Scherben der Erinnerung - Shannon McKenna - E-Book

Scherben der Erinnerung E-Book

Shannon McKenna

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Beschreibung

Lara Kirk wurde entführt und von ihren Kidnappern unter Drogen gesetzt, die ihre mentalen Fähigkeiten verstärken sollen. Im Geiste nimmt sie Kontakt zu einem Mann auf, von dem sie zunächst glaubt, dass er nur in ihren Träumen existiert. Doch als der attraktive Miles schließlich kommt, um Lara zu retten, stellt sie fest, dass er ebenso real ist wie ihre Leidenschaft für ihn.

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Inhalt

Titel

Über dieses Buch

Prolog

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Über die Autorin

Die Romane von Shannon McKenna bei LYX

Impressum

SHANNON MCKENNA

Scherben der Erinnerung

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Patricia Woitynek

Über dieses Buch

IT-Spezialist Miles Davenport kommt nicht darüber hinweg, dass sein Auftrag für Alex Aaro ins Leere lief und er die entführte Lara Kirk nicht finden konnte. Er ist sich sicher, ihren Tod verschuldet zu haben, und kann sie nicht vergessen. Doch dann erscheint ihm die hübsche Bildhauerin plötzlich in seinen Träumen und sendet ihm verzweifelte Hilferufe. Miles kann sich das geistige Band, das ihn mit Lara verbindet, nicht erklären, aber er spürt, dass sie in großer Gefahr ist und seine Hilfe benötigt. Als weitere Hinweise auftauchen, dass Lara noch am Leben sein könnte, verfolgt Miles jede noch so kleine Spur und findet schließlich Laras Versteck in einer Villa in Oregon. Dort stehen sie sich das erste Mal leibhaftig gegenüber, und sofort wird klar, dass die starke Anziehungskraft in ihren Gedanken keine Einbildung war: Miles weiß augenblicklich, dass er sein Herz an die scheue junge Frau verloren hat, und Lara fühlt sich in seinen Armen so lebendig wie schon lange nicht mehr. Doch die Qualen der letzten Monate haben tiefe Narben an Laras Seele hinterlassen, und sie ist noch lange nicht in Sicherheit: Denn seit die Entführer von ihrer mentalen Verbindung zu Miles wissen, ist es für sie umso wertvoller, Lara zurück in ihre Gewalt zu bekommen …

Prolog

»Sie hat seit letzter Woche drei Kilo abgenommen, Sir«, sagte Jason Hu.

Über den Monitor der Videokamera betrachtete Thaddeus Graever die junge Frau in der Zelle. Lara Kirk stand mit dem Rücken zu ihm. Spitze Schulterblätter zeichneten sich unter ihrem Tanktop ab. Die Hose schlackerte an ihrer dünnen, aber noch immer anmutigen Gestalt. Ihr schmaler Rücken strahlte Trotz aus. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde, obwohl sie sie nicht sehen konnte. Ihre Psi-Fähigkeiten waren unglaublich, selbst ohne Optimierung. Er roch es in der Luft, wie Rauch.

Sie war wie Geoff. Die Ähnlichkeiten riefen verstörende Erinnerungen wach.

Ihr langes dunkles Haar ergoss sich über die Schultern, als sie sich in eine perfekte Rückbeuge begab. Ihr Top rutschte hoch und gab den Blick auf ihre Rippen frei. Atemlos wartete Graever darauf, dass es noch ein Stück weiterglitt und ihre Nippel enthüllte. Doch das passierte nicht. »Noch andere Veränderungen?«, fragte er.

»Sie weint und singt nicht mehr, und die Selbstgespräche haben ebenfalls aufgehört. Vor etwa einem Monat. Sie vertreibt sich die Zeit mit Meditation, Gymnastik …«

»Yoga«, korrigierte Graever. »Sie macht Yoga, Hu.«

»Äh, ja. Die Blutproben ergaben, dass sie an Eisenmangel leidet. Ich reichere ihr Essen damit an, allerdings nimmt sie im Tagesdurchschnitt nur sechs- bis siebenhundert Kalorien zu sich.«

»Das kann nicht endlos so weitergehen.«

»Wir könnten eine Ernährungssonde in Erwägung ziehen«, schlug Hu vor.

Graever verzog angewidert das Gesicht. »Irgendwelche Fortschritte hinsichtlich der neuen Psi-Max-Formel? Wer war der letzte Freiwillige?«

Hu zögerte. »Heute war Silva an der Reihe. Gestern ich und vorgestern Miranda. Unser bislang bestes Ergebnis war eine Dauer von etwas weniger als zehn Stunden. Ohne die A-Komponente tappen wir weiterhin im Dunkeln.«

Lara Kirk schwang ein schlankes Bein nach oben. Die Hosenbeine rutschten hinunter auf ihre Schenkel, als sie einen Handstand machte, ebenso wie das Oberteil, sodass ihre Brustwarzen zu sehen waren. Ihre schmalen Arme zitterten. Sie wirkten nicht stark genug, um ihr Gewicht zu tragen, doch sie taten es. Ihre Augen waren geweitet und extrem fokussiert, die Botschaft so eindeutig, als würde sie sie herausschreien. Ihr. Habt. Mich. Nicht. Gebrochen.

Graever verspürte Erregung. Lara Kirk verströmte eine eiserne Unbezwingbarkeit, die ihn anzog. Hungrig sah er zu, wie sie die Beine herabsinken ließ und wieder in den Stand kam.

»Hat sie Psi-Fähigkeiten entwickelt?«, erkundigte er sich.

»Wir haben ihr die Droge nie verabreicht.« Hu klang defensiv. »Sie hatten es nicht autorisiert …«

»Ich meine, auf natürliche Weise«, blaffte Graever.

»Nicht dass ich wüsste. Aber ich kann es auch nicht ausschließen.«

Es war atemberaubend, wie gut sie sich hielt. Diese unnahbare Würde. Auch Geoff war ein Künstler und ein Visionär gewesen. Lara war eine außergewöhnlich talentierte Bildhauerin. Er besaß schon jetzt mehrere ihrer Stücke. Sie berührten seine Seele.

Er traf eine spontane Entscheidung. »Injiziert es ihr«, befahl er.

Hu blinzelte. »Aber die Formel ist nicht ausgereift. Ohne Helga können wir nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob sie die erste Dosis überleben wird. Sind Sie wirklich sicher, dass wir …«

»Hundertprozentig.« Graever beobachtete, wie Lara einen tiefen Ausfallschritt machte und dann die Arme nach oben und hinten streckte, als würde eine Bogensehne straff gespannt werden.

Er leckte sich die Lippen. »Tut es. Jetzt sofort«, befahl er. »Ich möchte zusehen.«

1

Hör auf, an sie zu denken. Hör überhaupt auf zu denken.

Miles starrte zu dem vulkanischen Granitfelsen hoch, der im schwachen Licht der Dämmerung über ihm aufragte. Er suchte ihn mit den Augen nach Griffen und Tritten ab, dabei leitete er einen Schub frischer Energie in seinen mentalen Schild. An Lara Kirk zu denken war absolut sinnlos, aber er hatte sich nie gut darauf verstanden, unwillkommene Gedanken abzuwehren. Nicht einmal, bevor er in diesen desaströsen Zustand geraten war.

Und dann diese Träume, Allmächtiger. Was hatte es damit nur auf sich? Heiße, ungezügelte, hocherotische Visionen von Lara, und das jede Nacht. Nur ein perverses Schwein würde unablässig davon träumen, das Mädchen zu vögeln, das zu retten ihm nicht gelungen war. Hätte er sie gerettet, würde ihn das zumindest halbwegs zu seinen lüsternen Fantasien berechtigen. Aber so? Auf keinen Fall.

Jeden Abend, wenn er sich zum Schlafengehen bereit machte, fasste er denselben entschlossenen Vorsatz. In dieser Nacht würde er entscheiden, wie er sich in seinen Träumen verhielt. Menschen waren dazu in der Lage. Er hatte darüber gelesen. Aber es war hoffnungslos. Sobald sie auftauchte, kümmerte es seinen Traum einen Dreck, was sein waches Ich wollte. Sein Traum-Ich begehrte sie mehr als alles andere. Auf jede erdenkliche Weise. Sobald sie ihm erschien, stürzte er sich wie ein Berserker auf sie.

Es war ebenso verstörend wie erregend.

Beim Aufwachen erinnerte er jedes noch so kleine Detail mit laserscharfer Präzision. Ohne diffuse Traumfilter, ohne Weichzeichner. Ihr süßer, salziger Geschmack, ihr weiches, dichtes Haar, das wie Seide durch seine Finger floss. Ihr Körper, der sich im Einklang mit seinem bewegte. So stark und schlank. Heiß und schlüpfrig. Er konnte ihn sogar jetzt noch fühlen, roch ihren Nektar praktisch an seinen Fingern. Oh Mann, er hatte es wieder getan.

Bestürzt realisierte Miles, dass er schon wieder einen Ständer hatte. Die Männer in den weißen Kitteln sollten ihn und seine Dauererektion besser wegsperren, bevor er sich selbst noch zugrunde richtete.

Du hast versucht, ihr zu helfen. Es hat nicht geklappt. Bezwing diese Felswand. Denk nicht an Lara Kirk. Denk überhaupt nicht.

Miles starrte nach oben und plante die beste Aufstiegsroute. Neutrale Daten, aufgespalten in Algorithmen. Schlussfolgerungen, unterteilt in übersichtliche, ordentlich gegliederte Kategorien. Solange sein mentaler Schild hochgezogen und stabil war, hatte er kein Problem. Gelegentlich irrlichterten Gedanken durch seinen Kopf, aber sie übten keinen Einfluss auf seine Drüsen aus. Sie flimmerten am Rand seines Bewusstseins wie eine Mattscheibe, der er kaum Aufmerksamkeit schenkte. Aber sobald sein mentaler Schild ins Wanken geriet, war er einem Blitzkrieg ausgesetzt und wurde von grauenvollen Stress-Flashbacks bombardiert – Erinnerungen an Rudds Attacke in Spruce Ridge.

Hier oben in den Bergen gelang es ihm besser, den Schild stabil zu halten. Wochenlanges konstantes, nervenzermürbendes Üben hatte ihm zumindest diesen Erfolg beschert. Er hatte die Vorzüge des Kletterns in Woche zwei entdeckt. Der hochkonzentrierte geistige Fokus, der dafür unabdingbar war, tat ihm irgendwie gut. Natürlich musste er sich aufs Freiklettern beschränken, da eine Kletterausrüstung nicht auf seiner Bedarfsliste gestanden hatte. Aber das war okay. Für ihn galt in dem Fall: je härter, desto besser.

Miles zog seine Stiefel aus. Er bräuchte Affenzehen, um diesen gewaltigen Brocken zu erklimmen, aber er würde sich mit dem begnügen, was Gott ihm gegeben hatte. Er studierte die mächtige Felsnase, wo die Basaltlava lange, kristalline Furchen geschürft hatte, als hätte sich eine riesige Bestie mit scharfen Krallen nach unten gehangelt. Es gab Gesteinsspalten und -ritzen, die vielleicht groß genug für Fingerspitzen waren – vielleicht aber auch nicht. Er prägte sie sich alle ein. Seine Augen waren schärfer als vor Spruce Ridge, dasselbe galt für sein Gedächtnis. Scharf wie Glassplitter.

Als Gegengewicht zu dieser fragwürdigen Verbesserung litt er an hämmernden Kopfschmerzen. Ein anhaltender Kater aus Spruce Ridge, hinzu kamen die Folgen seines Schlafmangels. Seit ihn diese verrückten, erotischen Traumbegegnungen mit dem Geistermädchen auf Trab hielten, hatte er eine eher zwiespältige Einstellung zum Schlafen.

Der Traum begann jede Nacht damit, dass sie sich durch eine große, mechanische Wand kämpfte. Es war ein gewaltiges Ding im retro-futuristischen Stil, voller monströser, sich drehender Zahnräder, schwingender beilförmiger Pendel, ein Wirrwarr von Teilen, die sich stetig bewegten, aber irgendwie gelang es ihr, verborgene Lara-förmige Öffnungen zu finden und hindurchzuschlüpfen, geschmeidig und routiniert wie eine sexy Stangentänzerin. Sie beherrschte die Choreografie aus dem Effeff.

Miles sperrte die Erinnerung aus und blinzelte zum Gipfel hinauf, der sich vor dem dämmrigen Himmel abzeichnete. Lara war eine gefährliche Geistererscheinung. Sollte er seine Konzentration und damit den Schild auf halbem Weg nach oben verlieren, wäre er erledigt.

Es war nicht so, dass er den Tod fürchtete. Das tat er schon seit Spruce Ridge nicht mehr. Rudd hatte ihn an einen Punkt getrieben, wo der Tod sein Freund geworden war. Er würde sich nie wieder vor ihm ängstigen. Trotzdem suchte er ihn nicht bewusst. Er war zu gleichgültig und energielos, um seinen Suizid zu planen.

Mehrmaliges Durchatmen half ihm, seinen Schild wieder zu stabilisieren. Es konnte losgehen. Er spannte die Finger an. Frost überzog die Kiefernnadeln unter seinen nackten Fußsohlen, doch Miles spürte die Kälte nicht. Sein Körper schien Temperaturschwankungen besser zu regulieren als früher. Er fokussierte sein Bewusstsein …

… eine Wahrnehmung durchströmte ihn und speiste sich in seine Datenbank ein. Berglöwe.

Wo? Miles schaute sich mit kribbelndem Nacken um, dabei hielt er seinen Kopf frei, um Platz zu lassen für die Sturzflut sensorischer Information. Ein weiteres Andenken an Spruce Ridge, wo Harold Rudd vor einigen Monaten mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten seinen Geist vergewaltigt hatte, bis er ins Koma gefallen war. Er hatte die Tortur mit knapper Not überlebt. Allerdings war sein Hirn nach dem Koma völlig falsch verdrahtet gewesen. Er lebte seither in einem Zustand konstanter sensorischer Reizüberflutung. Die Welt plärrte von allen Seiten auf ihn ein – ohne Filter, ohne Pause, ohne Ausfallzeit.

Es machte ihn fix und fertig. Er musste sich wieder auf Kurs bringen, um zumindest den Anschein normaler Funktionalität zu erwecken. Nicht dass er je ganz normal gewesen wäre – aber hey, alles war relativ.

Das Skurrile war, dass die sensorische Überlastung beträchtlich nachgelassen hatte, seit das Mädchen ihn in seiner mentalen Festung besuchte. Kein Wunder. Sex hatte nun mal eine vitalisierende Wirkung, selbst wenn er sich nur in der Privatsphäre seines Kopfes abspielte.

Die Berglöwin beobachtete ihn aus dem Schutz der Baumgruppe heraus. Woran erkannte er, dass es eine Sie war? An ihrer Witterung? Als hätte er je zuvor das Geschlecht eines Pumas mittels seines Geruchssinns identifizieren können. Doch die einzelnen Informationen – jede für sich genommen zu winzig, um allein zu bestehen – ballten sich zu einer verpixelten Wolke zusammen, in der sich klar und deutlich ein kraftvolles Weibchen abzeichnete. Sie war nur ein Schemen zwischen den Bäumen, doch in ihren Augen schimmerte die unergründliche Ruhe einer Raubkatze. Ihr Schwanz wischte durch die Luft, als sie merkte, dass er sie beobachtete.

Fasziniert erwiderte er ihren Blick. Er liebte es, Tieren in freier Wildbahn zu begegnen. Das waren die Momente, nach denen er sich sehnte. Flüchtige Augenblicke, in denen seine gesteigerte Sensibilität ein Geschenk war und keine Marter.

Die Berglöwin verharrte so reglos wie er, bis Miles kapitulierend die Hände hob. »Ich bin nicht dein Frühstück«, informierte er sie.

Sie schlug wieder mit dem Schwanz, ließ ihn nicht aus den Augen.

Miles trank einen Schluck Wasser, verstaute die Flasche und nickte respektvoll. »Man sieht sich.« Dann machte er sich an den Aufstieg.

Es war eine lange und mühselige, schier unmögliche Kletterpartie. Stille und Einsamkeit halfen seiner Konzentration ebenso wie kräftezehrende, schweißtreibende körperliche Strapazen. Stunden über Stunden dem Tod ins Auge zu blicken beruhigte seine Nerven – solange sein Schild hielt.

Ursprünglich war er dazu gedacht gewesen, ihn vor Rudd und seiner telepathisch veranlagten Befehlsempfängerin Anabel zu schützen. Obwohl es ihnen nicht gelungen war, seinen Geist auszuspionieren, hatte Rudd ihn zu Hackfleisch verarbeitet. Miles hatte diese Blockade errichtet, um Angreifer abzuwehren, doch letzten Endes war ein Bunker daraus geworden, in dem er nun festsaß.

Damit konnte er leben. Nach seinem Erwachen aus dem Koma hatte er die Wahl zwischen zwei möglichen Existenzen gehabt. Option eins: ein anhaltender Albtraum voller grausamer Stress-Flashbacks, in denen er wieder und wieder Rudds Folterungen erleiden musste. Ein gigantischer Witz auf seine Kosten. Option zwei: Er verbarrikadierte sich dauerhaft hinter dem geistigen Schild. Das hielt zwar die Stress-Flashbacks in Schach, brachte jedoch emotionale Taubheit mit sich.

Aber er war bereit, diesen Preis zu zahlen. Denn es funktionierte für ihn, wenn er sich in einer mentalen Festung verschanzte. Problem gelöst.

Allerdings veränderte es ihn. Zum offenkundigen Befremden seiner Familie und Freunde. Niemand mochte den distanzierten, abgestumpften Miles. Diese unterkühlte Spaßbremse. Na, und wenn schon? Er war fertig damit, den verspielten Welpen zu geben, der hechelnd um Anerkennung buhlte. Wer auch immer sich zu einer Meinung über seine Bewältigungsmechanismen bemüßigt fühlte, konnte ihn kreuzweise.

Nichts drang zu ihm durch. Weder die Selbstvorwürfe seiner Mutter noch das Gezeter seiner Freunde. Selbstherrlich wie Aaro, Sean und die übrigen Mitglieder der McCloud-Bande nun mal waren, betrachteten sie ihn als ihre persönliche Schöpfung und damit als ihr Eigentum. Es hatte einer traumatischen Hirnverletzung bedurft, um ihn davon zu befreien.

Miles hatte sich schon immer gewundert, wie diese Kerle – allen voran Davy, Connor und Kevin – in jeder Situation ihre abgeklärte Gelassenheit bewahrten. Jetzt wusste er es. Sie hatten Schilde in ihren Köpfen, genau wie er.

Dumm war nur, dass sein Schild das Problem mit der sensorischen Überlastung nicht löste. Diese sturzbachartige Informationsflut lief über einen anderen Kanal. Seine geschärften Sinne machten den normalen Alltag zur Qual. Parfüm, Zigaretten, Autoabgase verursachten ihm Brechreiz. Die intimen olfaktorischen Informationen über die hormonellen und emotionalen Zustände der Menschen, denen er begegnete, trieben ihm die Schamesröte ins Gesicht. Verkehrslärm empfand er als unerträglich, genau wie elektrisches Licht. Aber das Schlimmste war die elektromagnetische Strahlung von WLAN, deren statisches Sirren in Kombination mit seinen chronischen Kopfschmerzen die pure Agonie bedeutete. Für ihn als gelernten Computerfachmann bedeutete das ein katastrophales berufliches Handicap. Es gab Medikamente, die er nehmen könnte, aber um dieses gravierende Problem zu lösen, bräuchte er eine derart hohe Dosis, dass er zu einem sabbernden Schwachsinnigen mutieren würde.

Die Situation hatte sich leicht gebessert, seit ihm das Mädchen diese aufregenden therapeutischen Besuche in seiner Festung abstattete. Der Fantasiesex schien seine Toleranzgrenze ausgeweitet und die Informationsflut so weit eingedämmt zu haben, dass es beinahe auszuhalten war. Aber um festzustellen, ob er auch mit WLAN oder Elektrosmog klarkäme, müsste er seinen Laptop samt Router testen. Die Geräte lagen in Plastikfolien verpackt unter seinem Pick-up im Wald.

Miles wusste nicht, ob die Verbesserung durch seine sexuellen Fantasien ein positives Zeichen oder ein weiteres Symptom dafür war, dass er bald den Verstand verlieren würde. Der Schild brachte zahlreiche Probleme mit sich, aber zumindest ließ er ihn das Hämmern in seinem Kopf stoischer ertragen. Er spürte es auch weiterhin, geriet jedoch nicht mehr in Panik. Es waren nur Schmerzen, gegen die er anatmen konnte, was ihm hier in der Wildnis leichter fiel. Der sensorische Datenstrom floss weiter, aber die Informationen waren sauber und übersichtlich. Sein Schädel drohte nicht mehr zu explodieren. Anfangs hatte er sich in seine Hütte in den Bergen zurückgezogen, doch nachdem ihm dort immer wieder seine Freunde auf die Pelle gerückt waren, hatte er schließlich die Flucht ergriffen.

Bevor er hier sein Lager aufgeschlagen hatte, hatte er mehrere Bücher über Camping in der Wildnis durchgearbeitet und das erforderliche Machogerät – Schusswaffen, Munition, Allzweckmesser – eingepackt, mit dem die McClouds ihn ausgestattet hatten, in dem Bestreben, aus einem im elterlichen Keller hausenden Computerfreak einen harten Kerl ihres Kalibers zu machen. Sie hatten im Lauf der Jahre Teilerfolge erzielt, würden sich jedoch erst zufriedengeben, wenn sie ihn so weit hätten, dass er eine Schusswunde am eigenen Körper auch selbst mit Zahnseide nähen würde. Da konnten sie lange warten.

Du denkst zu viel. Hör damit auf und konzentrier dich.

Er richtete seinen Fokus wieder auf die Felswand und fühlte, wie sich das energetische Pulsieren der Lebewesen in seiner Nähe zu einem schillernden Kraftfeld verdichtete. Raue Flechten unter seinen Fingerspitzen, jeder Vogel, jeder Käfer ein heller Funken auf dem 3-D-Raster in seinem Kopf. Die Berglöwin war ein glühender Punkt flirrender Energie. Sie starrte zu ihm hinauf, als wollte sie etwas von ihm. Etwas, das er ihr nicht geben konnte.

Er musste wieder an Lara denken. Keine gute Idee, solange er in dieser Felswand hing. Und dann dachte er plötzlich nicht nur an sie. Er sah sie in seinem Kopf, obwohl er seinen Blick auf seine Hände und das Gestein richtete. Genau wie in seinen nächtlichen Sexträumen schlüpfte sie durch die knirschenden Zahnräder und funkelte dabei so hell in seinem sensorischen Gitternetz wie der lebende, atmende Puma. Sie war jetzt in seinem inneren Heiligtum und schaute sich neugierig und erwartungsvoll um. Ihre großen dunklen Augen glitzerten vor Faszination. Er sah sie klar und deutlich vor sich.

Seine Angst verstärkte sich, griff auf den Schild, seinen Magen und seine Gliedmaßen über. Er hatte keinen Einfluss auf die Vision, sie entfaltete sich aus eigener Kraft, dennoch träumte er nicht. Es war auch kein Wachtraum. Nein, er war bei klarem Bewusstsein und klammerte sich an einer Klippe fest.

Was zur Hölle …?

Sein Schild flimmerte, eine Schockwelle nackter Panik durchströmte ihn, und seine Sicht verschwamm …

Als er wieder zu sich kam, rauschte er mit Karacho die Felswand hinab, konnte seinen Sturz jedoch mit knapper Not an einem schmalen Granitvorsprung abfangen.

Konzentrier dich. Sieh nicht nach unten. Seine Füße baumelten über dem Abgrund.

Es vergingen mehrere Schrecksekunden, ehe er die richtige Frequenz fand und den Schild wieder hochziehen konnte. Geschafft. Hart und kalt wie Eis. Nur nicht denken.

Schließlich riskierte er doch einen Blick zu den schroffen Felsen tief unter ihm, vorbei an seinen verzweifelt Halt suchenden nackten Zehen. Das Gestein war voller Blut. Er hatte sich die Haut an den Fingerkuppen abgeschürft.

Es kostete ihn lange, kräftezehrende Minuten, bis er mit dem Fuß einen Vorsprung ertastete, auf dem er sich abstützen konnte, und er ruhig genug wurde, um eine neue Route zu kalkulieren.

Irgendwie schaffte er es, sich mit schweren, tauben Gliedern auf den Gipfel zu kämpfen. Er hatte die Felsformation »die Gabel« getauft und befand sich nun auf der höchsten und spitzesten Zinke. Sein Blick schweifte über die hoch aufragenden Koniferen, die schneebestäubte Gebirgskette der Kaskaden und die Wolkenfetzen, die unter und neben ihm dahintrieben. In diesem Moment genoss er die Informationsflut beinahe, denn jedes kleine Detail harmonierte mit dem Rest. Mit Ausnahme von ihm. Blut sickerte aus seinen Fingerspitzen, und er hatte noch immer einen Ständer von seinem Nicht-Traum.

Er verscheuchte den Gedanken und nagte an einem Stück getrockneten Elchfleisches, einem Überbleibsel von seinem Jagdausflug mit Davy im vergangenen Jahr. Es war der schlecht getarnte Versuch gewesen, Miles beizubringen, richtig mit einem Gewehr umzugehen, was Davy zufolge unerlässlich war. Der Älteste der McCloud-Brüder war selbst ein herausragender Schütze. Was vermutlich daran lag, dass er seine Gefühle auf Knopfdruck ausschalten konnte. Miles hingegen hatte sich nicht gerade als Naturtalent entpuppt. Zu nervös, zu zappelig, unfähig, die nötige innere Ruhe zu finden.

Inzwischen hatte er sie gefunden. Der neue, kalte Miles wäre ein ausgezeichneter Schütze. Technik, Schusswinkel, Windrichtung – das alles war reine Mathematik, und darin war er gut. Sollte er jemals einen Feind aus zwei Kilometern Entfernung erschießen müssen, wäre er bestens vorbereitet.

Auf dem langen, beschwerlichen Weg nach unten ereilten ihn keine weiteren Missgeschicke, trotzdem war er erschöpft, als er sein provisorisches Lager erreichte, das aus einer Plane, die er über seinen Schlafsack und seinen Rucksack gespannt hatte, einer Feuerstelle und einem kleinen Gaskocher bestand. Er entfachte ein Feuer, war jedoch zu müde zum Kochen, daher begnügte er sich mit einem Proteinriegel, den er ohne großen Enthusiasmus aß. Wenn er so weitermachte, würde er noch Skorbut bekommen, aber die Suche nach essbaren Pflanzen lenkte ihn nicht so gut ab wie das Klettern. Und dann noch das viele Kauen. Schon bei der Vorstellung schmerzte sein Kiefer.

Vollkommen geschafft legte er Feuerholz nach, als er wieder dieses heiße Prickeln auf der Haut spürte. Er stand auf und beobachtete die Bäume, die seine Lichtung umringten.

Gelbe Katzenaugen leuchteten gespenstisch im Schein des Lagerfeuers auf. Die Geräusche der Nacht verstärkten sich, als er seine Wahrnehmung darauf fokussierte. Obwohl er keine Bedrohung spürte, sondern nur leise Vorsicht, nahm er die Glock 23 aus seinem Rucksack. Das Kaliber war zu klein für einen Puma, aber besser als nichts. Er müsste das Tier direkt in die Stirn oder ins Auge treffen, falls es attackierte.

Gott bewahre, dass es dazu käme. Die Katze war wunderschön.

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, setzte er sich vorsichtig wieder hin und legte mehr Äste ins Feuer. Der Wind fuhr seufzend in die Baumkronen und trieb Wolkenschwaden über den glitzernden Sternenhimmel. Er sehnte sich danach, die Augen zu schließen, aber die Anwesenheit der Berglöwin hielt ihn hartnäckig mit kleinen Adrenalinstößen davon ab. Die Raubkatze war eindeutig fasziniert von ihm. Sie wollte ihn ausloten, verstehen, wie er tickte. Na, dann viel Erfolg.

Den Ärzten zufolge waren Depressionen nach einer Hirnverletzung normal, und die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung würden jeden um den Verstand bringen. Damit hatte er durch nichts zu erschütternde Erklärungen für alles, was mit ihm gerade los war. Nur die Sexträume ließen sich kaum begründen. Sollte Lara tatsächlich anfangen, ihm auch im Wachzustand zu erscheinen … nicht auszudenken. Das würde eine völlig neue Stufe des Wahnsinns bedeuten.

Sobald er nach dem traumatischen Erlebnis in Spruce Ridge wieder halbwegs funktionstüchtig gewesen war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, Lara zu finden und zu retten. Auch sie war ein Opfer dieser Psychopathen, die ihn mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten attackiert hatten. Ausgerechnet Laras Mutter, Helga Kasyanov, hatte Psi-Max entwickelt – eine Droge, die latente paranormale Fähigkeiten verstärkte – und damit den Startschuss für das ganze Debakel gegeben, bevor sie von Rudds Leuten ermordet worden war. Und Miles hatte das Pech gehabt, den verstümmelten Leichnam von Laras Vater, Joseph Kirk, zu finden. Angekettet in seinem eigenen Keller.

Damit war Lara nicht nur das Opfer einer Entführung, sondern auch Vollwaise. Das machte ihn wütend und traurig und hatte die ebenso nutzlose wie unkontrollierbare Obsession bei ihm ausgelöst, seine Prinzessin retten zu müssen. Zu viele Videospiele in seiner Computerfreak-Jugend.

Bei der Suche nach Lara Kirk hatte er sich mehr ins Zeug gelegt als je zuvor in seinem Leben – und rein gar nichts erreicht. Sie war und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Es gab keine Hinweise, keine Spur von ihr. Er rannte gegen Mauern an.

Es machte ihn rasend. Niemand wusste besser als er, welche Hölle sie durchmachen musste. Wie könnte er das auf die leichte Schulter nehmen und sich auf seine Genesung konzentrieren? Entschuldige, aber ich brauche erst mal eine Auszeit, bis meine Hirnschwellung abklingt, bevor ich dich aus der Gewalt dieser Ungeheuer befreien kann.

Wie kam es, dass es ihn überhaupt kümmerte – trotz des Schildes? Schließlich interessierte er sich sonst für nichts und niemanden.

Weil alle anderen außerhalb deines Schildes bleiben, Spatzenhirn. Nur Lara schlüpft immer wieder dahinter. Und du vögelst ihr anschließend das Hirn raus. Wirklich sehr ritterlich.

Dieser Gedanke stank nach schizophrenem Wahn, darum blockte er ihn ab.

Der Schlaf drückte wie eine kraftvolle Hand auf seine Schädeldecke. Miles kämpfte dagegen an, doch das minderte seine Entschlossenheit, dem Impuls zu widerstehen und die Klarsichthülle aus seiner Jacke zu fischen. Darin befand sich ein Foto. Es war eine Kopie von Laras Porträt auf ihrer Webseite. Sie war Bildhauerin. Gewesen. Miles kannte sämtliche Stücke in ihrem Onlinekatalog. Er hatte sie ausführlich studiert.

Er betrachtete ihre betörenden dunklen Augen und begann, leise zu fluchen, geriet immer mehr in Rage. Sein Zorn gipfelte darin, dass er das Foto ins Feuer werfen wollte, aber es landete am Rand der Glut. Der Kunststoff fing an zu schmelzen und rollte sich ein.

Mit einem resignierten Fluch fischte Miles die Hülle aus den Kohlen und wedelte sie in der Luft, bis das Plastik wieder fest wurde, dann steckte er sie zurück in seine Jacke. Seine Wut war verraucht, sie lohnte die Mühe nicht.

Nur durch eiserne Willensanstrengung gelang es ihm, die Augen offen zu halten, als die Visionen erneut einsetzten. Es war wie in einem Traum, nur dass er nicht schlief. Er konnte die Bilderflut nicht eindämmen, stattdessen beobachtete er, wie Lara sich durch die Eingeweide der gigantischen Maschine bewegte, in der er sich verschanzte. Sie trug dieses unpraktische, hauchdünne weiße Gewand, in dem sie aussah wie eine Märchenprinzessin. Ihr Haar war offen und wild. Das Kleid flatterte um ihre langen, schlanken Beine, als sie sich durch die knirschenden Zahnräder schlängelte. Sie bog den Körper, duckte sich … dann war sie drinnen.

In seinem Kopf. Während er hellwach zusah. Heilige Scheiße. Seine Muskeln verkrampften sich. Es war zu bizarr. Grauenvoll verrückt.

Lara stand jetzt in einer Art Kontrollraum, der an die Brücke eines futuristischen Raumschiffs erinnerte. Ohne Zweifel ein Relikt seiner langen Nächte mit dem Sci-Fi-Kanal. Sie spazierte umher, betätigte Schalter und Knöpfe. Dann setzte sie sich in einen breiten Drehstuhl, der verdächtige Ähnlichkeit mit dem eines Raumschiffkommandanten aufwies, und tippte auf einer Konsole herum, die sich vor seinen Augen manifestierte.

Ihm brach der Schweiß aus. Sie hatte in seinen Träumen nie gesprochen. Nicht dass er ihr überhaupt die Chance dazu gegeben hätte, während er wie ein Barbar über sie herfiel. Sie hatte kaum mehr tun können, als zu keuchen und zu stöhnen.

Er hatte erst ein einziges Mal eine Nachricht auf seinem analogen mentalen Computer hinterlassen. Sie war für Nina gewesen, in jener verhängnisvollen Nacht in Spruce Ridge. Es war mehr ein paranormales Experiment gewesen, um herauszufinden, ob es funktionierte – und das hatte es zu Miles’ Erschütterung auch getan.

Das war seine einzige flüchtige Erfahrung mit Telepathie gewesen, und er hatte sie niemals wiederholen wollen. Er hatte schon genügend Probleme. Das hier musste ein Ende haben. Bitte!

Doch die Nachricht blinkte beharrlich auf dem Monitor.

Wo bist du?

Er sollte nicht antworten, sollte diesen abgespaltenen Teil seines präfrontalen Kortex nicht auch noch dazu ermutigen, mit ihm zu sprechen. Denn damit würde er der Illusion Vorschub leisten, dass seine Hirnrinde eine Koexistenz neben seinem Bewusstsein führte, und das tat sie verflucht noch mal nicht. Hier gab es nur Miles Davenport mit seinen komplizierten Problemen. Nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem blitzte seine Antwort auf dem Bildschirm auf. Verpiss Verpiss dich. Hab keinen Bock zu spielen.

Lara riss schockiert die Augen auf. Ihre Finger rasten über die Tastatur, als sie tippte: Fick dich ins Knie. Und weg war sie. Stinksauer.

Miles realisierte drei Dinge auf einmal. Erstens: Er hatte schon wieder eine mächtige Erektion. Zweitens: Er fühlte sich mies, weil er so grob mit ihr umgesprungen war. Drittens: Die Berglöwin hatte sich näher herangepirscht. Ein gutes Stück sogar.

Er schnappte sich seine Glock, sprang auf und feuerte mit einem Schrei in den Himmel. Der Puma flüchtete mit einem gewaltigen Satz in die Nacht.

Die Schüsse waren wie Hammerschläge auf seinen Schädel. Miles fiel auf die Knie. Die Waffe glitt aus seinen steifen, zitterigen Fingern auf die Kiefernnadeln, als er das Gesicht in den Händen vergrub. Er war reif für die Medikamente.

Verdammte Scheiße, er hatte versucht, einen Traum zu verjagen, indem er auf ihn schoss.

2

Lara blinzelte in das grelle Licht, und ihr Magen verknotete sich zu einem festen Ball.

Zurück in der Hölle. Sie wollte wieder in der Zitadelle sein, bei ihrem Phantomliebhaber. Allein der Gedanke an ihn verursachte ihr ein wohliges Kribbeln in den Zehen. Er war das einzig Gute in der ausgebrannten Ruine, die sich ihr Leben schimpfte, allerdings hatte er ihr gerade eine harsche Abfuhr erteilt.

Es tat so sehr weh, dass sie kaum Luft bekam. Nie zuvor hatte ihr Traumgeliebter so unerwartet auf eiskalt umgeschaltet. Er war sonst immer nur heiß und von einer glühenden Leidenschaft erfüllt gewesen, wie sie sie nie zuvor erlebt hatte.

Und jetzt kämpfte sie mit den Tränen, weil ihr eingebildeter Liebster sie abgewiesen hatte. Wie armselig.

Du hast größere Probleme, Mädchen. Lara öffnete die Augen und stellte sich ihnen. Ihre Hand- und Fußgelenke waren an die Krankenbahre gefesselt, ihr Oberkörper und ihre Schenkel zusätzlich mit Gurten fixiert. Anfangs hatte sie sich noch gewehrt, inzwischen tat sie das nicht mehr. Doch seit sie einen Zahnabdruck in Hus Handballen hinterlassen hatte, ging er kein Risiko mehr ein.

Verzerrt wie Fratzen aus einem Albtraum schwebten ihre Gesichter über ihr. Tränen sickerten aus Laras Augenwinkeln und in ihre schweißnassen Haare. Sie hasste es, vor diesen verderbten Kreaturen zu heulen, auch wenn es diese Leute nicht im Geringsten interessierte. Sie bedeutete ihnen nichts, war nur ein Objekt, das es auszubeuten galt. Trotzdem hasste sie ihre mangelnde Selbstbeherrschung, und heiße Tränenbäche strömten über ihre Schläfen.

Atme dich hindurch. Es ist nur eine Gefühlsregung. Du bist stark, sie ist schwach. Atme.

Sie zwang sich, ganz ruhig zu liegen. Es war furchtbar schwer, seine Würde zu bewahren, wenn man flach auf dem Rücken liegend an eine Pritsche gefesselt war, mit Drogen vollgepumpt und leise schluchzend.

Heute waren es Hu und Anabel – diese blonde, telepathisch veranlagte Teufelin. Ihre gewohnten Folterknechte. Anabel war immer mit von der Partie, um Laras Drogentrips telepathisch zu begleiten. Auch Hu war durch Psi-Max optimiert worden, aber er konzentrierte seine Fähigkeiten auf die Wirkung der Droge und nicht auf Lara selbst.

Sie missbrauchten sie als Laborratte, um eine neue Formel zu entwickeln. Zu welchem Zweck, das wusste sie nicht, und sie traute sich nicht zu spekulieren. Die Effekte der derzeitigen Zusammensetzung waren beängstigend genug. Die Droge spaltete sie von der Welt, die sie kannte, ab und katapultierte sie in einen diffusen Albtraum von ineinander übergreifenden Visionen. Meist ergaben sie keinen Sinn. Anabel oder einer der anderen Telepathen waren immer dabei. Sie schlugen ihre Krallen in Laras Geist und bissen sich wie Zecken darin fest.

Ein paar der Visionen wiederholten sich, wie zum Beispiel die von ihrem stummen, namenlosen Freund in seinem schäbigen Pyjama. Der kleine blonde Junge hätte eine tröstliche Figur sein können, wäre er nicht so geisterhaft und verloren gewesen. Trotzdem war er ihr ans Herz gewachsen. Sie brauchte jemanden, den sie gernhaben konnte, und der kleine Junge war immer da, wenn sie sie in den formlosen Nebel stießen. Er war zu ihrem Führer geworden, der vorauslief und ihr mit Handzeichen den Weg wies, bis sie die Zitadelle aus dem Nebel herausragen sah.

Dort hatte sie ihn gefunden. Den rebellischen Bewohner dieser Festung.

Es war ihr beim ersten Mal wie ein Wunder erschienen, als sie erkannt hatte, dass Anabel und die anderen ihr nicht ins Innere folgen konnten. Sie war dort in Sicherheit vor ihren Peinigern. Außerdem war er dort. Ihr Traumgeliebter.

Nicht dass seine Gegenwart irgendwie tröstlich gewesen wäre. Tröstlich war nicht die treffende Umschreibung für den Lord der Zitadelle. Hinreißender Meister der Verführung würde es besser auf den Punkt bringen. Anfangs hatten seine beharrlichen Avancen und ihr Liebesspiel sie eingeschüchtert, aber sie hatte sich sehr schnell daran gewöhnt und sich völlig auf ihn eingelassen.

Vor einer Weile hatte sie es aufgegeben, eine Erklärung für diese erotische Fantasie finden zu wollen. Es war ein Geschenk, und sie würde es annehmen, es genießen. Und sie klammerte sich daran fest wie an einen Rettungsanker.

Lara hatte die Zitadelle heute kurz aufgesucht, aber anders als sonst hatte sie den liebestollen Lord nicht darin vorgefunden. Sie war verwaist gewesen. Dann hatte sie diese dämliche, unglückselige Nachricht geschrieben und seine barsche Antwort erhalten. Es schmerzte noch immer.

Schon heute Morgen, als sie ihr die Spritze gegeben hatten, war sie in die Festung geflüchtet. Anabel war nun doppelt sauer, weil Lara sie gleich zweimal ausgetrickst hatte.

Als sie den Blick fokussierte, schlug Anabel ihr ins Gesicht. »Wo zum Teufel bist du hingegangen, du durchtriebenes Luder? Wie hast du gelernt, dich abzuschirmen? Wer hat es dir beigebracht? Helga?«

Lara schüttelte den Kopf, so weit der Riemen um ihre Stirn es zuließ. »Ich habe mich nicht abgeschirmt«, krächzte sie. »Ich weiß nicht, wie man das macht.«

Und das war die Wahrheit. Sie hatte keine Ahnung, wie man etwas so Unglaubliches wie diese Traumfestung erschuf oder was genau mit ihr passierte, wenn sie sie auf einen dieser Drogentrips schickten.

Natürlich drang sie unerlaubt in die Zitadelle ein. Bislang hatte der Sexgott, der sie bewohnte, jedoch nie Einwände gegen ihre Besuche erhoben. Ganz im Gegenteil. Er hatte sich ausnahmslos gefreut, sie zu sehen. Gelinde gesagt.

»Eine Weile konnte ich an ihr dranbleiben«, sagte Anabel zu Hu. »Wir machten erste Fortschritte. Ihr sind wieder diese seltsamen Schlafwandler erschienen, anschließend sah sie den Bombenanschlag in Tokio, und dann hat sie mich abgehängt.« Sie beugte sich tief über Lara. »Wohin bist du verschwunden?« Speichel spritzte auf Laras Wangen. »Wie zur Hölle hast du das angestellt?«

»Ich erinnere mich nicht«, log sie, dann keuchte sie vor Schmerz, als Anabel brutal in ihren Geist eindrang und in ihrem Gedächtnis wütete.

»Was siehst du?«, fragte Hu. »Wo war sie?«

Anabel schloss die Augen und runzelte die Stirn. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Normalerweise fühlt es sich an, als würde diese dreckige kleine Hure mit jemandem ficken, wann immer sie mir entwischt.« Sie versetzte ihr eine weitere schallende Ohrfeige. »Aber diesmal nicht. Wo ist dein Stecher heute, Schlampe? Hat er dir den Laufpass gegeben?« Lara versuchte, nicht zu wimmern, als Anabel den Gedankenfaden freilegte und ihn sezierte. »Ah! Richtig getippt! Er hat deine zarten Gefühle verletzt! Wie schade für dich!«

Lara atmete bedächtig ein und aus und versuchte, ihre Gedanken diffus und unkoordiniert zu belassen. Solange sie distanziert und emotionslos war, konnte Anabel nicht unterscheiden, welchen Gedankengängen es zu folgen lohnte. Manchmal funktionierte es. Wenn sie ruhig genug war.

Ihre Peiniger behaupteten, dass ihre Mutter diese Droge entwickelt habe, mit der sich das Psi eines Menschen verbessern ließ. Es klang plausibel. Helga war eine brillante Pharmakologin mit einem brennenden Interesse für Parapsychologie gewesen.

Andererseits redeten diese Leute eine Menge absurdes Zeug. Zum Beispiel, dass ihre Mutter erst vor wenigen Monaten gestorben und ihr Tod bei dem Feuer in der Forschungseinrichtung ein Täuschungsmanöver gewesen sei. Damit wäre ihre Mutter die ganzen endlosen drei Jahre, in denen Lara um sie getrauert hatte, am Leben gewesen.

Auch ihr Vater war angeblich ermordet worden. Gefoltert und in Stücke geschnitten.

Aber solange sie keinen Beweis hatte, würde sie sich daran festhalten, dass es bösartige Lügen waren. Zumindest versuchte sie es.

Sie würde nicht darüber nachdenken. Auf gar keinen Fall.

Wenn sie doch nur wüsste, was diese Leute von ihr wollten. Sie war eine einfache Künstlerin, die mit Holz und Ton und Metall arbeitete und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerte. Sie hatte sich nie Feinde gemacht.

Ihre Kidnapper sagten, dass sie über Psi-Fähigkeiten verfüge. Das müsse so sein, denn andernfalls wäre sie längst tot, hatten sie ihr erklärt, als sie nach dem ersten Furcht einflößenden Horrortrip wieder zu Bewusstsein gekommen war. Denn das war die Wirkungsweise der Droge: Wen sie nicht optimierte, den brachte sie um.

Nach all den vielen Monaten in ihrem Rattenloch wünschte Lara inzwischen, sie wäre dabei draufgegangen. Sie hatte mehr als zweihundert Kerben in die Wand geritzt, aber ohne Tageslicht oder eine Uhr ließen sich die Tage ihrer Gefangenschaft schwer zählen. Anfangs waren die Lichter ihrer Einschätzung nach alle zwölf Stunden an- beziehungsweise ausgeschaltet worden, mit drei über den Tag verteilten kleinen, ekelhaften Mahlzeiten. Doch mit Beginn des Drogenexperiments hatten sie die Licht- und Essenszyklen variiert und sie manchmal tagelang im Dunkeln gelassen oder zum Fasten gezwungen, bis sie Magenkrämpfe vor Hunger bekam. Lara hatte nicht einmal mehr einen Menstruationszyklus als Orientierungshilfe, weil es ihr in den ersten Wochen nicht gelungen war, genügend zu sich zu nehmen, um diese Körperfunktion zu erhalten. Ihr Appetit war erst wieder erwacht, als sie die Zitadelle entdeckt hatte. Und ihren geheimnisumwitterten Traumliebhaber.

Zu dumm, dass das Essen noch immer abscheulich schmeckte – wenn sie ihr denn überhaupt welches gaben.

»Der Boss wird nicht erfreut sein«, bemerkte Hu. »Du hattest ihm versprochen, sie bei seinem nächsten Besuch unter Kontrolle zu haben. Aber ihre Abwehrschilde werden immer stärker. Er wird uns wie Kakerlaken zertreten.«

»Meinst du, das wüsste ich nicht?«, fauchte Anabel.

Die beiden redeten über sie, als wäre sie eine Puppe. Nie sprachen sie sie direkt an, außer um sie zu quälen oder zu bedrohen. Die restliche Zeit verbrachte sie allein in ihrem Rattenloch und kämpfte um den Erhalt ihrer geistigen Gesundheit. Abgesehen von den wenigen Stunden in dem Raum mit dem vergitterten Fenster, das auf den gezackten Berg blickte, bestand ihr Leben aus Psi-Max-Trips und dem Rattenloch.

Zumindest war das so gewesen, bevor sie die Festung und ihn gefunden hatte. Sie hatte ihn den »Lord der Zitadelle« getauft, weil ein Fantasiemann einen schicken Fantasienamen haben sollte. Ihre Traumbesuche bei ihm hatten sie am Leben gehalten.

Merkwürdig, dass sich ihre Gedanken ausgerechnet unter diesen extremen Umständen plötzlich so um Sex drehten, obwohl er ihr früher nie viel bedeutet hatte. Aufgrund mangelnden Selbstvertrauens war es ihr immer schwergefallen, sich im Bett gehen zu lassen, darum hatte sie sich nie für Sex begeistern können. Zu chaotisch und kompliziert. In der Regel hatte sie die Finger davon gelassen.

Aber in ihren Träumen kannte sie keine Hemmungen. Der Lord der Zitadelle war ein sinnliches Produkt ihrer Fantasie. Bei ihm konnte sie eine Prinzessin, eine Sirene, eine Göttin sein. Ohne Ängste, Unsicherheiten oder Komplexe. Es war eine immense Erleichterung. Seit der Lord der Zitadelle sich ihrer angenommen hatte, wusste sie, wie sich ein echter Orgasmus anfühlte.

Sie fragte sich, ob diese faszinierenden sexuellen Träume eine ungewollte Begleiterscheinung dieser speziellen Zusammensetzung der Droge waren und ob der Effekt wegfallen würde, falls Hu die Formel veränderte. Bitte nicht. Diese Verbrecher würden mit dieser Rezeptur Milliarden scheffeln. Lara würde die Droge selbst kaufen, wäre sie auf dem Markt. Ohne zu zögern. Doch für den Moment war diese Begleiterscheinung ihr kleines Geheimnis, für das es sich lohnte, ihr Essen hinunterzuwürgen, sich zu waschen, zu schlafen, zu trainieren, zu meditieren. Am Leben zu bleiben.

Und jetzt wollte er, dass sie verschwand. Verpiss dich. Hab keinen Bock zu spielen.

Dieser grobe, unhöfliche Rüpel. Vielleicht hatten sie die Formel bereits verändert, und das war die Folge.

Sie schob diese dumme, schmerzvolle Überlegung von sich. Der Lord der Zitadelle existierte nur in ihrer Fantasie. Es war ein Bewältigungsmechanismus, mehr nicht. Sie verletzte ihre eigenen Gefühle.

Trotzdem tat es weh. Wo blieb da die Logik?

Sie keuchte, als Anabel brutal ihr Kinn zur Seite drehte. »Sag uns, was du gesehen hast, Schlampe. Wenn du es mir schon nicht zeigen willst.«

Lara schüttelte wieder den Kopf. »Ich kann mich kaum erinnern. Der Trip hat nicht lange gedauert.«

Hu und Anabel wechselten einen Blick. »Das reicht mir nicht«, sagte die Frau. »Der Boss hat sich angekündigt. Wir brauchen Ergebnisse.«

Lara zuckte die Schultern. »Ich kann euch nicht helfen. Es tut mir leid.«

»Oh, ja, das wird es, du dämliche Hure. Sehr sogar.«

Um sich keine weitere Ohrfeige einzuhandeln, unterdrückte Lara das bittere Lachen, das in ihr hochstieg. Noch mehr als jetzt? Echt? Dabei sehnte sie den Tod schon seit Monaten herbei.

Ihren Kidnappern mangelte es nicht an Einfallsreichtum, wie sich ihre Gabe ausbeuten ließ. Ihre aktuelle Methode bestand darin, ihr eine hypnotisierende Droge zu spritzen und ihr anschließend Videomaterial zu Themen zu zeigen, von denen sie wollten, dass sie in ihren Visionen vorkamen. Internationale Ereignisse, Kriege, Truppenbewegungen, Waffenentwicklungsprogramme. Danach injizierten sie ihr Psi-Max, bevor Anabel sie auf einen Horrortrip schickte. Aber auch vor ihrer Entdeckung der Zitadelle waren ihre Visionen frustrierend unberechenbar gewesen. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, chaotisch durcheinandergewürfelt. Fast jedes Mal, wenn sie ihr die Droge verabreichten, sah Lara eine Reisetasche voller Sprengstoff in einem Pendlerzug in Tokio. Mehr als vierhundert Tote. Immer wieder flehte sie die beiden an, die japanische Polizei zu warnen, aber sie wollten nichts davon hören. Lara versuchte, nicht daran zu denken.

In der anderen Vision, die sich mit unerträglicher Regelmäßigkeit wiederholte, sah sie Menschen, die mit leerem Blick durch eine Stadt schlurften. Sie waren still und in sich gekehrt, wirkten nicht gefährlich, trotzdem machten sie ihr Angst.

Sie sah Hus und Anabels Vergangenheiten und auch ihre potenzielle Zukunft. Es bereitete ihr Unbehagen, so viel Intimes über ihre verhassten Folterknechte zu wissen. Sie wollte sie nicht verstehen oder Mitgefühl mit ihnen haben.

Anabel löste Laras Fesseln, während Hu sie stützte, damit sie nicht von der Bahre fiel. Sie zerrten ihren schwankenden Körper zur Tür. Zurück ins Rattenloch.

Lara wandte sich Hu zu. »Wie geht es Leah?«

Seine Kiefermuskeln zuckte. »Halt den Mund.«

»Wurden die medizinischen Tests durchgeführt, zu denen ich geraten habe?«

Die Anspannung in Hus Miene war Antwort genug.

»Mein Verdacht hat sich bestätigt, nicht wahr?«, bohrte Lara nach. »Sie dachte, es wäre nur eine Magenschleimhautentzündung, doch in Wahrheit hat sie Speiseröhrenkrebs, richtig?«

»Ich sagte, du sollst den Mund halten. Sie geht dich einen feuchten Kehricht an.«

Aber Lara stand zu sehr unter Drogeneinfluss, um in ihrem eigenen Interesse zu handeln. Wenn die Flut an Informationen einsetzte, zog jede einzelne unaufhaltsam die nächste nach sich. »Sie weiß nichts von deinen Machenschaften. Du gibst dich ihr gegenüber als harmloser Wissenschaftler aus, und sie kauft es dir ab oder tut zumindest so. Doch tief in ihrem Inneren ahnt sie, was du wirklich bist. Das macht ihr Angst, aber sie kämpft dagegen an. Weil sie ein netter Mensch ist. Sie hat dich tatsächlich gern. Sie verdient etwas Besseres als dich sadistischen, verlogenen …«

»Halt die … Fresse!« Klatsch. Hu schlug nicht ganz so hart zu wie Anabel, aber durch die Ohrfeige biss sie sich auf die Lippe. Sie schmeckte Blut, und da sprudelten die Worte immer schneller aus ihr heraus.

»Du bist Gift für sie, Hu. Sie wird sterben, wenn sie in deiner Nähe bleibt. Und das schon bald. Soll ich dir sagen, wie lange es genau dauern wird?«

Anabel schmetterte sie gegen die Zellentür. Der Zusammenprall trieb ihr die Luft aus den Lungen. Die Frau brachte ihr Gesicht ganz nah vor ihres. Sie könnte bildhübsch sein, wären ihre Züge nicht so verzerrt und ausgemergelt.

»Leg dich bloß nicht mit uns an«, zischte sie. »Dein Leben hängt an einem seidenen Faden.«

Dann schneidet ihn endlich durch. Gebt mich frei. Aber Lara war zu sehr außer Atem, um es laut zu sagen.

Nachdem Hu die vielen Schlösser der massiven Tür geöffnet hatte, versetzte Anabel Lara einen brutalen Stoß. Sie landete mit den Knien auf dem Fußboden ihrer Zelle.

Keuchend leckte sie sich das Blut von der Lippe. »Dich habe ich auch gesehen.«

Anabel verdrehte die Augen. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«

»Dass mein Leben am seidenen Faden hängt? Doch. Aber ihr droht mir alle paar Minuten mit dem Tod. Willst du wissen, was ich gesehen habe?«

Lara hob den Blick und erkannte Neugier gepaart mit Furcht in Anabels Miene. Sie hielt ihre Gedanken diffus, als sie die mentale Sonde der Frau in ihrem Geist spürte. Anabel versuchte, den Hinweis auf eigene Faust herauszufischen, konnte ihn jedoch nicht finden.

»Du würdest sowieso nur Lügen erzählen.«

»Du wüsstest es, wenn ich das täte«, konterte Lara gelassen.

»Ich habe deinen Kopf längst ausgeforscht. Da war nichts über mich.«

»Ich war abgeschirmt, als mich die Vision überkam.«

Anabel gab einen ungeduldigen Laut von sich. »Na schön. Klär mich auf, du dummes Flittchen, damit wir endlich frühstücken können.«

»Ich sah einen Mann.« Lara richtete den Oberkörper auf.

Anabel stieß ein harsches Lachen aus. »Wie schockierend! Einem Mann bin ich ja noch nie begegnet. Wer ist er? Mein nächster Bettgefährte?«

»Er gehört zu deiner Vergangenheit. Aber ich habe seine Gegenwart gesehen. Durch seine Augen.«

»Es gab viele Männer in meiner Vergangenheit. Die meisten waren nicht allzu interessant. Da musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.«

»Er trug karierte Golfhosen.« Eine Serie von Bildern strömte durch ihren Kopf, wie Fakten, die ihr schon immer bekannt gewesen waren. »Irgendwo im Süden. Er trank einen Gin Tonic. Nicht seinen ersten.«

Anabels Miene erstarrte. Hus Blick flog nervös zwischen ihnen hin und her.

»Ein Countryclub«, fuhr Lara fort. »Bäume mit tief hängenden Ästen in sumpfigem Boden. Louisiana oder Florida. Er beobachtete die Kinder im Pool. Eins ganz besonders. Ein blondes Mädchen in einem gelben Badeanzug. Neun oder zehn Jahre alt …«

»Das reicht«, warnte Anabel sie.

»Er hatte haarige Knöchel. Das konnte ich sehen, weil sein Hosenbein hochrutschte, als er die Schenkel kreuzte, um seine Erektion zu verbergen.«

»Ich sagte, es reicht!« Nun klang ihre Stimme schrill.

»Er taxierte die Kleine, aber er dachte an dich. Daran, wie sehr er die Zeit genossen hat, während der er dich in seinem Keller gefangen hielt. Wie lange? Jahre? Es gefiel ihm, seine Triebe befriedigen zu können, wann immer sie ihn überkamen, ohne extra nach Südostasien fliegen zu müssen. Er hat daran gedacht, sich eine neue Sexsklavin zuzulegen, aber er ist ein angesehener Mann. Ein Bezirksstaatsanwalt, richtig? Die Sache war zu riskant. Zudem kostspielig. Aber das sind Tickets nach Bangkok auch. Es kommt also vielleicht auf das Gleiche heraus.«

»Hör auf!«, kreischte Anabel. »Hör sofort auf!«

»Fast könnte ich Mitleid mit dir empfinden.« Lara betastete wieder ihre blutige Lippe. »Aber nur fast.«

Anabel rammte ihren Fuß in Laras Rippen, dann ging ein entsetzlicher Hagel von Tritten auf ihren Körper nieder. Lara rollte sich schützend um ihre lebenswichtigen Organe zusammen.

Als sie aufhörte, rang Anabel keuchend um Luft. »Eigentlich solltest du heute eine Stunde am Fenster bekommen, aber das kannst du knicken. Solche Privilegien sind für brave Mädchen. Böse Mädchen verrotten im Dunkeln.«

»So wie du?«, krächzte Lara.

Die Tür fiel scheppernd zu, das Licht ging aus. Nachdem sie Anabel derart in Rage gebracht hatte, würde sie heute sicher nichts zu essen bekommen. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft.

Sie fragte sich, wie lange sie unter diesen Bedingungen noch durchhalten würde. Unterernährung, Schlafmangel, Lichtentzug, dazu der mögliche Kollateralschaden, den die Droge ihr zufügen könnte. Wie viel länger würde sie das noch erdulden müssen? Wochen? Mehr doch bestimmt nicht.

Sie rollte sich auf dem Bett wie ein Embryo zusammen und flüchtete sich geistig zu ihm. Genauer gesagt zu einem ihrer früheren Besuche, als er noch vor Leidenschaft gebrannt hatte. Zuletzt hatte er mit nackter Brust und hochgelegten Füßen in einem breiten Sessel auf sie gewartet. Das Zimmer verschwamm im Hintergrund, weil ihre Aufmerksamkeit immer nur ihm galt, aber bestimmt war es sehr schön. Alles an der Zitadelle war schön.

Sobald er sie sah, trat ein hungriges Glitzern in seine Augen. Er stand auf und kam mit der Anmut eines Panthers auf sie zu. Ihr stockte der Atem, und sie presste die Schenkel zusammen, während sie ihn stumm und von wildem Verlangen erfasst beobachtete.

Er drängte sie gegen die Wand und küsste sie, liebkoste ihre Zunge mit seiner. Seine großen, warmen Hände waren so sanft, dass sie vor Entzücken erschauerte und sich voller Vertrauen seinen Berührungen hingab. Er sank auf die Knie und hob den Rock ihres dünnen weißen Gewands an, das verdächtig nach einem Brautkleid aussah. Da sie nie Unterwäsche trug, wenn sie die Zitadelle aufsuchte, gab es für ihn keine Barriere zu überwinden, um ihren Schoß mit Fingern und Lippen zu erforschen. Als er ihren Nektar schmeckte, ließ er die Zunge genüsslich um ihren Kitzler kreisen … oh Gott. Er schenkte ihr unvorstellbare Wonnen, dabei war es nur das Vorspiel. Als er wirklich zur Sache kam, gab es kein Halten mehr.

Dann ließ die Wirkung der Droge nach, und sie fand sich abrupt in der Realität wieder. Sie wollte für immer in der Zitadelle bleiben. Es war ein brutaler Schock, in ihren Körper zurückzukehren, der an die Bahre gefesselt war, während Anabel brüllte: Wo warst du? Das war deine erste Dosis, du blöde Schlampe. Wer hat dir beigebracht, dich abzuschirmen?

Vielleicht würden sie sie töten, sobald sie frustriert genug wären.

Sie lag im Dunkeln auf ihrer Pritsche, und ihre Tränen sickerten in die schmutzige Wolldecke. Sie vermisste ihren Lord der Zitadelle. Doch leider war er nicht der ihre. Er wollte sie nicht mehr.

Es war ein fataler Fehler gewesen, diese Nachricht zu tippen, aber sie war so einsam und sehnte sich nach Gesellschaft. Selbst wenn er nur ein Hirngespinst war.

Sie war selbst schuld. Wenn man sich nicht öffnete, konnte man nicht verletzt werden. An dieses Motto hatte sie sich die meiste Zeit ihres Lebens gehalten, warum tat sie es jetzt nicht? Man musste schon Lara Kirk heißen, um sich einen Phantomfreund zu erschaffen, der einen verletzen konnte.

Sie musste lachen und bereute es sofort, weil die Vibration ihre malträtierten Rippen erschütterte. Aber es war einfach zu bizarr, dass sie heulend hier lag wie ein Mädchen, das einen schlimmen Streit mit seinem Freund gehabt hatte.

In Wahrheit machte es keinen Unterschied, ob er sie wollte oder nicht. Sollte er ruhig grob sein und versuchen, sie sich vom Leib zu halten. Sobald sie sie wieder unter Drogen setzten, würde sie zu ihm zurückkehren wie ein ferngesteuertes Geschoss. Wenn er sie auf Abstand halten wollte, würde er seine Sicherheitsmaßnahmen verstärken müssen. Sie würde sich noch in dieser Sekunde in die Zitadelle flüchten, aber sie schaffte es nicht aus eigener Kraft, sondern brauchte diese verdammte Droge dafür.

Gott, wie sehr sie sich dafür verachtete, inzwischen so schwach zu sein, dass sie sich nicht mehr nach der Freiheit sehnte. Sie wüsste nicht einmal mehr, was sie damit anfangen sollte. Aber eine durch Drogen hervorgerufene sexuelle Fantasie? Klar doch. Immer her damit.

Vielleicht würde sie in der Zitadelle sterben, wenn ihre Zeit gekommen war. Das wäre ein besserer Ort für ihren Abgang als das Rattenloch oder die Krankenliege.

Sie hatte schon vor langer Zeit jede Hoffnung verloren. Jetzt sehnte sie sich nur noch nach dem nächsten Trip.

Sie war zu einer Psi-Max-Hure mutiert.

3

Als der Morgen dämmerte, befand Miles sich in einem schlimmeren Zustand als in all den Wochen, seit er hier oben sein Lager aufgeschlagen hatte. Und der Tag sollte keine Besserung bringen.

Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten sein fragiles inneres Gleichgewicht zersplittern lassen. Der Schild war intakt, aber die sensorische Überlastung war schlimmer denn je. Der Wind fuhr kreischend um die Zinken der Gabel. Schimmel, faulende Blätter, Piniennadeln, Humus – all das vermengte sich zu einer übel riechenden organischen Verbindung, die ihn bewegungsunfähig machte. Mit den Händen vor dem Gesicht kauerte er stundenlang in seinem Thermoschlafsack und versuchte, seinen Würgereiz unter Kontrolle zu halten.

Es war heute noch kälter, die Schneegrenze kroch Richtung Tal. Bibbernd zog er seine wärmsten Sachen über. Der arme Miles, das zarte Pflänzchen. Schnell, bringt das Riechsalz! Kein Klettern heute. Er würde umkommen, wenn er sich heute gedanklich ablenken ließe.

Nichts. Nichts war passiert. Es war ein Traum gewesen. Niemand hatte mit ihm kommuniziert. Er befand sich auf einem Berggipfel, zwanzig Kilometer entfernt von jeder Zivilisation. Er war noch nicht einmal telepathisch veranlagt. Vergiss diesen absurden Blödsinn. Denk nicht mehr daran.

Miles schüttete ein Päckchen Bohnensuppe in einen Plastikbecher mit Wasser, rührte mit dem Finger um und würgte die aschefarbene Pampe runter. Er wurde nachlässig, hatte schon seit geraumer Zeit keine Frischkost mehr zu sich genommen. Ob zu dieser späten Jahreszeit wohl noch Essbares in den Wäldern wuchs?

Mit dem Vorsatz, irgendwelche pflanzlichen Nährstoffe zu finden, begab er sich auf die Suche. Ein paar Stunden später nagte er an ein paar Pilzen, aber sie waren verschrumpelt und schimmelig, und er ertrug das starke Aroma nicht. Die verdorrten wilden Zwiebeln, die er probierte, verursachten ihm Sodbrennen und dazu einen solchen Hustenreiz, dass er auf dem Boden kauernd Kiefernnadeln und Erde spuckte, während er darauf wartete, dass das Hämmern in seinem Kopf nachließ. Offenbar war er nicht für das Überleben in der Wildnis gemacht.

Vergiss die Nahrungssuche. Eisig pfiff der Wind um seine Ohren, als er zu seinem Lager zurückkehrte, wo er Holz sammelte und zerkleinerte und sich auf eine kalte, schlaflose Nacht am Lagerfeuer einstellte. Er sollte seine Vorräte bald aufstocken, für den Fall, dass er im Schnee campieren musste. Und das konnte jederzeit passieren.

Ein Käfer, der über den Waldboden spazierte, erregte seine Aufmerksamkeit. Das Tierchen prallte gegen seine Stiefelspitze, drehte um und setzte seinen Weg fort. Miles sah ihm so gebannt zu, dass ihn die Wahrnehmung kalt erwischte.

Lara. Dieses euphorische Glücksgefühl. Würde er sich gestatten, den Blick nach innen zu richten, könnte er zusehen, wie sie sich in ihrem hauchdünnen weißen Gewand mit erotischer Anmut an den Zahnrädern vorbeischlängelte.

Sieh nicht hin. Er starrte in die Flammen und ließ die Kamera in seinem Kopf mit grimmiger Entschlossenheit ausgeschaltet. Er würde sich nicht auf dieses Spiel mit seiner eigenen Psyche einlassen, sich nicht in dieses Programm einloggen. Sein beschädigter präfrontaler Kortex konnte ihn am Arsch lecken. Er würde nicht darauf reinfallen.

Ein Geräusch verwirrte ihn. Es war der Signalton, mit dem sein Handy eine neue Nachricht vermeldete. Aber das Gerät war kilometerweit entfernt, eingeschweißt in Plastik unter seinem Wagen.

Es ist nur ein Klingeln in deinen Ohren. Eine akustische Erinnerung. Atme. Kümmere dich nicht darum.

Aber er konnte nicht widerstehen, den Monitor in seinem Kopf anzuschalten und die Worte zu lesen.

Bist du da?

Tu das nicht, Schwachkopf. Kommuniziere nicht mehr mit ihr. Damit verschlimmerst du den Wahnsinn nur.

Miles wusste genau, was gerade passierte. Er hatte ausführliche Recherchen darüber angestellt. Der Teil seines Hirns, der für Sprache und abstraktes Denken zuständig war, war durch Rudds telepathische Attacke beschädigt worden, was zu biochemischen Veränderungen und neuen Verknüpfungen in seinem Kopf geführt hatte. Dadurch funktionierte die Kommunikation zwischen präfrontalem und temporalem Kortex nicht mehr, was sich in akustischen Halluzinationen niederschlug. Man hörte Stimmen. Das traf in seinem Fall zwar nicht ganz zu, aber es war vergleichbar.

Ein anderer Name dafür lautete Schizophrenie.

Er würde diesen Nachrichten keine Beachtung schenken. Vor allem dann nicht, wenn sie ihn zu irgendwelchen Handlungen aufforderten. Aber noch während er diesen Entschluss fasste, erschien seine Antwort bereits in großen, fetten Buchstaben auf dem Bildschirm.

Was zur Hölle willst du mir über mein demoliertes Hirn sagen, das ich nicht längst weiß? Du existierst nicht! Hier bin nur ich! Gib auf, geh weg! Verschwinde! Ich flehe dich an, hör auf, mich zu quälen!

Er hielt einen Moment die Luft an. Es folgte eine lange Pause.

Herrje, dabei hielt ich dich für den Traum.

Nein. Du bist der Traum! Darum versuch nicht, in meinem Kopf rumzupfuschen, weil ich nämlich nicht spielen werde!

Falsch! Ich bin nicht du! Auch kein Traum! Ich bin ich! Ist das klar?

Er fühlte sich auf den Schlips getreten, auch wenn es völlig absurd war. Du hast ganz schön Nerven für jemanden, der sich ungebeten in meinen Kopf stiehlt und dort Unfug anrichtet!

Irgendwann während des seltsamen Schlagabtauschs hatte er sich dazu hinreißen lassen, den Blick nach innen zu richten, und natürlich konnte er ihn jetzt nicht mehr abwenden. Lara saß in ihrem luftigen Kleid auf dem Drehstuhl und starrte mit ausdrucksloser Miene auf den Monitor. Dann hob sie die Hände von ihrem Schoß und tippte langsam die nächste Zeile.

Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll.

Es klang so fruchtbar verloren, das ihm ganz elend zumute wurde. Doch das war nur ein weiteres Zeichen dafür, dass er den Verstand verloren hatte. Das wiederum machte ihn sauer und sarkastisch.

Klingt nach Selbstmitleidsparty.

Damit schien er sie beleidigt zu haben. Aber obwohl sie nicht antwortete, verschwand sie auch nicht, sondern saß einfach nur mit trotzig vorgeschobenem Kinn da.

Komm schon, du veräppelst mich doch, tippte er.

Sie schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust.

Das ist verdammt noch mal nicht fair. Du kannst mich nicht in meinem eigenen Kopf ignorieren.

Dieser Steilvorlage konnte sie nicht widerstehen.

Offensichtlich kann ich das doch.

Miles fing an zu lachen. Er prustete hilflos in seine Hände, während ihm die Tränen aus den Augen liefen. Jeder Beobachter würde ihn für einen Irren halten – und das zu Recht. Das hier war der unwiderlegbare Beweis und der wahre Grund, warum er hier war. Niemand sollte mitbekommen, was durch Rudds Gehirnwäsche aus ihm geworden war. Ein Spinner, der Stimmen hörte. Nein, Korrektur: ein Spinner, der Phantomnachrichten bekam. Es war nur logisch, dass Miles, der Computerfreak, ein zeitgemäßes Informatikdetail in seinen Prozess des Verrücktwerdens einbauen würde.

Na gut. Er war überzeugt. Zeit, die Rezepte einzulösen.

Das würde also seine Zukunft sein. Psychiatrische Einrichtungen und offene Anstalten. Bestenfalls eine Karriere als Einpacker in einem Supermarkt, wenn er es vermeiden konnte, auf die Tüten zu sabbern. Denn auf diesem Level würde er bei Einnahme dieser Medikamente funktionieren.

Noch ehe er den Entschluss bewusst gefasst hatte, fing er an, sein Lager abzubrechen. Es brachte nichts, es auf die lange Bank zu schieben. Er konnte Lara nicht mehr sehen, aber er spürte, dass sie noch immer in seiner Festung war. Er fühlte sie wie die Strahlen der Sonne und bekam nicht genug davon. Es war so lange her, seit er zuletzt mit jemandem kommuniziert hatte.

Er zuckte innerlich zusammen bei diesem Gedanken. Aber zumindest hatte er eine Entscheidung getroffen. Der Wind roch nach Schnee, und ihm ging es immer schlechter anstatt besser. Er musste sich Hilfe holen, bevor es zu spät war und er zu einer Gefahr werden würde.

Im Wald war es stockfinster, aber einer der wenigen Vorteile, die er seiner Bewusstseinsveränderung in Spruce Ridge verdankte, war seine geschärfte Nachtsicht. Er fand sich in unwegsamem Gelände um zwei Uhr morgens genauso gut zurecht wie am helllichten Tag. Er schulterte seinen Rucksack.

Miles war schon mehrere Stunden unterwegs, als der Signalton ertönte. Er hatte den Punkt erreicht, an dem er nicht einmal mehr zu widerstehen versuchte. Es wäre vergebliche Liebesmüh.

Auf dem Monitor stand: Bist du da?

Er hatte nun nichts mehr zu verlieren, noch nicht einmal seine geistige Gesundheit. Sie war längst dahin, darum tippte er auf seiner imaginären Tastatur: Lara?

Es trat eine lange, schockierte Pause ein.

Woher kennst du meinen Namen?

Ich weiß, wer du bist. Du erscheinst mir in meinen Träumen. Was machst du hier drinnen?

Mich verstecken.

Was?

Dies ist der einzige Ort, an den sie mir nicht folgen können.

Das verstehe ich nicht.

Das musst du nicht. Ich brauche nur ein Versteck

Mieser Tag?

Du machst dir keine Vorstellung. Damit loggte sie sich aus, aber im Gegensatz zu vergangener Nacht verschwand sie dieses Mal vollständig.

Er tastete mental nach ihr, dann beschleunigte er sein Tempo, als er zwei verwirrende Dinge auf einmal registrierte. Zum einen hatte ihm der kurze Kontakt eine Erektion beschert. Zum anderen quälten ihn zum ersten Mal seit einer Ewigkeit keine Kopfschmerzen. Nicht dass er sich darüber beklagen wollte. Er war beinahe euphorisch. Die Erektion in Kombination mit der verschwundenen Migräne war vermutlich nur ein Resultat seiner Blutzirkulation. Vasodilatatoren, die ihre Arbeit verrichteten. Der sensorische Informationsfluss war so intensiv wie immer, aber er konnte alles aufnehmen und verarbeiten, so als wäre es normal, nachts um zwei klar und deutlich zu sehen oder den Herzschlag eines Vogels zu hören. Seine Sinneswahrnehmung war einfach nur verstärkt, und zwar um ein Vielfaches.

Die Kommunikation mit Lara schien sich therapeutisch auszuwirken.

Möge Gott verhüten, dass er eine Passion für ein Geistermädchen entwickelte. Zugegeben, er neigte dazu, sich in unerreichbare Frauen zu verlieben. Aber in ein Produkt seiner eigenen Fantasie? Eine Frau, die das Zeitliche gesegnet hatte, bevor sie sich je begegnet waren? Bleib auf dem Teppich!

Seine Lara-Sensoren fingen keine weiteren Signale auf, während er den restlichen Weg zu seinem Pick-up zurücklegte. Zum Glück, denn sein aktueller Plan sah vor, das Mädchen mithilfe von Medikamenten aus seinem Kopf zu vertreiben. Die Vorstellung bereitete ihm Unbehagen. Als würde er Verrat an ihr üben, indem er mit einer pharmazeutischen Keule auf den Teil seines Gehirns einschlug, der mit ihr kommunizieren konnte. Ich weiß nicht, wo ich sonst hingehen soll. Dies ist der einzige Ort, an den sie mir nicht folgen können.