Tage ohne Wiederkehr - Shannon McKenna - E-Book

Tage ohne Wiederkehr E-Book

Shannon McKenna

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Beschreibung

Der ehemalige Detective Sam Petrie hat schon viel erlebt und deshalb nichts zu verlieren, als die Journalistin Svetlana Ardova seine Hilfe benötigt. Mit ihren Artikeln hat sie sich viele Feinde gemacht und erhält Morddrohungen. Sam begibt sich mit ihr auf eine gefährliche Reise nach Italien, wo sie einem explosiven Geheimnis auf der Spur sind. Einem Geheimnis, das sie zerstören könnte, das aber auch das Feuer der Leidenschaft zwischen ihnen entfacht.

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Inhalt

Titel

Über dieses Buch

Prolog

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Epilog

Über die Autorin

Die Romane von Shannon McKenna bei LYX

Impressum

SHANNON MCKENNA

Tage ohne Wiederkehr

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Patricia Woitynek

Über dieses Buch

Sich als Journalistin gegen Sklaverei und Menschenhandel einzusetzen, ist für die junge Svetlana Ardova zur Lebensaufgabe geworden. Als Zwölfjährige wurde sie selbst in Osteuropa entführt, weil Organhändler es auf sie abgesehen hatten. Erst nach einem Jahr der Gefangenschaft und Folter gelang es den McCloud-Brüdern, ihr Versteck ausfindig zu machen und Svetlana in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod zu retten. Seit diesem traumatischen Erlebnis setzt sie alles daran, anderen dasselbe Schicksal zu ersparen. Für ihr Engagement als Journalistin soll ihr nun in Italien ein Preis verliehen werden, doch Svetlana weiß, dass diese Reise große Gefahren birgt. Seit sie einem Mädchenhändlerring auf die Spur gekommen ist und belastendes Filmmaterial sichern konnte, erhält sie Morddrohungen. Doch als Svetlana auf einer Hochzeit Sam Petrie, ihrem damaligen Retter, wiederbegegnet, weiß sie, wie ihr Vorhaben doch noch gelingen kann: Sie bittet ihn, sie als ihr Beschützer zu begleiten. Svetlana spürt vom ersten Moment an, dass ihr heimliches Begehren für Sam ihre Reise hochexplosiv macht, aber auch, dass er der Einzige ist, der ihr auf der Suche nach der Wahrheit bei allen Gefahren beistehen wird …

Prolog

Rom, Italien

Zu Tode gelangweilt pulte Josef mit dem Messer den Dreck unter seinen Fingernägeln heraus. Trotz seiner wertvollen Kontakte, seiner Verhörkünste, seines Talents im Umgang mit Sprengstoffen und Handfeuerwaffen zwang man ihn, den Babysitter für den nutzlosen Sohn des Bosses zu spielen.

Sasha Cherchenko war völlig vertieft in seinen Tablet-Computer, dessen Bildschirm sein eingefallenes Gesicht in ein gespenstisches Licht tauchte. Dieser mundfaule, jämmerliche Junkie-Abschaum. Er war der Erbe eines milliardenschweren Imperiums. Seine bloße Existenz war eine Beleidigung für Josef, der sich sein ganzes beschissenes Leben lang jede Mahlzeit, jeden Atemzug hart hatte erkämpfen müssen.

Die Stille war nervenzermürbend. Josef stand auf, streckte sich und schlenderte hinter Sashas Rücken vorbei. Der sah sich gerade irgendeinen Vortrag auf seinem Tablet an. Eine hübsche junge Frau sprach. Plötzlich erkannte Josef sie wieder und blieb wie vom Donner gerührt stehen.

Es war Svetlana Ardova, die Tochter dieser Teufelin Sonia, die Josef aufs Kreuz gelegt hatte. Seit Jahren hatte er kein Bild mehr von dem Mädchen gesehen, das mit zwölf Jahren gekidnappt worden war, verurteilt zum Tod durch Organhändler.

Die Kamera zoomte näher an ihr Gesicht heran. Große, mandelförmige haselnussbraune Augen, sinnliche Lippen, glänzendes Haar. Ein echter Leckerbissen. Die Medien hatten sich nach ihrer spektakulären Befreiung damals gar nicht mehr eingekriegt. Heute war sie noch hübscher. Josef leckte sich die Lippen.

Svetlana deutete auf eine Leinwand, auf der ein Foto von Sonias unvergesslichem Gesicht zu sehen war. Es war unterlegt mit einem Schriftzug in kyrillischen Buchstaben. Ohne sich um Sashas überraschten Protestschrei zu kümmern, schnappte Josef sich das Tablet und riss ihm die Kopfhörer von den Ohren. Er stellte den Ton auf maximale Lautstärke.

»… Buch ist meinen Eltern gewidmet«, erklärte Svetlana. Josef ließ die letzten Sekunden des Videos noch einmal abspielen. Als Sonias Foto erschien, schaltete er auf Standbild.

Die Worte darunter lauteten: Das Schwert des Kain. Der Rest war abgeschnitten, bis auf ein paar Zahlen. Es rauschte in seinen Ohren. Nach sechs Jahren gab es nun endlich einen Anhaltspunkt, und er konnte die Suche neu starten. Es gab jemanden, den man zu Brei zerquetschen konnte.

Sasha krächzte etwas mit seiner heiseren, stockenden Stimme und versuchte, sein Tablet zurückzuerobern. Josef versetzte ihm einen Hieb, der ihn der Länge nach auf den Couchtisch beförderte. Er ignorierte das raue Wimmern des jungen Mannes und rief seinen Boss an.

»Ja«, meldete sich Pavel Cherchenko schroff.

»Wir haben eine Spur.« Josefs Stimme überschlug sich vor Aufregung. Er verstummte kurz, um sich zu sammeln. »Svetlana Ardova hat ein Foto ihrer Mutter bei einem Vortrag gezeigt, der im Internet zu sehen ist. Darauf steht: Das Schwert des Kain. Ich kann noch heute nach Portland fliegen.«

Der Boss quittierte seine Worte mit einem Grunzen. »Und meine Söhne? Wer soll sie bewachen?«

Sasha winselte. Josef schlug ihm auf den Hinterkopf. »Sie haben Andrei und Aleksei als Aufpasser.«

Es folgte eine lange, spannungsgeladene Pause, doch dann gab der Boss seine Zustimmung: »Geh nach Portland.«

Das Video lief weiter. »… nur ein Herz geheilt, nur ein Leben gerettet wird, ist es die Sache wert gewesen. Ich danke Ihnen vielmals.«

Donnernder Applaus brandete durch den Raum. Svetlana stand im Scheinwerferlicht und forderte ihn mit ihrem Blick heraus. Zart wie eine Elfe. Reif, um gepflückt zu werden. Bezwungen. Bestraft für jede einzelne von Sonias Sünden.

Oh ja! Die hübsche kleine Tochter würde ausgiebig büßen.

1

Portland, Oregon

Zwei Tage später

Sam Petrie lehnte an der Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. Er starrte auf die Tanzfläche und achtete dabei peinlich genau darauf, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Er war nicht zum Plaudern hier. Obwohl sein kaum noch vorhandener Selbsterhaltungstrieb dagegen aufbegehrt hatte, befand er sich auf einer weiteren kompromisslosen Hochzeit der McCloud-Sippe, in der Hoffnung, die schwer fassbare Svetlana Ardova angaffen zu können: ihre großen, tragischen Augen, die festen, appetitlichen Brüste. Unerklärlicherweise hegte sie obskure Vorurteile gegen ihn.

Es waren fast zwei Jahre vergangen seit jenem Kuss in Brunos Arbeitszimmer, doch dieses Ereignis hatte seine Schwärmerei in eine ausgewachsene Obsession verwandelt.

Allein aus diesem Grund hatte Sam sich dazu hinreißen lassen, die Einladung zu Aaros und Ninas Hochzeit anzunehmen. Ninas Schwangerschaft hatte ihnen vergangenes Jahr einen Strich durch die Rechnung gemacht, aber ihre Zwillinge, Julia und Oksana, waren mittlerweile sechs Monate alt, sodass die Hochzeitsplanung endlich vorangetrieben werden konnte, und nun war die gesamte Horde hier versammelt. Essen, Getränke, Musik – alles nur vom Feinsten. Überall wuselten Kinder herum. Alle tanzten und hatten Spaß und stellten neugierige Fragen über Dinge, die sie einen Scheiß angingen, während Sam sich mit brennenden Augen in einer Ecke herumdrückte und Sveti anstierte wie ein perverser Lüstling. Es war demütigend. Er hatte Dutzende von diesen besessenen Wichsern, zu denen er nun auch zählte, weggesperrt und sich diebisch darüber gefreut, sie aus dem Verkehr gezogen zu haben.

Sveti unterhielt sich gerade mit einer Gruppe heißer Feger in Abendkleidern, die allesamt ein Saiteninstrument in Händen hielten. Das Venus Ensemble, auch bekannt als das Orchester der Augenweiden. Mit der Aussicht auf eine Greencard waren die Mädchen von ihren osteuropäischen Konservatorien weggelockt und ins Land geschleust worden. Dort waren sie anschließend in ein tödliches Komplott verwickelt worden, in dem bewusstseinsmanipulierende Drogen und anderer verrückter Mist eine Rolle gespielt hatten – Sam konnte die ganze Geschichte noch immer nicht recht glauben. Kev McCloud hatte sie vor einem unaussprechlichen Schicksal bewahrt, während der Presserummel den Mädchen zu einem großen Bekanntheitsgrad verholfen hatte. Sie hatten sich zu einem sexy Streicherensemble zusammengeschlossen und verdienten inzwischen im großen Stil.

Hurra! Ein Punkt für die Guten.

Sie waren wirklich umwerfend, aber Sveti steckte sie alle noch in die Tasche. Selbst auf ihren mörderisch hohen Absätzen war sie die Kleinste unter ihnen und trotzdem absolut perfekt. In ihrem purpurroten Kleid war sie strahlend schön. Sam taten die Augen weh von der Überstimulation. Mandelförmige goldbraune Augen über slawischen Wangenknochen. Volle, weiche rote Lippen, die zu unreinen Gedanken anstifteten, und eine majestätische Haltung, die mit besagten unreinen Gedanken kurzen Prozess machte. Wohlgerundete, hoch sitzende Brüste. Straffe Nippel. Bei dem Anblick kribbelten seine Fingerspitzen. Ihre Haare waren zu einem komplizierten Knoten hochgesteckt. Es sah toll aus, trotzdem gefielen sie ihm offen besser. Er ballte die Fäuste, als er sich daran erinnerte, wie seidenweich sie sich in seinen Händen angefühlt hatten. Er wollte das herzförmige Muttermal an ihrem Hals küssen, den Umriss mit den Lippen nachzeichnen, es studieren wie eine Landkarte.

Er pirschte sich näher heran. Sie unterhielt sich auf Russisch oder in irgendeinem Dialekt davon. Es törnte ihn an, wenn sie in ihrer Muttersprache redete. Allein schon der Klang ihrer Stimme törnte ihn an.

Ach, verdammt, wenn er ehrlich war, törnte ihn sogar ihr trotziges Schweigen an.

Sam riss den Blick von ihr los und musterte die tanzenden Paare. Dort hinten war Svetis Begleiter, Josh Cattrell – hochgewachsen, wohlhabend, das Gesicht vom Champagner gerötet. Gut möglich, dass er der Grund war, warum Sveti all seine Anrufe, Nachrichten und E-Mails ignorierte. Jeglicher Vergleich zwischen Josh und ihm würde momentan nicht zu seinen Gunsten ausfallen. Er war in letzter Zeit zu träge und rebellisch gewesen, um sich die Haare zu schneiden, daher hatte er seine braune Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Für seinen Termin beim Psychologen vergangene Woche hatte er sich rasiert, aber dessen Urteil über Sam hatte ihn derart verärgert, dass er sich seither nicht mehr die Mühe gemacht hatte. Zudem war er viel zu dünn für seinen Anzug. Nur im Schulterbereich platzten beinahe die Nähte – eine Folge seines obsessiven Trainings. Sein Gesicht wirkte grimmig und hager, als er sein Spiegelbild in einer Glasscheibe sah.

Nein, er schnitt nicht gut ab im Vergleich zu Cattrell mit seiner topmodischen Frisur, dem frisch rasierten Gesicht, den charmanten Grübchen und der künstlichen Sonnenbräune. Sein Anzug saß natürlich tadellos.

Dieser unterbelichtete Lackaffe. Sam hatte ihn auf Anhieb gehasst.

Sveti kannte Cattrell seit ihrem dreizehnten Lebensjahr. Er war kurzzeitig ihr Mitgefangener gewesen, ehe man sie aus der Gewalt der Organdiebe befreit hatte. Die meisten Geschichten rund um die McClouds und ihre Clique waren unfassbar verrückt. Normalerweise konnte er »verrückt« überhaupt nicht ab, doch in Svetis Fall traf das Gegenteil zu. Wenn es um sie ging, wurde er wie von dicken Stahlseilen gefesselt und angezogen.

Josh Cattrell war ein ausgemachter Blödmann, der jedes Mädchen in seinem Blickfeld lächelnd anflirtete, sodass man seine übertrieben gebleichten Zähne sah. Sam beobachtete, wie er die Nummer einer der Bedienungen in sein Handy tippte, ihr etwas ins Ohr säuselte und ihren Po tätschelte.

Dieser kleine Penner sollte sein Konkurrent sein?

Ohne mit der Wimper zu zucken, drehte Cattrell sich zu Sveti um und streckte ihr die Arme entgegen. Er zog sie auf die Tanzfläche und legte die Hand an ihre Hüfte, als hätte er nicht eben erst den Hintern einer anderen Frau befummelt. Die Sängerin stimmte eine langsame Melodie an, und Cattrells Hand glitt tiefer.

Zur Hölle mit dieser verfickten Scheiße!

Der Druck in ihm stieg an wie in einem Dampfkessel, heiß und gefährlich. Sam kannte dieses Gefühl nicht und hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Eine Frau brachte ihn so schnell nicht aus der Ruhe, was eine lange Reihe frustrierter Beinahefreundinnen bestätigen konnte. Er hatte im Lauf der Jahre jede Menge über seine »Bindungsängste« zu hören bekommen. »Männliche Schlampe« war nur ein Ausdruck von vielen, mit denen sie ihn beschimpft hatten.

Raus, raus, raus! Schaff deinen abgehalfterten, geistesgestörten Hintern hier weg, bevor du dich noch zu etwas Sinnlosem und Dummem hinreißen lässt. Verpiss dich!JETZT.

Sveti war sowieso zu jung für ihn. Josh stand ihr altersmäßig näher, wenn auch nicht sehr viel. Er war geschätzte fünf Jahre jünger als Sam mit seinen fünfunddreißig. Vielleicht auch nur vier. Vier mickrige Jahre. Vier.

Auf seinem Weg zur Garderobe prallte er mit jemandem zusammen und murmelte eine Entschuldigung, als die Person ihn am Arm fasste. »Hallo, Sam.«

Er brauchte mehrere Augenblicke, um den Mann einzuordnen. Groß, gebräunt, das dunkle Haar kurz geschoren. Es war die Nase, die schließlich den entscheidenden Hinweis lieferte. »Miles.«

Dieser Mann trug eine Teilschuld daran, dass Sam nicht länger als Detective fürs Morddezernat tätig war. Er hegte deswegen aber keinen Groll gegen ihn. Miles hatte nur versucht, sich und seine Freundin am Leben zu halten. Aber Sams Beteiligung an Miles’ bizarrem Abenteuer, so geringfügig sie auch gewesen sein mochte, hatte nicht gerade förderlich für seine Karriere gewirkt.

»Ich, äh, wollte schon seit Langem mit dir reden«, stammelte Miles.

Gelogen. Miles war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, mit seiner umwerfenden Braut ausgedehnte, wohlverdiente Flitterwochen zu genießen und sich an feinen Sandstränden zu räkeln.

Doch ihre unglaubliche Geschichte hatte in den oberen Etagen Nervosität und Unbehagen ausgelöst, und sie hatten einen Sündenbock gesucht. Einen Prügelknaben. Und Sam war genau der Richtige für diesen Job gewesen.

Der Hokuspokusfaktor hatte sein Schicksal besiegelt. Sie hatten ihn aus dem Verkehr gezogen und dabei die Schussverletzung vom Vorjahr und das anschließende psychiatrische Gutachten als Vorwand benutzt. Posttraumatisches Belastungssyndrom, hatten die Seelenklempner behauptet, aber das war Schwachsinn. So schlimm waren seine Symptome nicht. Sicher, er war dünnhäutig und depressiv, aber das traf auch auf viele seiner Kollegen zu. Diese Diagnose hatte weit mehr mit den diskreten Anrufen seines Vaters bei diversen Kommunalpolitikern zu tun, die einen guten Draht zum Polizeipräsidenten hatten.

Er drängte sich an dem jungen Mann vorbei. »Ich muss los, Miles. Man sieht sich.«

Der junge Mann hielt ihn am Arm fest. »Warte! Ich möchte mich bei dir bedanken, weil du mich vorgewarnt hast, als es für uns um Leben und Tod ging. Ich habe es dir nie persönlich gesagt, weil ich so lange verreist war, aber es ist mir wichtig. Und du warst ja auch nicht auf unserer Hochzeit.«

»Stimmt.« Sam hatte im Krankenhaus gelegen. Bauchschuss. Miles wirkte einfach zu relaxt, zu braun gebrannt und sexuell erfüllt. Gesättigt von reifen Mangos und Schäferstündchen mit seiner wahren Liebe in herrlichen Buchten. Es ging Sam gewaltig gegen den Strich. »Wo wart ihr zwei denn?«, fragte er, nur um sich selbst zu quälen.

Miles besaß immerhin den Anstand, verlegen aus der Wäsche zu gucken. »Zuletzt auf Bali. Wir hatten ein Baumhaus gemietet.«

»Wie nett«, kommentierte Sam.

»Sehr sogar. Wir sind nur zurückgekommen, weil Lara, na ja … sie ist schwanger.« Sein mächtiger Adamsapfel hüpfte vor Unbehagen. »Darum wollen wir jetzt das Haus beziehen und alles für den Nachwuchs vorbereiten.«

»Wie schön für euch.« Sam würgte die Worte mühsam heraus. »Gratulation.«

»Danke. Wir sind tierisch aufgeregt. Übrigens, falls ich jemandem erklären soll, wie die Sache wirklich abgelaufen ist …«

Gott bewahre. »Danke, aber lieber nicht«, lehnte Sam hastig ab.

»Wie du meinst.« Miles wirkte bekümmert. »Ich wünschte nur, ich könnte helfen. Was treibst du denn so? Bist du noch immer krankheitsbedingt beurlaubt?«

Herrje, wo sollte er da anfangen? Er gammelte herum, wenn er nicht gerade durch den Park sprintete, als wären ihm fleischfressende Zombies auf den Fersen. Er spekulierte ein bisschen an der Börse, las Svetis Blogeinträge zur Bekämpfung des Menschenhandels und verfolgte die Furcht einflößenden Abenteuer, die sie gelegentlich als Live-Stream auf ihrem extrem erfolgreichen Videoblog zeigte, ebenso wie jeden Tweet auf ihrer Twitter-Seite. Immer wieder sah er ihren TED Talk über ihre persönlichen Erlebnisse, dank derer sie zu einer Aktivistin gegen moderne Sklaverei geworden war – auf seinem Computer, seinem Tablet, seinem Smartphone. Obsessiv. Wahlweise vertiefte er sich in ihre Facebook-Fotogalerie. Natürlich hatte sie ihn nicht als Freund bestätigt. Er hatte ihren Account gehackt.

»Ich wäge noch immer meine Optionen ab«, antwortete er ausweichend.

»Wie ich höre, macht man dir Druck, damit du ins Familienunternehmen einsteigst. Irgendein großer Hedgefonds, richtig?«

Sam war überrascht. Er hatte es vor Wochen Kev gegenüber in einem Nebensatz erwähnt, und jetzt konfrontierte Miles ihn damit. Er hätte nicht vermutet, dass sie sich so sehr für sein Leben interessierten. Immerhin interessierte er sich selbst nur mäßig dafür. »Ja, so was in der Art«, räumte er ein. »Aber eher schneide ich mir die Kehle durch.«

Miles zog die Brauen zusammen. »Wieso das? Bist du nicht gut darin?«

»Doch, sehr sogar. Aber nur, weil man in etwas gut ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass man es auch tun sollte.« So hatte er sich beispielsweise in den vergangenen Monaten zu einem gefährlich talentierten Hightech-Stalker entwickelt.

»Ich verstehe, was du meinst. Ich verfüge neuerdings selbst über ein paar sehr außergewöhnliche Begabungen.«

Es klang, als wollte Miles auf seine übersinnlichen Kräfte zu sprechen kommen, doch darüber wollte Sam definitiv nichts hören. Er wandte sich zum Gehen, dann zog er sich blitzartig in die Nische zurück, die zu den Toiletten führte. Eine geschlossene Front Ehrfurcht gebietender Weiblichkeit kam zielstrebig den Korridor entlangmarschiert. Tam und Becca hielten die lautstark protestierende Sveti mit festem Griff zwischen sich und kamen direkt auf ihn zu.

»Halt jetzt den Mund!«, befahl Tam. »Ich werde nicht zulassen, dass du das tust!«

»Ich habe jahrelang geschwiegen! Ich habe die Nase voll davon!« Sveti wechselte in irgendeine slawische Sprache, ihre Stimme schrill und erregt.

»Nein, das wirst du nicht«, sagte Becca als Antwort auf Svetis Tirade. »Er würde dich umbringen, wenn du das tätest. Beruhige dich, Sveti. Du musst die Nerven behalten.«

»Ich lasse mich nicht noch einmal mundtot machen! Ich bin es so leid …«

Ihre Stimmen wurden lauter, dann wieder leiser, als die drei Frauen an der Nische vorbeigingen, ohne Sam zu bemerken.

Miles spähte um die Ecke. »Das war kurios«, bemerkte er in verwundertem Ton. »Ich habe noch nie erlebt, dass Sveti ausflippt. Was wohl der Auslöser war?«

Er heftete sich an ihre Fersen, und gleich darauf tat Sam es ihm nach. Was auch immer Sveti in solche Aufregung zu versetzen mochte, er würde daraus in jedem Fall etwas über sie lernen können.

Es war kein detektivisches Gespür vonnöten, um die Tür zu finden. Sveti und Tam brüllten einander an, zwischen ihnen Becca, die die Streithähne verzweifelt beschwor, sich zu beruhigen. Verstohlen betraten die Männer den Salon. Nina und Aaro hatten für ihren Empfang das prächtige, im neunzehnten Jahrhundert erbaute Herrenhaus eines Holzbarons gemietet, und als Tam eine aus Buntglas gefertigte Wandleuchte anknipste, wurde der opulent geschmückte Raum in ein warmes Licht getaucht, als würde ein Kaminfeuer brennen.

»… ihr verlangt, dass ich mich still verhalte, während dieser Mann mich hämisch und selbstgefällig angrinst? Er hat Geschäfte mit Zhoglo gemacht! Außerdem mit Heroindealern, mit Meth-Köchen und irgendwelchem dreckigen Abschaum, der Frauen und Kinder versklavt und sie an Organpiraten oder in die Prostitution verkauft! Und da erwartet ihr, dass ich an meinem Champagner nippe und gute Miene zum bösen Spiel mache?«

»Ich erwarte, dass du einen kühlen Kopf bewahrst!«, raunzte Tam. »Woher rührt dieses unbändige Bedürfnis, die Aufmerksamkeit von Leuten zu erregen, die dich bei der kleinsten Beleidigung töten würden? Du hast bereits Morddrohungen erhalten! Was braucht es noch …?«

»Morddrohungen?« Sams Stimme war messerscharf. »Von wem?«

Die drei Frauen rissen die Köpfe herum und starrten die Eindringlinge an.

»Verzieh dich, Sam«, befahl Tam mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Wir sind beschäftigt und haben nicht um deine Einmischung gebeten. Sveti, natürlich stimmt alles, was du über den Mann sagst. Gleichzeitig ist er der Vater des Bräutigams, und es steht dir nicht zu …«

»Sie müssen den Verstand verloren haben, mich zu dieser Hochzeit einzuladen, bei der ein verkommener Mafiagangster auf der Gästeliste steht!«

»Sie haben ihn nicht eingeladen!«, rief Becca. »Er ist einfach gekommen, Sveti, mit vier riesigen, bewaffneten Gorillas als Geleitschutz! Wenn du also nicht willst, dass dieses Fest, bei dem all deine Freunde und ihre kleinen Kinder anwesend sind, bestenfalls in einem gefährlichen Handgemenge und schlimmstenfalls in einer Schießerei endet, wirst du dir eine verdammte Socke in den Mund stopfen!«

Sveti vergrub das Gesicht in den Händen. Sam sah jedoch ihren zitternden, rot geschminkten Mund dazwischen. Der Glanz war verschwunden, nur die matte Tönung färbte noch ihre Lippen.

Sie fing seinen Blick auf. »Was gibt es da zu glotzen?«

»Nichts«, log er. »Also ist Oleg Arbatov uneingeladen hier aufgetaucht? Das ist ja der Hammer.« Und so typisch! Dieses Pack liebte es, Situationen aufzumischen.

»Er kam vor zwanzig Minuten in den Saal stolziert. Nick hätte fast einen Herzinfarkt bekommen. Aaro gibt seitdem sein Bestes, ihn mit seinen Psikräften zum Gehen zu bewegen. Nina versucht es derweil mit der Charmeoffensive. Er möchte Zeit mit den Zwillingen verbringen und hat es satt, abgewimmelt zu werden. Der liebe Großpapa Oleg.«

Sveti taxierte Sam mit einem herausfordernden Blick. »Du bist ein Cop«, sagte sie. »Verhafte den korrupten alten Bock. Wirf ihn ins Gefängnis.«

»Zur Zeit repräsentiere ich nicht das Gesetz«, erinnerte Sam sie.

»Kannst du noch nicht mal eine Verhaftung durchführen?«, fragte Miles.

»Du kennst doch das System. Wenn man keine Beweise hat, die vor Gericht verwertbar sind, was soll es dann bringen? Falls du ihn dazu provozieren willst, dir vor Zeugen die Kehle aufzuschlitzen, könnte das funktionieren. Dann könnte ich ihn verhaften. Deine Entscheidung, Kumpel. Meinen Segen hast du.«

»Halt die Klappe, Petrie!« Svetis Stimme bebte. »Du bist nutzlos.«

»Nenn mich Sam. Was hat es nun mit diesen Morddrohungen auf sich?«

»Das geht dich einen Dreck an!«

Sam versuchte es bei Tam. »Morddrohungen von wem?«

Sie verdrehte die Augen. »Wenn Sveti möchte, dass du es erfährst, wird sie es dir sagen. Wenn nicht, halt dich raus.«

»Mama?«

Sie drehten sich zu der schüchternen Stimme um. Es war Rachel, Tams Adoptivtochter. Sie hielt Beccas kleine Tochter Sofia an der Hand. Rachel war hübsch und hochgewachsen, mit einem dichten Schopf dunkler Locken. Sie fing gerade an zu erblühen.

»Geht es Sveti gut?«, erkundigte sich Sofia.

Sveti schenkte ihr ein zittriges Lächeln. »Aber natürlich, Schätzchen.«

Sofia rannte zu ihr und schlang die Arme um ihre Taille. Sveti drückte sie fest an sich.

»Bist du sicher?« Rachel schien nicht überzeugt. »Du hast geschrien. Das tust du sonst nie. Hat dieser alte Mann etwas Schlimmes mit dir gemacht?«

»Nein, das hat er nicht. Alles ist in bester Ordnung, Herzchen.« Tam klatschte in die Hände. »Los, Rachel, wir suchen Daddy. Sofia, du kommst auch mit. Und du, Becca, behältst die Situation im Ballsaal im Auge.« Sie fixierte Miles und Sam mit ihren durchdringenden topasfarbenen Augen. »Ihr beide bleibt hier bei Sveti. Lasst sie unter keinen Umständen zurück in den Saal. Sie hat genug Probleme, auch ohne dass ihr Name auf Oleg Arbatovs Abschussliste landet.« Tam fasste die beiden Mädchen bei den Händen und stolzierte an den Männern vorbei. Becca folgte ihr und warf ihnen einen harten Blick zu, um Tams Anweisung Nachdruck zu verleihen. Die Tür fiel ins Schloss. Angespannte Stille trat ein.

Miles’ Augen glitten von Sveti, die wieder das Gesicht hinter den Händen versteckte, zu Sam. Er schluckte hörbar. »Ich, äh … muss nach Lara sehen«, sagte er zu Sam. »Kriegst du das hier allein hin?«

Sein Herz schlug wie ein Presslufthammer. Verdammt ja, und ob er das allein hinkriegte. »Kein Problem«, brummte er.

»Ich muss nicht hingekriegt werden!«, tobte Sveti. Ihre Wimperntusche war zu einer wilden, sexy Waschbärenmaske verlaufen.

Miles trat den Rückzug an. »Natürlich nicht. Also dann, bis später, Kumpel. Sie gehört ganz dir.« Er huschte aus der Tür und zog sie hinter sich zu.

Sie gehört ganz dir. Der innere Jubel, den diese Worte auslösten, verebbte augenblicklich, als Sveti mit einem Satz zur Tür hechtete. Sam stellte sich ihr in den Weg. »Vergiss es.«

Ihre goldbraunen Augen weiteten sich vor Bestürzung. »Du hast doch nicht ernsthaft vor, mich hier festzuhalten? Das soll wohl ein Witz sein!«

»Du hast Tam gehört«, entgegnete Sam. »Wenn du dieses Zimmer verlässt, macht sie mit einem Bolzenschneider Jagd auf meine Eier.«

Sveti atmete schwer, was ihre verführerisch aufgerichteten Brustspitzen betonte. »Was Tam dir antun könnte, ist nichts verglichen mit dem, was ich mit dir machen werde, falls du mich davon abzuhalten versuchst, durch diese Tür zu gehen.«

Er fasste hinter sich und verriegelte die Tür. »Das Wagnis gehe ich ein.«

Sie verschränkte die Arme vor ihrem formvollendeten Busen. »Falsche Antwort.«

»Ach ja? Was willst du denn mit mir machen? Versteckst du ebenfalls einen Bolzenschneider unter deinem Rock?«

Sie schnaubte verächtlich. »Die meisten Kerle scheinen das zu denken.«

Er bewunderte die flammende Röte, die ihre Wangenknochen überzog. »Ich nicht.«

»Schön für dich. Herzlichen Glückwunsch! Du bist sehr mutig. Jetzt geh mir aus dem Weg. Ich ertrage es nicht, eingesperrt zu sein, nach dem, was mir passiert ist.«

Sam tat das mit einer lässigen Handbewegung ab. »Die Gefangene-Maid-im-Verlies-Mitleidskarte kannst du stecken lassen. Sie ist alt und abgenutzt. Lass dir was Neues einfallen.«

Ihr fiel vor Fassungslosigkeit die Kinnlade runter. »Du Arschloch!«

»Vollkommen richtig«, pflichtete er ihr bei. »Ich habe nichts zu verlieren. Da du mich sowieso für einen Wichser hältst, kann ich ebenso gut sagen, was ich denke.«

Ihre dunklen Locken wippten um ihr Kinn, als sie den Kopf schüttelte. »Ich habe gravierendere Probleme als deine unerwiderte Schwärmerei, Petrie!«

»Der hat gesessen. Und jetzt erzähl mir von diesen Problemen, wenn wir schon zusammen hier festsitzen. Fang mit den Morddrohungen an.«

Ihr Blick glitt zur Seite. »Ich will nicht darüber sprechen.«

»Pech gehabt. Ich bestehe nämlich darauf.«

Sveti sah ihn unter ihren dichten Wimpern hervor argwöhnisch an. »Du kannst mich nicht zwingen.«

»Meinst du? Das werden wir ja sehen. Jetzt spuck es endlich aus. Wer, was, wo und wann? Hängt es mit deiner Attacke auf diesen Ausbeuterbetrieb zusammen? Sind es diese beschissenen Schlepper Helen Wong und Him Goh?«

Ihre Augen weiteten sich vor Staunen. »Woher weißt du davon?«

»Ich schaue Nachrichten, Sveti«, erklärte er geduldig. »Ich bin Polizist. Ich habe Freunde, ich höre Dinge. Abgesehen davon hast du die Sache via Live-Stream, Blog und Twitter bei hundertzwanzigtausend Followern publik gemacht.«

»Und du zählst inzwischen auch zu ihnen? Spionierst du mir nach?«

Sam verzichtete auf eine Antwort, weil es nichts gebracht hätte. »Es war lebensgefährlich, dich dort mit einer Videokamera einzuschleichen. Du hättest den Tipp an die Polizei weitergeben und ihnen die Sache überlassen sollen.«

Sie schob trotzig das Kinn vor. »Dort drinnen befanden sich vierunddreißig aus China verschleppte Menschen, die achtzehn Stunden am Tag Sklavenarbeit leisteten! Ich habe meine Chance erkannt und sie genutzt! Die Leute müssen es mit eigenen Augen sehen. Nur so wird es real für sie – und nur dann spenden sie!«

»Du kannst niemandem mehr helfen, wenn du tot bist«, bemerkte er. »Aber lass uns das für den Moment vergessen. Erzähl mir von den Morddrohungen.«

»Es war nur ein einziger Brief. Persönlich zugestellt. Darin stand, dass sie mich umbringen werden. Das ist alles. Mehr ist nicht passiert.«

»Wann war das?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Vor mehreren Monaten.«

»Warum wirst du nicht rund um die Uhr bewacht?«, knurrte er.

»Das wurde ich! Wochenlang! Irgendwann habe ich mich dagegen gewehrt, weil es absurd war, Sam. Ich kann so nicht leben. Aber keine Sorge, ich bin außer Gefahr!«

Außer Gefahr, so ein Blödsinn! Doch er wusste, wann ein Gespräch zu nichts mehr führte. Darin hatte er jede Menge Erfahrung. Es war ein Hobby der Familie Petrie.

»Na schön«, kapitulierte er. »Auf zum nächsten Thema, das mich nichts angeht.«

Ihre Pupillen weiteten sich. Sam wünschte, er hätte die extrem geschärften Sinne, über die Miles dem Vernehmen nach inzwischen verfügte. Sein Herz hämmerte zu heftig, um ihres zu hören, erst recht aus dieser Distanz. Sam trat auf sie zu, doch Sveti wich einen hastigen Schritt zurück. Da es ihn seine ganze Willenskraft kostete, stillzustehen, war er nicht mehr dazu in der Lage, im nächsten Moment die ungeheuerlich unklugen Worte zurückzuhalten. »Wenn du mit mir nicht über die Morddrohungen reden willst, dann weih mich in dein Liebesleben ein.«

Ihre Miene wurde verkniffen. »Darauf möchte ich lieber verzichten.«

»Erzähl mir von deinem Galan. Wie lange trefft ihr euch schon?«

»Du meinst Josh? Ich kenne ihn, seit Nick mich aus Zhoglos Gewalt befreit hat. Er ist ein Freund.«

»Definiere ›Freund‹«, verlangte er. »Hat er die Genehmigung, deinen Hintern zu betatschen?«

Sveti reckte das Kinn noch ein Stück höher. »Du verletzt meine Privatsphäre.«

»Ach ja? Verletze ich sie auch, wenn ich dir sage, dass Josh zwei Bedienungen angebaggert hat, bevor und nachdem er bei dir auf Tuchfühlung gegangen ist?«

Sie senkte den Blick, doch die Enthüllung schien sie nicht so sehr zu überraschen oder zu bekümmern, wie er es erwartet hatte. »Du hast kein Recht, dir ein Urteil anzumaßen.«

»Falsch«, konterte er. »Diese zehn Minuten in Brunos Arbeitszimmer – ganz gleich, dass es schon zwei Jahre her ist, ganz gleich, dass du mich seitdem ignorierst –, sie geben mir dieses Recht. Erzähl mir von Cattrell. Schläfst du mit ihm?«

»Nein!« Die Antwort erfolgte prompt und vehement.

»Hast du es vor?«, hakte er nach. Falls dies der ultimative Arschtritt der Realität werden sollte, dann her damit.

Sveti sah wieder zu Boden. Sam wartete.

»Zwischen euch läuft gar nichts«, mutmaßte er.

»Wie bereits gesagt, sind wir nur gute Freunde.«

»Und es stört dich nicht, dass er das Servicepersonal befummelt?«

»Nicht mehr«, gestand sie leise. »Ich weiß schon seit Langem, dass Josh mir nicht die Gefühle entgegenbringt … auf die ich gehofft hatte.«

Gehofft? Sveti war also voller Hoffnung gewesen, und Cattrell hatte sie enttäuscht. Der Kerl musste einen Dachschaden haben.

»Er hat dich angefasst, als wärt ihr ein Liebespaar. Aber du bist kein Mädchen, das sich gern den Hintern tätscheln lässt. Du hast ihn meinetwegen darum gebeten. Er war dein Sicherheitsdate für den Fall, dass ich dir zu nahe komme. Dein menschlicher Schutzschild.«

Sveti errötete. »Also bitte. Es mag dich überraschen, aber du bist nicht die Sonne, um die meine Gedanken kreisen.«

»Sag mir, ob ich recht habe«, bohrte er nach, obwohl er sich längst sicher war.

»Geh mir aus dem Weg!« Sie versuchte, sich an ihm vorbeizuzwängen und zur Tür zu gelangen.

Sam hielt sie fest. Ihm war klar, dass er das nicht tun sollte, aber der Teil von ihm, der das wusste, hatte kein Mitspracherecht. Der Rest von ihm drückte sie an sich, und das Gefühl war so süß, dass seine Nerven verrücktspielten. Der Duft ihres warmen, von purpurrotem Satin umhüllten Körpers überwältigte seine Sinne. Sveti leistete Widerstand und provozierte damit bei ihm das gefährliche, animalische Bedürfnis, sie zu überwältigen und zu Boden zu zwingen.

»Lass mich los, Petrie!«, befahl sie. »Sonst schreie ich.«

»Du tust, als wäre ich ein kriminelles Subjekt, das dich vergewaltigen will«, sagte er. »Ich bin einer von den guten Kerlen, Sveti.«

»Pah«, machte sie höhnisch. »Es gibt keine guten Kerle.«

»Dann sind wir alle schlecht? Du wirfst mich in einen Topf mit Arbatov? Mit Zhoglo?«

Die Erwähnung der beiden Mafiabosse stachelte ihre Kampfeslust weiter an. Sam presste sie fester an sich. Ihr Herz klopfte so ungestüm wie das eines gefangenen Vogels. Sie fühlte sich furchtbar zerbrechlich an. Doch das war sie keineswegs.

»Ich kann nicht fassen, dass wir mein Liebesleben erörtern, während dieses Scheusal mit meinen Freunden und deren Kindern im Ballsaal sitzt und Zucchiniblüten in Tempurateig verspeist! Er hat grauenvolle Verbrechen an Unschuldigen begangen!«

»Du bist nicht die Einzige, die versucht, die Unschuldigen zu schützen.«

Sie schniefte. »Ja, ich weiß. Die Polizei, dein Freund und Helfer.«

Sam wartete einen Augenblick. »Das ist nicht fair. Wir geben unser Bestes.«

Betreten senkte sie den Blick. »Du hast recht, und ich entschuldige mich. Das hier ist albern, Sam. Ich verspreche, nicht unhöflich zu den Gangstern zu sein. Ich werde weder meinen Tod noch den von jemand anderem verschulden. Lass los. Bitte. Ich werde brav sein.«

Jetzt versuchte sie, an seine Vernunft zu appellieren. Es machte keinen Unterschied. Sie mochte sich wieder unter Kontrolle haben, aber auf ihn traf das definitiv nicht zu.

Er lockerte seinen Griff nicht, als er den Gedanken aussprach, der in seinem Kopf Gestalt angenommen hatte: »Weißt du, was dein Problem ist, Sveti?«

Sie zog eine geschwungene dunkle Braue hoch. »Ich schätze, du wirst es mir gleich verraten.«

»Dein Liebesleben, diese Sache mit Josh. Das mit mir. Es ist immer dasselbe Thema. Du hältst Sex für unwichtig und trivial. Das Einzige, was für dich zählt, ist deine schreckliche Lebensgeschichte. Es dreht sich nur um die Monster, die dir das Herz herausschneiden wollten, um es zu verkaufen, und deine Rettung in letzter Minute vor einem grausigen Tod. Die Hölle, die du durchgemacht hast, verleiht deinem Leben einen Sinn. Sie definiert dich. Der Rest ist nur Dekoration, die nicht deine volle Aufmerksamkeit verdient.«

»Und du glaubst, dass du meine volle Aufmerksamkeit verdienst, Sam?«

»Ja«, bestätigte er unumwunden. »Und du verdienst meine. Meine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit für jeden Zentimeter deines Körpers, für eine lange, ungestörte Weile.«

Sie schrak zurück. »Ich habe keine Zeit für Spielchen.«

»In einem Brückenpfeiler einbetoniert zu werden, das ist Svetlana Ardovas Vorstellung von Vergnügen. Auf Partys hat man bestimmt eine Menge Spaß mit dir, Baby.«

»Lass mich in Ruhe, Petrie!«

Wie feindselig! »Du musst die Vergangenheit endlich ruhen lassen«, sagte er.

»Muss ich das?« Sveti lachte bitter auf. »Was du nicht sagst! Alle Achtung, Sam. Danke für den weisen Rat! Als wäre das so einfach! Du hast ja keine Ahnung.«

»Trotzdem musst du die Sache endlich hinter dir lassen«, beharrte er. »Den bösen Mafioso, das Verlies, diesen ganzen verfickten, entsetzlichen Schlamassel. Du hast überlebt. Es ist vorbei. Ende der Geschichte. Hör auf, dieses tonnenschwere Gewicht mit dir herumzuschleppen.«

»Du weißt einen Dreck darüber! Du hast kein Recht, so mit mir zu reden!«

»Nein, natürlich darf niemand so etwas zu dir sagen. Das ist der Grund, warum du so ein tolles, ausgefülltes Liebesleben hast. Weil diese ganzen unaussprechlichen Dinge einem Mann nach etwa zehn Minuten die Luft abschnüren.«

»Lass mich verdammt noch mal los!« Sie schlug wild um sich.

»Aber ich kann das Unsagbare aussprechen. Du hältst ohnehin nichts von mir. Ich muss mich nicht verstellen, sondern kann der Mistkerl sein, der ich bin. Diese Freiheit gelobe ich mir.«

»Ich habe nie behauptet, dass du ein Mistkerl bist«, flüsterte sie.

Das waren gute Neuigkeiten, aber noch würde er sich nichts darauf einbilden.

»Woher nimmst du die Courage, unsagbare Dinge auszusprechen?«, fragte sie. »Alle Männer, die ich kennenlerne, fürchten sich vor mir. Was macht dich so mutig?«

Sam zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich schätze, ich bin in dieser Hinsicht einfach leicht unterbelichtet.«

An einer Wand war ein Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte. Sam führte Sveti durch den Salon, bis sie sich darin sehen konnten, inklusive der Spitzen ihrer Schuhe, die unter dem Rocksaum hervorlugten. Sie gab einen klagenden Laut von sich und kämpfte einen Arm frei, um ein Taschentuch hervorzuziehen und sich die verlaufene Wimperntusche wegzuwischen.

»Ich jage dir eine Heidenangst ein«, bemerkte er.

Irgendwie schaffte sie es, eine hochmütige Miene aufzusetzen, während sie sich die Nase putzte. »Nein, das tust du nicht. Aber du bist ziemlich fordernd.«

»Nur bei dir. Normalerweise bin ich die Sanftmut in Person.«

»Oh bitte! Sanftmütige Männer werden keine Mordermittler, Petrie. Sie werden Botaniker, Fahrradmechaniker, Achtsamkeitsblogger, Biobauern oder Zenmönche.«

»Nenn mich Sam.« Er beugte den Kopf, um an ihrem Haar zu schnuppern. Sie zuckte zurück, und ein Zittern durchlief ihren Körper. »Du musst keine Angst vor mir haben.«

Sie lachte leise und formte tonlos mit den Lippen: Schwachsinn.

Seine Hand glitt über ihre warmen Kurven, die geheimnisvollen Hügel und Täler. Er wollte ihren delikaten Duft verinnerlichen, ihn mit einem einzigen Atemzug verschlingen. Miles mochte das Talent haben, diese Pheromone in ihre chemischen Komponenten aufzuspalten und ihre molekulare Zusammensetzung zu erfassen. Aber für Sam war es keine Chemie.

Es war Magie. Verrückte, stimulierende Zauberei.

»Du gibst mir einfach keine Chance«, raunte er an ihrem Hals. »Und ich kenne den Grund. Willst du meine Theorie über dich hören?«

Sie zuckte zurück, als er sie am Kinn fasste und ihre seidigen Locken sein Handgelenk kitzelten. Substanzlos wie ein Atemhauch.

»Nein, Petrie«, entgegnete sie. »Um ehrlich zu sein, lieber nicht.«

»Ich verrate sie dir trotzdem.« Er küsste den Wirbel hinter ihrem Ohr, dann strich er mit den Lippen über die Kontur ihres Muttermals. »Dieser Vorfall in Brunos Büro. Es war zu schön für dich.«

Sie prustete lachend los. »Meinst du?«

»Du konntest mit einem Mal vergessen. Für eine kleine Weile gab es nur dich und mich. Keinen bösen Mafioso, keine Organpiraten. Keine Vergangenheit. Keine Zukunft.«

»Marco war mit im Zimmer, in seiner Wiege«, erinnerte sie ihn.

»Mag sein. Jedenfalls bist du noch immer in dieser grausamen Geschichte gefangen, in der man dir fast das Herz herausgeschnitten hätte. Sie definiert dich. Du wirst panisch bei dem Gedanken, dich daraus zu befreien. Fühlst dich verloren. Verängstigt.«

»Petrie, tu uns allen einen Gefallen, und lass die Finger von der Psychologie.«

»Du hast dich verloren«, fuhr er beharrlich fort. »Ich könnte dir helfen, dich wiederzufinden.«

Die steile Falte zwischen ihren Brauen vertiefte sich. »Du bist ja so arrogant.«

»Als ich dich an jenem Tag gestreichelt habe, bist du wie verrückt gekommen. Ich träume jede Nacht davon und wache zitternd auf. Schweißgebadet. Mit einer Monstererektion.«

Sie schüttelte den Kopf. »Bitte nicht«, flüsterte sie.

Er rieb die Wange an ihrem lockeren, glänzenden Haarknoten. »Es hat dir Angst eingejagt, Baby. Du dachtest, du würdest sterben. Aber das wirst du nicht. Ich passe auf dich auf. Du wirst dich nicht in deine Einzelteile auflösen. Und falls doch, wird es nur wenige Sekunden andauern, und dann füge ich dich wieder zusammen. Ich werde dich festhalten und beschützen.« Er schmeckte ihre Haut, zog eine Spur von Küssen bis zu ihrem Schlüsselbein.

»Sam«, keuchte sie. »Nicht.«

»Ich sorge dafür, dass es gut für dich ist. Ich werde dir einen Höhepunkt nach dem anderen bescheren. Ich werde nicht grob sein, dir keine Angst machen. Und ich werde dir nicht wehtun. Vertrau mir einfach.«

Sveti sah ihm in die Augen. Er verharrte reglos. Der pure Schmerz, der in ihrem Blick stand, nahm seiner Verführungsmasche abrupt den Wind aus den Segeln.

»Ich weiß nicht, wie man auf diese Weise vertraut«, bekannte sie. »Ich … kann es einfach nicht. Ich mime nicht die Unnahbare. Du führst mich in Versuchung, das gebe ich zu. Aber ich halte Abstand, weil ich das, wonach du suchst, nicht habe. Es ist nicht vorhanden, Sam.«

»Woraus schließt du das?«, fragte er sanft.

Sveti schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Dieser Mechanismus, er funktioniert bei mir nicht. Ich will dich nicht quälen oder grausam sein oder … oder herablassend. Ich wollte nie eine frigide Zicke werden. So traurig und schrecklich das alles ist, es ist die Wahrheit. Es ist meine Realität, und es tut mir leid, falls ich … es tut mir einfach nur unendlich leid.«

Er dachte über ihre Worte nach. »Dann werden wir daran arbeiten«, schlug er vor. »Ich habe eine Menge Potenzial gespürt, damals in Brunos Haus. Wir bringen das in Ordnung. Es ist keine große Sache.«

»Keine große Sache, sagst du?« Ihre Stimme klang erstickt. »Versuch nicht, mich vor meiner Vergangenheit zu schützen. Du würdest verletzt werden. Sie ist mächtiger als du, eine Nummer zu groß für dich.«

»Woher willst du wissen, welche Nummer zu groß für mich wäre?«

Sie wurde rot vor Verlegenheit.

»Ich habe das Thema nicht angeschnitten«, bemerkte er triumphierend. »Sondern du.«

»Englisch ist nicht meine Muttersprache«, verteidigte sie sich mit pikierter Stimme. »Mit deinen Wortspielen bist du bei mir an der falschen Adresse. Ich kapiere den Witz nie.«

Trotzdem entzog sie sich ihm nicht. Sam streichelte ihre Schultern und streifte dabei die Träger des gerafften Bustiers, das ihre perfekten Brüste umschmiegte. Er schob sie nach unten. Ihre Augen weiteten sich, als der Stoff herabglitt – und an ihren Nippeln hängen blieb. Sie riss die Hände hoch …

Oder zumindest versuchte sie es. Sam fing sie ab und blickte ihr tief in die Augen, während die Körbchen ihren Weg fortsetzten, bis sie über der Taille des Mieders baumelten.

Sveti leistete keinen Widerstand, schlug nicht um sich, sondern stand einfach nur da und atmete in kurzen Stößen ein und aus, ihre herrlichen festen Brüste vor ihm entblößt.

»Du bist wunderschön«, raunte er. »Ich habe nächtelang wach gelegen und an die Decke gestarrt, während ich mir dich exakt so vorgestellt habe.«

Er tastete sich langsam vor, dabei benutzte er diese verborgenen Sinne, die nur zum Leben erwachten, wenn Sveti in der Nähe war. Augen und Ohren, die sich nur für sie öffneten. Er hungerte nach mehr, wollte in ihre dunkelsten Abgründe vordringen, sie erobern. Er wartete, kostete die Spannung aus, bevor er es wagte, seine Hände zu ihren Brüsten gleiten zu lassen und sie mit zittrigen Fingern zu umfassen.

Sie erschauderte, dann entfuhr ihr ein Seufzer, ein kaum vernehmbares Stöhnen. Er liebkoste sie, zog zärtliche Kreise um ihre steifen dunkelrosa Brustwarzen, die weichen, schweren Rundungen darunter. So makellos. Nachgiebig und sinnlich. Er wollte an ihnen saugen. Aber nicht jetzt, denn Sveti hatte den Kopf auf seine Schulter gelegt, und allein dieses leichte, warme Gewicht dort zu spüren, war ein solches Wunder, dass er den Moment nicht zerstören wollte.

Sam inhalierte ihren Duft. Warm und würzig und süß. Die Klammern hatten sich aus ihrem Haar gelöst, und der dicke Pferdeschwanz, der sich über sein Handgelenk ergoss, weckte in ihm den Wunsch, sein Arm wäre nackt. Sein Ärmel schwächte das wahre Gewicht des schweren, seidigen Zopfes ab. Seine Finger prickelten. Sie ließ sich wirklich von ihm anfassen. Das versetzte ihn in einen zittrigen Zustand anbetungsvoller Ehrfurcht.

Sie drehte sich um und sah ihn an. Ihre Lippen in Reichweite.

Es war um ihn geschehen, genau wie beim letzten Mal. Jegliche bewusste Kontrolle entglitt ihm.

Sveti schmiegte sich an ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals. Oh Gott, der süße, berauschende Geschmack ihres Mundes, ihre unbeschreiblich weichen Lippen. Ein kurzer Blick durchs Zimmer ergab, dass kaum die Möglichkeit bestand, dieses Stelldichein in die Horizontale zu verlegen. Der Fußboden war aus glänzendem Eichenholz. Die Stühle standen auf spindeldürren Beinen, die Tische waren mit Läufern und zerbrechlichen Antiquitäten dekoriert. Kein Sofa oder eine Chaiselongue. Also würden sie wieder mit der Wand vorliebnehmen müssen. Er konnte der Schwerkraft trotzen. Wozu sollte Oberkörpermuskulatur sonst gut sein?

Er hob Sveti schwungvoll hoch, bevor er sie nach ein paar Schritten gegen das erstbeste freie Stück Tapete lehnte, wild entschlossen, sie zu schmecken, zu berühren und genauer zu erforschen. Er beugte sich nach unten, um ihre Brüste zu küssen, und sie bog sich ihm stöhnend entgegen und ließ die Finger in sein Haar gleiten. Er raffte ihren Rock, und seine Hand strich ihren Oberschenkel hinauf. So heiß und glatt. Elastische Spitze, weiche Haut, duftige Seide, die sich über zarte weibliche Regionen spannte und durch die Feuchtigkeit sickerte. Diese Hitze, diese Nässe. Er konnte es nicht erwarten, sie zu schmecken. Zu lecken. In sie einzudringen. Ganz tief. Und zwar jetzt. Das Verlangen wütete wie ein gigantisches wildes Tier in ihm, das mit aller Macht in die Freiheit drängte.

Seine Beine zitterten. Er schob den Finger unter den elastischen Bund und zwischen die seidigen Falten, die sich einladend für ihn teilten, dann drang er weiter in ihr warmes, schlüpfriges Paradies vor …

Klopf, klopf, klopf! »Sveti? Sveti! Petrie? Seid ihr da drinnen?«

Klopf, klopf, klopf, klopf, klopf! Lauter und vehementer. Tams Stimme. Eine kurze Pause, dann wurde wieder an der verriegelten Tür gerüttelt. Klopf, klopf, klopf! »Sveti? Gottverdammt, antworte mir!« Ihre Stimme war schrill vor Sorge.

Verdammter Mist! Stand er etwa unter einem Fluch?

Sveti wand sich aus seinem Griff und schlug seine Hände weg. Sie brachte ihr Haar in Ordnung, zwängte ihre Brüste zurück in die Satinkörbchen und wischte sich über den Mund. Es half alles nichts. Sie sah noch immer aus wie eine Frau, die gerade wild geknutscht hatte. Zerzaust, errötet, verschwitzt, benommen, taumelig. Begehrenswert.

»Nur eine Sekunde!«, rief sie zittrig. »Ich komme!«

Oh, wie sehr er sich das wünschte! Es hätte nicht lange gedauert, sie zum Höhepunkt zu bringen, und zwar explosionsartig. Sie hatte kurz davor gestanden. Es war grausam.

Sveti wies mit dem Kinn zur Tür. »Mach auf.«

Sam gehorchte widerwillig, als sie ein weiteres Mal in den Angeln erzitterte.

»Sveti, öffne diese verfickte Tür, sonst trete ich sie ein!«

Scheiße! Das war Nick Wards Stimme. Sam war geliefert. Er entriegelte den Knauf und sprang geschmeidig zurück, als die Tür aufflog. Nick, Tam und Val stürmten ins Zimmer. Sie starrten Sveti an. Ihre Wangen waren fiebrig gerötet, ihr Make-up fleckig. Mit anklagenden Mienen nahmen sie Sam ins Visier.

»Was zum Henker ist hier los?«, fuhr Nick ihn an.

»Wo ist Miles?«, fragte Tam.

Sam zuckte die Achseln. »Er hatte etwas Dringendes zu erledigen.«

»Sag bloß.« Ihr Blick glitt zu seinem Schritt, der trotz der belastenden und frustrierenden Situation noch immer nicht ausreichend präsentabel war. Ihr Mund wurde verkniffen. »Darüber werde ich noch ein Wörtchen mit ihm reden.«

»Spar dir die Mühe«, wandte Sveti ein. »Sam hat mir nur Gesellschaft geleistet. Wenn ich mich recht entsinne, hast du ihn mit Drohungen dazu genötigt.«

»Ich habe ihn nicht dazu aufgefordert, mit seinen Bartstoppeln dein Dekolleté zu zerkratzen«, konterte Tam.

»Ach, sei doch still!«

Für einen Moment herrschte unbehagliches Schweigen, bevor Val mit beschwichtigender Stimme sagte: »Du kannst wieder rauskommen, Sveti. Unser nicht eingeladener Gast hat das Feld geräumt.«

»Wen meinst du?« Beinahe zwanghaft strich Sveti ihre Haare glatt.

Tam verdrehte die Augen. »Du fragst, wen er meint? Nachdem du erst vor einer Viertelstunde komplett ausgetickt bist wegen Oleg?« Sie bedachte Sam mit einem anerkennenden Blick. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sage, Bulle, aber du scheinst gut zu sein. Wer hätte das vermutet?«

Sam traute sich nicht zu antworten. Auf dieses gefährliche Kompliment einzugehen könnte definitiv das Bolzenschneiderszenario heraufbeschwören.

Sveti warf ihre Mähne zurück. »Ausgezeichnet. Ich bin froh, dass er weg ist.«

»Das sind wir alle«, antwortete Tam. »Zeit für dich, den Abend zu beenden. Ich habe Josh gebeten, deinen Mantel zu holen. Er wird …«

»Ich werde sie nach Hause fahren«, fiel Sam ihr ins Wort.

»Nein!«, riefen alle unisono, inklusive Sveti.

Sam seufzte. »Dann eben nicht.«

Cattrell betrat den Salon. »Ich konnte deinen Mantel nicht finden. Sag mir, welcher …«

»Nein, bleib du hier«, sagte Sveti. »Ich gehe allein.«

»Allein?« Cattrell blickte verwirrt drein. »Mir wurde gesagt, dass ich dich heimfahren soll.«

»Ich schaffe es ohne dich nach Hause. Spendier die Heimfahrt dem glücklichen Mädchen vom Servicepersonal. Welches auch immer du für heute Nacht erwählst.«

Cattrell schaute gekränkt drein. »Wir hatten dieses Thema doch schon. Und ich sagte dir, dass ich nicht interessiert bin …«

»Das weiß sie«, fiel Tam ihm ins Wort. »Sei nicht so selbstgefällig, Kleiner.«

»Hör auf, dich einzumischen, Tam!«, fauchte Sveti. »Ist schon gut, Josh. Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber ich kann mir ein Taxi bestellen.« Ihr Blick huschte zu Sam. »Ich danke euch allen für einen wirklich denkwürdigen Abend.« Damit schwebte sie aus der Tür.

Scheiße! Der Grund seines Kommens war ihm gerade entwischt. Das Argument für ein Fernbleiben bildete eine geschlossene Front bis zur Tür.

Josh Cattrell pfiff leise durch die Zähne. »Alter, was ist bloß in sie gefahren?«

Tam zeigte auf Sam. »Er«, sagte sie. »Er ist in sie gefahren.«

»Echt?« Josh schaute ihn verblüfft an. »Dann sind Sie dieser Cop?«

Sam ballte die Fäuste. »Sie hatten den Auftrag, mich von ihr fernzuhalten, nicht wahr?«

»Hat offenbar nicht allzu gut funktioniert«, spottete Nick.

»Das kann man so sagen«, stimmte Sam ihm zu. »Der menschliche Schutzschild hier war zu beschäftigt damit, den Bedienungen an den Hintern zu langen, anstatt seinen verdammten Job zu machen.«

»Scheint ganz, als würdest du es ihm übel nehmen.« Vals Stimme mit dem leichten Akzent klang belustigt. »Eigentlich müsstest du doch glücklich darüber sein, dass er versagt hat.«

»Nein, Liebling.« Tams honigsüßer Tonfall bewirkte, dass sich Sams Nackenhaare aufstellten. »Er ist nicht glücklich. Vielleicht wäre er es, wenn wir fünf Minuten später aufgetaucht wären.«

Sam hätte dafür gesorgt, dass es länger als fünf Minuten dauert, aber dies schien weder der passende Zeitpunkt noch die passende Gesellschaft, um diesen Einwand vorzubringen.

»Was zur Hölle hast du vor, Sam?«, fuhr Nick ihn an.

»Ich werde mich um meine Angelegenheiten kümmern«, antwortete Sam mit zusammengebissenen Zähnen.

»Sveti ist unsere Angelegenheit«, erinnerte Tam ihn.

»Sveti ist erwachsen.« Angewidert von sich selbst, weil er mit seinem Konter den Eindruck erweckte, als müsste extra darauf hingewiesen werden, schob er sich zwischen ihnen hindurch.

»Mir gefällt diese Sache nicht«, murmelte Nick.

»Das hat niemand von dir verlangt.« Sam zwang sich, keine Miene zu verziehen, als er an Tam vorbeiging, die ihn mit einem Ohrstecker vergiften könnte. Tams exklusive Schmucklinie nannte sich »Tödliche Schönheit«. Kostbarer Tand, bestückt mit Klingen, Sprengstoffen oder Giften. Sam wünschte, er wüsste nichts davon. Auch wenn er derzeit nicht das Gesetz vertrat, so war Unwissenheit oftmals ein Segen, solange man sie sich glaubwürdig erhalten konnte.

Wie ein geprügelter Hund schlich er aus dem Gebäude, dann steuerte er seinen Wagen nur mit einer Hand, um sich die andere, die in Svetis liebreizenden Körper eingetaucht war, vor die Nase halten zu können. Er hätte sie abgeleckt, aber dann wäre ihr berauschender Duft zu schnell von seinen Fingern verschwunden.

Und eine derartige Verschwendung wäre kriminell gewesen.

2

Rom, Italien

Sasha linste aus seinem Versteck hinter dem Müllcontainer zu dem Café auf der anderen Straßenseite hinüber. Unter der gestreiften Markise standen Tische, aber es war zu kalt, um draußen zu sitzen. Der Mann war jetzt zehn Minuten zu spät.

Er könnte sich immer noch umentscheiden und rennen wie der Teufel.

Den Treffpunkt auszuwählen hatte ihm eine Heidenangst eingejagt. Zu viel Verantwortung. Sasha traute sich selbst nicht viel zu. Es war ihm schon einmal missglückt, seine Spuren zu verwischen. Sonia hatte an ihn geglaubt, Vertrauen in ihn gesetzt und ihm gleichzeitig Selbstvertrauen eingeimpft. Sie hatte ihm einen Fluchtweg aus seinem schwarzen Loch gezeigt – und er hatte sie im Stich gelassen. Er hatte sie sterben lassen. Seither war er wie gelähmt. Zu furchtsam, um einen Muskel zu bewegen oder einen eigenständigen Gedanken zu formen.

Doch jetzt schwebte Sveti in Gefahr. Weil er ein leichtsinniger Einfaltspinsel war, hatte er sich ihren Onlinevortrag in Josefs Anwesenheit angeschaut. Er war zu sehr daran gewöhnt, ignoriert zu werden, und gaukelte sich stets vor, seine Bewacher wären nicht da. Er versuchte, sie zu langweilen, bis sie praktisch ins Koma fielen, und das meist mit Erfolg. Im Obergeschoss unter Arrest zu stehen war weitaus angenehmer, als im dunklen Kellerloch eingesperrt zu sein. Dort konnte er besser atmen. Wie auf Autopilot geschaltet hatte er sich Svetis Vortrag auf dem Tablet angeguckt, einfach nur um in das Gesicht eines anderen Menschen zu blicken, der ihn nicht verabscheute. Er wollte bloß ihrer weichen, melodiösen Stimme lauschen, die ihn irgendwie beruhigte.

Leider hatte Sveti ausgerechnet dieses spezielle Foto von Sonia in ihrem Vortrag gezeigt, und Josef hatte genau in diesem einen verhängnisvollen Moment über Sashas Schulter geblickt. Und jetzt war einer der letzten Menschen, die Sasha noch am Herzen lagen, dem Untergang geweiht. Es war alles seine Schuld. Wie üblich.

Ironischerweise war er nur entwischt, weil Josef sich anschließend auf die Jagd nach ihr gemacht hatte. Er war der cleverste Gefolgsmann seines Vaters, zumindest innerhalb des Teams hier in Rom. Und der grausamste. Im Vergleich zu ihm waren Aleksei, Andrei und die anderen hirnvernagelte Waschlappen.

Sasha hatte sich um eine sorgfältige und methodische Planung bemüht. Augenzeugen würden es Pavels Schergen erschweren, sie in aller Öffentlichkeit umzunieten, gleichzeitig durften es nicht zu viele sein, um ein Blutbad in Grenzen zu halten, sollte die Sache schieflaufen. Das Café lag in einem Geschäftsviertel, aber es war noch zu früh am Morgen für den Großteil der Frühstücksgäste. Ob der Mann überhaupt noch auftauchen würde? Menschenleben standen auf dem Spiel, und er war inzwischen zwölf verdammte Minuten zu spät.

Sasha hatte sein Leben verwirkt, daran gab es keinen Zweifel. Der Strudel zog ihn in den Abgrund. Es war ein vertrautes Gefühl, dieser schwindelerregende Sog, das hohle Gluckern. Er wurde wie Unrat in die Tiefe gespült, war nur noch ein Stück Fleisch, das man in Stücke hackte, um es pfundweise zu verkaufen. Er gierte danach, sich eine Dosis seligen Friedens in die Venen zu jagen, damit der furchtbare Schmerz nachließ. Aber nach Monaten der Gefangenschaft hier in Rom war sein Vorrat aufgebraucht. Er war clean. Und entsetzlich klar bei Sinnen. Seine Nerven lagen blank, sein Magen war ein schwarzes Loch, eine schwelende Wunde.

Aber er hatte einen Auftrag zu erledigen. Er würde nicht lange auf das Ende warten müssen. Sie würden ihn bald aufspüren und ihm den Garaus machen. Es sei denn, er kam ihnen zuvor. Er hatte es hinausgezögert, Misha zuliebe, aber er tat seinem Bruder keinen Gefallen, wenn er weiterlebte. Stattdessen zwang er ihn, sich für eine Seite zu entscheiden. Und sich gegen ihren Vater zu stellen wäre Mishas Gesundheit nicht zuträglich. Es schien für alle das Beste zu sein, wenn Sasha freiwillig aus dem Leben scheiden würde.

Aber nicht heute. Sein spärlicher Mut war darauf konzentriert, dieses Geheimnis zu lüften. Wenn die Welt Bescheid wüsste, gäbe es keinen Grund mehr, Sveti zu verletzen. Pavel und seine Mannen hätten dann Dringenderes zu erledigen.

Endlich kam Mauro Mongelli die Straße entlang. Sasha erkannte ihn von dem Foto in seiner Kolumne wieder. Ihm schlotterten vor Furcht die Beine. Der Journalist setzte sich an einen der Tische im Freien und rief nach einem Kellner. Er wirkte nervös, sein Blick huschte unruhig umher. Sasha hatte ihn in aller Deutlichkeit auf die Gefahren hingewiesen, aber kein Reporter könnte einer Karriere fördernden Story wie dieser widerstehen, sei das Risiko auch noch so hoch.

Sasha presste den Umschlag mit den gesammelten Informationen an seine Brust: Sonias Fotos und Videos, die Computerdateien, E-Mails und Screenshots. Es waren die Beweise für sein wagemutiges Handeln vor sechs Jahren. Fast hätte er sich seine Freiheit zurückerobert. Leider nur fast.

Er hatte Mühe, seine Eingeweide unter Kontrolle zu halten, als er auf das Café zuschlurfte. Ein eisiger Wind der Angst blies ihm heftig entgegen. Der Revolver, den er Aleksei gestohlen hatte, drückte unangenehm gegen sein Kreuz. Seine Körpertemperatur, die kaum der Rede wert war, konnte ihn nicht erwärmen. Das Metall an seiner klammen Haut verursachte ihm ein Frösteln. Er war so stark abgemagert, dass er seinen Gürtel hatte enger schnallen müssen, um die Waffe einzustecken. Ihm wurde übel, wenn er nur an Essen dachte.

Der Mann bemerkte ihn und erhob sich von seinem Stuhl. »Lei è Aleksandr Cherchenko?«

Sasha hustete, aber er bekam keine Worte heraus. Er beließ es bei einem Nicken.

Mongelli war ein adretter, gepflegter Italiener. Sein geschmackvoller Männerschmuck bildete einen glänzenden Kontrast zu seiner tiefen, gleichmäßigen Bräune. Er wirkte leicht abgestoßen von Sashas Erscheinung, was kein Wunder war. Ihm war bewusst, dass er aussah wie ein lebender Leichnam.

Der Kellner brachte ein Tablett mit einem Cappuccino und einem Hörnchen. Er richtete den Blick auf Sasha. »Qualcosa per lei?«, fragte er beinahe furchtsam.

»Niente.« Sasha formte das Wort nur mit den Lippen, konnte es nicht aussprechen.

Der Kellner zog eilig von dannen, und Mongelli nahm wieder Platz. Er wies auf den Stuhl ihm gegenüber, aber Sasha zögerte, unsicher, ob er die Nähe zu Mongellis fettigem Gebäckstück ertragen konnte, ohne sich zu übergeben.

»Sta bene?«, fragte der Reporter. Geht es Ihnen gut?

Sasha unterdrückte ein hysterisches Lachen und nickte.

Mongelli taxierte den Umschlag. »Sind das die fotografischen Beweise?«

»Ja«, würgte er heraus. Er versuchte, mehr zu sagen, räusperte sich, atmete gegen die Anspannung an, konzentrierte sich. Es kam nichts. Verflixt! Er fischte Stift und Block aus seiner Jackentasche und schrieb die Worte auf.

Führen Sie die Polizei umgehend zu dem Ort, den ich in der E-Mail genannt habe. Dort ist der Beweis. Ich habe die Fotos mitgebracht, um Ihnen zu demonstrieren, dass sich die Mühe für Sie lohnen wird.

Er riss das Blatt ab und reichte es dem Journalisten.

Mongelli las die Zeilen. »Warum gehen Sie nicht selbst zur Polizei?« Sein Blick war durchdringend und argwöhnisch.

Sasha schloss kurz die Augen, und sein Kiefermuskel zuckte, als er den Stift wieder ansetzte.

Das habe ich schon früher versucht. Doch dann starben Menschen. Das hier muss publik gemacht werden, so schnell und so laut wie möglich. Sind Sie sich der Gefahren bewusst?

Mongelli überflog die Notiz und nickte, aber Sasha erkannte an seinen glitzernden Augen, dass er nur an sein berufliches Weiterkommen dachte, nicht an das Risiko. »Haben Sie Fotos von diesen thermonuklearen Generatoren?«

Sasha schüttelte verneinend den Kopf und nahm wieder den Stift zur Hand.

Ich besitze Aufnahmen von den abgeschirmten Behältern. Die Zylinder wurden pulverisiert, um die Bombenkonstruktion zu erleichtern. Strontium-90. Hätte ich die Behälter geöffnet, um den Inhalt zu fotografieren, wäre ich sehr schnell gestorben.

Der Mann kniff die Augen zusammen. »Und dieses tödlich radioaktive Material war sechs Jahre lang irgendwo hinter Torre Sant’ Orsola versteckt? Niemand ist je darauf gestoßen? Das scheint äußerst unwahrscheinlich.«

Sasha nickte erschöpft.

Das war der Sinn der Sache.

Dann geschah es, und zwar unfassbar schnell, aber die Zeit schien in seinem Kopf stehen zu bleiben, sodass es sich gespenstig langsam anfühlte. Als der silberne Mercedes beschleunigte und über die Bordsteinkante rumpelte, kam es Sasha vor, als würde sein Körper in flüssigem Teer feststecken, aber irgendwie musste er einen Satz nach hinten gemacht haben. Er erkannte Aleksei am Steuer, als der Wagen über den Bürgersteig raste.

Mongelli schaffte es gerade noch, sich umzudrehen und nach Luft zu schnappen, als der Mercedes zwischen den Glastischen hindurchraste und ihn niedermähte.

Sasha kauerte auf der Straße und sah Tisch- und Stuhlbeine in absurden Winkeln in die Luft ragen. Mongelli lag bäuchlings darunter, sein Rücken zermalmt vom Vorderrad des Wagens. Blut sickerte aus seinem Mund. Seine weit aufgerissenen Augen blickten Sasha anklagend an.

Aleksei versuchte auszusteigen, aber der Stützpfosten der Markise war eingeknickt, und eine Decke aus schwerem Segeltuch hatte sich über den Mercedes gebreitet und blockierte die Tür.

Im Inneren des Cafés schrie jemand. Schrill und anhaltend. Fluchend stemmte Aleksei sich mit den Füßen gegen die Tür, wie ein Küken, das versuchte, sich aus einem großen, gestreiften Ei zu befreien.

Die herabgestürzte Markise, diese zusätzlichen Sekunden waren Sashas Rettung. Er sprang auf und rannte so schnell an den Passanten vorbei, dass sie ihn für eine Geistererscheinung halten mussten. Seine Beinmuskeln arbeiteten wie wild, um ihn aus dieser Hölle zu befreien.

Aber die Hölle nahm kein Ende, sie erstreckte sich immer weiter, bis in die Unendlichkeit.

Irgendwann sackte er auf einer Parkbank zusammen und stellte fest, dass er den Umschlag verloren hatte. All seine kostbaren Beweise. Zusammengesammelt unter größtem Risiko und zu einem immens hohen Preis. Die Fotografien, die Sonia ihm anvertraut hatte, waren das Einzige, was von ihrem enormen Opfer, ihrem Mut geblieben war. Er hatte die JPEGs nicht und sich auch nie getraut, die Abzüge zu scannen oder zu kopieren. Er war zu lange und zu genau überwacht worden und hatte nie die Chance dazu gehabt.

Der einzige Beleg, dass das Labor existiert hatte, der einzige Nachweis für die unaussprechlichen Gräueltaten – und er hatte den Umschlag verloren.

Am ganzen Leib zitternd kauerte er sich zusammen. Er war zu erschöpft, um auch nur ein Schluchzen zustande zu bringen. Jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, Sveti zu retten. Dies war seine einzige Chance gewesen, und er hatte sie vertan. Er hatte den Tod des armen Mongelli für nichts verschuldet. Für weniger als nichts. Seine Lage war jetzt hoffnungsloser denn je. Genau wie Svetis. Er musste sie warnen, einen Ort mit Internetverbindung finden, sich mit seinem letzten Bargeld Zugang verschaffen. Könnte er sie doch nur anrufen, aber er bekam am Telefon nicht ein Wort heraus. Nicht einmal bei Misha.

Sosehr er sich auch anstrengte, er konnte diesem Strudel einfach nicht entrinnen.

Portland, Oregon

Sveti starrte aus dem Taxifenster. Ihre Augen brannten vor Trockenheit. Sie hatte einen Kloß in der Kehle, und in ihrem Magen toste eine Feuersbrunst. Das Gewirr aus Autobahnbrücken schlängelte sich auf und nieder. Sie hatte jede Orientierung verloren, nur nicht in Bezug auf Sam.

Eine innere Kompassnadel zeigte immer auf ihn. Tag und Nacht.

Sie hätte nicht zu der Hochzeit gehen sollen. Schließlich hatte sie genau gewusst, dass Sam dort auftauchen würde, nach seinen vielen E-Mails und Textnachrichten aufs Handy, die sie alle nicht hatte löschen können. Er hatte ihr süße, sexy Dinge geschrieben, die in ihr den Wunsch weckten, vor ihm auf die Knie zu fallen.

Das Handy brummte in ihrer Abendhandtasche. Sie nahm es heraus und scrollte durch die eingegangene E-Mail.

Sehr geehrte Ms Ardova,

wir freuen uns sehr, Sie anlässlich der Konferenz in Italien und eine Woche später in London begrüßen zu dürfen. Ein Chauffeur wird Sie am Freitag am Flughafen Fiumicino abholen und nach San Anselmo bringen. Im Anhang finden Sie, wie besprochen, Ihr elektronisches Ticket.

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug und sehe unserem Kennenlernen mit Freude entgegen. Bitte zögern Sie nicht, mich anzurufen, sollten irgendwelche Probleme oder Fragen auftauchen.

Bis Freitag, mit den besten Grüßen,

Nadine Muller

Assistentin der Geschäftsleitung

Illuxit Transnational, Inc.