade ein Referat über eine Hölderlin-Ode schreiben.

Ode?

Eine Art Gedicht, also die Ode interessiert mich nicht, ein Vergleich verschiedener Fassungen, völlig blödsinnig. Eigentlich wollte ich über ein anderes Gedicht schreiben, sagte er und trank sein Bier aus.

Ullrich hatte sich gemeldet, auf einem jener Stühle sitzend, an deren Armstütze ein kleines hochklappbares Schreibpult befestigt war, eingezwängt zwischen anderen Studenten. Vorne an einem Tisch hatte Ziegler die Themen aufgerufen und die Namen der Referenten von seinem Assistenten notieren lassen. Interpretationen von Oden. Die Liebe, hatte Ziegler gerufen. Ullrich hob sofort die Hand, und da Ziegler nicht zu ihm herübersah, schnippte er mit den Fingern. Aber Ziegler drehte sich nicht um. Inzwischen hatte sich jemand in der ersten Reihe gemeldet. Ziegler notierte sich den Namen. Ich habe mich zuerst gemeldet, Herr Professor, sagte Ullrich. Ziegler sah ihn nur kurz an, dann sagte er: Wenn es Ihnen hier nicht passt, können Sie ja gehen. Ullrich war sitzen geblieben und hatte sich ein anderes Thema geben lassen.

Und wozu ist so ein Referat gut, fragte Wolfgang.

Ullrich zögerte, wie meinst du das.

Was soll das, was kommt dabei raus?

Ach so, sagte Ullrich, dafür bekommt man einen Schein, den braucht man fürs Examen.

Und das ist alles?

Ullrich schlug einen Lokalwechsel vor, vielleicht noch ein Glas Wein im Hahnhof.

Ich muss früh raus morgen, eigentlich müsste ich schon pofen.

Ich auch, sagte Ullrich, aber bei diesem Wetter schlafen.

Wolfgang lachte, du hast recht.

Sie zahlten, standen auf und überquerten die Leopoldstraße.

Wolfgang fragte, was das für ein Gedicht sei, über das Ullrich eigentlich schreiben wollte.

Ullrich wusste nicht, was er sagen sollte.

Kannst du das nicht auswendig?

Doch, sagte Ullrich, natürlich:

Wachs und werde zum Wald! eine beseeltere,

Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden

Sei die Sprache des Landes,

Ihre Seele der Laut des Volks!

Letzten Sommer hatte Ullrich Ingeborg einmal zur Straßenbahn gebracht, wenige Tage, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Sie musste zu einer Vorlesung. Es hatte geregnet, ein warmer dicktropfiger Juniregen. Sie hatten an der Haltestelle im Regen gestanden und sich angesehen, die Haare klebten ihr im Gesicht, ihr heller Regenmantel war an den Schultern dunkel von der Feuchtigkeit. Sie hatten sich angesehen, ohne zu reden, bis die Straßenbahn kam. Er war dann im Regen durch die Straßen gelaufen. Mantel und Hemd waren schon durchweicht. Kühl spürte er die Feuchtigkeit auf seiner Haut. Er lief weiter, bis der Regen leichter wurde, schließlich aufhörte und die Sonne plötzlich hinter der Wolkenbank hervorkam. Scharf geschieden das Hellblau des Himmels von dem schwarzen Wolkenrand. Die Straßen dampften. Vor der Haustür stand Ingeborg. Die Haare hingen ihr in nassen Strähnen ins Gesicht. Sie war an der nächsten Station wieder ausgestiegen und zurückgelaufen. Sie gingen zusammen hinauf. Durch die feuchten Mäntel und Hemden hindurch spürte er ihre Brust. Ihre Hand hatte sie in seinen Mantel gekrallt.

Die Tür des Hahnhofs stand offen. Aus dem verrauchten Innenraum schlug ihnen Stimmengewirr entgegen. Ullrich fragte sich, ob er nicht doch zu Ingeborg fahren sollte, jetzt gleich.

Da sind noch zwei Plätze frei, sagte Wolfgang auf einen der langen schweren Holztische zeigend.

Dort.

Ullrich sah den freien Platz auf einer Bank neben einer Blondine im Dirndl.

Er drängte sich durch die Stuhlreihen und fragte, ob da noch zwei Plätze frei wären.

Ja, die sind frei, sagte ein Mann in einem Blazer und legte der Blondine sogleich den Arm um die Schulter.

Ullrich setzte sich neben sie auf die Bank, Wolfgang auf einen Stuhl gegenüber.

Die Blondine drehte ihr Weinglas hin und her. Der Mann versuchte, sie in ein Gespräch zu ziehen. Gelegentlich sah sie Ullrich von der Seite an. Er hatte ein Glas Weißwein bestellt. Ullrich schob ihr den Brotkorb zu und bot ihr ein Stück Brot an.

Kanaa, sagte Ullrich und hob das Glas.

Sie lachte, der Mann lachte. Der Tiefpunkt des Abends war überwunden. Ullrich sah in dem Ausschnitt ihres Dirndls die Wölbungen ihrer braun gebrannten Brüste, hochgeschoben von den Körbchen des Büstenhalters.

Der Marsch durch die Talsohle ist beendet, das behaupten jedenfalls Plisch und Plum, sagte Ullrich.

Sie lachte.

Der Mann ergänzte: Schiller und Strauß.

Ich weiß, sagte sie, ohne den Mann anzusehen.

Ullrich prostete beiden zu.

Du trinkst zu schnell, sagte Wolfgang.

So ist das, wenn man mit einem Sportsfreund ausgeht. Wir kommen nämlich gerade von der Eigernordwand. Wir haben sie heute in der Falllinie durchstiegen, sagte Ullrich, Wolfgang zuzwinkernd, der schon den Mund geöffnet hatte, etwas sagen wollte, dann aber seinen Mund wieder zuklappte.

Sie müssen uns da mal begleiten, sagte Ullrich.

Sie lachte. Wenn das mein Freund erlaubt.

Der zog sie lachend an sich und versuchte sie zu küssen. Sie drehte ihm aber nicht den Kopf zu.

Den nehmen wir mit, sagte Ullrich, sah die grauen Haare und dachte, der ist schon vierzig und ihr Chef.

Aber schlappmachen darf er nicht.

Der Mann sagte, er sei gut in Form.

Ullrich grinste, trank und sah dabei über das Glas hinweg in ihren Ausschnitt.

Gemeinsam mit Ihnen würde ich jede Wand durchsteigen, ich kann mich da als Bergführer anbieten.

Sie wollen aber hoch hinaus, sagte sie und rieb ihre Oberschenkel aneinander.

Ja, sagte Ullrich, man wächst mit der Aufgabe, noch dazu, wenn man den Gipfel vor Augen hat.

Sie kicherte und fuhr mit den Fingerspitzen am Weinglas entlang.

Ihr Freund lachte auch, sah dabei aber auf seine Armbanduhr.

Dann versuchen wir es doch gleich mit dem Matterhorn.

Mir wird schwindelig.

Ich werde Sie halten.

Noch gefährlicher, sagte sie und legte beim Lachen ihre Hand auf Ullrichs Arm.

Das kommt auf den Hang an, sagte der Mann, zog sie wieder an sich, laut lachend.

Ingeborg hatte gefragt, ob es eine andere Frau sei. Nein, bestimmt nicht. Sie hatte geschluchzt. Die Tränen hatten ihren Lidstrich verwischt. Aber so geht es nicht weiter, einfach so, sagte er, manchmal glaub ich zu ersticken. Sie hatte versucht, das Schluchzen zu unterdrücken. Er hatte sie plötzlich wieder angeschrien. Das lautlose krampfartige Zucken ihres Körpers.

An dem gegenüberliegenden Tisch lachten sie los, jemand rief, der ist gut, nein, ist der gut.

Wolfgang fragte die Blondine, was sie macht.

Wie?

Beruflich.

Ach so, Sekretärin.

Nichts über Arbeit, jetzt, sagte Ullrich.

Der Freund der Blondine versuchte den sachlichen Ton aufzunehmen, er fragte Ullrich, was er mache.

Bergführer, hauptberuflich Bergsteiger, sagte Ullrich.

Und sah das dünne Haar, vorn schimmerte schon die Kopfhaut durch.

Dem fallen schon die Haare aus, dachte Ullrich und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

Er studiert, sagte Wolfgang.

Die Blondine lächelte Ullrich an.

Wir müssen auch langsam gehen, Gaby, sagte ihr Freund. Sie wollte aber noch ihr Glas austrinken, und Ullrich bestellte sich das dritte Glas Wein. Wolfgang sollte die Geschichte von Albert erzählen. Aber Wolfgang wurde plötzlich ganz starr. Er wollte nicht.

Was ist das für eine Geschichte, fragte Gaby.

Also Albert, erzählte Ullrich, der machte immer einen Umweg, um in der Nazizeit nicht die SS-Posten vor der Feldherrnhalle grüßen zu müssen.

Ullrich berührte mit seinem Bein wie zufällig ihren Oberschenkel, sie zuckte etwas, zog ihr Bein aber nicht zurück. Als sie dagegendrückte, schob Albert schon den Kaninchenbock beiseite. Und während Albert am Sonntagmorgen über die Hecken seines Nachbarn stieg, des Hundertfünfzigprozentigen, um die Papierschnipsel aufzusammeln, fuhr Ullrich ihr mit dem Ellenbogen leicht über den nackten Oberarm. Albert hatte noch mal Glück gehabt, sagte Ullrich und presste sein Bein gegen ihren Oberschenkel.

Eine tolle Geschichte, sagte sie.

Ihr Freund mahnte, es sei schon sehr spät, sie müssten jetzt wirklich gehen. Lassen Sie, sagte er dann, ich lade Sie ein. Während er zahlte, flüsterte Ullrich der Blondine zu: Morgen Abend, hier, um sieben.

Gut, flüsterte sie und gab Ullrich die Hand. Auch ihr Freund verabschiedete sich mit Handschlag.

Danke für die Einladung, sagte Ullrich.

Ich muss jetzt pofen, sagte Wolfgang.

Ullrich ließ sich die Adresse von Wolfgang aufschreiben und stand dann auf. Er musste sich am Tisch festhalten.

Du hast zu schnell getrunken.

Draußen war es noch immer warm.

Ich melde mich mal, sagte Ullrich.

Wolfgang sagte, bis dann und hob kurz die Hand.

Ullrich ging über die Leopoldstraße in Richtung Münchener Freiheit, vorbei an den jetzt dunklen Schaufenstern. Auf dem Bürgersteig standen übereinandergestapelt die Tische und Stühle der Straßencafés. Ullrich dachte an den Schenkeldruck unter dem Tisch und lachte leise vor sich hin, bis ihm einfiel, dass Albert im KZ gewesen war. Davon hatte Ullrich im Hahnhof nichts erzählt. Er wusste nicht einmal, wie lange Albert im KZ gewesen war und bei welcher Gelegenheit sie ihn dann doch geschnappt hatten.

Ullrich bog in eine Nebenstraße ein.

5

Er betritt den Seminarraum.

Sogleich wird es ruhig.

Während er nach vorn zu dem Tisch geht, klopfen alle. Hinter ihm geht sein Assistent, hinter dem geht seine wissenschaftliche Hilfskraft.

Vorn am Tisch geht sein Assistent schnell an ihm vorbei und zieht den Stuhl unter dem Tisch hervor, auf den er sich setzt, ohne dabei den Assistenten anzusehen. Dann setzt sich der Assistent rechts und die wissenschaftliche Hilfskraft links von ihm an den Tisch.

Er wartet, bis es ganz ruhig und auch das Schurren der Stühle nicht mehr zu hören ist. Dann sagt er: Wir werden heute versuchen, das Problem, das wir in der letzten Seminarsitzung schon angeschnitten haben, nochmals zu entfalten, weil uns scheint, dass dessen Bedeutung bis heute, auch in der neuesten Forschung, nicht die erforderliche Beachtung gefunden hat, größtenteils nicht einmal erkannt wurde, wie zum Beispiel in der Arbeit des doch immerhin anerkannten Kollegen …

Jemand hustet.

Er spricht nicht weiter und blickt in die Richtung, aus der gehustet wird. Dabei runzelt er die Stirn.

Sogleich drehen sich die meisten, die in den vorderen Stuhlreihen sitzen, um, insbesondere diejenigen, die er mit Namen anzusprechen pflegt, und blicken ebenfalls mit gerunzelter Stirn in die Richtung, aus der gehustet wurde.

Derjenige, der gehustet hat, wird jetzt von allen angesehen.

Er redet weiter.

Der Assistent zu seiner Rechten macht sich Notizen und blickt manchmal hoch und in den Seminarraum.

Die wissenschaftliche Hilfskraft zu seiner Linken schreibt bereits mit, ohne den Kopf zu heben.

Er fragt die wissenschaftliche Hilfskraft, wer heute das Referat hält.

Die wissenschaftliche Hilfskraft hebt schnell den Kopf und nennt den Namen des Referenten.

Er fragt den Assistenten, ob das Referat vorgelegt worden sei.

Der Assistent bestätigt das.

Gut, sagt er, fangen wir an.

Der Assistent nickt, und die wissenschaftliche Hilfskraft ruft den Namen des Referenten.

Jemand steht auf, geht mit einem blauen Schnellhefter in der Hand nach vorn und setzt sich links außen an den Tisch neben die wissenschaftliche Hilfskraft.

Der Referent legt den Schnellhefter auf den Tisch. Sein Gesicht ist gerötet. Auf dem blauen Schnellhefter sieht man feuchte Fingerabdrücke.

Der hat jetzt sicher Atembeschwerden, denkt Ullrich. Hastig beginnt der Referent, sein Referat vorzulesen.

6

Seine Lider brannten. Er öffnete die Augen, schloss sie aber sofort wieder. Das grelle Licht schmerzte. Sein Pyjama war nass geschwitzt. Das Bett zerwühlt, das Laken zerknüllt. Er drehte sich zur Wand. Hinter der rechten Schläfe spürte er einen stechenden Schmerz. Vorsichtig wälzte er sich auf den Bauch, tastete vor dem Bett nach seiner Armbanduhr, fand sie nicht und musste sich aufrichten. Es war zwanzig vor zehn.

Hinter den Augen klopfte es. Obwohl die Gardine zugezogen war, warf der Schreibtisch einen Schatten auf den Fußboden. Er drehte sich zur Wand und versuchte wieder einzuschlafen. Gestern Nacht hatte er vor seiner Zimmertür einen Zettel von Lothar gefunden: Ingeborg hat angerufen. Ruft morgen wieder an.

Durch die Augenlider schien es hellorange. Kleine Punkte und Fäden wanderten hin und her.

Wie Glasnudeln, dachte er.

Das Kopfkissen war feucht vom Schweiß und sein Gesicht brannte. Ihm fiel ein, dass er in das Seminar von Maier gehen musste.

In der ersten Seminarsitzung hatte Ullrich vorn in der dritten Tischreihe gesessen. Die Stühle an den hinteren Tischen waren schon alle besetzt. Ullrich fragte sich, warum sich sonst niemand neben ihn setzte. Plötzlich brach das Gemurmel ab. Maier hatte den Seminarraum betreten. Während Maier nach vorn ging, trommelten alle auf die Tische. Hinter Maier gingen mit feierlich ernsten Gesichtern zwei Assistenten. Maier setzte sich und begann dann über Thomas von Aquin zu reden. Er sagte: Was übersteigt das lumen naturale, natürlich das –. Er zeigte mit dem Finger auf Ullrich. Ullrich blickte schnell zur Seite. Aber Maier sagte: Sie, Sie da in dem blauen Hemd, wie heißen Sie?

Krause, sagte Ullrich.

Maier wiederholte seine Frage. Ullrich drehte sich um, aber niemand sagte etwas. Er hörte sich atmen.

Ich weiß nicht.

Maier sagte: Natürlich das lumen supra naturale, und fügte hinzu, man müsse sich schon konzentrieren, sonst könne man gleich zu Hause bleiben.

Er hatte man gesagt, dabei aber Ullrich angesehen.

Da war wieder dieser Druck hinter der rechten Schläfe. Ullrich legte eine Hand über die Augen. Aber durch seine Lider leuchtete es immer noch orange. Er schwitzte.

Die Blondine im Hahnhof (wie hieß sie?) hatte mit der linken Hand prüfend ihre Frisur betupft, dabei hatte sich der vom Büstenhalter hochgeschobene Busen aus dem Ausschnitt herausgewölbt.

Er rieb sich die brennenden Augen, drehte sich seitwärts schnell aus dem Bett, blieb einen Moment auf dem Bett sitzen und stand dann auf. Er ging zum Mansardenfenster, zog die dünne Stoffgardine zurück und beugte sich aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenlos und graublau.

Er ging zu Lothar hinüber.

Wie geht’s?

Mach die Tür zu.

Lothar hatte das Fenster wieder mit feuchten Handtüchern verhängt.

Er schrieb, ohne hochzublicken.

Hier ist es genauso warm wie bei mir, sagte Ullrich.

Lothar schrieb weiter.

Hast du schon gefrühstückt?

Lothar nickte.

Und Ingeborg?

Will dich heute wieder anrufen.

Will sie vorbeikommen?

Lothar wusste es nicht.

Eine Hitze ist das und schon so frühmorgens.