An der Schwelle des Todes - Shannon McKenna - E-Book

An der Schwelle des Todes E-Book

Shannon McKenna

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Beschreibung

Alex Aaro fliegt nach New York, um seine todkranke Tante zu besuchen. Dort bittet ihn sein Freund Bruno, die hübsche Sozialarbeiterin Nina zu beschützen, die unabsichtlich über ein Geheimnis gestolpert ist, das ihren Tod bedeuten könnte. Ehe Alex es sich versieht, befindet er sich auf einer atemlosen Flucht vor skrupellosen Attentätern. Und für ihn und Nina steht weit mehr auf dem Spiel, als sie beide je hätten vermuten können ...

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Inhalt

Über dieses Buch

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Über die Autorin

Die Romane von Shannon McKenna bei LYX

Impressum

Shannon McKenna

An der Schwelle des Todes

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Patricia Woitynek

Über dieses Buch

Als Alex Aaro in New York ankommt, hat er keine Zeit zu verlieren. Seine Tante liegt im Sterben, und er muss sich beeilen, wenn er sich noch von ihr verabschieden will. Doch ausgerechnet dann bittet ihn sein Freund Bruno Ranieri, die hübsche Sozialarbeiterin Nina im Krankenhaus zu beschützen. Sie wurde auf dem Weg zur Arbeit von einer geistig verwirrten Frau angegriffen und bekam dabei ein unbekanntes Mittel injiziert – seitdem ist für Nina nichts mehr, wie es war, und die Folgen des Angriffs sind noch nicht absehbar. Aaro, der eigentlich keiner Gefahr aus dem Weg geht, ist hin- und hergerissen. Aber als er plötzlich einen Anruf von Nina erhält, die im Krankenhaus nur knapp einem weiteren Anschlag entkommen ist und jetzt von Unbekannten in ihrem Haus belagert wird, zögert er nicht: In letzter Sekunde gelingt es ihm, ihre Verfolger auszuschalten und die völlig verängstigte Nina aus ihrem Versteck zu befreien. Doch damit beginnt für beide ein Wettlauf gegen die Zeit: Auftragsmörder heften sich an ihre Fersen, und das injizierte Mittel zehrt immer mehr an Ninas Kräften. Sie müssen schnellstens ein Gegengift finden, ehe es für Nina zu spät ist …

Sheepshead Bay, Brooklyn, New York City Donnerstagmorgen, fünf Uhr einundvierzig

Nina schaute sich nach hinten um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Das Auto verfolgte sie. Es war keine Einbildung, keine Paranoia. Sie war für ein paar Minuten in den rund um die Uhr geöffneten Supermarkt geschlüpft, um sich bei einer Tasse Kaffee aus dem Automaten zu beruhigen und dieses gespenstische Gefühl abzuschütteln, dass sie belauert wurde. Schließlich war das ziemlich unwahrscheinlich. Man sah ihr an, dass sie nichts besaß, das sich zu stehlen lohnte. Dafür sorgte sie bewusst. Sie kleidete sich unauffällig, bis an die Schwelle der Unsichtbarkeit – darin war sie perfekt.

Trotzdem hatte dieser Wagen irgendwo geparkt und auf sie gewartet, während sie sich in dem Laden herumgedrückt hatte. Und jetzt kroch er von Neuem beharrlich hinter ihr her. Ein Lincoln Town Car, die Lackierung ein fades Beige. Nina prägte sich das Kennzeichen ein, während sie ihre gehetzten Schritte noch beschleunigte. Sie wünschte jetzt, sie hätte auf den scheußlichen Kaffee verzichtet. Er schwappte wie Säure in ihrem Magen hin und her. Sie tippte die Notrufnummer in ihr Handy, während die nutzlose, keifende Stimme in ihrem Kopf plärrte, dass sie besser auf ihren Instinkt gehört hätte und in dem Laden geblieben wäre, um von dort die Polizei zu alarmieren. Jetzt war es zu spät, um sich dorthin zurückzuflüchten. Das Auto befand sich zwischen ihr und dem Supermarkt, alle anderen Geschäfte hatten zu dieser frühen Stunde noch geschlossen. Auf der anderen Straßenseite befanden sich Wohnkomplexe, dazwischen massenhaft dunkle Rasenflächen und Sträucher, durch die man hindurchsprinten konnte. Nina würde niemals rechtzeitig jemanden auf sich aufmerksam machen können. Sie hätte in dieser Herrgottsfrühe an keinem ungünstigeren Ort landen können. Scheiße. Was war sie doch für eine hirnvernagelte Idiotin, dass sie sich eingebildet hatte, um diese Zeit zu Fuß zur Arbeit gehen zu können? Warum nur hatte sie eingewilligt, so früh am Morgen die Hotline zu betreuen, warum hatte sie ihr Auto nicht rechtzeitig in die Reparatur gegeben oder sich zumindest ein Taxi gerufen?

Der Motor heulte auf. Der Wagen kam näher. Nackte Panik schoss in ihr hoch und trieb sie noch schneller voran. Die Gummisohlen ihrer Sandalen quietschten leise auf dem Asphalt, als ihr Notruf von einem Operator entgegengenommen wurde. »Ich werde von einem beigefarbenen Lincoln Town Car verfolgt«, keuchte sie ins Handy und gab das Kennzeichen durch. »Ich befinde mich auf der Lawson, bin gerade abgebogen von der Avenue …«

Das Auto kam direkt hinter ihr mit quietschenden Reifen zum Stehen, dann wurde eine Tür aufgestoßen. »Nina? Nina!«

Was zum Geier? Es war die Stimme einer Frau, dünn und zittrig. Schwankend drehte Nina den Kopf nach hinten. Ihr Atem rasselte in ihrer Brust. Mit dem Daumen aktivierte sie die Freisprechfunktion. Als würde das etwas bringen.

Eine geisterhafte Erscheinung stieg torkelnd aus dem hinteren Teil des Wagens aus. Eine Frau, ältlich und ergrauend. Dürr wie ein Skelett. Die blutunterlaufenen Augen lagen tief in überschatteten Höhlen. Blut sickerte aus ihrer Nase und aus einem Schnitt in ihrer Lippe. Ihre Kleider schlackerten an ihrem Körper, ihre Haare waren ein verfilztes schwarz-graues Gestrüpp.

Die Frau kam taumelnd näher. »Nina?« Ihre Stimme klang flehentlich.

Nina schrak zurück, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ein vages Gefühl des Wiedererkennens erfasste sie … oder mehr eine beängstigende Vorahnung.

»Entschuldigung?«, fragte sie verhalten. »Kenne ich Sie?«

Tränen rannen über die eingefallenen Wangen der Frau. Sie stieß einen Schwall von Worten aus in einer Sprache, die Nina nicht zuordnen konnte. Dabei kam sie viel zu schnell auf sie zu.

Nina wich zurück. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Es folgte ein weiterer ungeduldiger Sermon, aber Nina verstand nicht ein einziges Wort. Sie ging weiter auf Distanz. »Hören Sie, ich weiß weder, wer Sie sind, noch, was Sie von mir wollen, aber halten Sie sich von mir fern«, befahl sie. »Halten Sie Abstand!«

Ihr Rücken kollidierte mit einem Zeitungsstand. Die Frau hielt noch immer mit beunruhigender Wendigkeit auf sie zu. In ihrem Kauderwelsch klang ein bettelnder Unterton mit. Sie entriss Nina das Handy und drückte auf eine Taste, dabei quasselte sie weiter beharrlich auf sie ein.

»He! Geben Sie mir das zurück!« Nina langte nach ihrem Handy. Es landete kreiselnd auf der Erde, während die Frau flink wie eine Schlange ihren Arm packte. Nina wand sich in ihrem Griff, um sich zu befreien, aber die eisigen Finger der Frau waren erstaunlich stark. Dann schnellte ihre andere Hand vor.

Nina schrie auf, als eine Injektionsnadel in ihren Unterarm stach. Es brannte wie ein Wespenstich.

Dann ließ die Frau von ihr ab. Die Spritze fiel zu Boden und kullerte in den Rinnstein.

Mit einem markerschütternden Krachen knallte sie erneut rücklings gegen den Zeitungsstand. Sie starrte in das ausgezehrte Gesicht der Frau und schnappte dabei nach Luft, ohne richtig einatmen zu können. Eine riesige, kalte Faust quetschte ihre Lungen zusammen.

Schließlich dämmerte ihr die Erkenntnis, und ein Prickeln überlief ihren ganzen Körper, als würden Hunderte Eisnadeln auf sie einstechen.

»Helga«, krächzte sie. »Oh Gott. Helga?«

Die Frau hob die Hände und breitete sie in einer stummen Geste der Entschuldigung aus. Sie bückte sich und hob Ninas Handy auf.

»Was sollte … warum hast du das getan?« Nina hatte das Gefühl, als käme ihre Stimme nicht mehr aus ihrem Körper. Sie war wie ein Lufthauch, verzagt und blechern und körperlos. »Was … was zur Hölle war in dieser Spritze?« Sie versuchte, autoritär zu klingen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man gerade an einer Wand nach unten rutschte und auf den Hintern plumpste.

Helgas Gesicht schwebte über ihr, eine groteske Maske mit verschmiertem und herabtropfendem Blut. Sie redete noch immer mit dringlicher Stimme auf sie ein. Das Gesicht eines Mannes tauchte neben ihrem auf. Es war pausbäckig, unrasiert, und er stank nach Zigaretten und Bier. Der Fahrer des Wagens. Nina kannte ihn nicht. Er schrie Helga in derselben unbekannten Sprache an. Seine kratzige Stimme überschlug sich, als hätte er Angst. Helga weinte und brüllte zurück. Tränen mischten sich mit dem Blut.

Sie schlugen sie ins Gesicht, riefen ihren Namen, aber Nina fühlte sich, als gehörte ihr dieses Gesicht nicht mehr, ebenso wie ihr Name.

Ihr schlaffer Körper sackte zur Seite. Er wurde angehoben, fortgeschleift, wie ein Sack Mehl in den Wagen gehievt und über die glatte Lederbank geschoben. Nina roch Zigaretten. Helga schlüpfte neben sie, brabbelte noch immer vor sich hin und umklammerte Ninas Handy.

Mit flehender Stimme beugte sie sich über sie. Aber Nina konnte nichts hören, nicht reagieren.

Sie stürzte immer weiter in die Tiefe.

Alex Aaro bewegte sich mit raumgreifenden Schritten durch die wimmelnde Menschenmasse in der Flughafenhalle des JFK. Jeder, der seinen Weg kreuzte und einen Blick auf sein Gesicht warf, wich hastig zur Seite. Das Ergebnis kam der Teilung des Roten Meers gleich.

»Nein, ich habe keine Zeit. Nein, es passt nicht«, blaffte Aaro in sein Handy. »Ich kann dir deine Bitte nicht erfüllen. Ich bin beschäftigt.«

»Es ist doch kein Aufwand.« Brunos Stimme hatte schon vor einer Weile ihren schmeichelnden Ton verloren und triefte nun vor rechtschaffener Verärgerung. »Du bist doch bereits in New York. Der Flieger ist gelandet. Du bist direkt vor Ort. Welchen Unterschied macht ein kleiner Aufschub deiner persönlichen Tagesplanung? Übersetz einfach diesen Mitschnitt von Ninas Handy. Sie glauben, dass es Ukrainisch ist, aber es hat noch niemand geschafft, es zu übersetzen. Das ist ein Job für dich, mein Freund. Du bist der Mann des Tages.«

Aaro knirschte mit den Zähnen. »Es geht jetzt nicht.«

»Ich sitze gerade vor einer Google-Karte. Du schaffst es in fünfundzwanzig Minuten zum Krankenhaus. Dort übersetzt du, was immer diese spritzwütige alte Hexe gesagt hat, anschließend bleibst du eine Stunde oder so bei Lilys bester Freundin und leistest ihr Gesellschaft, bis wir einen Mann unseres Vertrauens dort postiert haben, damit er auf sie aufpasst. Sobald die neue Wache übernimmt, kannst du dich verdünnisieren. Ist doch völlig harmlos.«

Völlig harmlos, von wegen. Jedwede Verwicklung in die Angelegenheiten der McClouds oder ihrer Kumpels mündete unweigerlich in einen Riesenschlamassel. Darauf war hundertprozentig Verlass. Aaro hatte dieses Phänomen in der Vergangenheit bei unterschiedlichsten Gelegenheiten beobachtet. Davy McCloud hatte ihn wegen ihrer ehemaligen Army-Rangers-Verbindung vor ein paar Jahren um Hilfe gebeten, und in dieses verrückte Abenteuer war ein Ring skrupelloser Organpiraten involviert gewesen.

Von da an war es steil bergab gegangen. Eine der letzten Episoden hatte in der totalen Zerstörung von Aaros Wohnsitz sowie seinen sämtlichen Fahrzeugen durch Brandbomben resultiert. Doch das schlimmste Ereignis hatte sich vor grob sechs Monaten zugetragen. Bruno schubste ihn herum, weil er es konnte. Und der Grund dafür war Aaros kolossales Versagen, das um ein Haar Bruno und Lily das Leben gekostet hätte. Bruno geißelte ihn mit der Schuldpeitsche.

Und es funktionierte. Aaro hasste Schuldgefühle. Sie verursachten ihm Magenschmerzen. Trotzdem konnte er nicht nachgeben, diesmal nicht. »Ich bin beschäftigt«, wiederholte er.

»Beschäftigt womit? Mit deiner beschissenen Arbeit, Aaro? Hast du immer noch nicht genügend Kohle eingesackt mit deinem Cyberangriff-Abwehr-Service? Miles hat mir erzählt, dass ihr ordentlich Gewinn scheffelt. Also verschieb dein Mittagessen mit den Geldsäcken um ein paar Stunden! Du kannst bei dem verdammten Krankenhaus vorbeifahren, um Lilys Freundin zu helfen! Deine Eier sind groß genug, Mann. Du kannst es dir erlauben.«

»Es ist kein Mittagessen. Ich bin …«

»Das interessiert mich nicht, Aaro. Mal im Ernst, Nina ist krank vor Sorge. Ihr wurde eine Droge injiziert, die sie umgenietet hat, und das verrückte Miststück, das das getan hat, liegt im Koma, darum kann niemand sagen, was für ein Zeug das war. Nina hat Angst. Sie braucht Unterstützung. Vorzugsweise bewaffnete Unterstützung. Wir würden uns alle besser fühlen.«

»Du denkst, jemand könnte sie angreifen?«

»Wer weiß? Wir haben keinen Schimmer, was diese Frau zu ihr gesagt hat! Diese Situation schreit geradezu nach dir, Alex Aaro, persönlich und explizit! Komm schon, Lily steht völlig neben sich. Es ist im Moment nicht gut für sie, wenn sie sich aufregt.«

»Komm mir nicht auf die Tour«, knurrte Aaro. »Ich bin nicht derjenige, der deine Freundin geschwängert hat. Ihr labiler hormoneller Zustand ist nicht mein Problem.«

»Alter, du gehst mir tierisch auf die Nüsse.«

»Ich verstehe mich nicht gut aufs Händchenhalten, Bruno. So bin ich nun mal. Du kennst mich. Die Frau braucht einen Traumatherapeuten oder einen Sozialarbeiter oder …«

»Nina ist Sozialarbeiterin, du Schwachkopf!«

Aaro zog eine Grimasse. Das wurde ja immer schlimmer. Eine Sozialarbeiterin. Grundgütiger.

»Betrachte es mal aus folgender Warte.« Brunos Stimme war wie eine Nagelpistole, die die Worte tief in sein Hirn trieb. »Es ist ein Babysitterjob. Du musst dich nicht sensibel oder gefühlsduselig geben, noch nicht einmal höflich. Sei so arschig wie immer. Grunze, furze, kratz dir die Eier, mich kümmert es nicht. Übersetz einfach nur die Aufnahme, und bleib im selben Zimmer wie sie. Davy hat einen Mann in Philadelphia, der ist schon auf dem Weg. Ein alter Militärkamerad. In einer Stunde und zwanzig Minuten bist du erlöst. Es ist der letzte Gefallen, um den ich dich je bitten werde, das schwöre ich bei Gott.«

Aaro zögerte. Ich muss unverzüglich ins Mercer-Street-Hospiz, um mich von meiner sterbenden Tante zu verabschieden, bevor sie den Löffel abgibt.

Nein. Er konnte es nicht sagen, auch wenn es der Wahrheit entsprach. Die Mitleidskarte zu spielen war nicht sein Stil. »Nein«, lehnte er ab. »Ich kann nicht.«

»Du Arschloch. Was zum Henker ist so wichtig …?«

Aaro dimmte die Schimpftirade zu einem weißen Rauschen runter und konzentrierte sich darauf, sein schlechtes Gewissen auf ein Minimum zu beschränken. Er atmete tief durch und spannte die Bauchmuskeln an. Es half ein wenig. Er wollte unbedingt seine Tasche wiederhaben, also legte er auf dem Weg zur Gepäckausgabe einen Zahn zu. Er hasste es, Waffen als Frachtgut aufgeben zu müssen. Von seinen Pistolen getrennt zu sein verstärkte seine übliche gereizte Stimmung noch. Bei dem Gedanken, dass seine Tante Tonya mit dem Tod rang, wurde ihm übel. Und die Aussicht, seiner Familie gegenübertreten zu müssen, ließ seinen Stresspegel bis in die Stratosphäre schießen.

Bruno und Lily ihre bescheuerte Bitte abschlagen zu müssen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Aaro, es ist doch keine große Sache.« Brunos Stimme drängte sich wieder in den Vordergrund. Er hatte den scharfen Ton eingestellt und versuchte nun wieder, an seine Vernunft zu appellieren. Der Typ war wie ein Pitbull.

»Es gibt Zehntausende in New York City, die diese Aufnahme für sie übersetzen könnten. Find jemand anderen.«

»Aber die sind keine eins neunzig groß, bewaffnet bis an die Zähne und gemeiner als eine Klapperschlange mit PMS. Ja, Lily, du hast richtig gehört. Er ist zu beschäftigt.« Brunos Stimme klang jetzt gedämpft, als er mit seiner zukünftigen Ehefrau sprach, die offenbar mit ihm im Raum war. Es folgte eine schrille Antwort. »Lily will mit dir reden.« Ein hinterhältiger Unterton schlich sich in Brunos Stimme. »Sobald sie nicht mehr mit Nina telefoniert. Mach dich auf was gefasst, Alter.«

»Gib ihr bloß nicht das Telefon«, sagte Aaro barsch.

»Oh doch, das werde ich, verlass dich drauf. Nina braucht jemanden in ihrer Nähe. Sie hat keine Familie, es gibt weder einen Ehemann noch einen Freund, der …«

»Versucht ihr etwa, mich zu verkuppeln?« Der gereizte Nerv, der von Aaros permanentem Zähneknirschen herrührte, pochte scheußlich. »Denk nicht mal dran, Mann.«

»Auf keinen Fall«, versicherte Bruno ihm hastig. »Wir würden dich nicht mal unserem ärgsten Feind an den Hals wünschen. Übersetz diesen Mitschnitt und steh anschließend einfach bedrohlich herum. Sie wird dich eingeschüchtert anschauen, bis jemand dich erlöst. Das kannst du doch gut.«

Aaro schnappte sich seine Tasche vom Gepäckförderband. Er hasste so viele Dinge an diesem Szenario, dass er sie nicht zählen konnte: Eine verängstigte Frau steht in den Straßen von Brooklyn und schwadroniert auf Ukrainisch. Die Bluse ist zerrissen, das Gesicht blutverschmiert, eine mit Rauschgift gefüllte Spritze in der Hand. Was musste man da noch fragen? Die klassische Elendsgeschichte von Gewalt, Vergewaltigung, Verrat. Sie trieb die Frauen in die Drogensucht, in den Wahnsinn und am Ende in ein verfluchtes Koma. Und sie verlangten, dass er sämtliche abscheulichen Details für sie übersetzte. Na bravo. Ganz große Klasse.

Aaro bediente sich erneut seines Roten-Meer-Tricks und bahnte sich so den Weg zu den Autoverleihschaltern. Er hatte keinen Bock, diese herzzerreißende Leidensgeschichte zu übersetzen. Sie würde grauenvoll sein, und es gab nichts, das er daran ändern könnte. Er musste sich von Frauen wie Lilys glückloser Freundin Nina fernhalten, dieser mitleidsvollen Weltverbesserin, die sich wahrscheinlich in einem Heim für misshandelte Frauen aufopferte. Sie versuchte, den Armen und Schwachen zu helfen, und dies war nun der Dank dafür. Was für ein beschissenes Durcheinander.

Nein, er würde sogar Hunderte Kilometer Umweg auf sich nehmen, um Lilys Freundin und ihre verdammten Probleme zu meiden. Sollte doch jemand anderes diese Bürde schultern.

»Lily gibt Nina gerade deine Handynummer«, informierte Bruno ihn. »Und ich sende dir die Audiodatei.«

Aaro zischte zwischen den Zähnen hervor: »Gottverdammt, Bruno …«

»Anschließend wird Nina dich anrufen. Sag ihr persönlich, dass dir die Sache am Arsch vorbeigeht. Los, sag das dem verängstigten, traumatisierten, weinenden Mädchen. Ich wünschte, ich könnte dabei sein und mir die Show ansehen.«

Aaro legte auf und reihte sich in die Warteschlange vor dem Mietwagenschalter ein, dabei massierte er die heiße, schmerzhaft pochende Stelle an seiner Stirn.

Er wäre mehr als nutzlos für diese Frau, wenn er mitsamt seinen Waffen in ihrem Krankenhauszimmer herumstünde. Er würde ihr bloß Luft und Raum stehlen. Hilflos und plump wie ein Felsklotz. Was sollte ihr das bringen? Sie würde sich nur unbehaglich fühlen. Als hätte sie nicht schon genügend Probleme.

Gott, er hasste das Fliegen. Sein Magen zwickte, als würde jemand seine Fingernägel hineinbohren. Zudem hatte er nicht mehr geschlafen, seit er von der Sache mit Tonya erfahren hatte.

Seltsam, diese Reaktion. Er hatte seine Tante seit Jahrzehnten nicht gesehen und sie nicht mal mehr gesprochen, nachdem er den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hatte. Da es keine Möglichkeit gab, mit Tonya in Verbindung zu bleiben und sich gleichzeitig vom Rest der Sippe fernzuhalten, hatte er sämtliche Brücken hinter sich abgebrochen. Ein gnadenloser Mistkerl, ja, das war er. Aaro hatte so lange nicht an Tonya gedacht. Er hatte eine praktisch undurchlässige mentale Blockade zwischen sich und seiner Vergangenheit errichtet, durch die nur die halbjährlichen Berichte des Privatdetektivs sickerten, der den Arbatov-Clan unter Beobachtung hielt. Er zahlte den Mann gut für seine Dienste. Die Arbatovs zu observieren war eine gefährliche Angelegenheit.

Aus dem letzten Bericht, der vor drei Tagen bei ihm eingegangen war, hatte er erfahren, dass Tonya sich in einem Hospiz befand. Er hatte sich in den Computer der Einrichtung gehackt, um Details zu erfahren. Ernährungssonde. Beatmungsgerät. Dialyse. Morphin.

Tonya lag im Sterben. Und mit dieser Erkenntnis durchbrachen die Erinnerungen seine Schutzmauer.

Es hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Oh Mann. Tonya.

Tonya war die jüngste Schwester seines Vaters, Oleg Arbatov. Genau wie Aaro passte sie nicht in die Arbatov-Familie. Sie war verträumt, immer ein wenig abwesend, hatte nie richtig Englisch gelernt. Und auch nie geheiratet, obwohl sie als junge Frau eine Schönheit mit vielen Verehrern gewesen war. Aaros Mutter war dem Krebs erlegen, da war er fünf und seine Schwester Julie gerade mal zwei gewesen. Tonya war zu ihnen gezogen, um sich um die Kinder zu kümmern. Dieses Arrangement hatte fünf Jahre gehalten, dann hatte Oleg diese teuflische Giftnatter Rita geheiratet, die kaum neun Jahre älter war als Alex selbst. Rita hatte Tonya den Rang abgelaufen, und von da an war alles zügig den Bach runtergegangen.

Tonya war … nun ja, anders. Sie hatte mehr als die Hälfte ihres Erwachsenenlebens in der Klapsmühle verbracht. Sie sah Dinge, die niemand sonst sah, sprach mit Personen, die keiner außer ihr wahrnehmen konnte. Sie machte die Leute nervös. Es hatte ihr Umfeld beruhigt, sie als geisteskrank abstempeln zu können. Aber Aaro war sie nie verrückt vorgekommen. Er hatte es geliebt, von ihren Träumen, ihren Geschichten und Visionen zu hören. Tante Tonya hatte ihm aus der Hand gelesen, in seinem Gesicht, seinen Augen und ihm gesagt, dass ihm Großes vorherbestimmt war: Ruhm, Glück, Reisen, die wahre Liebe. Mann. So viel zu ihren prophetischen Gaben, trotzdem hatte ihm die Vorstellung gefallen. Julie hatte sie auch geliebt.

Als Aaro dreizehn war, hatte sein Vater seinen Frust und seine Enttäuschung über seinen Sohn an ihm ausgelassen, wie es schon so oft vorgekommen war. Er hatte ihm den Arm gebrochen, die Rippen. Er hatte Blutergüsse, Prellungen, Verletzungen des Knorpelgewebes davongetragen. Tonya war auf die Barrikaden gegangen, zur Überraschung aller. Sie hatte Ritas Schmuck gestohlen, ihn verpfändet, sich Alex und Julie geschnappt und war mit ihnen weggelaufen. Das hatte viel Mut erfordert. Ihm war damals nicht bewusst gewesen, wie viel.

Sie waren mit dem Bus an die Küste von New Jersey gefahren und hatten dort fast einen ganzen Monat verbracht, bevor man sie zurückgeschleift hatte. Sein Arm und seine Rippen hatten langsam und juckend zu heilen begonnen, während er, Tonya und Julie lange Spaziergänge am Strand unternahmen, auf dem feuchten Sand unterhalb der verwaisten Promenade picknickten, als wäre Hochsommer, und den Seemöwen dabei zusahen, wie sie kreischend um den Unrat zankten, der von der Brandung angespült wurde. Sie hatten sich über einfältige Fernsehsendungen amüsiert, die sie auf der grobkörnigen Mattscheibe in ihrem Motelzimmer anschauten, und hatten fettiges Fastfood im Imbiss gegessen. Hin und wieder waren sie ins Kino gegangen und hatten Karten gespielt. Tonya hatte ihnen Geschichten erzählt. Ukrainische Fabeln.

Keiner von ihnen war je zuvor so glücklich gewesen.

Es konnte nicht von Dauer sein. Das hatten sie alle gewusst. Der verpfändete Schmuck hatte sie am Ende verraten. Tonya war zurück in die Klapsmühle verfrachtet worden, während er und Julie – nun ja. Es führte zu nichts, auch nur daran zu denken.

Dieser flüchtige Geschmack von Freiheit hatte sich ihm jedoch unauslöschlich eingeprägt. Wie ein hell funkelnder Stern, immer außer Reichweite.

Aaro verscheuchte den nutzlosen Gedanken. Es machte ihn rasend, dieses nagende, bohrende Gefühl, dass ihm etwas entglitt. Als wäre Tonya wirklich noch ein Teil seines Lebens, nachdem er sie fast zwanzig Jahre nicht gesehen hatte. Was drohte er zu verlieren, das er nicht schon vor zwei Dekaden verloren hätte? Und wieso fühlte er sich so schuldig? Er hätte ihr ohnehin nicht helfen können.

Sie hatte ihm geholfen. Sie war für ihn da gewesen. Und hatte einen hohen Preis dafür bezahlt.

Aaro schreckte vor diesem Gedanken zurück. Er konnte Tonya nicht helfen. Er hatte absolut versagt, als es darum ging, Julie zu helfen. Er war weggelaufen, hatte seine eigene Haut gerettet.

Sein Leben wäre keinen Pfifferling mehr wert, würden seine verbliebenen Familienmitglieder je erfahren, wo er steckte. Es gefiel ihm nicht, von den Schuldgefühlen wegen einer Vergangenheit, die er bestmöglich begraben hatte, in Geiselhaft gehalten zu werden. Gott, wann würde all das je ein Ende haben? Sein Herz schlug schon seit Tagen im Doppeltakt. Selbst das verfluchte Atmen fiel ihm schwer.

Und jetzt kamen auch noch Bruno und Lily mit ihrer weinenden Sozialarbeiterin hinzu. Frische Schuld, die über alte Schuld gegossen wurde, wie Karamellsoße auf einen Eisbecher.

Er erreichte das Ende der Schlange am Autoverleihschalter. Ein kesses, stupsnasiges Mädchen sah ihm mit einem koketten Lächeln in seine blutunterlaufenen Augen. Für einen Moment erstarrte ihr Gesicht zu einer Grimasse, dann erstarb ihr Lächeln. Sie erinnerte ihn an einen Hasen, der von einer Schlange hypnotisiert wurde. Die Kleine war klüger, als sie aussah.

Nachdem sie den Papierkram erfreulich schnell hinter sich gebracht hatten, steuerte Aaro den Parkplatz an. Seine Kopfschmerzen waren grauenvoll. Ein hartes, rhythmisches Pochen, im Gleichtakt mit seinem Herzschlag. Er wollte den Schmerz dafür bestrafen, dass er existierte, und ihm die Scheiße aus dem Leib prügeln. Aber natürlich saß er in seinem eigenen Hirngewebe fest. Dumm gelaufen. Ja, er war fraglos Oleg Arbatovs Sohn. Der Apfel fiel eben nicht weit vom Stamm. Bei Oleg kreiste alles um Bestrafung. Wie aufs Stichwort piepte in diesem Moment sein Handy. Eine Multimediamitteilung. Die Audiodatei des Notrufs. Eine herzzerreißende Leidensgeschichte als Stimmungsaufheller.

Aaro glitt in den 2011 Lincoln Navigator und durchwühlte seine Reisetasche. Die Messer zuerst. Das Kershaw in die linke Jackentasche, das Gerber in die rechte, das universelle in die Gürtelscheide. Er fischte die Holster und Waffenkoffer zwischen seinen Klamotten heraus. Der FNP-45 in das seitliche Bundholster, die .357 S&W in die Stiefelhalterung. Gut. Jetzt fiel ihm das Atmen etwas leichter. Er nahm den Saiga-Waffenkoffer heraus und legte ihn auf den Sitz, dann saß er einfach nur da und pumpte weiteren dringend benötigten Sauerstoff in seine Lungen.

Wenn die Frau anriefe, würde er sie abweisen. Sollten sie ihn ruhig alle hassen, wenn ihnen danach war. Er würde zu Tonya fahren und sich seine nächste Portion Schuldgefühle aufladen. Anschließend würde er Nina zurückrufen, so er dann noch funktionstüchtig war, und sie fragen, ob sie noch immer Hilfe brauchte. Das war das Beste, das er tun konnte. Zur Hölle, es war das Einzige, das er tun konnte. Mit ein bisschen Glück würde sie ihm sagen, dass er sie am Arsch lecken solle, und er wäre frei.

Bruno würde ihn verabscheuen und Lily ebenso. Aber Aaro hatte es schon früher ausgehalten, wenn ihm massive, anhaltende Abscheu entgegengebracht wurde.

Wenn er es sich recht überlegte, hatte er sich eine einzigartig hohe Toleranzgrenze antrainiert.

2

»Also, Ben, kann ich auf deine Unterstützung bei meiner Kampagne zählen?«

Harold Rudd nippte an seinem Kaffee, während er so sachte, aber nachdrücklich Druck auf die Stresspunkte in Benjamin Stillmans Entscheidungsfindungsprozess ausübte.

Er genoss das chirurgische Herantasten an diese Nötigung nicht annähernd so sehr wie seinen gewohnten Stil, der um einiges ruppiger war. Es war befriedigender, diese Bastarde mit seinen Psi-Fähigkeiten zu drangsalieren. Er liebte es zuzusehen, wie sie zu Kreuze krochen und um Gnade winselten. Es bescherte ihm eine Euphorie, die stundenlang anhielt. Manchmal überdauerte sie sogar die Effekte des Maximum-Psi.

Aber Senator Stillman dazu zu bringen, winselnd auf dem Fußboden des exklusiven Dinner-Clubs herumzukriechen, würde Rudds Sache nicht dienen, so befriedigend es für den Moment auch sein mochte. Er brauchte den Mann fit, kraftstrotzend und redegewandt, damit er sich für ihn ins Zeug legte und seine politischen Muskeln bei Rudds bevorstehendem Wahlkampf um das Amt des Gouverneurs spielen ließ. Vollgepumpt mit Medikamenten in einer Privatklinik, wo man ihn wegen eines Nervenzusammenbruchs behandelte, wäre er nutzlos.

Selbstbeherrschung. Rudd war ein praktisch denkender Mann. Lächle den Drecksack an.

»Ich weiß nicht recht, Harold.« Stillman schaufelte eine Ladung Frühstücksomelett in seinen Mund und stopfte ein dreieckiges Stück Toast hinterher. Die schwabbeligen Backen des Mannes blähten sich beim Kauen. »Du verfügst nicht wirklich über die Erfahrung, die nötig wäre für … für …« Stillman brach ab, hustete und röchelte.

Sein Gesicht lief rot an. Sein Blick zuckte perplex hin und her. Er hatte seinen gedanklichen Faden verloren. Die Personen in Rudds Umfeld neigten dazu, ihren gedanklichen Faden zu verlieren, falls diese Rudds Zwecken nicht dienlich waren. Dieser Trick amüsierte ihn jedes Mal aufs Neue. Er erhöhte den Druck – genug, um den Mann zu verwirren. Dann noch ein bisschen mehr, bis es wehtat.

Schließlich ließ er von Stillman ab. Der Senator hustete in seine Serviette.

Rudd klopfte ihm auf den Rücken. »Ben? Geht es dir gut? Soll ich jemanden rufen? Brauchst du ein Medikament?«

Stillman schüttelte ihn ab. »Nein«, ächzte er. »Ich nehme keine verdammten Medikamente. Ich hatte nur … äh … einen kurzen Aussetzer.«

»So was passiert jedem mal.« Rudd goss dem Mann ein Glas Wasser ein. Und so war es tatsächlich, vor allem dann, wenn man sich mit Harold Rudd zum Brunch traf. Aber Stillman würde diesen Zusammenhang niemals erkennen. Auf die antiquierte Weltanschauung des Senators war so sicher Verlass wie auf den Sonnenaufgang. Rudds geheimes Talent würde auf Stillmans Radar nie auftauchen.

Er baute erneut sanften Druck auf, während Stillman das Wasser hinunterstürzte. Die schmachvolle Episode hatte ihn etwas weicher gemacht, aber da war noch immer eine Barriere. In seiner Jugend Pferdemist zu schaufeln war einfacher gewesen als das hier. Er bedauerte Stillmans Ehefrau. Der Kerl musste zu Hause ein dominanter Wichser sein. Vielleicht besaß der Senator seine eigene latente Psi-Fähigkeit.

Wahlweise lag das Problem bei Rudd selbst. Es wurde Zeit für seine nächste Dosis des kostbaren Psi-Max, um sein Talent im Ausüben von Zwang zu optimieren, aber er hatte sich krampfhaft bemüht, mit seinen Kräften zu haushalten. Zwar verfügte er über einen gewissen Vorrat, doch war dieser nicht unerschöpflich. Außerdem trieb ihn dieses Problem mit der Kasyanov-Schlampe zur Weißglut. Sie musste unbedingt mehr produzieren. Die perfekte Formel entwickeln. Er stand so nah vor dem Ziel. Da schlummerte so viel Macht, die nur auf ihn wartete, wenn er es richtig anstellte. Alle mussten an einem Strang ziehen. Alle mussten gut sein.

Wenn er Kasyanov in die Finger bekäme, würde sie dafür büßen, dass sie ihm getrotzt hatte. Natürlich ohne sie komplett außer Gefecht zu setzen. Kasyanov war die Einzige, die eine stabile Dosis Psi-Max zusammenbrauen konnte. Rudd hatte Labore mit unzähligen nutzlosen Idioten finanziert, die achtzehn Monate lang versucht hatten, ihre Formel zu kopieren, doch keine ihrer Bemühungen hatte gefruchtet. Ja, Kasyanov hielt ihn nun schon eine ganze Weile hin. Dieses verlogene Biest.

Er versuchte es wieder, härter diesmal. Ben Stillman schob sich einen Happen Ei und Räucherlachs in den Mund, dann starrte er während des Kauens stirnrunzelnd auf die dunkle Holzvertäfelung, die weißen Tischdecken, das helle Porzellan. Komm schon, Drecksack. Gib es auf. Rudd ließ nicht locker. Noch ein bisschen … fast hatte er ihn …

»Sir?«

Seine Konzentration wurde jäh unterbrochen, und Rudd riss den Kopf herum. Stillman grunzte und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Die Chance war vertan. Scheiße. Rudd funkelte seinen Assistenten wütend an, der ihn entschuldigend mit seinen großen Welpenaugen anblinzelte. Dieser verdammte Trottel musste ihn zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt stören. Er lächelte milde. »Ja, John?«

»Sir, Roy ist hier und möchte Sie sehen«, murmelte John, dabei zuckte sein Blick nervös zur Tür. »Er sagte, es sei dringend. Ich dachte … na ja … ich wollte lieber auf Nummer sicher gehen.«

»Ich verstehe.« Rudds Gehilfe Roy hatte John so sehr in Angst versetzt, dass er sich fast in die Hose pisste.

Rudd schaute zur Tür. In der Tat, da war er, sein unberechenbarer Gefolgsmann Roy Lester. Er lümmelte im Speiseraum herum, wo jeder ihn sehen konnte. Dieser Idiot.

Roy würde sich gedulden müssen. Rudd streckte die Fühler nach Stillmans Bewusstsein aus. Der Kontakt ließ sich dieses Mal leichter herstellen. Sobald er ihn hatte, warf er Anabel einen Blick zu, die an einem nahen Tisch saß und ein Mineralwasser trank. Er lächelte, als würde er sie erst jetzt bemerken, und winkte sie herüber.

Stillman sah sich zu ihr um, und sein Blick blieb an ihr kleben. Er tupfte sich mit der Serviette seine violett verfärbten Lippen ab.

Zeit, die schweren Geschütze aufzufahren. Genauer gesagt Anabels Titten und Arsch. Sie setzte sie auf dieselbe Weise ein wie ein Terrorist eine Sprengbombe – ohne jede Gnade.

Anabels Gesicht leuchtete auf. Ihre flatternden Finger drückten aus: Ach, du liebes bisschen! Welch Zufall! Sie sprang auf und kam zu ihnen herüber, indem sie sich anmutig zwischen den Tischen hindurchschlängelte. Sie funkelte geradezu. Verflucht noch eins, das ungezogene Flittchen hatte was eingeworfen, obwohl Rudd sie ausdrücklich angewiesen hatte, damit zu warten. Er knirschte mit den Zähnen. Das Psi-Max hatte ihre glamouröse Ausstrahlung noch verstärkt. Rudd wand sich innerlich, als sich im ganzen Club die Köpfe nach ihr umdrehten. Übertreib es nicht, du eitle Hure. Es ist nur Stillman. Du musst nicht mit jedem im Raum ficken.

Zu spät. Die grazile, kurvige Blondine Anabel war bezaubernd genug, um auch ohne zusätzliche Hilfe durch das Psi-Max sämtliche Blicke auf sich zu ziehen, aber sie liebte nichts mehr als einen schillernden Auftritt, um zu beobachten, wie die Kerle über ihre Füße stolperten und dabei ganz vergaßen, dass die eigene Ehefrau an ihrem Arm hing. Anabel war berüchtigt dafür, Autounfälle zu verursachen, wenn sie unter Einfluss der maximalen Dosis in ihrer ganzen Schönheit erstrahlte. Und das war nur das Sahnehäubchen auf ihrer eigentlichen Gabe – der Telepathie. Sie kam an den Tisch und beugte sich nach unten, um Rudd einen Kuss auf die Wange zu hauchen. »Hallo, Onkel Harold!«

Er bedachte das anmaßende Luder mit einem breiten Lächeln. »Anabel, ich möchte dir Senator Stillman vorstellen. Dies ist Anabel Marshall, die Tochter eines Familienfreunds«, klärte er den völlig faszinierten Stillman auf. »Sie unterstützt mich bei meiner Kampagne, und sie ist eine unbezahlbare Perle, darum komm bloß nicht auf den Gedanken, sie mir abzuluchsen!«

Beide Männer lachten, und Anabel errötete zart. Stillman beäugte ihren üppigen Vorbau, den der enge schwarze Rollkragenpullover perfekt zur Geltung brachte. Anabel posierte und kokettierte, ihre Schönheit war von blendender Strahlkraft. Rudd nutzte diesen unbedachten Augenblick, um Stillman mit einem finalen Schubs über die Klippe zu befördern …

… und auf einmal stand Stillmans Entschluss fest, überlagert von Anabels perlendem Lachen, ihrem heiterem Geplapper. Stillmans Unterstützung gehörte ihm. Ja.

Rudd lächelte sie an. »Meine Liebe, wärst du bitte so nett, Senator Stillman eine kurze Weile Gesellschaft zu leisten, während ich herausfinde, was Roy von mir will? Wir werden uns in die Suite zurückziehen, aber es sollte nicht länger als zehn Minuten dauern.«

Anabel wusste genau, was sie zu tun hatte. »Es ist mir ein Vergnügen«, flötete sie.

Rudd begab sich zur Tür, und als er nahe genug war, damit der Effekt spürbar sein würde, ließ er seine Missbilligung wie einen Peitschenhieb auf Roys mürrischen, unempfänglichen Geist knallen. »Lass uns einen ungestörten Ort finden«, zischte er.

Roy wirkte eingeschüchtert während der Fahrt nach oben zu der Suite, in die Anabel in Kürze Stillman entführen würde. Ja, er hatte den Senator in der Tasche, aber ein schweißtreibendes Schäferstündchen mit Anabel vor laufenden Kameras wäre keine schlechte Ergänzung für die Archive. Rudd besaß eine umfangreiche Videosammlung von Anabels Abenteuern. Mit Politikern, Richtern, Konzernbossen. Ob Männer, Frauen, jung oder alt – Anabel war nicht wählerisch. Für ihre Dosis würde sie alles tun.

Rudd folgte Roy in die Suite und schlug die Tür zu. »Was zum Teufel fällt dir ein hierherzukommen? Ich hatte dir befohlen, dich fernzuhalten!«

Roy taumelte nach hinten, als die strafende Energie von Rudds Zwangsausübung sein Bewusstsein bombardierte, sodass er mit dem Architekturmodell kollidierte, das den Raum dominierte. Jenes kostspielige Modell hatte Rudds Personal erst an diesem Morgen in mühevoller Kleinarbeit fertig zusammengesetzt.

»Du Idiot!«, donnerte Rudd. »Geh weg davon! Hast du eine Vorstellung, wie viel dieses Ding gekostet hat?«

Roy sprang hastig beiseite, prallte von der Wand ab und sackte auf dem extragroßen Bett zusammen. »Nicht«, flehte er. »Hör auf.«

Rudd trat zu dem Modell des zukünftigen Graever Instituts, um sich zu vergewissern, dass nichts kaputtgegangen war. »Du hast vier Bäume umgestoßen, du ungeschickter Trampel. Es ist heute erst eingetroffen! Es muss noch vor Samstag zum Convention Center in Spruce Ridge geliefert werden, darum würde ich es begrüßen, wenn du es nicht zertrümmerst!«

»Ja, natürlich.« Roy rieb über die fleckige violette Brandnarbe, die seinen gesamten Hals bedeckte und sich bis zu seinem Kinn erstreckte wie ein Rollkragenpulli. Rudd fand diesen nervösen Tick des Mannes extrem ärgerlich.

»Was zur Hölle hast du hier verloren?«, zischte er. »Du solltest nicht in meiner Nähe gesehen werden! Darüber haben wir bereits gesprochen! Ich stehe im Licht der Öffentlichkeit! Es war kein höflicher Vorschlag, dass du dich fernhalten sollst, du Einfaltspinsel, sondern ein Befehl!«

»Hör auf, mich zu bombardieren! Ich kann verflucht noch mal nicht denken, wenn du das tust!«

»Damit hast du selbst unter den günstigsten Umständen Schwierigkeiten«, fauchte Rudd, milderte seine Attacke jedoch ab. Roy entspannte sich keuchend. »Und sprich nicht so vulgär«, fügte er hinzu. »Wo bleiben deine Manieren?«

»Dass ich nicht lache. Du Heuchler.«

Rudd fühlte sich nicht auf den Schlips getreten. Es war unmöglich, seine wahre Natur vor Angestellten zu verbergen, die mittels Psi-Max optimiert wurden, doch er kannte die hässlichen Geheimnisse, die in Anabels und Roys Köpfen nisteten, ebenso gut, wie sie die seinen kannten. Das schuf eine gewisse Balance in ihrer unsicheren Partnerschaft, vorausgesetzt, es gelang ihm auf Dauer, sie zu kontrollieren. Aber wegen all der Schädel, die Roy zertrümmert, und all der Schwänze, die Anabel gelutscht hatte, könnten die beiden schon bald zu einem Risiko für seine glänzende Zukunft werden.

Aber er würde dieses Thema auf einen späteren Zeitpunkt vertagen. »Also, was ist das Problem?«

»Es geht um Kasyanov, Boss.« Roy mied seinen Blick. »Ich habe sie verloren.«

Rudd überlief es kalt, als er an die Konsequenzen dachte. »Verloren?«, echote er ungläubig. »Wie ist das möglich? Du kannst einer Zielperson im Abstand von eineinhalb Kilometern oder mehr folgen! Du hast behauptet, du könntest ihre Frequenz nicht einmal dann verlieren, wenn du es wolltest!«

Roys hohe, kahl werdende Stirn glänzte vom Schweiß. Da bemerkte Rudd die purpurfarbene Beule an seiner Schläfe. »Sie war in diesem Haus, drüben in Brooklyn. Von Anabel wusste ich, dass sie heute versuchen würde, zum JFK oder LaGuardia zu gelangen, darum wollte ich sie schnappen, sobald sie herauskäme, um ins Taxi zu steigen. Aber dann, äh … hat sie mich erwischt.«

»Erwischt«, wiederholte Rudd, seine Stimme kalt wie Stahl. »Definiere ›erwischt‹.«

Roy zuckte zusammen, als Rudd mental auf ihn einschlug, indem er sein Psi auf dieselbe Weise einsetzte wie ein Löwenbändiger seine Peitsche. Roys Kiefermuskeln zuckten.

»Es war die Droge«, würgte er hervor. »Die neue, Psi-Max 48. Hör auf damit, Boss, wenn du willst, dass ich weiterrede, denn ich werde jeden Moment hier aufs Bett kotzen, das schwöre ich.«

Eine übelriechende Schweinerei wäre unangenehm für Anabel und Stillman, darum reduzierte Rudd widerwillig den Druck. Roy sackte ächzend in sich zusammen.

»Du blöder Wichser«, stöhnte er. »Lass diese Scheiße!«

»Sprich weiter«, forderte Rudd ihn mit eisiger Geduld auf.

»Das wollte ich ja gerade! Es war diese Mixtur, die du Kasyanov vergangenes Wochenende oben im Labor in den Arm gespritzt hast! Du erinnerst dich an deinen Ausraster, Mr Verfickte-Manieren? Dir ist der Geduldsfaden gerissen, und du hast beschlossen, ein kleines, privates medizinisches Experiment durchzuführen.«

Ein Hieb mit der mentalen Peitsche, und Roy zuckte grunzend zusammen. »Erdreiste dich nicht, mich zu kritisieren«, warnte Rudd ihn. »Schildere nur, was passiert ist.«

»Ich hatte sie im Fadenkreuz, drüben in Brooklyn. Aber …« Er brach ab. »Es muss an der Droge gelegen haben. Die Frau hat mich Dinge sehen lassen. Es war …« Er schüttelte sprachlos den Kopf. Sein Blick war gehetzt.

Rudd verschränkte die Arme vor der Brust. »Was hat sie dich sehen lassen? Komm schon. Du weißt, dass Telepathie nicht mein Ding ist. Sag es mir.«

Roys gerötete Augen huschten zur Seite.

Rudd lachte. »Ach so, etwas Persönliches? Die fiese Mami, die Nacht für Nacht in dein Zimmer kam, um dir eine Wäscheklammer an den Schwanz zu heften oder Stecknadeln in die Hoden zu rammen? Irgendetwas Sadistisches und Inzestuöses?«

»Leck mich.«

»Interessant«, sinnierte Rudd. »Dann hat die verbesserte Rezeptur Kasyanov ein völlig neues Talent beschert. Wie würdest du es charakterisieren, Roy? Als Illusion? Als invasive Telepathie, so wie bei Anabel?«

»Schlimmer«, stieß Roy hervor. »Viel extremer. Eine Kombination vielleicht. Sie extrahiert es aus deinem Kopf, dann schleudert sie es zu dir zurück. Sie ist eine kranke, irre Hexe.«

»Wie originell von ihr. Trotzdem verstehe ich nicht, wie sie entwischen konnte. Ganz egal, womit sie dich unter dem Einfluss von zehn Milligramm Psi-Max attackiert hat, es hätte dir trotzdem gelingen müssen, ihre Frequenz hinterher aus kilometerweitem Abstand zu orten! Wie zum Henker konntest du sie verlieren?«

Roy senkte verlegen den Blick. »Ich war bewusstlos«, gestand er. »Als ich zu mir kam, war sie außer Reichweite. Es gab nicht die leiseste Spur. Sie war einfach weg.«

»Du wurdest ohnmächtig?« Rudd fing an zu lachen. »Die klapperdürre Helga Kasyanov hat dir solche Angst eingejagt, dass du aus den Latschen gekippt bist? Roy, ich bin enttäuscht.«

»Ich habe mir bei meinem Sturz den Kopf angeschlagen«, verteidigte Roy sich und betastete vorsichtig die Beule. »Und als ich zu mir kam, da …«

»Sei still, Roy. Die Details deines Scheiterns interessieren mich nicht. Also hast du keine Hinweise?«

»Nicht wirklich. Unser Mann beim NYPD hat die Notrufe gecheckt. Ein Angestellter in einem Lebensmittelgeschäft auf der Fourth Avenue in Brooklyn rief einen Krankenwagen für eine Frau, die auf der Straße zusammengebrochen war, nur fünfzehn Blocks entfernt von dem Haus, wo ich Kasyanov verloren hatte. Doch als die Ambulanz eintraf, war sie nicht mehr da. Ein Taxi hielt an – der Fahrer sprach übrigens Ukrainisch – und fuhr mit ihr davon.«

»Und weiter?«

»Der Angestellte gab mir die Nummer des Taxiunternehmens.« Roys Miene wurde nun selbstzufrieden. »Ich telefonierte mit der Vermittlung, beschrieb der Frau den Fahrer und behauptete, meine Aktentasche in dem Wagen liegen gelassen zu haben. Sie nannte mir den Namen des Mannes und seine Handynummer. Einfach so. Was für ein nettes Mädchen. So süß und hilfsbereit.«

»Manche Menschen sind unfassbar unterbelichtet«, kommentierte Rudd mit finsterer Genugtuung.

»Absolut. Der Fahrer heißt Yuri Marchuk. Er ist vor fünfzehn Jahren aus Odessa immigriert. Er hat eine geschiedene Tochter und einen Enkel im Vorschulalter. Er bewohnt ein Apartment in der Avenue B.«

Rudd massierte sein Kinn und ließ sich das einen Moment durch den Kopf gehen.

»Und, Boss? Wie weit soll ich bei diesem Yuri gehen?«

»So weit wie nötig. Schließlich wollen wir nicht, dass Geschichten kursieren, nicht wahr?«

»Soll ich diese Sache extern abwickeln lassen?«

»Nanu, Roy, verlierst du etwa die Nerven?«, stichelte Rudd.

Roy winkte ab. »Ich habe Kontaktleute in Brighton Beach, die mit diesem Penner in seiner Heimatsprache kommunizieren können. Dmitri Arbatov ist gut. Und meiner Erfahrung nach tendieren die Menschen dazu, in ihre Muttersprache zu verfallen, sobald die Heckenschere ausgepackt wird.«

Rudd dachte darüber nach. »Meinetwegen, aber Anabel sollte dabei sein, wenn dieser Typ zu reden beginnt, ganz gleich, in welcher Sprache oder mit welchen Mitteln du ihn dazu bringst. Deine telepathischen Kräfte sind nicht stark genug. Du taugst nur für Observationen aus der Distanz. Du bist ein Fährtenleser, Roy. Mehr nicht.«

Roy reagierte gekränkt. »Meine Fähigkeiten waren dir bisher durchaus von Nutzen.«

»Heute sind sie es nicht.«

Roy zuckte defensiv mit den Schultern. »Dann werde ich Anabel eben mitnehmen.«

»Sie wird heute Vormittag damit beschäftigt sein, es dem Senator zu besorgen. Diese Sache duldet keinen Aufschub.«

»Die andere auch nicht. Aber, Boss? Es gibt da noch etwas, das du wissen solltest.«

Rudd wappnete sich und schloss die Augen. »Ja, Roy?«

»Arbatov könnte bei diesem Job als unser Telepath fungieren«, schlug Roy bedächtig vor. »Er ist gut. So gut wie Anabel.«

Wie ein roter Nebel stieg Zorn in Rudd auf. »Du hast Psi-Max unter deinen Freunden herumgereicht?«

Rudds Empörung katapultierte Roy rücklings auf die Matratze und hielt ihn dort fest. Aber er wand sich so heftig, dass das Bett für Anabels bevorstehendes Schäferstündchen mit Stillman komplett neu gemacht werden müsste, darum ließ Rudd schließlich von ihm ab.

Roy rappelte sich schwerfällig hoch. »Es tut mir leid, Boss«, brachte er gurgelnd hervor. »Eigentlich hatte ich vor, Dmitri zu liquidieren. Ich ging davon aus, dass er genauso reagieren würde wie die anderen, die wir in Karstow getestet hatten! Ich dachte, er würde durchdrehen, sein Gehirn würde implodieren! Ich hatte ihn für den Job benutzt und wollte die Spuren verwischen. Mein Plan sah vor, ihn auf diese Weise zu eliminieren, um das Risiko zu vermeiden, dass sein Onkel Oleg meine Fährte aufnimmt. Aber, na ja … er ist nicht krepiert. Stattdessen entwickelte er eine telepathische Veranlagung.«

»Und seither versorgst du ihn mit Psi-Max? Hinter meinem Rücken?«

Roy nickte betreten. »Andernfalls hätte ich ihn töten müssen.«

»Genau das hättest du tun sollen. Kein Wunder, dass du immer zu wenig hast.« Rudd trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Na schön, Roy. Wenn du sagst, dass du für die Fähigkeiten deines Freundes Arbatov bürgen kannst, werde ich diese Sache genehmigen. Aber nur heute. Bist du sicher, dass du ihn kontrollieren kannst?«

»Ja, solange ich genügend Psi-Max für ihn habe«, bestätigte Roy. »Dafür tut er alles.«

Rudd verdrehte die Augen. »In Ordnung. Geh zum Versorgungsbereich und hol dir, was du brauchst. Drogen, Zubehör. Sobald du die Informationen von ihm erhalten hast, lass deinen Mafiakumpel den Rest erledigen. Ein missglückter Drogendeal. Ach, eins noch.« Rudds Stimme wurde hart. »Mit dieser Sache in Verbindung gebracht zu werden, könnte meiner Anti-Drogen-Haltung schaden, darum erklär mir, warum wir dieses Gespräch nicht über das verschlüsselte Telefon führen konnten.«

Roy druckste verlegen herum. Rudd steckte die Hände in die Taschen und wartete auf eine Antwort.

»Ich hab kaum noch was übrig«, gestand Roy. »Während der Jagd auf Kasyanov habe ich zwei Rationen verbraucht, und wenn ich Arbatov versorge, werde ich nicht genug haben, um …«

»Du Idiot«, fuhr Rudd ihn an. »Du kannst das Zeug nicht futtern wie Bonbons! Kasyanov war die Einzige, die die Rezeptur ordentlich hinbekommen hat, und du hast sie verloren, Roy, zusammen mit den beiden letzten uns bekannten existierenden Dosen von Psi-Max 48! Ich schließe daraus, dass du nicht herausgefunden hast, ob es wahr ist? Das mit der neuen Formel, die das Psi angeblich stabilisiert? Oder ist das nur eine weitere von Helgas Lügen?«

»Kasyanov hat nicht gesprochen, Boss, und Anabel war nicht dabei, um ihren Gedanken auf den Grund zu gehen.«

Kasyanov hatte ein großes Tamtam um die verbesserte Rezeptur gemacht und versichert, dass es ihre Psi-Fähigkeiten dauerhaft fixieren und extrem verstärken würde. Kasyanov war schwer zu durchschauen und bestens abgeschirmt, trotzdem hatte Anabel den Gestank einer Halbwahrheit erschnüffelt, weshalb Rudd es für klug erachtet hatte, Psi-Max 48 an der guten Ärztin selbst zu testen, nur für den Fall, dass es eine Falle war. Er hatte sich mit eigenen Augen überzeugen wollen, wie gut es bei ihr anschlug.

Und er hatte eine Überraschung erlebt. Die Droge hatte sie stark genug gemacht, um aus dem Labor zu türmen, wo sie drei Jahre lang gefangen gehalten worden war, genauer gesagt, seit dem Tag, an dem sie vermeintlich bei dem Feuer in der Forschungseinrichtung ums Leben gekommen war. Psi-Max 48 war potent genug, um einen brutalen Gangster wie Roy umzuhauen. Und Rudd wollte es haben.

»Mach dich sofort an die Arbeit«, befahl er. »Wenn wir Kasyanov verlieren, ist auch Psi-Max 48 unwiederbringlich verloren.«

»Wenn ich ihre Frequenz aufspüren soll, brauche ich mehr Stoff«, wandte Roy ein. »Gib mir wenigstens zwanzig Rationen. Dreißig wären besser.«

Rudd brachte ein verschließbares Röhrchen zum Vorschein und schüttelte ein paar rote Pillen heraus. »Ich gebe dir zehn.« Er reichte sie Roy.

»Ich brauche zehn weitere für Arbatov«, erinnerte Roy ihn.

»Acht«, sagte Rudd streng und zählte sie ab. »Du bist scharf auf die magischen Pillen? Dann erledige deinen Job. Und halte Arbatov unter Kontrolle. Solltest du es verbocken, wird die Quelle versiegen, und dann bist du wieder nur ein nutzloser dämlicher Tölpel, mein Freund, so wie in den schlechten alten Zeiten. Möchtest du dorthin zurückkehren?«

Roys Adamsapfel hüpfte unter dem roten Narbengewebe, das seine Kehle überspannte, und er schluckte hörbar beim Anblick der Pillen. Dieser würdelose Junkie.

»Nicht so gierig, Roy«, sagte Rudd in warnendem Ton. »Warte, bis du sie wirklich brauchst.«

Roy verstaute die Tabletten in einer Phiole, die an einer Kette von seinen Hals baumelte. »Weißt du was, Boss?«

Rudd drehte sich an der Tür zu ihm um. »Was denn, Roy?«

»Du bist ein solches Arschloch, dass du tatsächlich einen ziemlich guten Gouverneur abgeben würdest. Falls du Psi-Max 48 in die Hände bekommst und es dich so stark macht wie diese irre Ärztin, könntest du sogar Präsident werden.«

Roy wollte ihm nur schmeicheln, da er nun seine Dosis hatte. Trotzdem merkte Rudd, wie ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen trat.

»Du bist ein cleveres Bürschchen, Roy«, erwiderte er. »Du hast mich durchschaut.«

3

»Nein! Sie verstehen nicht!«, blaffte Nina die Ärztin an. »Helga Kasyanov war wie eine Tante für mich. Sie war die beste Freundin meiner Mutter. Sie haben gemeinsam Forschung betrieben, an der Columbia. Soweit ich weiß, war Helga auf psychiatrische Pharmakologie spezialisiert. Während meiner Highschool-Zeit habe ich ihre Tochter, Lara, gehütet. Ich habe sie heute Morgen nicht sofort erkannt, weil wir uns seit Jahren nicht gesehen hatten, außerdem war sie so dünn, und man hat sie offensichtlich misshandelt. Aber sie hegt keinen Groll gegen mich. Sie hatte keinen Grund, mir wehzutun. Wir haben uns immer gut verstanden!«

Die hochgewachsene, elegante dunkelhäutige Ärztin, deren Namensschild sie als Dr. Tully auswies, schnaubte und war offenkundig wenig überzeugt. »Trotzdem werden wir mithilfe der Testreihen sämtliche Risiken ausschließen. Allerdings wird es einige Wochen dauern, bis uns das endgültige Ergebnis des HIV-Tests vorliegt.«

Nina schüttelte immer weiter den Kopf. »Aber so war es nicht. Ich kann es nicht erklären. Sie hat mich nicht mit der Nadel bedroht und Geld von mir gefordert oder so etwas. Das würde sie niemals tun.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein, Ms Christie? Haben Sie uns nicht selbst gesagt, dass Sie nicht ein einziges ihrer Worte verstehen konnten?«

Nina wusste nicht, wie sie sich verständlich machen sollte, und schüttelte weiter hilflos den Kopf. Sie mit einer schmutzigen Injektionsnadel zu attackieren, das war so niederträchtig, so armselig, so gemein. Es passte rein gar nicht zu der Helga Kasyanov, die sie kannte. Helga war stilvoll, brillant und selbstsicher. Sie war ihrer Mutter früher eine große Stütze gewesen. Andererseits hatte ihre Mutter auch dazu tendiert, sich auf andere zu stützen. Nach zu vielen Jahren mit Stan hatte sie nie lange aus eigener Kraft stehen können.

Nein, es musste eine andere Erklärung geben. Nur wollte ihr einfach keine einfallen. »Sie sprach früher Englisch«, wiederholte sie starrsinnig. »Perfekt, ohne Akzent. Außerdem sieben oder acht weitere Sprachen. Vielleicht wurde ihr Sprachzentrum durch ein Hirntrauma beschädigt?«

Dr. Tully schnaubte wieder. »Wieso konzentrieren Sie sich nicht auf Ihre eigenen Probleme, Ms Christie, anstatt sich den Kopf zu zerbrechen über …«

»Ihre Probleme sind derzeit meine Probleme«, fauchte Nina, dann biss sie sich auf die Zunge. »Entschuldigung, ich bin ziemlich angespannt. Und die Tatsache, dass sie aufgezeichnet hat, was sie zu mir sagte, bedeutet, dass sie zumindest versucht hat, mit mir zu kommunizieren. Ich muss das übersetzen lassen. Wie lange wird es dauern, bis die Tests Ihnen einen Hinweis darauf geben, was dieses Zeug mit mir anstellen könnte?«

»Nicht lange.« Dr. Tully runzelte die Stirn. »Sie zeigen derzeit keinerlei Symptome, und die Bewusstlosigkeit könnte dem Schock geschuldet sein. Aber Sie müssen noch eine Weile unter Beobachtung bleiben, ehe ich Sie entlassen kann.«

Nina atmete bedächtig aus. »Wie geht es Helga jetzt? Ist sie aufgewacht? Hat sie irgendetwas gesagt?«

Dr. Tully schüttelte den Kopf. »Sie ist weiterhin komatös.«

»Was ist mit dem Fahrer? Vielleicht kann er …?«

»Der Mann hat Sie beide bei der Notaufnahme rausgeworfen und anschließend die Flucht ergriffen«, entgegnete Tully in hartem Ton. »Er wird Ihnen keine Hilfe sein.«

»Ich habe sein Kennzeichen, und der Freund eines Freundes, ein ehemaliger FBI-Mitarbeiter, hat es checken lassen, darum kenne ich seinen Namen und seine Adresse!«, sagte sie triumphierend. »Er heißt Yuri Marchuk und wohnt in der Avenue B, im East Village. Ich habe versucht, Helgas Tochter Lara ausfindig zu machen. Sie könnte die Aufzeichnung übersetzen, und falls ich den Fahrer aufspüren kann …«

»Sie regen sich zu sehr auf.« Dr. Tully runzelte die Stirn. »Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Wir reden später, sobald wir mehr Informationen haben.«

»Informationen sind exakt das, was ich zu bekommen versuche«, sagte Nina durch zusammengebissene Zähne. »Falls sie aufwacht und zu sprechen beginnt, geben Sie mir Bescheid, okay?«

»Selbstverständlich.« Dr. Tullys Stimme war kühl. »Dann bis später.«

Nina atmete zittrig durch, als die Tür des Behandlungszimmers klickend ins Schloss fiel. Sie regte sich zu sehr auf? Ein guter Witz. Vielmehr die Untertreibung des Jahres. Ihre Nerven vibrierten, ihr ganzer Körper zitterte. Sie glitt vom Untersuchungstisch und umklammerte dabei mit zitternden Fingern ihr Handy. Das Display zeigte noch immer die Nummer ihrer Freundin Lily an.

Dem Himmel sei Dank für Lily. Sie und Bruno und ihre supertoughen, kraftstrotzenden McCloud-Freunde hatten für sie sofort in den Notfallmodus umgeschaltet, obwohl Nina sie bisher noch nicht mal kannte. Was für tolle Menschen. Sie liebte sie schon jetzt.

Lily hatte Nina inzwischen dreimal aus Portland angerufen. Sie hatten die Adresse des Taxifahrers in Rekordzeit ermittelt. Lily hatte sogar gedroht, nach New York zu fliegen, obwohl sowohl ihr Liebster, Bruno, als auch Nina ihr Veto eingelegt hatten. Lily befand sich im achten Monat einer problematischen Schwangerschaft, musste krampflösende Medikamente einnehmen und war derzeit stationär zur Beobachtung in der Universitätsklinik von Portland. Auf keinen Fall würde sie ein Flugzeug besteigen. Aber es war sehr tröstlich, eine Freundin zu haben, der sie so wichtig war, dass sie unbedingt kommen wollte.

Nina vermisste Lily so sehr, dass es wehtat. Sie dachte an all die Abende, an denen sie gemeinsam gegessen, gelacht, geschwatzt und einfach nur ihr Beisammensein genossen hatten. Es war wundervoll gewesen, Lily in der Nähe zu haben. Eine College-Zimmergenossin, die zu der Schwester geworden war, die sie nie gehabt hatte. Jahrelang hatten sie einander die Familie ersetzt.

Erst Lilys Umzug nach Portland hatte Nina dazu bewogen, den Mietvertrag für ihr Apartment auf der Upper West Side zu kündigen und zurück in das Haus in Mill Basin zu ziehen, das sie von ihrem Stiefvater geerbt hatte. Die Familie, an die sie es vermietet hatte, war kürzlich weggezogen, und da New Dawn, das Heim für misshandelte Frauen, in dem sie arbeitete, sich in Sheepshead Bay befand, war ihr Weg zur Arbeit von dort aus wesentlich kürzer.

Das Haus löste gemischte Gefühle und schlechte Erinnerungen bei ihr aus, aber die Vergangenheit lag weit zurück, war tot und beerdigt. Genau wie Stan. Nina war heute nicht mehr der emotional labile Mensch von früher, und ein Haus war Gott sei Dank nur ein Haus. Sie hatte verdammtes Glück, eins zu besitzen.

Nina fand sich mittlerweile naiv, weil sie sich eingebildet hatte, dass es ihre Lebensqualität verbessern würde, wenn sie zur Arbeit laufen könnte, anstatt eine zweistündige Pendlerfahrt in Kauf nehmen zu müssen.

Nach Lilys Wegzug hatte es keinen Grund mehr gegeben, in Manhattan zu bleiben. Lily lebte nun in Portland, drei Zeitzonen entfernt. Verliebt bis über beide Ohren.

Nina freute sich aufrichtig für ihre Freundin. Lily verdiente es, dass Bruno sie anbetete. Nach zahlreichen Rückschlägen in den vergangenen Jahren hatte Lily endlich ihr Glück gefunden. Bruno war klug, sexy, stark, und er war ein guter Daddy. Er hatte seine Vaterqualitäten bei den kleinen Zwillingen, die er kürzlich adoptiert hatte, bereits unter Beweis gestellt. Lily war nun Teil eines großen Familienclans.

Darum war jetzt alles gut. Zumindest für Lily. Hurra.

In der traurigen, dumpfen Stille, die dieser Erkenntnis folgte, drängte sich ihr der Vergleich mit ihrem eigenen trostlosen Leben auf. Sie wurde von einer ziemlich zuverlässigen Pechsträhne verfolgt.

Verdammt, sie wollte nicht, dass solche Gedanken ihr Bewusstsein auch nur streiften. Sie wollte sich nicht klein fühlen wegen des Glücks eines anderen, erst recht nicht, wenn es um einen Menschen ging, den sie sehr liebte. Es kam ihr schäbig und kleinlich vor, und es machte sie zornig auf sich selbst. Gott, wie sie Lily vermisste.

Reiß dich am Riemen, Mädchen. Du hast im Moment größere Probleme als Einsamkeit und Neid. Zum Beispiel, dass du gerade an einem mysteriösen Gift sterben könntest.

Sie starrte auf die Telefonnummer, die Lily ihr in einer SMS geschickt hatte. Sie gehörte diesem Kerl namens Aaro, einem Militärkameraden von einem von Brunos Adoptivbrüdern. Er beherrschte Ukrainisch und verschiedene andere slawische Sprachen. Das Handy zuckte in ihren Fingern wie ein lebendiges Wesen. Es war zwanzig Minuten her, seit sie zuletzt mit ihnen gesprochen hatte. Bruno hatte mit Aaro telefoniert, während Nina mit Lily geredet hatte. Er hatte die Datei bereits versendet. Aaro wusste, wie dringend sie diese Information brauchte. Vielleicht hatte er es sich schon angehört. Er könnte in diesem Moment bereits die entscheidende Information besitzen, die Ninas Ärzte benötigten – die ihr Leben, ihre geistige Gesundheit und/oder ihre Leber retten könnte.

Warum gab er sie dann nicht preis? Wieso zur Hölle rief er nicht an?

»Scheiß drauf«, murmelte sie und drückte auf »Wählen«. Sollte er sie doch für eine verängstigte Irre halten. Er hatte ja recht – und wenn schon?

Das Telefon klingelte viermal, bevor abgenommen wurde. Ja. Nina schnappte nach Luft und setzte zum Sprechen an …

»Was?«, bellte eine tiefe Stimme. Offenbar fühlte sich da jemand gestört.

Ihr Herz begann zu rasen. Sie brauchte mehrere stammelnde Anläufe, bevor sie einen zusammenhängenden Satz herausbrachte. »Äh … äh, spreche ich mit Alex Aaro?«

»Wer will das wissen?«

»Mein Name ist Nina Christie, und ich …«

»Ich weiß, wer Sie sind«, blaffte der Mann.

Sein brüsker Ton zerrte an Ninas überreizten Nerven. Ihre Antwort ließ nicht auf sich warten. »Wenn Sie es schon wissen, warum zum Teufel fragen Sie dann?«

Tödliche Stille. Der Kerl wusste keine Erwiderung? Na schön. Sie würde ihm eine servieren. »Ist es ein verbaler Tick?«, fragte sie süffisant. »Sagen Sie das automatisch, um jeden, der mit Ihnen spricht, in die Defensive zu treiben? Sehr raffiniert, Aaro. Ich wette, das trägt Ihnen eine Menge Freunde und Bewunderer ein.«

Es folgte eine schockierte Pause, dann räusperte er sich. »Ich bin nicht auf der Suche nach Freunden, und ich brauche auch keine Bewunderung.«

»Ein Glück für Sie.«

Er stieß ein Schnauben aus. »Sie hatten wohl einen harten Morgen, Lady.«

Ihr Nackenhaar sträubte sich wie bei einer provozierten Katze. Dieser verfluchte Klugscheißer. »Das könnte man so sagen.« Sie artikulierte jedes Wort mit großer Präzision. »Bruno hat Ihnen von meinem harten Morgen erzählt, nicht wahr?«

»Ja.« Seine Stimme klang wachsam. »Muss die Hölle gewesen sein.«

»Gut. Dann wissen Sie auch, dass ich keine Zeit für sinnloses Geplänkel habe. Haben Sie sich die Aufnahme schon angehört?«

»Nein.«

Die Nüchternheit seines Neins war beunruhigend. »Ich wünschte, Sie würden sich damit beeilen. Soll ich Sie noch mal anrufen, nachdem Sie …«

»Nein«, sagte er wieder.

Nun verfiel sie ins Stammeln. »Was … aber … haben Sie die Nachricht mit der Audiodatei nicht bekommen? Soll ich sie noch mal schicken? Ich muss dringend wissen, was …«

»Ich kann momentan nicht für Sie übersetzen. Ich befinde mich gerade auf dem Belt Parkway, in Richtung Brighton Beach. Ich habe dort etwas zu erledigen, bevor ich Ihnen helfen kann. Es ist dringend.«

Dringend? »Aber ich … aber diese Droge … meine Ärztin muss wissen, ob …«

»Kontaktieren Sie die ukrainische Botschaft. Bitten Sie dort jemanden um Hilfe. Sie finden die Nummer im Internet. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass es bei Ihnen in der Klinik Patienten gibt, die ukrainischer Herkunft sind. Fragen Sie nach. Sie werden jemanden finden. Ich habe etwas zu erledigen, das zeitkritisch ist.«

»Zeitkritischer als das hier?« Ihre Stimme überschlug sich.

»Ja«, bestätigte er mit kalter Endgültigkeit.

Ja? Nina schüttelte in sprachloser Ungläubigkeit den Kopf. Was fiel ihm ein? Wie konnte er es wagen? Natürlich hatte sie keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass dieser Kerl ihr helfen würde, außer dass Lily und Bruno es ihr versichert hatten. Widerstreitende Impulse duellierten sich in ihrem Inneren. Sie wollte ihn anflehen, sich die Datei einfach anzuhören. Sie wollte betteln, an sein Gewissen appellieren. Gleichzeitig wollte sie ihm sagen, er solle sie am Arsch lecken und krepieren.

Nina versuchte es noch einmal. »Aber … aber Lily und Bruno sagten, Sie könnten …«

»Ich weiß nicht, was Lily und Bruno Ihnen gesagt haben, Lady.«

»Sie sagten, dass Sie diese Datei übersetzen können«, platzte es mit explosiver Kraft aus ihr heraus. »Was Sie mir dabei verschwiegen haben, ist, dass Sie ein Arschloch sind.«

»Das tut mir leid«, antwortete er ohne einen Anflug von Bedauern. »Sobald ich fertig bin, melde ich mich bei Ihnen, und sollten Sie mich dann noch immer …«

»Sparen Sie sich die Mühe. Wirklich. Sie können mich kreuzweise. Einen schönen Nachmittag noch.« Sie legte auf und brach in Tränen aus.

Gott, wie sehr sie es verabscheute zu weinen. Und Aaro verabscheute sie sogar noch mehr, weil er sie dazu brachte. Kaum waren die Tränen versiegt, nahm sie ihr Handy und klickte sich durch das Menü, bis sie herausgefunden hatte, wie sie die Nummer des Wichsers blockieren konnte. Sie hatte sich nie zuvor mit dieser Funktion beschäftigt, aber es war die einzige Trotzreaktion, die ihr einfallen wollte. Ätsch! Selbst wenn er sie nach ihrem Ausraster gar nicht mehr zurückrufen würde.

»Ms Christie?«

Die Stimme ließ sie zusammenfahren. »Ja?«

Ein großer, kahl werdender, rotgesichtiger Mann in einem weißen Arztkittel spähte in den Untersuchungsraum. »Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Ähm, brauchen Sie das Zimmer? Verzeihung«, sagte Nina zittrig. »Ich war ganz in Gedanken. Aber ich wollte sowieso gerade gehen.«

»Nein, das ist in Ordnung. Ich war auf der Suche nach Ihnen, Ms Christie. Gut, dass ich Sie gefunden habe. Ich bin Dr. Granger. Dies ist meine Kollegin, Dr. Woodrow.« Der Arzt trat ein. Er war groß, besaß massige Schultern und grinste so breit, dass sein Zahnfleisch entblößt wurde. Eine entstellende Brandnarbe bedeckte seinen Hals. Die bildschöne Blondine, die ihm auf den Fersen folgte, lächelte Nina strahlend an. Dieses manische Lächeln der beiden war gruselig.

Sie hätte es nicht erwidern können, selbst wenn sie es gewollt hätte. »Äh, ja?« Ihre Stimme klang dünn und verunsichert.

»Bitte begleiten Sie uns hinauf ins Labor.« Dr. Woodrows perfekte Zähne strahlten, als würden sie von innen beleuchtet werden. »Wir müssen einige Tests durchführen.«