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Die in der südbretonischen Gemeinde Penmarc’h tätige freiberufliche Krankenschwester Cathy lebt mit einer stetigen Angst, die ihr bisheriges Leben geprägt hat. Die unfassbare Tragödie, die sich vor Jahren zugetragen hat, hinterließ unauslöschliche Spuren und erstickte in ihr den sprühenden Funken Lebenskraft, der das Leben lebenswert macht. Angekündigt durch einen Brief, taucht diese Vergangenheit plötzlich wieder auf und löst rund um die Krankenschwester eine ganze Reihe beängstigender Ereignisse aus. Wer ist dieser Unbekannte, der sich seit dem Herbst in Penmarc’h herumtreibt? Dann geschieht ein Mord und Cathys Leben gerät plötzlich aus den Fugen. Hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wird sie es schaffen, den Überblick zu behalten und zu erkennen, wo die Gefahr tatsächlich lauert?
ÜBER DIE AUTORIN
Die hauptberufliche Berufsberaterin
Martine Le Pensec ist 1954 in Cherbourg in der Normandie geboren und lebt im südfranzösischen Toulon. Die Mutter von vier Töchtern schöpft ihre Inspiration zum einen aus den westfranzösischen Landschaften, die ihr aufgrund ihrer bretonischen und normannischen Wurzeln bestens bekannt sind, und zum anderen aus dem medizinischen Bereich, in dem sie zwölf Jahre lang arbeitete.
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martine Le Pensec ist Autorin von21 Kriminalromanen in französischer Sprache.
Originaltitel: Angoisse sur Penmarc’h
Der vorliegende Roman dient einzig dem Zweck der Unterhaltung. Sämtliche Ereignisse, sowie die Aussagen, Gefühle und das Verhalten der Protagonisten sind frei erfunden. Sie stehen in keinerlei Bezug zur Realität und wurden lediglich für die Romanhandlung erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen oder real existierenden Ereignissen wäre reiner Zufall.
«Die Angst, grauenhaft und despotisch,rammt ihre schwarze Flagge in meinen gebeugten Schädel.»
Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen) – LXII SpleenCharles Baudelaire
Der zweistimmig klingende Signalton des Krankenwagens hallte merkwürdig in ihrem Kopf.
Objektivieren… objektivieren… objektivieren…
Der Begriff drehte sich in ihrem Geist endlos weiter.
Er dröhnte in den Ohren, schwoll an, nahm ab und stieg wieder an.
Der neben ihr stehende Feuerwehrmann schwitzte unter der Anstrengung. Ein glänzender Schweißtropfen rollte ihm über die Stirn und verlor sich in seinen Augenbrauen. Ganz auf den Weg des herabrollenden Tropfens fixiert, nahm sie wahr, wie dieser sich bei jeder Straßenunebenheit ruckartig vorwärtsbewegte.
Plötzlich spürte sie, wie sie rasch fortschreitend von einer unbekannten Kälte erfasst wurde. Löste sich ihr Geist vom Körper? Konnte es sein, dass es sich so anfühlte? Oder war es vielleicht andersherum und der Körper löste sich vom Geist?
Der Mann beugte sich über sie und sprach mit ihr, aber seine Worte erreichten sie nur noch durch einen dichten Nebel.
Es war wie eine Wolke, sie befand sich mitten in einer Wolke.
Das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter.
Das Nebelhorn ertönte und rief die Schiffe zurück in den Hafen.
Während der Rettungssanitäter tat, was er konnte und das Blutdruckmessgerät aufpumpte, rief er dem Fahrer zu:
«Schneller… Sie wird sonst… nicht durchkommen… sieben… sechs… Ich… verliere sie!»
Ein roter Schleier legte sich über Cathy. Dann wurde alles schwarz.
«Nephtys breitet ihren Schleier aus…», war ihr letzter Gedanke, bevor sie bewusstlos wurde. Genau in diesem Moment fuhr der Krankenwagen in den Hof des Krankenhauses ein.
Der Wind wirbelte Cathys Haare auf und eine Strähne fiel ihr vor die Augen. Während sie nach ihren Autoschlüsseln suchte, warf sie die Haare zurück. Sie hatte gerade Monsieur Ganets Verband erneuert und der Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Die Haut des achtundachtzigjährigen ehemaligen Seemanns sah aus wie Pergament und fühlte sich an wie altes Leder. Er murrte noch immer vor sich hin, aber Cathy wusste, dass sie seine Lieblingskrankenschwester war.
Als sie das Haus verließ, atmete sie tief ein und spürte, dass die warmen Tage nun endgültig vergangen waren. Die Luft in dem kleinen Hafen an der Atlantikküste kühlte im Oktober zusehends ab und ein schneidender Wind fegte trockene Blätter durch die Straßen.
Seit Schulbeginn waren die Touristen nach und nach wieder verschwunden und der Ort Penmarc’h ähnelte erneut einem friedlichen Marktflecken.
Die einsetzende Flut ließ die Boote im Hafen im Rhythmus der immer stärker auflaufenden Wellen auf und ab tanzen. Als Cathy über den Kai ging und Alan erblickte, der gerade seine Netze inspizierte, verlangsamte sie ihren Schritt. Alan Pasquier nutzte die Gelegenheit und kam auf sie zu. Der große, blonde Mann ging auf die Vierzig zu und hatte eine vom Meer gegerbte Haut. Ein Lächeln breitete sich auf seinem ernsten Gesicht aus.
«Feierabend?»
Die junge Frau nickte.
«Guter Fang heute?»
«Es geht so. Warte, ich habe was für dich.»
Flink sprang er auf den Trawler, verschwand in der Kajüte und tauchte kurz darauf mit einer Plastiktüte in der Hand wieder auf.
«Hier, der ist ganz frisch», sagte er und hielt ihr die Tüte hin. «Am besten kochst du ihn gleich, wenn du nach Hause kommst.»
In der Tüte zappelte ein großer Taschenkrebs.
«Danke, Alan… Das wäre doch nicht nötig gewesen…»
Ein wenig verwirrt wechselte Cathy rasch das Thema.
«Heute ist es richtig frisch geworden, nicht wahr? Ich muss jetzt los, es war ein anstrengender Tag. Bis später. Nochmals, vielen Dank!»
In ihrem Rückspiegel sah Cathy, wie der Fischer ihrem wegfahrenden Wagen nachblickte.
Es war kein Geheimnis, dass Alan eine Schwäche für sie hatte. Er war attraktiv, aber Cathys Liebesleben lag schon seit langem auf Eis.
Rasch durchquerte Cathy die kleine Stadt. Die weißen Fischerhäuser mit den blauen Fensterläden verliehen dem Ort ein echtes Flair. Dadurch sah alles so sauber und rein aus, fand sie. Der Bus vor ihr fuhr langsamer und hielt an einer Haltestelle. Er belegte die Hälfte der Straßenseite und Cathy musste sich gedulden, da ihr auf der gegenüberliegenden Fahrbahn andere Fahrzeuge entgegenkamen. Zwei ältere Damen stiegen aus, gefolgt von einem Fremden mit Rucksack.
Der Bus setzte sich wieder in Bewegung und fuhr weiter zur nächsten Ortschaft. Der Mann mit Rucksack ging an Cathys Wagen vorbei. Seine grauen Augen fielen ihr auf, sie waren so hell, dass sie zu leuchten schienen. Der Mann sah zwar aus wie ein ganz normaler Rucksacktourist, hatte aber eine selten starke Ausstrahlung.
«Seltsam, die Sommerzeit ist doch eigentlich vorbei», dachte Cathy, als sie losfuhr. Sie wohnte in dem leicht abseits gelegenen Leuchtturmviertel, das man vom Ort aus rasch über eine kurvige Straße erreichte. Sie führte an der zerklüfteten Küste mit scharf ausgezackten Riffen entlang. Cathy wohnte zwischen zwei schönen Sandstränden, dem Plage du Steir und dem Plage de la Joie. In der Sommersaison wurden die Strände von den begeisterten Touristen mit Beschlag belegt, doch im Herbst und Winter waren sie menschenleer.
Cathys kleines Haus stand einsam am Wasser und blickte friedlich auf das Meer hinaus. Von weitem sah es aus wie ein Puppenhaus.
Der Himmel hatte sich innerhalb weniger Minuten verdunkelt und der Wind blies dunkle Wolken heran, die einen Regenschauer ankündigten. Ein paar dicke Tropfen waren schon auf die Windschutzscheibe geklatscht, bevor Cathy ihr Auto in dem Unterstand unterhalb des kleinen Steinhauses abstellte. Während sie den Weg zum Hauseingang hinauflief, zerriss ein erster Blitz den orangefarbenen Abendhimmel. Cathy stellte ihre Taschen auf dem Tisch ab und hörte, wie durch einen Windstoß die Tür ins Schloss fiel. Die Luft roch nach Salz, nach Jod und Ozon. Ein Fensterladen schlug heftig zu.
Cathy beeilte sich, ihn wieder zu festzuhaken, während ihr bereits Regenböen ins Gesicht peitschten.
Mit losgelösten Haaren zog sie sich etwas Bequemeres an und verstaute danach ihren Krankenpflegekoffer neben der Tür. Das Handy hatte sie schon herausgenommen. Sie stellte einen Topf mit Salzwasser auf die Herdplatte, um den Taschenkrebs zu kochen und räumte ein wenig auf. Cathy ließ ihren Blick in dem kleinen Haus umherschweifen. Sie fühlte sich dort so wohl, wie es nicht besser hätte sein können. Trotz seiner geringen Größe vermittelte das behagliche kleine Steinhaus einen Eindruck von Stärke.
Der Eingang führte direkt in den Wohnbereich, den einzigen Raum des Hauses. Auf der linken Seite befanden sich in einer Nische eine Küchenzeile mit Spüle, Elektroherd, einer Kühl-Gefrierkombination und einer Waschmaschine. Über den Elektrogeräten waren drei Küchenschränke aus Eichenholz angebracht. Davor standen ein runder Tisch aus dunklem Holz und drei Stühle.
In der Mitte des Raumes befand sich ein Sofa, genau gegenüber der beiden Zwillingsfenster. Von hier aus konnte man das niemals endende Schauspiel des Ozeans auf sich wirken lassen. Hinter der Spüle befand sich ein winziger Waschraum, der aus einer Duschkabine und einem perlgrauen Waschbecken bestand und durch eine ausklappbare Paravent-Tür vom Rest des Raumes abgetrennt war. Dem Sofa gegenüber thronte ein wenig versetzt der Fernseher auf einem Eckschrank. Auf einem schlichten Tisch zwischen den beiden Fenstern stand ein Computer. Hier erledigte Cathy ihre Buchhaltung oder surfte im Internet.
Die stirnseitigen Wände waren beide fensterlos. An der rechten Wand stand eine alte Anrichte. Ein weiteres Möbelstück in der Nähe der Eingangstür diente als Schreibtisch. Links vom Eingang gleich bei der Küche stand ein Godin -Holzofen, der eine wohlige Wärme verbreitete, wenn es kalt war.
Wenn man den Blick hob, fielen die Seiten- und Deckenbalken auf. Sie machten den Raum richtig gemütlich. Die Deckenhöhe fiel beträchtlicher aus als erwartet. In einer Ecke befand sich ein Zwischengeschoss aus Holz, erreichbar über eine Treppe. Es war mit einem einfachen Geländer eingefasst und hatte einen dicken Holzboden. Im Stehen konnte man sich dort jedoch nicht bewegen. Eine Matratze mit einer bequemen Bettdecke diente als Schlafplatz und bedeckte fast die gesamte Fläche. Das Bullauge über der Eingangstür warf ein spärliches Licht darauf.
Darunter verschwand, rechtwinkelig zu der zum Meer hin gelegenen Fassade, eine Treppe im Boden. Trotz der schweren Holztür am unteren Ende der Treppe verströmte das Loch im Boden kühle Feuchtigkeit.
Die Treppe führte in den Keller und machte das Häuschen zu einer echten Kuriosität. Gleich hinter der schweren Holztür war eine kleine Toilette eingebaut worden. Der Rest des Raumes wurde fast vollständig von einem Boot eingenommen, das zwischen zwei zementierten Kai-Enden festgetaut war. Verschlossen war das Untergeschoss durch eine breite Schuppentür. Durch eine ausreichend große untere Lücke konnte die Flut eindringen und den Raum so hoch mit Wasser anfüllen, bis das Boot leicht wieder flott gemacht werden konnte. Der Keller war sozusagen ein ins Haus integriertes Mini-Bootshaus. Der Vorbesitzer zu seiner Zeit konnte so mit dem Boot direkt in sein Haus hinein und wieder hinausfahren. An den Wänden hingen Fischernetze und zwei Rettungswesten. Überreste aus vergangenen Zeiten…
Seit Cathy das Häuschen von ihrem kinderlosen Großonkel geerbt hatte, war sie nur selten mit dem Boot aufs Meer hinausgefahren.
Der Großonkel war der jüngere Bruder ihrer Großmutter mütterlicherseits gewesen. Als Junggeselle hatte er die Wiege seiner Familie etwas weiter nördlich in der Bretagne verlassen, um sich in diesem kleinen Fischerhafen niederzulassen.
Einige Ersparnisse und sein Erbanteil nach dem Tod der Eltern hatten es ihm ermöglicht, das kleine Steinhaus zu erwerben. Er hatte jedoch nie geheiratet und das Haus den größten Teil seines Lebens allein bewohnt. Die einzige Verwandte war seine Schwester gewesen, denn die drei jüngeren Brüder hatten das Erwachsenenalter nie erreicht. Und seine einzige Großnichte war Cathy.
Cathys Mutter war an Schwindsucht, wie man die Krankheit früher bezeichnete, gestorben. Nur wenig später war ihr Vater auf See verschollen. Schiffbruch, Seenot… Es war ein Schicksal, das schon viele Fischer ereilt hatte. Das übermächtige Meer forderte nicht selten seinen Tribut ein.
Die Familie väterlicherseits hatte Cathy kaum kennengelernt. In dieser rauen Gegend, in der auch die Menschen eine starke, manchmal starrköpfige Mentalität entwickelt hatten, kam es nicht selten zu Konflikten und zu endgültigen Trennungen. Cathys Großmutter hatte sie mit der richtigen Mischung aus Strenge und Liebe erzogen. «Das härtet ab», pflegte ihre Großmutter zu sagen, «das Leben ist kein Zuckerschlecken.» Ihre Liebe war unerschütterlich und so solide wie das Granitland zwischen der Pointe du Raz und Audierne, in dem sie aufgewachsen war.
Die junge Frau legte die Krabbe zum Abkühlen auf einen Teller, und damit war die Mahlzeit für den nächsten Tag zubereitet. Heute Abend würden eine Scheibe Landschinken und ein paar Salatblätter ausreichen.
Cathys Haus war zwar kaum größer als 40 Quadratmeter einschließlich Zwischengeschoss, doch der Vorteil einer geringen Wohnfläche war eindeutig: Der Haushalt nahm wenig Zeit in Anspruch. Freiliegende Steine zierten die Innenwände. Von ihrem Großonkel hatte Cathy einige hübsche Netze behalten. Sie verschönten die Wände, und dazwischen hingen einige alte Bilder, vor allem Meeresansichten. Auf einem der Bilder erkannte man das kleine Haus auf seinem Hügel, umtost von Wind und Wetter. Cathy war es vor zwei Jahren bei einem Trödler in die Hände gefallen, der im Sommer auf dem Markt einen Stand hatte.
Das Haus war zwar einfach möbliert, aber das Wichtigste war da. Ein paar Möbelstücke ihres Onkels hatte Cathy selbst restauriert: die Anrichte, den Tisch und die Stühle. Einige Sanitär- und Elektro-Umbauarbeiten hatten für den nötigen Komfort gesorgt. Es fehlte lediglich eine Zentralheizung, aber der Holz- und Kohleofen erfüllte seinen Zweck meisterhaft. Es war ohnehin nie wirklich kalt in der Bretagne. Die Toilette im Keller hatte der alte Mann selbst eingebaut, ebenso das Zwischengeschoss. Nur der Keller hatte gründlich gereinigt werden müssen, denn er hatte als Abstellplatz für die Fischereiausrüstung gedient.
Cathy fühlte sich in ihrem Haus so wohl wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Durch die Lage abseits des Ortskerns hatte sie freien Blick auf das Schauspiel der Gezeiten und konnte beobachten, wie sich die Seevögel vom Wind tragen ließen. Das musikalische Ambiente lieferte das beinahe fortwährende Pfeifen des Windes in den Schieferplatten des Daches.
Cathy gab sich mit diesem zurückgezogenen Leben zufrieden, obwohl sie noch jung war. Sie war neununddreißig Jahre alt und hatte in ihrem bisherigen Leben schon eine Menge durchmachen müssen. Die Erinnerungen waren so schwer zu ertragen, dass sich ihre ruhebedürftige Seele nach Befreiung sehnte und häufig in einsamer Selbstvergessenheit den Elementen hingab.
Am liebsten hätte Cathy sich darin aufgelöst.
Voll und ganz in einer grauen Welle aufgehen und mit ihr verschmelzen.
Zwischen Himmel und Meer zerfließen…
Trotzdem schaffte sie es, ein Alltagsleben zu führen. Es war da, greifbar, jeden Tag.
Sie hatte sich damals entschieden: Sie würde nicht in den Tod gehen… Zumindest nicht ganz.
Sie lebte weiter… Ein Teil von ihr lebte…
Tagsüber freiberufliche Krankenschwester, und sonst eine losgelöste, körperlose Hülle.
Niemand wusste es. Cathy schien immer ausgeglichen zu sein. Ihre Freundlichkeit machte sie sympathisch. Sie hatte die Gabe, Unausgesprochenes aufzuspüren, eine Schwachstelle, schmerzhafte Erlebnisse… Cathy hatte einen sechsten Sinn.
Aber sie war innerlich zerbrochen. Schon seit langem.
Sie war zugleich da und nicht da, ein Teil von ihr leblos, tot. Und doch kam irgendwoher Lebensenergie: Cathy sprach, aß, arbeitete… Es fühlte sich an wie zwei verschiedene Ebenen, zwei Lebensräume, die nichts miteinander zu tun hatten und nebeneinander abliefen.
Damals, es war schon vierzehn Jahre her, hatte Cathy ein nach außen hin normales Leben geführt. Ein Familienleben mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn. Wenn sie vor ihrem inneren Auge Loïcs braune Locken vor sich sah, schnürte es ihr das Herz zu.
Sie hatte sich verliebt, hatte geheiratet und war Mutter geworden. Es war ihr bewusst, dass sie eine Zeit lang glücklich gewesen sein musste, doch an diese Momente konnte sie sich nicht mehr erinnern. Ihre Seele hatte alle Glücksmomente ausgeblendet. Alle Familienbilder waren weit weg, unerreichbar und leblos wie Sepia-Aufnahmen. Der Tag, an dem das Glück sie verlassen hatte, trennte sie davon. Sie hätte nicht einmal genau sagen können, ab wann das Glück sich von ihr abgewandt hatte. Die Liebe war erloschen wie eine flackernde Kerze, die irgendwann ausging. War es der Falsche gewesen? Hatten sie doch nicht zueinander gepasst? Oder hatte der Alltag die Liebe abgestumpft?
Cathys Ehemann war immer das Familienoberhaupt gewesen, und sie hatte sich untergeordnet. Sie war die Ehefrau und Mutter, sonst nichts. Hin und wieder gab es ein Kompliment für ein gut gelungenes Essen oder die schöne Einrichtung, aber an wichtigen Entscheidungen durfte Cathy sich nicht beteiligen. Andere hätten ihren Mann als Macho bezeichnet. Doch Cathy hatte nicht einmal gewusst, was das bedeutete. Sie hatte zu jung geheiratet und war mit zwanzig Jahren Mutter geworden.
Die Zeit verging. Als die Liebe zu ihrem Mann zerfiel, hatte Cathy angefangen, sich eigene Ziele zu setzen.
«Wenn Loïc in die Schule kommt, gehe ich arbeiten.»
Sie hatte ihr Studium wieder aufgenommen und wollte ihrem Leben einen neuen Sinn geben. Zu diesem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, wie hoch der Preis sein würde. Cathys Mann ertrug ihre Eigenständigkeit nicht. Eine Frau hatte sich unterzuordnen. Eine Frau hatte nicht auf eigenen Füßen zu stehen. Die Trennung war der einzige Ausweg. Brice verlor die Orientierung. Cathy war nicht mehr die Frau, die er geheiratet und nach seinen Vorstellungen geformt hatte, sie gehorchte nicht mehr. Nach ihrem Abschluss als Krankenschwester zog sie aus und nahm Loïc mit. Jedes zweite Wochenende holte ihn der Vater ab.
Cathys Mann hatte schon immer einen schwierigen Charakter gehabt, doch nun war er verbittert. Alles drehte sich um ihn. Er war gescheitert. Die Welt, die er sich aufgebaut hatte, existierte nicht mehr. Das konnte er nicht hinnehmen.
Zwei Monate nach der Trennung, an einem sonnendurchfluteten Sonntag im Juli, war Cathys Leben zum Stillstand gekommen. Es hatte einfach aufgehört. Nachmittags hatte in ihrer kleinen Wohnung das Telefon geklingelt. Ihr Mann rief an.
«Komm her und hol deinen Sohn ab», waren seine einzigen Worte.
So wortkarg war er sonst nicht. Es war ungewöhnlich. Es war ausgemacht, dass Brice das Kind kurz vor dem Abendbrot zurückbringen würde. Cathy spürte augenblicklich, wie sich ein schwarzer Schatten über ihr Leben legte. Mit einer dunklen Vorahnung sprang sie in den Wagen und legte die paar Kilometer zu dem großen Haus am See auf schnellstem Wege zurück. Früher war es ihr gemeinsames Haus gewesen.
Cathy klingelte. Niemand antwortete, doch die Eingangstür war nicht verschlossen. Sie trat ein. Die Terrassentür stand offen und durch den Luftzug flatterten die Vorhänge gespenstisch im Wind. Auch im Garten war niemand. Cathy fiel auf, dass das Boot, das sonst an der zementierten Bootsrampe festgezurrt war, nicht an seinem Platz lag.
Auf einmal sah sie ihn, im Boot, mitten auf dem See. Er hatte auf sie gewartet und starrte sie an. Es war unerträglich. Cathy hatte laut aufgeschrien, so sicher war sie, dass sich etwas Schreckliches ereignen würde. Dann ruderte er weiter, bis zur tiefsten Stelle, und erhob sich schwerfällig zu voller Größe.
In seinen Armen hielt er das schlafende Kind. Langsam, sehr langsam, hatte er Loïc hochgehoben, so dass Cathy ihn sehen konnte. Dann warf er ihn mit einer entschlossenen Bewegung in die Höhe. Cathy hatte gesehen, wie der Körper ihres Sohnes Richtung Sonne flog, einen Kreisbogen beschrieb und in das schwarze Seewasser eintauchte. Loïcs Körper war wie ein Stein im Wasser versunken. Das war der Moment, an dem Cathy sich selbst verlor. Der Schmerz entriss ihr einen Teil ihrer Seele, und dieser Teil schied aus dem Leben, zusammen mit ihrem Sohn.
Brice hatte sich im Boot auf den Boden geworfen und war liegen geblieben. Die Gendarmen kamen und verhafteten ihn mitten auf dem Wasser. Er hatte nicht versucht zu fliehen oder sich das Leben zu nehmen. Ob ihm das überhaupt durch den Kopf gegangen war, wusste Cathy nicht.
Der See war sehr tief. Der unebene Seeboden war dunkel und voller Schlamm und Geäst. Loïc war vier Jahre alt geworden und wurde nie gefunden.
Das alles war vierzehn Jahre her. Cathy hätte sich das Leben nehmen können. Sie hatte oft daran gedacht, aber ihr Temperament, so solide wie der bretonische Granit, hatte sie jedes Mal davon abgehalten. Sie kehrte in die Bretagne zurück, zu ihrer Großmutter, und arbeitete als freiberufliche Krankenschwester. Sie wurde wieder Cathy Marc’h.
Sie hatte alles überlebt – den Tod ihres Sohnes, den Prozess gegen Brice und seinen Hass, der an Wahnsinn grenzte. Aber ihre Gefühle waren dabei versandet, verstummt, abgestorben. Manchmal spürte sie den Hauch einer Emotion, eines Gefühlsausbruchs, aber diese Regungen zogen vorbei wie die Wolken am Himmel, weit weg und losgelöst. Cathy hatte keine Tränen mehr. Ihr kleiner Sohn war nur noch eine Marionette, die sich im Film ihrer Erinnerungen wie in Zeitlupe bewegte. Die Glücksmomente, es musste sie wohl gegeben haben, waren unter dem tiefen Schmerz begraben. Nichts anderes als ein grauer Schleier über ihrem Leben und ein Fotoalbum waren übriggeblieben. Die Bilder von Loïc bewahrte Cathy in einem Schrank auf.
Sie brauchte nicht viel, um zu überleben. Sie hatte nicht versucht, einen anderen Mann kennenzulernen. Dazu war sie gar nicht imstande. Sie hatte einfach weitergemacht. Der Schatten der schwarzen Wolken verdunkelte den
Strand. Mit der Stirn an die vom Regen besprenkelte Fensterscheibe gelehnt, schaute Cathy den grauen Wellen zu, die auf das Haus zufluteten. In zwei Stunden wäre Höchststand. Die Gezeiten bewegten sich in einer verlässlichen Pendelbewegung ewig auf und ab. Auf beiden Seiten der Landspitze schienen die Felsen Wache zu halten. Eine zum Schutz vor Windböen gebeugte Gestalt bewegte sich am Ufer entlang, durch den stark wehenden Wind offenbar am Gehen behindert. Von weitem sah sie aus wie der Fremde aus dem Bus, den Cathy am früheren Abend hatte vorbeigehen sehen.
«Das ist nicht gerade das beste Wetter für einen Spaziergang am Meer», dachte sie und schloss die schweren Holzfensterläden des kleinen Hauses.
Dieses Wochenende hatte Cathy frei. Caroline, freiberufliche Krankenschwester und Praxisteilhaberin, würde Cathys Pflegefälle übernehmen, bei denen ein täglicher Besuch notwendig war. Die Arbeit als freiberufliche Krankenschwester nahm den Großteil von Cathys Zeit in Anspruch und es war in Ordnung so. Es war ihr lieber als ein Beruf, der ihr zu viele unausgefüllte Stunden beschert hätte. Was hätte sie mit der freien Zeit angefangen?
Cathy hatte sich selbst zum Leben verdammt, und sie wusste nicht einmal genau, weshalb. Vielleicht war es eine Art Strafe. Es musste einen Grund für den Tod des kleinen Loïcs geben. Cathy hatte sich selbst zu lebenslanger Haft verurteilt: Das eigene Kind war ihr entrissen worden und sie hatte überlebt. Bestrafte sie sich nun dafür, dass die Liebe zu Loïcs Vater irgendwann versiegte? War sie schuld am Tod des eigenen Kindes? Zwischen Schwarz und Weiß tat sich eine ganze Palette von Grauschattierungen auf. War sie leichtsinnig gewesen? Hatte ihr Sohn ihren persönlichen Wunsch nach Freiheit mit dem Leben bezahlt? Sie hatte sich doch nur lebendiger fühlen wollen.
Brice war zu achtzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Die Geschworenen hatten den durch die Scheidung ausgelösten Schock trotz der unauslöschlichen, furchtbaren Tat als eine Art mildernde Umstände empfunden. Cathy schauderte und zog die Zipfel ihrer grauen Jacke enger um sich, als sie an die Umstände dieses gemeinen Verbrechens dachte.
Brice hatte seine Tat geplant, davon war sie überzeugt. Er hatte ein Hypnotikum gekauft und den kleinen Jungen in den Schlaf versetzt. Dann hatte er sie angerufen und so lange im Boot gewartet, bis sie eintraf. Bestimmt hatte er seinen Sieg schon im Voraus ausgekostet.
Bis wohin konnte man Brice für seine Tat verantwortlich machen? Wo begann der Wahnsinn?
Beim Prozess hatte Cathy schwer gelitten. Der Schmerz hatte bis in die Haarspitzen von ihr Besitz ergriffen. Der Mann, der niedergeschmettert auf seiner Anklagebank saß, hatte nichts mehr mit dem Mann gemeinsam, in den sie sich einst verliebt hatte. Wenn Cathy es schaffte, seinen Blick zu erhaschen, funkelten seine von unterschwelligem Hass erfüllten Augen sie triumphierend an. Es waren verstohlene, sekundenschnelle Blicke, aber Cathy bekam sie jedes Mal mit voller Wucht zu spüren. «Damit musst du nun leben!», schien Brice ihr sagen zu wollen, «du bist schuld daran! Denk daran, jede Minute deines Lebens! Du dachtest wohl, du hättest die Nase vorn, aber nun drücke ich dich an die Wand!»
Der Anwalt stützte sich bei seinem Plädoyer hauptsächlich auf den Schmerz, den Brice durch die Trennung erlitten hatte. Er hatte sich als exzellenter Verteidiger erwiesen und ein ehrenhaftes Porträt von Brice gezeichnet. Seine Verteidigungsrede rührte ans Herz. Die Blicke der Anwesenden und der Jury zu Cathy hinüber wogen so schwer wie Blei. Das Wort „schuldig “ war nicht einmal offen ausgesprochen, sondern nur angedeutet worden… Vielleicht war Brice doch nicht der einzige Schuldige in dieser Angelegenheit, und sie, Cathy, musste gezwungenermaßen die Teilschuld an diesem Mord tragen.
Ihr Ex-Mann war der lebenslangen Haftstrafe, die Kindermördern droht, entkommen. Achtzehn Jahre Freiheitsstrafe. Mit Strafnachlass käme er wohl mit… rund fünfzehn Jahren davon.
Ein erneuter Schauer überlief sie. Brice würde also eines Tages aus dem Gefängnis entlassen werden und einfach weiterleben, als sei nichts geschehen, während Loïc schon seit Jahren in einem Sarg aus Wasser und Schlamm begraben war. Cathy hatte nie wieder einen Fuß in diese Region gesetzt. Die Schwiegerfamilie hatte ihr den Rücken gekehrt und sich demonstrativ für Brice eingesetzt.
Nur Cathys Schwägerin Emma hatte sie diskret unterstützt, um den Kummer ihrer Eltern nicht unnötig weiterzuschüren. Als Brice einige Jahre später in ein anderes Gefängnis verlegt worden war, hatte Emma Cathy darüber in Kenntnis gesetzt. Cathy hatte Brice nie einen Besuch im Gefängnis abgestattet. Sie hatte sieben Jahre mit ihm zusammengelebt und war einigermaßen davon überzeugt, dass die Ursache für diese schreckliche Tragödie Brice’ überdimensioniertes Ego war. Sie machte sich Vorwürfe. Warum nur hatte sie nicht vorhergesehen, was danach passieren würde? Wenn sie nur geahnt hätte, wie er auf die Trennung reagieren würde, hätte sie sich nicht einfach so scheiden lassen. Sie wäre bei ihm geblieben, bis Loïc erwachsen gewesen wäre. Ach, wenn nur…
Am Ende des Prozesses hatte Brice zwar ein paar reuevolle Sätze von sich gegeben, doch Cathy wusste, dass der Anwalt ihn dazu angehalten hatte. Eine echte und tiefe Reue hatte sie bei ihm nicht wahrgenommen. Brice war in seinem Turm aus Hass eingemauert, und Cathy war ihm entwischt. Auf immer und ewig würde er an einem gerechtfertigten Verbrechen festhalten. Selbst während des Prozesses hatte er sie kein einziges Mal direkt angesprochen. Er hatte seinen Verteidiger für sich sprechen lassen. Kein Wort der Erklärung, kein Brief hatte sie erreicht. Es war ein Amoklauf gewesen, und Brice hatte sich darüber ausgeschwiegen. Aber detailliertere Ausführungen hätten Cathys Schmerz ohnehin nicht gelindert. Für sie war Brice ein verabscheuenswürdiger Mensch, von dem sie nie wieder etwas hören wollte.
Cathy lag im Sand an einer windgeschützten Stelle. Vielleicht würde es langsam Zeit, aufzustehen und zurückzugehen… Sie kam oft an diesen Platz, zu jeder Jahreszeit. Hier konnte sie ungestört ihren Gedanken nachhängen. Immer wieder verließ Cathy die Wirklichkeit, um ganz in die Vergangenheit einzutauchen. Schon der nächste Tag erschien ihr fremd… Cathy hatte keine Zukunft mehr. Nur eine Vergangenheit und eine Gegenwart. Die Augen auf den Himmel gerichtet und umgeben von Sand und Wasser, verfolgte sie regelmäßig den Lauf der Wolken. Eine kleine dicke Wolke begann, sich in einen Elefanten zu verwandeln, aber schon wurde der Rüssel länger und länger, brach schließlich ab und entpuppte sich als Giraffe… Manchmal erkannte Cathy auch Loïcs Silhouette und blickte der Erscheinung so intensiv nach, bis ihre Augen gar nichts mehr wahrnahmen oder er in dem sich stetig bewegenden Wolkenhimmel verschwand. Ihr kleiner Sternenjunge… Heute wäre er ein junger Mann. Wie eine Litanei vernahm Cathy innerlich seine kindlichen Worte. Wenn es am Abend heftig regnete, nahm Loïc ihre Hand und sagte mit ernster Miene: «Maman , schau mal! Die Sterne weinen!»
Über den von den Gezeiten verdichteten Sand flossen kleine Bäche und bildeten ein Netzwerk. Das Wasser zog sich zurück, legte einige Felsen frei und spielte mit den Algen, die sich im Wasser bewegten wie lange Haare.
Bei Springtiden fischte Cathy mit einem Kescher Garnelen aus den mit Seetang gefüllten Gezeitentümpeln rund um die Felsen. Der Regen vom Vortag hatte in der Nacht aufgehört. Ein kalter Wind blies unter dem trügerischen Himmel auflösender Wolken. Ein Stück weiter unten brachen sich silberne Wellen am nassen Sand. Cathy begegnete einem Einheimischen, der gerade den Fang des Tages nach Hause brachte. Sie begrüßten sich schweigend. Cathy schätzte die Diskretion der Menschen, die es gewohnt waren, im Rhythmus des Ozeans zu leben. Sie konnte weiterhin ungestört ihren Gedanken nachhängen. Für Cathys inneres Gefängnis gab es keinen Straferlass. Wer oder was sollte diese Gitterstäbe jemals fortreißen können?