Andere Welten - Interviews zur Science Fiction - Band 1 - Usch Kiausch - E-Book

Andere Welten - Interviews zur Science Fiction - Band 1 E-Book

Usch Kiausch

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Beschreibung

Usch Kiausch lernte in ihrer langen Karriere als Journalistin, Autorin und Übersetzerin viele bedeutende Schriftstellerinnen und Schriftsteller sowie Kolleginnen und Kollegen kennen und führte zahllose Interviews. Der erste Band der drei Bände umfassenden Reihe präsentiert vier Essays über bedeutende Autorinnen wie Doris Lessing und Margaret Atwood, zwölf Interviews, Buchrezensionen sowie eine Erzählung von Usch Kiausch. Abgerundet wird der Band durch eine ausführliche Einleitung, in der die Autorin Einblicke in ihre Arbeit gibt, sowie durch ein Vorwort von Thomas Recktenwald. Interviews in Band 1 mit: Doris Lessing, Michaela Roessner, Elisabeth Vonarburg, Connie Willis, Karen Joy Fowler, Ursula K. Le Guin, Sharon Shinn, Octavia E. Butler, Nancy Kress und Charles Sheffield, Pat Cadigan sowie Leigh Kennedy und Christopher Priest.

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Seitenzahl: 283

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Impressum

Usch Kiausch

ANDERE WELTEN – Interviews zur Science Fiction

Band 1: Die weibliche Perspektive

© 2023 by Usch Kiausch (Texte)

© 2023 by Wolfgang Glass [www.wolfgang-glass.de] (Titelbild)

Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

© dieser Ausgabe 2023 by Memoranda Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hardy Kettlitz

Korrektur: Steffi Herrmann

Gestaltung: s.BENeš [http://benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12 | 12053 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-88-5 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-89-2 (E-Book)

Inhalt

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

Einleitung

ESSAYS

Andere Welten – Eine weibliche Perspektive

Ein Plädoyer für die Stiefkinder der »Hochliteratur«

Zum 80. Geburtstag von Doris Lessing

Expedition in die literarischen Universen von Doris Lessing und Margaret Atwood

INTERVIEWS

Ein Gespräch mit Doris Lessing (1989)

Ein Gespräch mit Doris Lessing (1997)

Ein Gespräch mit Michaela Roessner

Ein Gespräch mit Elisabeth Vonarburg

Ein Gespräch mit Connie Willis

Ein Gespräch mit Karen Joy Fowler

Ein Gespräch mit Ursula K. Le Guin

Ein Gespräch mit Sharon Shinn

Ein Gespräch mit Octavia E. Butler

Ein Gespräch mit Nancy Kress und Charles Sheffield

Ein Gespräch mit Pat Cadigan

Ein Gespräch mit Leigh Kennedy and Christopher Priest

REZENSIONEN

Doris Lessing: Die Kluft

Margaret Atwood: Das Jahr der Flut

Miriam Meckel: Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns

ERZÄHLUNG

Eine Zeile von Stevenson

ANHANG

Dank

Quellen

Bücher bei MEMORANDA

Vorwort

von Thomas Recktenwald

Wie einen doch die Erinnerung täuschen kann: Man durchsucht bei der Recherche für dieses Buchprojekt seine Papiertaschen mit – die Älteren unter uns erinnern sich – analogen Fotos und findet heraus, dass man die Person, die man erst im Jahre 2000 getroffen zu haben glaubt, bereits ein Jahr zuvor fotografiert hat. Allerdings hatte das 1999 gestartete und mit einem erheblichen Budget ausgestattete Science-Fiction-Festival »Utopiales« eine große Zahl von Besuchern in den Freizeit- und Wissenschaftspark »Futuroscope« nahe Poitiers gelockt, und Organisator Bruno della Chiesa hatte zwar die deutschsprachige SF als Schwerpunkt gesetzt, aber neben der frankophonen Garde aus Schriftstellern, Künstlern und Comic-Schaffenden waren britische Autoren eingeladen, deren Bücher sich in Frankreich gut verkauften.

An den Frühstückstischen bildeten sich entsprechend Gruppen, also Andreas Eschbach, Marcus Hammerschmitt, Udo Klotz als Treuhänder des Kurd Lasswitz Preises und wir übrigen deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dem einen und Usch Kiausch vermutlich mit Brian W. Aldiss und Christopher Priest an einem anderen. Und so musste ein weiteres Jahr vergehen, bis ich mit Usch tatsächlich ins Gespräch kam, deren Name mir bereits aus vielen von ihr geführten Interviews in Das Science Fiction Jahr des Heyne Verlags bekannt war.

»Futuroscope« , das UFO-ähnliche Kongresszentrum der UTOPIALES

2000 war es mir nach längerer Pause wieder möglich, an der World Science Fiction Convention und den Phantastischen Tagen in Wetzlar teilzunehmen. Ich konnte mich nach den rund 6000 Besuchern in Chicago am Wochenende darauf bei vielleicht 60 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in der Phantastischen Bibliothek erholen. Im Tagungsraum entdeckte ich links neben mir an einem der quergestellten Tische einige Flyer, mit denen für einen Kongress namens »Visionen 2002 – Science meets Fiction« vom 24. bis 26. Oktober in Neustadt an der Weinstraße geworben wurde, das für mich als Saarländer lediglich zwei Zugstunden entfernt lag. Hin- und Rückreise waren also mühelos zu bewerkstelligen.

Ich erwähnte das gegenüber Usch, und sie lud mich spontan zu einem Vorbereitungstreffen der von ihr als Initiatorin und Koordinatorin organisierten Arbeitsgruppe ein. So lernte ich das phantastische Biotop von Neustadt an der Weinstraße kennen. Als ich ein Jahr später einen Arbeitsplatz im Hochschwarzwald nahe dem dortigen Neustadt fand, konnte ich auf einer Heimatfahrt ins Saarland bequem einen Zwischenstopp einlegen oder ein Wochenende bei Usch einplanen, zumal die Bahn damals noch pünktlich fuhr. Lediglich eine Rückfahrkarte Neustadt-Neustadt/Neustadt-Neustadt ließ eine Zugbegleiterin einmal eine halbe Minute lang an mir zweifeln.

Wissenschaft und Kultur im Dialog: »Visionen 2000«

Die Hauptakteure des Symposiums »Visionen«: Lutz Frisch, Neustädter Kulturdezernent, Marcus Hammerschmitt, Tine Duffing, Künstlerin, Ralf Bülow, Usch Kiausch, Veranstaltungsleitung, Angela und Karlheinz Steinmüller, Wolfgang Jeschke, Heinz Moosmann, Moderator SWR, Wolfgang Glass, Künstler

Wenn man in einer Industrieregion aufgewachsen ist, wo die Kultur in Bergmannsvereinen und Kirchenchören stattfindet, und in eine ländliche Region wechselt, deren gesellschaftliches Leben sich zwischen Sportverein und Freiwilliger Feuerwehr abspielt, kommt einem Neustadt an der Weinstraße mit seinem fast schon mediterranen Klima und diversen kulturellen Netzwerken wie ein Paralleluniversum vor. Das vom Kulturamt der Stadt, dem Land Rheinland-Pfalz und einigen Verlagen geförderte Symposium zog zahlreiche Besucherinnen und Besucher an, die zuvor wohl kaum Berührung mit Science Fiction und phantastischer Literatur gehabt hatten. Das Programm war jedoch vielfältig, bot Theater, Film, Performances, Autorenlesungen, wissenschaftliche Vorträge und Podiumsdiskussionen. Im Grunde war für alle etwas dabei, von der Theateraufführung von Michael Frayns anspruchsvollem Stück Kopenhagen bis zur Lesung von Angela und Karlheinz Steinmüller. Über Uschs Lebensgefährten Wolfgang Glass, den langjährigen Vorsitzenden des örtlichen Kunstvereins, geriet ich darüber hinaus später in diverse Ausstellungen, und da ich zeitweise für den Sektausschank sorgte, konnte ich mir die notwendigen Betäubungsmittel gegen die dort eingesetzte Techno-Musik selbst verabreichen.

Zwei Jahre später unterstützte mich Usch dann bei der Organisation und Durchführung des PalatineCon, der Jahresveranstaltung des Science Fiction Club Deutschland. Christopher Priest und seine damalige auch als Autorin tätige Frau Leigh Kennedy waren zusammen mit ihren seinerzeit 14 Jahre alten Zwillingskindern Elisabeth und Simon eingeladen, einige Tage zusätzlich zur Veranstaltung in Neustadt und Umgebung zu verbringen, und Usch besorgte eine Ferienwohnung für die Familie. Chris wollte die Örtlichkeiten wiedersehen, die er 1970 anlässlich der bisher einzigen World Science Fiction Convention in Deutschland in Heidelberg besucht hatte. Seine in einem schwierigen Alter befindlichen Kinder waren aber eher an Achterbahnen interessiert, von denen es zum Glück ausreichend viele im benachbarten Vergnügungspark Haßloch gibt. Dennoch ist aus beiden etwas ›Vernünftiges‹ geworden. Simon programmiert Computerspiele und den Web-Auftritt seines Vaters, während Elizabeth es kürzlich mit ihrem Roman The Empty Orchestra in die Nominierungsliste des British Science Fiction Award geschafft hat.

Usch ist hauptsächlich als freie Kulturjournalistin, literarische Übersetzerin, Lektorin und Autorin in ihrem vom Neustädter Trubel abgeschotteten Zweitwohnsitz Mannheim tätig und hatte jüngst Priests Roman Die Amok-Schleife für Heyne ins Deutsche übertragen. Christopher argumentiert stets, dass zur Schilderung komplexer Sachverhalte nicht noch eine in komplexen Formulierungen schwelgende Sprache eingesetzt werden müsse. Am entgegengesetzten Ende bewegt sich jemand, zu dem mich Uschs Mail 2005 erreichte. Es handelt sich um einen damals aufstrebenden schottischen Autor namens Charles Stross, auf den Heyne aufmerksam geworden war. (Wer Stross schon mal auf einer Convention erlebt hat, weiß, dass es schwierig ist, nicht auf ihn aufmerksam zu werden.) Da ich mit den Textstellen ohne Umfeld wenig anfangen konnte, bat ich leichtsinnigerweise Usch, mir das komplette Originalmanuskript zu senden, und so verbrachte ich schon mal eine halbe Stunde damit, für ein Wort, das laut Google nur in einem White Paper von IBM vorkommt, eine adäquate deutsche Übersetzung zu finden.

Wer schon einmal im Umfeld von SAP programmiert hat, weiß, dass jene Art von Recherche eine im Vergleich zur neologistischen Terminologie des Charles Stross, etwa in dem Roman Accelerando, eine eher leichte Übung ist. Allerdings musste ich Usch nur ab und zu eine Ungenauigkeit korrigieren oder einen besseren Begriff vorschlagen, und für andere naturwissenschaftlich-technische Probleme in den zu übersetzenden Texten kann sie auf weitere Unterstützer aus ihrem Bekanntenkreis zugreifen. Ich muss aber Uschs Engelsgeduld bewundern, mit der sie als Lektorin manch abgehobene inländische Seele betreute. Dass ich am Rande einiges vom Auf und Ab im hiesigen Verlagswesen mitbekam, dem man im freiberuflichen Umfeld ausgesetzt ist, ließ sich nicht vermeiden.

Ich freue mich darüber, dass Usch die Möglichkeit erhielt, bei Memoranda die Vielfältigkeit ihres bisherigen Schaffens im Bereich der Science Fiction zu präsentieren, seien es ihre eigenen Werke, ihre Begegnung mit Persönlichkeiten des Genres, von denen viele leider nicht mehr unter uns weilen, oder ihren Blick auf die Welt (oder eher Welten). Ich möchte mich an dieser Stelle auch bei Wolfgang Glass bedanken, der Usch in jeder Hinsicht unterstützt, und bei Hardy Kettlitz, der durch seine Bücher mit dazu beiträgt, dass die Arbeit von SF-Schaffenden nicht der Vergessenheit anheimfällt oder überhaupt erst einem größeren Kreis zugänglich gemacht wird.

Thomas Recktenwald

Lenzkirch, 10. Januar 2023

Einleitung

von Usch Kiausch

Alles begann mit einer Notlüge. Das fiktive Probeinterview mit dem ARD-Studioleiter in der Rolle eines eitlen Schauspielers war ganz gut gelaufen. »Und wie steht’s mit Ihren technischen Kenntnissen?«, fragte er. »Sie müssen selbst schneiden.«

»Das schaff ich schon«, behauptete ich dreist, denn den Job als freie Mitarbeiterin wollte ich unbedingt haben. Im Rahmen meines Zeitschriftenvolontariats hatte mich mein Verlag für ein Rundfunkpraktikum großzügig ausgeliehen.

Schon am nächsten Vormittag schickte der Studioleiter mich mit dem unförmigen Aufnahmegerät der 1980er-Jahre für das Mittagsmagazin zu einem Interview mit einem örtlichen Umweltaktivisten los. Da stand ich nun, zurück im Studio, unter Zeitdruck und mit einer viel zu langen Aufnahme, hatte keine Ahnung vom Schneiden des Bandes und bekam Herzflattern. Es erbarmten sich zwei Schutzengel in Gestalt junger Reporter, die mich kurzerhand zu einem zehnminütigen Grundkurs im Schneiden ins Kellergeschoss mitnahmen und meine vielen ›Ähs‹ beseitigten.

Allerdings hatten sie beim Schneiden versehentlich auch Namen und Beruf des Umweltaktivisten gelöscht. Also krochen wir zu dritt auf dem Fußboden herum, um die fehlenden Zentimeter des braunen Tapes wiederzufinden und einzufügen, was gerade noch rechtzeitig für das Mittagsmagazin klappte. So schweißtreibend für alle Beteiligten war mein Einstig in die Rundfunkarbeit als Folge meiner Notlüge.

Später wurde alles leichter: nicht nur das neue Aufnahmegerät, das ich mir von den ersten Honoraren anschaffte, sondern auch die Studioproduktion mit ausgebildeten Technikern. Und im Laufe der Zeit bot man mir eine eigene Nische für Buchrezensionen an, und ich konnte mich auf Beiträge zur Science Fiction, Phantastik und Horror-Literatur spezialisieren.

Unverhofft erhielt ich eine Einladung von meiner seit Jahrzehnten in den USA lebenden Schwester samt Flugticket zur Konferenz der International Association for the Fantastic in the Arts (IAFA) nach Fort Lauderdale – ihr Dankeschön für einige Korrekturen ihrer Artikel, die sie als Germanistik-Professorin auf Deutsch an der Oakland University Michigan veröffentlicht hatte. Ehrengast würde bei der IAFA-Konferenz 1989 Doris Lessing sein.

Ankunft mit meiner Schwester Barbara Mabee bei unserer ersten IAFA-Konferenz in Ft. Lauderdale

Das Interview mit Doris Lessing – eine Mutprobe

Damals hatte ich alle bis dahin veröffentlichten Bücher von Doris Lessing verschlungen. Wie wunderbar, womöglich ein Interview mit ihr durchführen zu können. Meine Euphorie verwandelte sich jedoch schnell in Frust, denn zu IAFA-Konferenzen wurden in der Regel keine Journalisten zugelassen – mit Ausnahme des LOCUS-Herausgebers Charlie Brown. Als Erstes fragte mich Doris Lessing, ob ich jemals für die Springer-Presse gearbeitet hätte, die sie verabscheue. Nein, hatte ich nicht. Als Nächstes holte sie Auskünfte über mich bei der Kongressleitung ein: Es lagen keine negativen Erkenntnisse über mich vor. Schließlich erklärte sie sich zu einem sehr kurzen Interview bereit. Egal, zumindest hatte ich jetzt einige Aussagen von ihr ›im Kasten‹, und damit einen Einstieg für spätere Beiträge im ARD-Sender. So begann meine mehrjährige Rezensionstätigkeit. Man bewilligte mir ein kleines Budget für das Engagement von Schauspielern als Sprecher, und ich produzierte mit Hilfe der Technik eigene musikalische ›Zuspielbänder‹, die den Inhalt der Rezensionen entweder kommentierten oder kontrastierten. Die Idee dabei war, statt langatmiger Texte Mini-Hörspiele zu schaffen.

Die zufällige Begegnung mit Wolfgang Jeschke – ein Glücksfall

Ich bereitete gerade einen Beitrag zu J. G. Ballards Werk Kristallwelt vor, mit der synkopischen Musik »Der Geist aus der Kälte« aus Henry Purcells Semi-Oper König Arthur, als die Studiotür aufging und ein sehr sympathischer Herr eintrat. »Was für eine wunderbare Musik«, sagte er und stellte sich als Wolfgang Jeschke vor. Im benachbarten Studio produzierte er zusammen mit Christian Brückner das Hörspiel Midas oder die Auferstehung des Fleisches – eine Adaption seines gleichnamigen Romans. Später folgte ein gemeinsames Mittagessen mit ihm und Christian Brückner. Und daraus ergab sich nicht nur das Angebot, beim SCIENCE FICTION JAHR des Heyne Verlags mitzuarbeiten, sondern auch eine langjährige Freundschaft. Die Tätigkeit für den Heyne Verlag öffnete mir später auch alle Tore bei den Konferenzen der IAFA, nicht nur für viele Interviews mit Autorinnen und Autoren, sondern auch für deutsche Übersetzungen der Vorträge und eigene Beiträge bei Podiumsdiskussionen.

Begegnung mit Brian Aldiss, dem ständigen Ehrengast der IAFA-Konferenzen

Die Konferenzen der IAFA – eine Entdeckung anderer Welten

Die IAFA, 1982 gegründet, veranstaltet weit mehr als nur Arbeitskonferenzen für Literaturwissenschaftler. Hier begegnen sich auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit Verlegerinnen und Verlegern von Science Fiction, Phantastik und Horror-Literatur, bildenden Künstlerinnen und Künstlern, Filmproduzenten und Musikern. Neben Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Preisverleihungen umfasste das Programm zu Zeiten meiner Teilnahme auch Ausstellungen, Film-Previews, Lesungen, Theater-Improvisationen und ein großes Abschiedsfest. Nicht zu vergessen die Pool-Partys im Hotelgarten. Für mich war es wie eine Offenbarung, dieses Wunderland kreativer Menschen zu entdecken.

Fast als erstes Mitglied der IAFA lernte ich 1989 den Großmeister Brian Aldiss kennen, den ständigen Ehrengast der Organisation. Denn Brian hatte die liebenswürdige Angewohnheit, ihm noch unbekannte Damen an ihrem Tisch zu begrüßen und in einem kleinen Walzer fröhlich herumzuschwenken (was manche sehr befremdlich fanden).

Manche Erlebnisse waren unfreiwillig komisch, etwa die mitternächtliche, überaus langatmige Lesung eines bekannten amerikanischen Fantasy-Autors, bei der nur der Schriftsteller wach blieb, während ringsum alles laut schnarchte.

Etwas sonderbar war auch ein abendlicher Auftritt von ›Cyberpunk‹ Bruce Sterling, bei dem er in einer Art Publikumsbeschimpfung die anwesenden männlichen und weiblichen Literaturwissenschaftler scharf, aber recht substanzlos als Literaturkiller kritisierte, was zu heftigen Streitgesprächen führte. Der damalige Jungstar war irgendwann zu einem Interview mit mir am Swimmingpool des Hotels bereit, das sich zu einer Begegnung der seltsamen Art entwickelte, denn er hatte keine Lust, auf irgendwelche Fragen zu antworten. Ich sah, dass er eine große Tasche dabei hatte, also bat ich ihn, mir den Inhalt zu zeigen. Nun packte er tatsächlich aus, nämlich jede Menge japanische Comics und blasphemische Sticker. Das genügte mir als Stoff für ein äußerst lakonisches Gespräch.

Sehr viel amüsanter und interessanter waren später die abendlichen Thekengespräche am ›Europäischen Stammtisch‹ im Hotel, zu dem sich regelmäßig Brian Aldiss, Robert Holdstock, Tom Shippey, der Wahl-Brite Peter Straub, meine Schwester und ich einfanden. »You make a happy man feel old!«, kommentierte Brian Aldiss, wenn er sich manchmal frühzeitig zum Schlafen zurückzog.

Da die Getränke im Hotel unglaublich teuer waren und meine Schwester und ich uns ein Apartment mit großem Kühlschrank am Pool mit Terrasse teilten, kam Robert Holdstock und mir eine preiswert umzusetzende Idee. Kurzerhand nahmen wir ein Taxi zur nächsten Shopping Mall und deckten uns mit zahlreichen Flaschen Chardonnay ein. Alsbald wurden wir zu Gastgebern einer eigenen, für alle kostenlosen ›Happy Hour‹ am Spätnachmittag, bei der viele längere Interviews mit zahlreichen Autorinnen und Autoren entstanden, darunter auch Ursula K. Le Guin, die 1993 Ehrengast der Konferenz war.

Doris Lessing – und die Liebe zu kandierten Orangen

Ganz anders als die erste schwierige Begegnung mit Doris Lessing in Ft. Lauderdale verlief mein Wiedersehen mit ihr 1997 in Heidelberg. Dort fand die Welturaufführung der Philip-Glass-Oper Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf aus dem Zyklus CANOPUS IN ARGOS statt, für die Doris Lessing das Libretto geschrieben hatte. Sie hatte im Theaterfoyer mehrere Pressetermine, auch ich war dort später mit ihr verabredet. Eine sehr verärgerte Doris Lessing stürmte aus dem Pressezimmer heraus, zusammen mit einer Journalistin, die sich mit hochrotem Kopf von der Autorin verabschiedete. Lessing hatte ihr schlichtweg das Interview verweigert, nachdem sie erfahren hatte, dass die Dame keines ihrer CANOPUS-Bücher kannte.

Beim Kaffee richtete ich Doris Lessing Grüße von Brian Aldiss und Greg Bear aus, mit denen ich damals viel korrespondiert hatte, und das brach das Eis sofort. Es stellte sich heraus, dass sie nicht nur engen Kontakt mit Brian hatte, sondern Greg Bear zu ihren liebsten SF-Autoren zählte.

Ich schlug ihr zur Entspannung einen kurzen Spaziergang durch Heidelbergs Innenstadt vor, wo sie entzückt vor einem wunderbaren alten Kaffee- und Teehaus stehen blieb Als wir eintraten, ging sie zielstrebig zur Theke und jubelte geradezu. »Solche kandierten Orangen habe ich seit meiner Kindheit nie mehr gesehen«, sagte sie. »Damals war das meine liebste Süßigkeit.« Wir aßen die Orangen zum Tee, und danach besorgte ich ein paar Beutel davon für ihre Rückreise nach England.

Zum Dank lud sie mich zur abendlichen Generalprobe der Oper ins Heidelberger Theater ein, wo ich die Ehre hatte, neben Philip Glass zu sitzen. Besonders rührte mich ihre Nervosität und die Tatsache, dass sie als Kontrast zu ihrer stets madonnenhaften dunklen Kleidung zu diesem Anlass knallrote Lackschuhe trug. Sie gab mir ihre private Adresse in England, ich schickte ihr später ein Weihnachtspäckchen – natürlich mit kandierten Orangen – und erhielt eine herzliche Antwort.

Utopiales – Panik in Poitiers

So wunderbar die Teilnahme an dem Kongress auch war, so abenteuerlich war die Reise dorthin. Denn von Strasbourg aus flogen wir mit einem Kleinflugzug bis zu einem winzigen Flughafen auf den Hügeln Poitiers, wo alle anderen Passagiere ausstiegen und auch abgeholt wurden, alle bis auf mich. Es war verabredet, dass ein Fahrer vom weit entfernten Kongresshotel kommen und mich dort rechtzeitig abliefern würde. Es kam niemand, wurde bereits dunkel und der Mann am Ankunftsschalter wollte endlich das Gebäude abschließen. Ein Mobiltelefon hatte ich damals noch nicht. Schließlich erbarmte der Mann sich der jämmerlichen Gestalt, die draußen in der Kälte zitterte, ließ mich wieder ein und von seinem Apparat aus das Hotel anrufen. Mit meinem schlechten Französisch und besserem Englisch verlangte ich die Hotelrezeption zu sprechen und erfuhr von einer ratlosen Empfangsdame, ein Kongress sei in Poitiers nicht geplant, schon gar nicht mit Zimmern in ihrem Hotel. Zum Glück fiel mir der Name von einem der Organisatoren ein, und nach langwierigem Hin und Her kam er tatsächlich zur Rezeption und an den Apparat. Ich schimpfte mit allen Vokabeln, die mir einfielen, erntete dafür eine knappe Entschuldigung, ein lautes Lachen und eine überflüssige Bemerkung: »Ich weiß, wer Sie sind. An Ihrer Stimme habe ich sofort erkannt, dass Sie blond sind.« Solche Zeiten waren das damals noch …

Wolfgang Jeschke und Brian Aldiss bei der UTOPIALES

Brian Aldiss – und ein Streit mit dem Geist aus der Zukunft

Vor allem Wolfgang Jeschke und Brian Aldiss hatte ich Einladungen zu mehreren Kongressen und Festivals als Teil der deutschen Delegation zu verdanken: zur Utopiales 1999 in Poitiers und deren Fortsetzung 2001 in Nantes, zum Oxford Literaturfestival 2001 und zum Literaturkongress Kosmopolis 2002 in Barcelona. Damals flossen noch beträchtliche EU-Mittel in europäische Kulturprojekte.

In Poitiers fragte mich Brian Aldiss, ob ich Lust hätte, mit ihm eine szenische Lesung des von ihm verfassten Zwei-Personen-Stücks Kindred Blood in Kensington Gore zu improvisieren. Der Einakter ist eine Hommage an Philip K. Dick, bei der eine Erscheinung aus der Zukunft den Schriftsteller mit seinen menschlichen Schwächen konfrontiert. Ich hatte ziemliches Lampenfieber dabei, mittels weniger Requisiten in höchst unterschiedliche Rollen zu schlüpfen: in die des Vaters, der Geliebten Dicks sowie in die des Geistes aus der Zukunft. Inzwischen besser geübt, gastierten wir mit dem Stück im Dezember 2002 auf dem Kongress Kosmopolis in Barcelona.

Wobei die abendliche Aufführung im Kongresszentrum Barcelona im wahrsten Sinne des Wortes fast geplatzt wäre. Während mir ein Bühnentechniker noch in die allzu enge Silberfolien-Kleidung des Geistes half, die ich unter dem langen schwarzen Theaterkostüm trug, stand Brian bereits, einen Monolog improvisierend, im Scheinwerferlicht und wartete gereizt auf seine Dialogpartnerin. Mit echter Wut im Leib schlängelte ich mich bäuchlings im langen schwarzen Kleid – auf dem dunklen Bühnenboden unsichtbar für Brian und das Publikum – vorwärts und schnellte so abrupt vor Brian hoch, dass er fürchterlich erschrak, was gut zur Szene passte. Die Zuschauer hatten nichts von der Panne bemerkt, also begannen wir mit dem Streitgespräch von Dick mit seinem Quälgeist aus der Zukunft, das sehr realistisch ausfiel.

Aufbruch zum Weißen Mars – eine komplizierte Mission

1998 begann ich mit der Übersetzung des von Brian Aldiss und und Roger Penrose verfassten Gemeinschaftswerks Weißer Mars. Eine Utopie des 21. Jahrhunderts. Telefonisch erzählte mir Brian Aldiss die Vorgeschichte des Projekts. Bei einem Treffen hatte Roger Penrose ihm mitgeteilt, schon lange sei es sein großer Wunsch, selbst einmal einen Science-Fiction-Roman zu schreiben. Der Ausgangspunkt für dieses Vorhaben war Brians nächtlicher Traum von einer Mars-Besiedelung mit utopischen Aspekten, den er am Morgen notierte.

Mehr als zwei Jahre arbeiteten Aldiss und der Physiker Penrose an den Texten, tauschten Kapitel miteinander aus, korrigierten und ergänzten sie.

Diese Arbeitsweise hatte ihre Tücken: Häufig überlappten sich ihre Texte. Teilweise widersprach sich dabei auch der Inhalt der nicht gründlich aufeinander abgestimmten Kapitel. Für den Schluss des Buches gab es sehr unterschiedliche Versionen. Außerdem baute Roger Penrose eine ganze Physik-Vorlesung in das Buch ein, die redigiert und gestrafft werden musste, um die Leserschaft nicht zu überfordern. Beide Autoren schickten ständig Korrekturen.

Über Übermittlungen via E-Mail verfügten sie beide noch nicht. Alle Sendungen erfolgten per Fax, was die Übersetzung und die unerlässliche redaktionelle Arbeit erheblich erschwerte. Tag für Tag schlich ich argwöhnisch in mein Arbeitszimmer, um die neu angekommenen vielen Meter Fax-Texte mit ganz neuen Einschüben und Korrekturen zu sichten, die sich zuweilen als Riesenschlangen über den Fußboden meines Büros wanden. Natürlich machte mir diese Arbeit auch Spaß, aber nie zuvor hatte ich ein ebenso anspruchsvolles wie kompliziertes Projekt betreut. Auf dieselbe umständliche Art wie Brian Aldiss und Roger Penrose schickte ich meine Vorschläge dann per Fax zurück an die Autoren und bat sie, die Zusammenarbeit doch ein bisschen besser zu koordinieren.

Doch am Ende dachte ich nicht mehr an die ›Mühen der Ebenen‹, denn beide Autoren überraschten mich mit einem wunderbaren Dankeschön: Sie schickten mir ein Ticket für den Hin- und Rückflug nach London (wo Brian mich abholte) und eine Einladung zur Premierenparty der deutschen Buchausgabe in Brians Haus nahe bei Oxford, an der Roger Penrose mit seiner Frau und andere Ehrengäste teilnahmen.

Die lustigste IAFA-Konferenz – der Kongress tanzt

Die Abschlussfeier der Tagungen verlief meistens sehr formell, mit sehr vielen Reden, sehr vielen Danksagungen und recht steifen Tischrunden mit Platzkarten, gestaffelt nach Ruhm und Ehre der Anwesenden.

Anders 2003: Eine wunderbare irische Band riss die Gäste so von den Sitzen, dass der Master of Ceremony, Literaturwissenschaftler Donald Morse, schließlich zum Tanzen aufforderte. Als niemand den Anfang machen wollte, tauchte er plötzlich an unserem Tisch auf, zog mich vom Stuhl, marschierte zum Podium und zerrte mit mir den widerstrebenden Brian Aldiss auf die Tanzfläche. Und dort begann Donald sofort herumzuhüpfen. Auf diese Weise begann ein schneller irischer Reel – ein Kreistanz, den bald darauf verschiedene Gruppen im ganzen Saal mitmachten. Strahlend und fast bis zur völligen Erschöpfung.

Sir Brian Aldiss – ein unvergesslicher Besuch

Durch unsere häufige Zusammenarbeit bei szenischen Lesungen und Brians Buchprojekten entwickelte sich ein freundschaftlicher Briefwechsel, in dem wir sehr unterschiedliche Themen miteinander austauschten. Nicht zuletzt solche der Literatur und der EU-Politik, denn Brian Aldiss, durch und durch ein Humanist, engagierte sich auch auf diesem Gebiet. Beispielsweise war er der erste englische Autor, der die über Salman Rushdie verhängte Fatwa in einer Sendung der BBC aufs Schärfste öffentlich verurteilte. Andere angesprochene Autoren hatten sich laut Brian aus Angst vor Racheaktionen von Islamisten nicht ins Studio getraut. Sicherheitshalber wurde er durch einen Hinterausgang des Studios nach draußen geleitet, wie er schrieb.

Nach zahlreichen Telefonaten beschloss Brian, im Rahmen einer Deutschlandreise auch die Provinz kennenzulernen, was bedeutete, dass er auf Stippvisite nach Neustadt an der Weinstraße reiste und mich dort besuchte. Zu einem Abend in der benachbarten Weinstube hatte ich auch einige Science-Fiction-Fans aus dem Freundeskreis eingeladen. Sir Brian Aldiss, mittlerweile für sein Lebenswerk von der englischen Queen geadelt, war bestens gelaunt und lief an diesem Abend zur Hochform auf. Mit seinen damals mehr als 80 Jahren gelang es ihm, uns alle unter Absingen dreister englischer Pub-Lieder ständig zum Lachen zu bringen und mehr oder weniger unter den Tisch zu trinken. Und trotz der späten Stunde und zahlreichen Gläsern Riesling schaffte er es noch, einen Eintrag ins Gästebuch des kleinen Restaurants zu schreiben, welcher lautete:

Many serious questions were raised in the bar

this evening.

No answers were found.

Many flagons of wine were drunk

this evening.

None of them were refused.

Many friends were gathered here

this evening.

None oft them were thrown out.

What an evening we had!

Love to all – Brian

Love to all – so habe ich Brian in Erinnerung. Er fehlt.

Wie auch andere wunderbare Menschen, mit denen ich im Laufe der Jahre Freundschaft schloss, darunter Robert Holdstock, Charly Brown, David Hartwell, Peter Straub, Ursula K. Le Guin und Doris Lessing, die so große Lücken hinterlassen haben.

Usch Kiausch

Neustadt an der Weinstraße

9. Dezember 2022

ESSAYS

Andere Welten – Eine weibliche Perspektive

Bis in die 1960er-Jahre des 20. Jahrhunderts ist die offiziell registrierte und rezensierte Science Fiction weitgehend ein »Boys Club«, in dem die Jungs unter sich bleiben oder auch bleiben wollen. Die Handlungsträger sind in der Realität wie in der Fiktion in der Regel Männer. Wenn Frauen in den Romanen vorkommen, dann als sanfte Zierde, treue Hüterinnen von Kindern, Küche und Kirche, platinblonde Opfer und rabenschwarze Vamps, manchmal auch als grässlich humorlose Wissenschaftlerinnen. Diese stereotypen, oft auch sexistischen Frauenbilder sind insbesondere für eine literarische Gattung, die sich dem Wandel verschrieben hat, ein ziemliches Paradoxon. Dabei hat es sie durchaus gegeben, die Frauen, die vor und nach Mary Shelley ihre gesellschaftlichen Visionen zu Papier gebracht haben, oft unter männlichem Pseudonym.

Mit dem Wiederaufleben oder Neubeginn der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren werden die Frauen auch in der männlichen Domäne Science Fiction sichtbar und hörbar aktiv. Es sind die Frauen, die das einleiten, was man als Paradigmenwechsel in der Science Fiction bezeichnen kann. An die Stelle von Technikfaszination treten die Fragen: Wohin führen uns neue Technologien? Welchen sozialen Wandel werden sie bewirken? Welche Art von Sexualität, familiärer und sozialer Organisation wird das mit sich bringen? Und nicht zuletzt: Wie werden wir mit dem Unterschied zwischen Arm und Reich umgehen? Wie werden wir mit der Erde und den natürlichen Ressourcen umgehen? Kurz gesagt tritt an die Stelle technikverliebter Szenarien ein Boom sozio-ökologischer Utopien.

An erster Stelle ist hier Ursula K. Le Guin mit ihrem bahnbrechenden Roman The Left Hand of Darkness (1969; dt. Winterplanet bzw. Die linke Hand der Dunkelheit) zu nennen – ihrer eigenen Aussage nach ein Gedankenexperiment der Androgynität: Was passiert mit einer Gesellschaft, in der die Trennung zwischen den Geschlechtern aufgehoben ist? 1988 schreibt sie in einem Nachtrag dazu: »Wenn Männer und Frauen in ihren sozialen Rollen völlig gleichgestellt wären, ebenso in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, im Grad der Freiheit, Verantwortlichkeit und im Selbstwertgefühl, dann sehe diese Gesellschaft völlig anders aus.«

Ähnliche Gedankenexperimente mit der Beseitigung, Veränderung oder Umkehrung von Geschlechterrollen liegen in dieser Zeit sozusagen in der Luft. Die spätere Nobelpreisträgerin Doris Lessing widmet einen ganzen Band (The Marriages Between Zones Three, Four, and Five, 1980; dt. Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf) ihres Romanzyklus CANOPUS IN ARGOS der Frage, wie Yin und Yang, weibliches und männliches Prinzip, so zusammenzubringen sind, dass eine höhere Stufe der menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklung erreicht werden kann.

Marge Piercy schafft 1976 mit ihrem Roman Woman on the Edge of Time (dt. Frau am Abgrund der Zeit) die Vision eines Gemeinwesens, das basisdemokratisch, antizentralistisch und nach ökologischen Prinzipien organisiert ist. Spezifische Geschlechterrollen sind darin aufgehoben.

Octavia Butler thematisiert in Parable of the Sower (1993; dt. Die Parabel vom Sämann), deren Schauplatz in einer USA der nahen Zukunft angesiedelt ist, eine Vision ökologischer Katastrophen und sozialen Zerfalls. Allerdings setzt sie diesem Szenario eine Hoffnungsträgerin entgegen: die junge schwarze Lauren Olamina, die eine Bewegung des sozialen Aufbruchs schafft.

In Anbetracht der rasanten wirtschaftlichen Globalisierung mit all ihren Folgen, der ständig gewachsenen weltweiten Kluft zwischen Arm und Reich, der Kriege und Krisen in so vielen Ländern ist es dringender denn je, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass auch andere Weltmodelle vorstellbar und projektierbar sind. Um es in der Sprache der Werbung auszudrücken: Gedankenexperimente waren noch nie so wichtig wie heute. »Das nimmt kein Ende, was eine lebende Welt von dir fordert«, schrieb die weise, 2006 verstorbene SF-Autorin Octavia Butler in ihrem fiktiven Traktat Erdensaat: Die Bücher der Lebenden.

Ein Plädoyer für die Stiefkinder der »Hochliteratur«

Stephen Kings Bücher haben weltweit Spitzenauflagen. Aber bekennende Stephen-King-Leserinnen und -Leser kann man mit der Lupe suchen. Wer gibt schon zu, vom Horror fasziniert zu sein? Im Unterschied zu King gilt Doris Lessing als »seriöse« Schriftstellerin. So denn die realistische Erzählerin gemeint ist. Ihre literarische Weltraum-Expedition nach CANOPUS IM ARGOS haben ihr die Kritiker nie verziehen. Wer die »höheren Sphären« der Science Fiction ansteuert, der begibt sich nach Meinung vieler Literaturwissenschaftler zwangsläufig in die Niederungen der Trivialliteratur. Und die gehört, bitteschön, allenfalls in Nachttischschubladen – aber nicht in Feuilletons oder sonstige öffentliche Einrichtungen mit geistesbildendem Anspruch, die Universitäten eingeschlossen. Kein Wunder also, dass eine der interessantesten Strömungen in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur hierzulande nur als Rinnsal einige Insider erreicht: »Cyberpunk« wird bei uns eher für eine elektronisch aufgeladene Richtung der Rockmusik gehalten. Ist sie aber nicht – wenngleich diese Art phantastischer Literatur viele Anleihen bei der Pop-Kultur gemacht hat.

Diese Aschenbrödel der Hochliteratur können lange warten, bis KritikerInnen ihnen den passenden Schuh verpassen und beim richtigen Namen nennen. Wer jemals versucht hat, gegenwärtig eine literarische Wertung Stephen Kings an den (Zeitungs-)Mann zu bringen, weiß, wovon er spricht. »Den Horror-Mist lesen Sie auch noch?!« ist schon eine der dezenteren Reaktionen. Da hilft auch kein Hinweis, dass eben dieser Stephen King an vielen amerikanischen Universitäten zur Pflichtlektüre angehender Literaturwissenschaftler gehört. Dass über ihn Doktorarbeiten geschrieben werden. Dass er als Ehrengast mit seiner Rede 300 Akademiker auf einem Kongress über phantastische Literatur in Florida begeisterte.

Alljährlich ist Fort Lauderdale in Florida Treffpunkt all jener Literaten und Literaturwissenschaftler, die vorzugsweise Expeditionen ins Wunderland der Alice und anderer fiktiver Prominenz unternehmen. Ausgestattet zumeist mit akademischen Titeln und profunder Kenntnis der phantastischen Kartografie, von H. P. Lovecrafts Traumland »Kadath« bis zu den Mars-Regionen eines Ray Bradbury. 1989 stand der Kongress der Internationalen Vereinigung für Phantastik ganz im Zeichen des Ehrengastes Doris Lessing, hierzulande damals mit ihrem Roman Das fünfte Kind seit Monaten auf den Bestsellerlisten. Allen Kritikern, die hörbar aufatmeten, dass sie mit diesem Roman auf die Erde zurückgefunden hat – ins London der 1960er-Jahre – schlägt sie ein literarisches Schnippchen. Das fünfte Kind ist, obwohl realistisch erzählt, phantastische Literatur.

»Die Ausgangsfrage«, so Doris Lessing in einem Interview, »ist dabei: Was passiert, wenn in unsere hochzivilisierte Gesellschaft ein Wesen platzt, das sozusagen von einer anderen Stufe der Entwicklungsgeschichte stammt, aus der vor-menschlichen Zeit.« Ben, das »fünfte Kind«, zerstört die Bilderbuchfamilie Lovatt. Er lässt sich nicht lieben, und er lässt sich nicht erziehen. Ben sieht unsere Gesellschaft anders, als wir sie je sehen können. Der distanzierte Blick ist typisch für Doris Lessing. Wenn die seltsame Spezies Mensch überleben will, dann muss sie aufhören, sich für den Nabel der Welt und des Universums zu halten – dieser Gedanke durchzieht als roter Faden alles, was sie schreibt. Egal, ob sie sich mit dem Dogmatismus religiöser Fanatiker auseinandersetzt, oder mit dem Herrschaftsanspruch der weißen »Zivilisation«. Egal, ob in realistischer Erzählweise oder in Form phantastischer Szenarien. »Ich glaube nicht«, sagt sie, »dass die eine Form besser ist als die andere. Aber die phantastische Literatur ist tatsächlich die Haupttradition der Menschheit. Früher war ›Literatur‹ ja das Erzählen von Geschichten, von Mythen und Märchen. Aber die realistische Tradition hat bei manchen Menschen die Vorstellungskraft begrenzt, sodass sie Metaphern und Mythen einfach nicht mehr verstehen. Sie können damit nicht umgehen.«

Voller Mythen, Märchen und Motive aus dem Alten Testament steckt ihr Roman Shikasta. Darin entwirft sie ein äußerst pessimistisches Szenario für den Planeten Erde. Ein Dritter Weltkrieg vernichtet die Menschheit bis auf wenige Überlebende. Gerade die »universale« Sicht ermöglicht ihr, die Geschichte der Menschheit distanziert zu erzählen. Aggressionen, Eroberungen, Unterdrückungen erscheinen dem Leser dabei so absurd wie dem Abgesandten eines fremden Planeten. Kein »Rückzug« also ins Phantastische, sondern der Versuch, die Hypotheken der Vergangenheit und die Konsequenzen unseres Handelns für kommende Generationen gleichzeitig im Blick zu behalten.

Wenn Sie mir bis hierhin gefolgt sind, sagen Sie jetzt vielleicht: in Ordnung. Die Lessing hat ein ehrenwertes Anliegen (ein Ausdruck übrigens, den sie verabscheut). Auch wenn sie dafür merkwürdige Verpackungen findet. Aber für die Horror-Literatur gilt das ganz bestimmt nicht. Warum so grässliche Sachen erfinden, wo es so viel echten Schrecken auf der Welt gibt?! Und ich antworte mit Stephen King: Schrecken wird erfunden, »um mit dem tatsächlich Existenten besser fertig zu werden. Mit der unerschöpflichen Erfindungsgabe der Menschheit erfassen wir die Elemente, die so trennend und zerstörerisch sind, und versuchen, sie zu Werkzeugen zu machen – damit sie sich selbst auseinandernehmen.« Die Griechen haben diesen Vorgang im Drama Katharsis genannt, Läuterung. In Umkehrung eines Rilke-Zitates könnte man auch sagen: »Das Schöne ist das mögliche Ende des Schrecklichen.«

In Stephen Kings Romanen erlebt der Leser/die Leserin »diesen verzauberten Augenblick der Reintegration und Sicherheit, dasselbe Gefühl, das sich einstellt, wenn die Achterbahn zum Stillstand kommt und man mit seinem Mädchen aussteigt und beide unversehrt sind.« Eine Flucht also ins Karussell der Beliebigkeit? Keineswegs. Kings Horror – ob in Es oder Shining – steigt nicht aus vermoderten Grüften, sondern aus der Wirklichkeit der Hamburger-Buden und Autokinos, der Supermärkte und Einfamilienhäuser – aus all dem, was man Organisation des Lebens nennt. Leser und Leserinnen aller Länder können sich in seinen Romanen zu Hause fühlen, weil jeder diese alltäglichen Schrecken kennt. Kehrseite des Kingschen Horrors sind Phantasie, Tapferkeit und Vertrauen der Kinder. Weil sie wissen, dass der »Schwarze Mann« wirklich existiert, können sie ihn auch bekämpfen. In diesem Sinne sind seine Romane voller rückwärtsgewandter Utopien. Nostalgie, Sehnsucht nach dem Kindheitsland der unbegrenzten Möglichkeiten, ist der rote Faden seiner Geschichten. Guten Horror, sagt King in seinem Sachbuch Danse Macabre, erkennt man daran, dass er den Menschen das Zwangskostüm des Erwachsenen vom Leib reißt: »Wie Fahrten im Vergnügungspark den gewaltsamen Tod nachahmen, sind Horrorgeschichten eine Chance nachzudenken, was hinter den Türen vorgeht, die wir sonst mit Sicherheitsschlössern verhängen …«

Zur gleichen Generation wie Stephen King gehört die amerikanische Cyberpunk-Gruppe: Autorinnen und Autoren um die 40, beeinflusst von der 68er-Bewegung, der Pop-Kultur der 1970er-Jahre und den Erfahrungen des Vietnam-Kriegs. Auch sie verfremden aktuelle Entwicklungen der amerikanischen Gesellschaft – allerdings nicht mit Horror-Szenarien, sondern mit wissenschaftlich fundiertem »Spintisieren«. Soll heißen: Autoren wie Bruce Sterling und William Gibson beherrschen das elektronische Spiel mit der Zukunft.

Die Wortschöpfung CYBERPUNK