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Bushido ist ein Mythos. Ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil der deutschen Popkultur. Er erschuf die Blaupause für modernen Gangstarap und hält sich seit über 20 Jahren an der Spitze des Genres. Bushido wird geliebt und gehasst, bewundert und gefürchtet. Aber das Leben des Anis Mohammed Ferchichi, das Leben des Mannes hinter der Kunstfigur bleibt für viele noch immer ein Mysterium. In seiner Autobiographie erzählt Ferchichi nun seine ungeschönte Geschichte – losgelöst von der Kunstfigur, die er bis zuletzt für viele Menschen noch immer verkörperte. Ferchichi erzählt schonungslos offen, wie er werden konnte, was er heute ist, berichtet von seinen Ängsten und Fehlern, die ihn zu einem Menschen haben werden lassen, den er selbst verabscheute. Und die ihn in ein Leben trieben, das bis heute von Bedrohung, Hass und Polizeischutz geprägt ist.
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Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2022
Anis
MIT DENNIS SAND
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Originalausgabe
1. Auflage 2023
© 2023 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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80799 München
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Redaktion: Sabine Franke
Umschlaggestaltung: ADOPEKID, www.adopekid.com
Umschlagabbildung: Sergen Isici
Satz: Carsten Klein, Torgau
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-96775-055-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96775-056-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96775-057-7
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Prolog
Teil 1
I
II
III
IV
Zwischenspiel
V
Zwischenspiel
VI
VII
VIII
Epilog
Teil 2
IX
Montagabend, ein Dezembertag im Jahr 2014
In den dunkelsten Stunden unseres Lebens, da ist es meistens nur die Hoffnung, die uns noch am Leben hält. Die Hoffnung, dass das Leben, das wir in Zukunft einmal leben werden, besser sein wird als die Gegenwart, die uns heute noch zu Boden drückt. Doch in diesen Tagen war mir nicht einmal mehr die Hoffnung geblieben. Da war kein Licht am Ende des Tunnels. Da war einfach nichts. Gar nichts. Nur tiefe Dunkelheit. Und eine Leere, die sich weiter und weiter in mir auszubreiten schien.
Die Sonne war schon untergegangen, als ich meinen Wagen durch Neukölln lenkte. Es war spät geworden. Ich war müde. Müde. Erschöpft. Und innerlich völlig leer. Die letzten drei Tage waren die vielleicht schlimmsten drei Tage meines ganzen Lebens gewesen. Drei Tage, in denen ich alles verloren hatte, was für mich jemals irgendwie von Bedeutung gewesen war. Und dennoch ahnte ich, dass es heute Abend noch einmal besonders schlimm werden würde. Ich parkte meinen Wagen vor einem kleinen Haus in einer Seitenstraße, stellte den Motor ab und blieb noch ein paar Sekunden hinter dem Lenkrad sitzen. Atmete einmal tief ein und aus. Half ja alles nichts. Ich musste da jetzt durch. Ich musste da jetzt rein. Musste meinem Vater in die Augen schauen und ihm diese ganze beschissene Sache irgendwie erklären. Er hatte ein Recht darauf. Außerdem wollte ich, dass er die Wahrheit von mir hört. Und nicht bloß alles aus der Presse erfährt. So wie sonst. Weil er sich die ganze Scheiße ja auch immer durchlesen musste.
Ich stieg aus meinem Wagen und ging auf das kleine Haus zu. Ganz langsam. Ich wollte ein wenig Zeit schinden. Draußen war es in den letzten Tagen kalt geworden. Der Winter war angebrochen. Die Bäume hatten ihre Blätter schon verloren. Wie große, dunkle Skelette standen sie hier in der Nacht. Ein kühler Wind zog auf. Ich zitterte, als ich mich dem Haus näherte. Ayech, mein Vater, war hier erst vor einigen Monaten eingezogen. Nachdem meine Mutter gestorben war, hatte ich ihn nach Berlin geholt. Ich wollte, dass die Familie zusammenbleibt. Dass er sieht, wie meine Kinder aufwachsen. Die ersten Wochen hatte er bei uns gewohnt, aber irgendwann nahm er mich beiseite und sagte mir, dass er sich etwas Eigenes wünscht. Mein Vater war nicht sonderlich anspruchsvoll. Er wollte nur eine kleine Wohnung haben. Eine Kammer hätte ihm wohl auch gereicht. Sein einziger Wunsch war, dass sie in der Nähe einer Moschee liegen sollte.
Ich ging auf die Haustür zu und klingelte.
»Ja?«, hörte ich seine Stimme durch die Gegensprechanlage.
»Ich bin’s. Anis.« Es dauerte ein paar Sekunden, bis es summte und die Tür aufsprang. Ich war unruhig. Mein Herz pochte. Ich spürte, wie sich alles in mir gegen diese Situation sträubte. Aber es gab kein Zurück mehr. Ich betrat den Hausflur und sah meinen Vater im Erdgeschoss schon an der Tür stehen.
»Guten Abend, mein Sohn. Komm doch rein.« Ich lächelte ihn an, zog meine Schuhe aus und ging an ihm vorbei. Es war eine schöne Wohnung. Ziemlich einmalig für Neukölln. Es gab sogar einen kleinen Garten. Ein echter Glückstreffer. Und ich hatte sie mit meinen eigenen Händen renoviert. Ich ging durch den langen Flur in das großzügig geschnittene Wohnzimmer und setzte mich auf einen Ledersessel, der gegenüber von der Couch stand. Es war alles sehr sauber und akkurat hier. Sehr aufgeräumt. Und sehr still. Die nächste Hauptstraße war ein gutes Stück entfernt. Man hörte nichts. Nur den Wind, der durch die Fenster pfiff.
Ich beobachtete meinen Vater, wie er langsam durchs Wohnzimmer ging. Es war für mich immer wieder erschreckend, ihn so zu sehen. Mein Vater war alt geworden. Und sein langes und exzessives Leben hatte Spuren hinterlassen. Der jahrelange schwere Alkoholkonsum hatte ihn gezeichnet. Außerdem hatte er einen Schlaganfall hinter sich. Er war tattrig und zerbrechlich.
»Wie geht’s?«, fragte mich mein Vater.
»Alles gut«, log ich. »Und dir?«
»Alles gut, willst du einen Kaffee?«
»Nein, ich trinke keinen Kaffee.«
Es war immer dasselbe. Er fragte mich das jedes Mal. Und ich erklärte ihm dann jedes Mal wieder aufs Neue, dass ich keinen Kaffee mag. Vielleicht war das eine Art Spiel für ihn.
»Gut«, sagte er. »Aber ich mache mir trotzdem einen. Und dann müssen wir reden.«
Reden. Ich wollte nicht reden. Ich sah ihm nach, wie er langsam in die Küche ging. Schritt für Schritt. Er bewegte sich beinahe nur noch in Zeitlupe, so sehr war sein Körper in all den Jahren in Mitleidenschaft gezogen worden. Am liebsten hätte ich ihm irgendwas abgenommen. Aber das wollte er nicht. Er wollte sich das letzte Stück Würde und Autonomie noch bewahren. Und das verstand ich auch. Es war dennoch merkwürdig, seinen eigenen Vater so zu sehen. So krank und gebrechlich.
Als er in der Küche war, wurde es wieder totenstill im Zimmer. Es war eine unheimliche Stille.
Ich schaute auf den Wohnzimmertisch. Na super, dachte ich, als ich dort die große, aufgeschlagene Boulevardzeitung liegen sah, die mit ihrer Schlagzeile das Thema unseres Gesprächs schon vorgab. »Polizeieinsatz nach Ehestreit: Gewaltvorwürfe gegen Bushido!« Ich ließ meinen Kopf hängen und massierte meine Schläfen. Wie zur Hölle sollte ich das nur meinem alten Vater erklären?
Ich hörte, wie er in der Küche an der Kaffeemaschine herummachte und sich eine Tasse aus dem Schrank zog. Ich schaute mich weiter in dem Zimmer um.
Hier auf dieser Couch saß mein Vater den ganzen Tag. Von morgens bis abends. Nur zum Beten stand er auf. Er brauchte nicht mehr viel. Er brauchte seine Kaffeemaschine, er brauchte seine Zigaretten und einen Aschenbecher. Dann war er zufrieden. Von dieser Couch hatte er einen Blick auf den Fernseher und den Wohnzimmerschrank.
Den Fernseher schaltete er nie ein. Aber der gesamte Schrank war zugepflasterte mit Fotos. Fotos von mir. Fotos von meiner Mutter. Fotos von Anna-Maria. Ich betrachtete die Bilder. Da war ich, als ich noch ein Kind war. Da war ich, wie ich mit dem Mikrofon in der Hand auf der Bühne stand. Da war ich mit Anna-Maria und den Kindern. Seit den Nullerjahren hatte mein Vater angefangen, zusätzlich auch noch alle Zeitungsartikel zu sammeln, in denen ich vorkam. Und plötzlich, da spürte ich, wie eine ganz, ganz tiefe Traurigkeit in mir aufstieg. Ich begriff mit einem Mal, warum ich so ungern an diesem Ort war. Alles hier erinnerte mich an ein Museum. Ich stellte mir meinen Vater vor, wie er hier saß. Seinen Aschenbecher vor, eine Packung Zigaretten neben sich. Er trank den ganzen Tag Kaffee, rauchte eine Zigarette nach der anderen weg und schaute sich von morgens bis abends diese Bilder an. Ganz alleine. Ich dachte an Anna-Maria und die Kinder. Ich vermisste sie ganz schrecklich. Ich hätte alles dafür getan, das, was geschehen war, wieder rückgängig machen zu können. Ich hätte alles dafür getan, meine Familie wieder zurückzubekommen. Aber sie war weg. Sie waren alle weg. Mein Haus war jetzt genauso leer wie die Wohnung meines Vaters.
Ich sah, wie mein Vater ganz langsam ins Wohnzimmer zurückkam, er hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, die er zittrig auf dem Wohnzimmertisch abstellte. Dann ließ er sich auf seine Couch fallen. Ich schaute ihm ins Gesicht. Schaute ihm dabei zu, wie er seine Zigarette ansteckte. Und in dem Moment erkannte ich mich selbst in ihm. Das bin ich in 30 Jahren, dachte ich. Ich werde genauso sein. Alt und einsam, und ich werde nur noch von meinen Erinnerungen leben.
Aus der Traurigkeit wurde Angst.
Mein Vater beugte sich ein Stück vor und tippte auf die Zeitung. »Mein Sohn«, fragte er mich mit brüchiger Stimme, »stimmt das, was da geschrieben steht?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ja, irgendwie stimmte das, was da in der Zeitung stand. Es hatte ja auch kein Sinn, ihn anzulügen. Er würde früher oder später sowieso alles mitbekommen. Ich schaute ihn schuldbewusst an und nickte.
Mein Vater beugte sich zu mir. »Mein Junge, bitte sag mir, wie es nur so weit kommen konnte.«
Ich schaute auf seine Fotowand. Betrachtete ein Bild von mir. Auf dem Bild war ich vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Ein kleiner Junge. Ich lächelte etwas gezwungen in die Kamera. Ja, das war eine verdammt gute Frage, dachte ich. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Ich stelle mir oft die Frage, warum die Menschen so sind, wie sie sind. Warum sie all diese schlechten und falschen Dinge machen, von denen sie doch eigentlich wissen, dass sie schlecht und falsch sind. Warum tun wir anderen Menschen weh? Warum streben wir nach Geld und Besitz? Warum lügen und betrügen wir? Warum begehen wir Verbrechen? Ich hatte zu verschiedenen Zeitpunkten in meinem Leben ganz unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Heute glaube ich, dass wir alle diese Dinge nur aus einem einzigen Grund tun. Weil wir Anerkennung wollen. Weil wir irgendwo dazugehören wollen. Der Mensch kann nicht alleine durch die Welt gehen. Wenn ich heute auf mein Leben zurückschaue, dann erkenne ich, dass ich diese Zugehörigkeit niemals hatte. Ich war fünf Jahre alt und zitterte am ganzen Körper. »Aufmachen!«, hörte ich einen Mann brüllen. »Sofort die Tür aufmachen!« Die Stimme war laut und aggressiv. Ängstlich schaute ich mich in meinem Zimmer um. Es war stockdunkel. Wahrscheinlich war es schon weit nach Mitternacht. Ich hatte wirklich absolut keine Ahnung, was hier gerade passierte. Dann wieder Schläge gegen die Tür. Pam-pam-pam. Pam-pam-pam. Ich zuckte jedes Mal zusammen und zog mir die Bettdecke über meinen Kopf. Was geschah da gerade? Ich kniff mir selbst in den Arm. Ich hoffte einfach nur, dass das hier ein böser Traum war. Dass ich jetzt einfach aufwachen würde und alles wieder gut wäre. Aber dann waren die Stimmen wieder da. »Wir wissen, dass Sie zu Hause sind! Öffnen Sie sofort die Tür! Das ist die letzte Warnung!« Ich verspürte nur noch Angst. Mein Körper war wie gelähmt. Dann hörte ich hektisch Schritte in unserem Flur. Ich hörte Mamas Stimme. Und die Stimme von meinem Stiefvater. Sie flüsterten. Was sollte ich jetzt tun? Ich hatte das Gefühl, der Situation völlig ausgeliefert zu sein. Ich faltete meine Hände unter der Decke und fing an zu beten. »Lieber Gott, bitte mach, dass uns nichts Schlimmes passiert«, flüsterte ich ganz leise vor mich hin.
Am liebsten wäre ich jetzt einfach verschwinden. »Letzte Warnung!«, erklang die Männerstimme wieder. »Öffnen Sie die Tür oder wir brechen sie auf!« Ein paar Sekunden vergingen. Dann wurde irgendein Gegenstand gegen unsere Haustür geschlagen. Ich zog mir wieder die Decke über den Kopf. Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Es sollte aufhören. Es sollte einfach nur aufhören. Aber es hörte nicht auf. Und es war auch kein Traum.
Komm schon, Anis, sprach ich mir selber Mut zu. Reiß dich zusammen! Sei jetzt tapfer. Sei ein großer Junge. Ich atmete dreimal tief durch. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen, zog vorsichtig die Decke weg, stieg langsam, ganz langsam aus meinem Bett und tapste auf Zehenspitzen durch mein Kinderzimmer in Richtung Tür. Ich musste einfach wissen, was da los war. Ich hielt die Luft an. Bloß kein Geräusch machen. Bloß nicht auffällig werden. Durch das Schlüsselloch drang Licht aus dem Flur in mein Zimmer.
Langsam näherte ich mich der Tür, drückte die Klinke ganz vorsichtig und lautlos herunter und öffnete sie einen kleinen Spalt. Ich sah Mama, wie sie den Flur entlangging. Richtung Haustür. Wieder hörte ich das laute Geräusch und zuckte zusammen. Es war, als würde jemand mit einem Baumstamm gegen die Haustür schlagen.
»Ich komme ja schon!«, rief meine Mutter. »Ich bin gleich da.«
Ich sah, wie sie sich noch ein letztes Mal umschaute und ihren Bademantel fest zusammenband. Dann öffnete sie die Tür. Mein Herzschlag setzte für einen kurzen Moment aus. Es waren nur Sekunden, aber sie fühlten sich wie eine Ewigkeit an. Was würde jetzt passieren? Alles schien in Zeitlupe vor mir abzulaufen. Die Tür wurde von außen aufgedrückt. Ich sah, wie ein großer Mann mit schwarzen Klamotten in die Wohnung drängte und meine Mama gegen die Wand drückte. Zwei weitere Männer kamen hinterher. Sie waren alle komplett schwarz gekleidet. Ich hörte meine Mutter schreien.
»Wo ist Ihr Mann?«
Mama schüttelte nur den Kopf und brachte kein Wort raus. In dem Moment kamen weitere Männer hereingestürmt. Vier, fünf, sechs Kerle. Sie verteilten sich in der ganzen Wohnung und riefen sich irgendwelche Dinge zu, die ich nicht verstand. Zwei von ihnen kamen den Flur entlang, direkt auf mein Kinderzimmer zu. Ich zitterte am ganzen Körper. Was sollte ich jetzt tun? Mich irgendwo verstecken? Im Schrank vielleicht? Unter meinem Bett? Die Männer kamen näher. Ich versuchte mich von der Tür loszureißen, aber meine Angst lähmte mich. Ich war nicht mehr in der Lage, mich zu bewegen. Absolute Schockstarre. Ich sah, wie der erste Kerl immer näher und näher kam. Dann riss er die Tür auf. Ich taumelte ein paar Schritte zurück.
»Anis!«, hörte ich meine Mutter schreien. Der Mann schaute mich von oben an. Ich war wie gelähmt vor Angst. Wer waren diese Leute? Was wollten sie hier? Ich begriff das alles nicht. Der fremde Mann beugte sich zu mir runter. »Wo ist er?«, brüllte er mich an. »Sag schon!«
Ich bekam kein Wort raus. In dem Moment kam meine Mutter in mein Zimmer gestürmt, riss mich hoch und nahm mich schützend auf ihren Arm. »Er ist nicht hier! Lassen Sie meinen Sohn in Ruhe!«, schrie sie den Kerl an. Ich klammerte mich an Mamas Hals fest und versteckte meinen Kopf hinter ihrem Haar. Der Albtraum hörte einfach nicht auf. Ein zweiter Mann kam jetzt in mein Zimmer und die beiden fingen an, alles zu durchsuchen. Sie rissen die Türen von meinem Schrank auf, schmissen die Bettdecke auf den Boden und schauten unter meinem Bett nach, ob dort irgendwas war. Das Ganze ging eine gute halbe Stunde. Dann sprachen die schwarz gekleideten Männer noch einmal kurz mit Mama und verließen die Wohnung endlich wieder.
Als sie weg waren, setzte sich Mama an den Küchentisch und fing an zu weinen. Ich war noch immer völlig aufgelöst, aber ich ging zu ihr und versuchte sie zu trösten.
»Mama«, sagte ich. »Bitte nicht weinen«
Sie nahm mich in den Arm und küsste mich auf den Kopf. »Nein, mein Schatz«, sagte sie und wischte sich die Tränen weg. »Ich weine nicht. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«
»Wer waren diese Männer? Und was wollten sie?«
Mama zuckte nur mit den Schultern. »Es ist kompliziert«, sagte sie. »Aber jetzt sind sie weg und alles ist wieder gut.«
Als sie sich beruhigt hatte, fingen wir gemeinsam an, die Wohnung wieder aufzuräumen. Vorsichtig wanderte ich von Raum zu Raum. Die Männer hatten ein einziges Chaos hinterlassen. Als ich dann in unserem Flur stand, sah ich, dass sich plötzlich der große Wandteppich bewegte, der dort hing. Ich bekam den Schock meines Lebens. »Mama!«, brüllte ich. »Der Teppich!«
Aber Mama blieb ganz entspannt und zog den Teppich herunter. Dahinter war ein riesiges Loch, das anscheinend in die Wohnung nebenan führte. Und aus diesem Loch kam mein Stiefvater herausgestiegen. Krass. Seit ich denken konnte, hing da dieser Teppich. Und nie hatte ich geahnt, dass irgendwas dahinter war. Mein Stiefvater lächelte mich an. »Na, kleiner Mann«, sagte er. »Hast du hier die Stellung gehalten?«
Erst sehr viele Jahre später begriff ich, was in dieser Nacht eigentlich passiert war. Mein Stiefvater war türkischer Kurde und hatte in seinen ersten Jahren in Berlin irgendwelche Probleme mit seinem Aufenthaltsstatus. Die Männer, die in unsere Wohnung eingedrungen waren, waren von den Behörden, die hinter ihm her waren. Sein Leben damals war eine permanente Flucht. Und für mich wurde die Angst, dass irgendwann wieder fremde Menschen vor meiner Tür stehen konnten, zum Alltag.
***
»Anis«, hörte ich die Stimme meiner Mutter. »Anis, du musst aufwachen.« Ich öffnete meine Augen und sah, wie Mama neben mir am Bett saß und mir über mein Gesicht strich. Seitdem die Behörden unsere Wohnung gestürmt hatten, war eine Woche vergangenen und unser Leben ging einfach weiter wie bisher. »Ich muss gleich los«, flüsterte Mama. »Wenn du weiterschlafen möchtest, dann kannst du einfach liegen bleiben.« Ich schaute auf den Wecker, der neben meinem Bett stand. Es war 4.45 Uhr. »Welcher Tag ist heute?«, fragte ich noch müde. »Es ist Mittwoch«, lächelte Mama. Mittwoch. Das war ein besonderer Tag. »Nein Mama«, sagte ich und zog die Bettdecke von meinem Körper. »Ich komme mit.« Ich ging in das Badezimmer und machte mich fertig. Als ich mich fertig gemacht hatte, frühstückte ich noch kurz, dann nahm ich Mamas Hand und wir gingen gemeinsam los. Draußen war es noch dunkel. Nur am Horizont sah man die Sonne langsam aufgehen. Ich mochte es, zu dieser Zeit unterwegs zu sein. Es schien, als würde die große Stadt noch schlafen. Alles war so friedlich. Die Luft war kühl und klar. Wir brauchten etwas, bis wir endlich an der großen Bücherei in der Adalbertstraße ankamen. Eigentlich war sie gar nicht so wirklich groß. Aber als Kind machten die langen Regalreihen, die vollgepackt mit Büchern waren, einen ungeheuren Eindruck auf mich. Damit wir halbwegs über die Runden kamen, hatte Mama einige Putzjobs angenommen. Und mittwochs war immer Büchereiputztag. Mein ganz persönliches Highlight. Während Mama anfing, die großen Lesetische abzustauben und den Teppichboden zu saugen, streifte ich mit dem Finger über die großen, schweren Buchrücken. So viele Bücher. So viel Wissen. Das war einfach krass. Ich legte meinen Nacken in den Kopf und schaute nach oben. Die Regale reichten beinahe bis zur Decke. Schließlich ging ich zu meinem Lieblingsregal. Das war das Regal, wo die Comic-Bücher standen. Ich zog einen Asterix-Band hervor, setzte mich an einen der Lesetische und blätterte das Heft Seite für Seite durch. Asterix fand ich ziemlich cool. Es ging um ein Dorf mit Galliern, die ihr Ding machten. Ständig wurden sie von einer Übermacht von Römern genervt, aber sie wehrten sich erfolgreich gegen sie. Ihr Geheimtrick: Sie hatten einen Zaubertrank, der sie unbesiegbar machte. Das Heft, dass ich las, hieß Die goldene Sichel und es ging darum, dass Asterix und Obelix für den Druiden im Dorf eine neue Sichel besorgen mussten. Der Druide war der Kerl, der den Zaubertrank machte. Um die Sichel zu besorgen, mussten sich Asterix und Obelix mit irgendwelchen Gangstern anlegen.
Als ich den Comic durchhatte, stellte ich ihn zurück in das Regal und ging zu meiner Mutter. »Mama«, sagte ich. »Ich gehe die Ziegen besuchen.« Mama beugte sich runter zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Okay Anis, aber pass auf dich auf!«
»Klar.« Dann gab sie mir 50 Pfennig, ich verließ die Bibliothek und lief zunächst einmal zum Kottbusser Tor. Das war nur ein paar Meter entfernt. Am Kottbusser Tor war mittlerweile schon ein wenig was los. Ich sah, wie ein Mädchen auf der Straße saß und mich anschaute. Sie war vielleicht 16 oder 17 Jahre alt. Sie sah gar nicht gut aus. Sie war dünn und abgemagert. Und ihr Blick war leer und glasig. Solche Leute sah ich immer wieder hier. Mein Stiefvater hatte mir einmal erklärt, dass das Junkies waren, aber ich wusste nicht so richtig, was das bedeutete. Für mich wirkten sie wie Zombies. Wie Menschen, die irgendwie noch lebten, aber irgendwie auch schon tot waren. Sie schienen in ihre ganz eigene Welt abgetaucht zu sein. Ich betrachtete das Mädchen. Dann bemerkte ich, dass sie ihr Hemd hochgezogen hatte. Und in ihrem Arm eine Spritze steckte. Ich erschrak und drehte mich sofort weg. Dann lief ich schnell weiter, bis ich die Mauer erreicht hatte. Die Sache mit der Mauer hatte ich nie so wirklich begriffen. Sie lief einfach mitten durch die Stadt. Mama hatte mir einmal erklärt, dass hinter der Mauer noch ein Berlin lag. Ein anderes Berlin. Aber das konnte ich mir nicht so richtig vorstellen. Ich lief an der Mauer entlang, bis ich schon von weitem die vielen bunten Bauwagen erkannte.
Direkt an der Berliner Mauer hatten irgendwelche Hippies eine Kommune gegründet. Eine Art kleine Stadt mitten in der Stadt. Ich fand das richtig spannend. Ich lief an den bunten Wagen vorbei und sog den süßlichen Geruch ein, der in der Luft lag. Ich konnte ihn damals noch nicht richtig einordnen. Aber alles an diesem Ort war aufregend. Irgendwann kam mir ein hagerer Typ mit nacktem Oberkörper und wilden Dreadlocks entgegen. »Hey, Kleiner«, fragte er mich. »Hast du dich verlaufen oder gehörst du zu uns?«
»Ne«, antwortete ich ihm. »Ich will nur zu den Ziegen.« Direkt an die Wohnwagen angrenzend hatten die Hippies so einen kleinen Streichelzoo gebaut. Da liefen ein paar Tiere herum. Ich gab dem Typen mit den Dreadlocks die 50 Pfennig und er gab mir dafür eine Tüte mit Tierfutter. Dann setzte ich mich an den kleinen Zaun und begann damit, die Ziegen zu füttern. »Bist du ganz alleine hier?«, fragte mich der Hippie und drehte sich so eine lange, übergroße Zigarette. Ich nickte. »Ist doch voll gefährlich«, sagte er und zündete sich das Ding an. Wieder stieg dieser süßliche Geruch auf. »Du bist doch noch voll klein. Bestimmt erst 10 oder so.«
»Fünf«, korrigierte ich ihn.
»Oha«, dann zog er noch einmal an seiner Zigarette und schien irgendwie wegzudämmern. »Aber komisch irgendwie«, sagte er. »Du musst doch irgendwo hingehören.« Ich beachtete ihn nicht weiter und verfütterte den Ziegen den Rest von den Körnern aus der Tüte. Als ich fertig war, ging ich zurück zur Bibliothek und fuhr mit Mama wieder nach Hause. Es war noch früh. Gerade einmal 8 Uhr morgens. Aber für den Nachmittag hatten wir schon Pläne gemacht.
***
Ich schreckte auf. »Anis?«, hörte ich eine Stimme und sah, wie Frau Schmidt sich herunterbückte und die Tischdecke ein wenig zur Seite zog. »Ist alles klar da unten?«
»Alles klar, Frau Schmidt.« Die alte Dame lächelte mich an. »Möchtest du noch ein Stück Kuchen?« Ich nickte. Bei Kuchen von Frau Schmidt konnte ich unmöglich Nein sagen.
Es dauerte ein paar Sekunden und die alte Dame reichte mir einen kleinen weißen Porzellanteller mit Marmorkuchen. Ich hatte es mir unter ihrem Wohnzimmertisch bequem gemacht. So wie immer. Frau Schmidt ließ die Tischdecke fallen und ich war wieder in meiner Höhle – ganz für mich. Frau Schmidt war neben meiner Mutter die einzige wirkliche Bezugsperson, die ich in meinem Leben damals hatte. Frau Schmidt war unsere Nachbarin. Sie war weit über 80 Jahre alt. Mama ging sie jeden Tag besuchen, um nach ihr zu schauen und ihr ein wenig im Haushalt zu helfen. Wenn Frau Schmidt irgendetwas brauchte, dann klärte Mama das für sie. Meistens kam ich dann mit. Die Wohnung von Frau Schmidt war ziemlich speziell. Überall standen schwere, dunkle Holzmöbel, an der Wand hing ein Kalender mit komischen Landschaftszeichnungen und im Wohnzimmer stand eine Glasvitrine, in der sie ihr superkitschiges Porzellan aufgestellt hatte. In ihrer Wohnung roch es in immer nach frischem Kaffee. Während Mama sich mit ihr unterhielt, verschwand ich unter dem gedeckten Wohnzimmertisch zusammen mit Bello. Bello war der Hund von Frau Schmidt. Ein kleiner Dackel. Ich liebte ihn über alles. Wenn wir gemeinsam unter dem Tisch saßen, packte ich die Tüte mit den Hunde-Leckerlies von Frolic aus, die ich immer dabei hatte. Die habe ich dann mit Bello fair geteilt. Eins für dich, eins für mich.
Als wir Kuchen und Frolic-Leckerlis gemeinsam aufgegessen hatten, legte er sich auf mein Bein und döste ein wenig weg. Während ich ihn streichelte, dachte ich über die Worte von dem Hippie heute Morgen nach. Du musst doch irgendwo hingehören, hatte er gesagt. Irgendwie beschäftigte mich das. Vielleicht, weil ich selber schon so oft darüber nachgedacht hatte, wo ich denn eigentlich hingehöre. Meine Welt war wirklich sehr klein. Vielleicht ein wenig zu klein für ein Kind in meinem Alter. Ich hatte meine Mama. Und ich hatte Frau Schmidt. Aber ich hatte keine Freunde. Keine Kinder in meinem Alter, mit denen ich spielen ging. Ich fand einfach keinen Anschluss. Wenn ich im Kindergarten war und hörte, was die anderen Jungs und Mädchen so erzählten, dann waren das einfach Familiengeschichten aus einer ganz anderen Welt. Wochenendausflüge mit den Eltern, Picknick im Stadtpark, Besuche im Spaßbad. Ich konnte da nicht mitreden. Ich hatte das alles nicht. Und ich wusste nicht, was ich erzählen sollte. Yo, Leute, mein Stiefvater ist am Wochenende durch ein Loch in unserer Hauswand vor lauter bösen Männern von der Ausländerbehörde geflohen? Ich war mir sicher, dass das nicht so wirklich cool rüberkommen würde. Auch dass ich meine Nachmittage unter dem Küchentisch meiner Nachbarin verbrachte, war wahrscheinlich nicht so das große Ding, für das die anderen Kinder mich gefeiert hätten. Es war nicht so, dass es mich groß belastete. Aber ich merkte, dass ich anders war. Dass ich kein normales Familienleben hatte. Und dass ich nie einen richtigen Vater hatte. Mein Vater hatte uns schon sehr früh verlassen. Ich erinnerte mich kaum noch an ihn. Ich erinnere mich nur noch daran, dass er ständig laut wurde. Dass er viel trank. Und dass er meine Mutter geschlagen hat. Ich hörte, wie Bello ein wenig vor sich hinbrummte. Er war ein eingeschlafen. Wahrscheinlich träumte er von meinem Marmorkuchen.
***
Ein paar Monate später wurde meine kleine Welt ein Stück größer. Ich lernte Herrn Mustafa kennen. Herr Mustafa war ein älterer Mann, der direkt vor unserem Haus einen kleinen türkischen Laden hatte. Nicht sehr groß. Der Raum war mit Regalen vollgestellt, in die er alle möglichen Lebensmittel packte. Gewürze. Nudeln. Reis. Es gab nichts, was er hier nicht hatte. Und wenn mehr als vier Kunden gleichzeitig hineingingen, dann wurde es richtig eng. Vor dem Laden war eine riesige Auslage, auf der Herr Mustafa jeden Tag frisches Obst und Gemüse anbot. Wenn ich unsere Wohnung verließ, um mit Mama zum Kindergarten oder zum Putzen zu gehen, dann stieg einem der Geruch immer gleich in die Nase. Es roch nach frischen Aprikosen und Erdbeeren.
Da ich keine wirklichen Freunde hatte, verbrachte ich einen Teil meiner Freizeit irgendwann auch bei Herrn Mustafa im Laden. Ich saß da einfach rum und blätterte in den Magazinen, die er verkaufte. Asterix-Hefte hatte er leider nicht. Aber das war okay. Irgendwann forderte er mich auf, die Obst- und Gemüseauslage nach Feierabend in den Laden zu räumen. Und so kam ich mit sechs Jahren zu meinem allerersten Job. Denn als ich fertig war, drückte mir Herr Mustafa eine kleine Münze in die Hand. Ich spielte mit ihr zwischen meinen Fingern herum. Das waren 50 Pfennig. Eine kleine, silberne, dünne Münze. Von diesem Tag an durfte ich dreimal die Woche dabei helfen, die Auslagen wieder einzuräumen. Und konnte mir auf diese Weise mein erstes Geld ansparen. Das Geld, das ich verdiente, steckte ich in eine kleine Spardose in meinem Kinderzimmer. Hier bunkerte ich alles, was ich zugesteckt bekam oder mir bei Herrn Mustafa so nebenbei verdiente.
Eines Tages stand ich vor dieser Sparbüchse und überlegte, was ich mit dem ganzen Geld, das da drinnen war, eigentlich machen sollte. Ich dachte wirklich lange darüber nach. Und mir fiel nichts ein. Original gar nichts. Es war merkwürdig. Die anderen Kinder in meinem Alter redeten ständig von Dingen, die sie gerne haben wollten. Fußballschuhe. Klamotten. Spielzeug. Ich hätte mir locker sowas kaufen können. Aber mich interessierte das irgendwie nicht so. Ich hatte ja Klamotten. Damit war ich zufrieden. Die waren doch okay. Ich hatte auch Schuhe. Nichts Besonderes. Aber das mussten sie ja auch nicht sein. Für mich waren Klamotten einfach bloß Klamotten und Schuhe einfach bloß Schuhe. Irgendwann hatte ich eine Idee. Ich nahm einen Teil meines Geldes und ging die lange Straße, an der wir wohnten, herunter. Dort war eine ziemlich beliebte Eisdiele. Ich kaufte einen großen Schokoladenbecher und brachte ihn zu meiner Mutter.
»Was ist das?«, fragte sie mich, als ich in der Küche stand und ihr das Eis rüberreichte.
»Ein Geschenk«, sagte ich. Mama öffnete die kleine Papiertüte, in der man das Eis vorsichtig verpackt hatte, und zog es ganz langsam heraus. Sie schaute mich fragend an.
»Warum machst du das?«
»Einfach so«, sagte ich und sah, wie Mama richtig gerührt davon war. Sie nahm mich in den Arm und küsste mich auf die Stirn. »Vielen Dank, mein Schatz. Ich habe dich sehr lieb, das weißt du, oder?«
»Ich dich auch, Mama.«
***
Es sollten einige Jahre vergehen, bis meine kleine Welt einen etwas größeren Radius bekommen sollte. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute auf die Uhr, die an der Wand hing. Es war kurz vor zwölf. So wie es in diesem Raum immer kurz vor zwölf war. Diese beschissene Uhr. Konnte man die nicht mal reparieren? Oder hatte man das absichtlich gemacht, um die Kinder, die hier sitzen mussten, irgendwie zu quälen? Ich hatte völlig mein Zeitgefühl verloren. Wie lange saß ich hier jetzt schon? 15 Minuten? Eine halbe Stunde? Noch länger? Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Zum hundertsten Mal suchte ich mit meinem Blick den Raum ab. Die kaputte Uhr. Das Bücherregal. Der riesige Schreibtisch mit den Aktenordnern, die sich zwischen mir und Herrn Schneider stapelten. Und Herr Schneider. Der war auch noch da. Er saß mir direkt gegenüber mit seinem merkwürdigen Pullunder und schaute mich die ganze Zeit mit so einem ekelhaft-abschätzigen Blick an. Richtig unangenehm. Ich hielt für einen kurzen Moment demonstrativ Augenkontakt mit ihm, dann wurde mir das zu langweilig und ich las mir noch einmal die Titel auf den Buchrücken durch, die da im Schrank standen. Pädagogik I. Pädagogik II. Angewandte Erziehungswissenschaften. Richtiger Müll. Ich strich mit der Hand über meinen Kiefer. Er tat weh. Die Schläge, die ich abbekommen hatte, waren nicht ohne gewesen. Aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Dann wanderte mein Blick zu dem großen Fenster. Draußen sah ich ein paar Jungs aus meiner Klasse, wie sie miteinander rumalberten und sich auf den Weg nach Hause machten. Das Wetter war schlecht, es fing gerade an zu regnen. Wie gerne wäre ich jetzt auch zu Hause, dachte ich. Sich einfach auf die Couch legen und ein bisschen Fernsehen gucken. Auf Sat.1 kamen im Nachmittagsprogramm seit Neuestem einige ziemlich gute Serien. Sindbad feierte ich besonders. Das war so ein Typ mit einem weißen Turban auf dem Kopf, der mit seinem Schiff durch die Welt reiste und immer krasse Inseln und Schätze entdeckte und irgendwelche Abenteuer überstand. Gestern erst hatte er sich mit irgendwelchen Geistern angelegt. Ich feierte das. Aber statt Sindbad zu schauen, musste ich jetzt hier sitzen. Ich schaute auf die Uhr. Es war noch immer kurz vor zwölf.
»Anis«, hörte ich endlich die Stimme meiner Mutter. Sie betrat den kleinen Raum, ohne vorher anzuklopfen. Herr Schneider stand auf und begrüßte meine Mama, doch sie beachtete den Kerl zunächst gar nicht. Sie beugte sich zu mir runter, scannte mich mit dem routinierten Blick einer Mutter von oben bis unten ab und strich mir dann über mein Gesicht. Sie hatte die kleine Schramme sofort entdeckt.
»Alles in Ordnung bei dir? Du bist verletzt?«
»Nein, Mama, alles gut.«
Stimmte nicht ganz. Ich hatte ganz schön was abbekommen. Und das spürte ich auch. Aber ich wollte mich nicht anstellen.
Herr Schneider atmete nur einmal kurz auf, dann begann er, auf meine Mutter einzureden. »Wie schon am Telefon erwähnt, hat sich Ihr Sohn heute in der großen Pause geprügelt. Und das ist etwas, …«
»Moment, langsam«, unterbrach Mama den Schuldirektor. »Das kann ich einfach nicht glauben! Anis ist noch nicht mal zehn Jahre alt. Und er prügelt sich doch nicht einfach so.« Mama schaute erst meinen Schuldirektor, dann mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Man sah ihr an, dass ihr Weltbild gerade ein Stück weit erschüttert wurde. Und ich? Ich saß nur da und zuckte mit den Schultern. Ja, sie hatte recht. Ich prügelte mich eigentlich nicht. Ich war nicht der Typ für so etwas. Ich war kein prolliger Kanake, der Stress mit anderen suchte. Ganz im Gegenteil. Ich war auch in meiner Schulzeit weiterhin ein Einzelgänger. Ich blieb am liebsten für mich und wollte mit anderen Kindern nicht so viel zu tun haben. Mit Mädchen sowieso nicht, aber auch mit den Jungs konnte ich einfach gar nichts anfangen. Die lebten in einer anderen Welt. Ich hatte eigentlich nur einen Freund. Einen echten Freund. Selim. Selim war ein Türke aus meiner Klasse und was uns beide verband, war unsere Liebe zu Computerspielen. Selim hatte einen alten Schneider-PC zu Hause, das war so eine frühe Form einer Spielkonsole, ein Computer, der eigentlich nur aus einem Bildschirm und einer Tastatur bestand, in die man dann die Spiele reinsteckte. Nach der Schule ging ich oft mit zu ihm nach Hause und dann zockten wir zusammen Bruce Lee. Ein Pixelhaufen kämpfte gegen andere Pixelhaufen. Ehrlich gesagt war es völlig unspektakulär. Aber es fesselte uns stundenlang an den Bildschirm. Wir blieben beide einfach gerne für uns. So gesehen hatte meine Mutter wirklich recht. Es war schon ziemlich außergewöhnlich, dass ich mich in der Schule prügelte.
Aber ich hatte einen guten Grund gehabt. Und dieser Grund hieß Benjamin. Benjamin war ein deutscher Junge, mit dem ich ständig Streit hatte. Ich weiß gar nicht, warum. Irgendwie machte es ihm Spaß, mich zu provozieren. Wenn er auf dem Schulhof an mir vorbeiging, dann rempelte er mich immer ganz zufällig mit seiner Schulter an.
»Pass doch auf«, sagte ich.
»Pass du doch auf, du Vollidiot.«
So ging das los. Beinahe Tag für Tag. Nach und nach schaukelte sich das Ganze immer mehr hoch. Dabei hatte ich eigentlich gar kein Interesse daran, mich mit dem Typen zu streiten. Er war mir einfach egal. Bis er es einmal völlig übertrieb. Nachdem er mich wieder angerempelt hatte, blieb er stehen.
»Was soll das, du Hurensohn?«, fragte er.
Da setzte es bei mir aus.
Er konnte mich ja nennen, wie er wollte, aber über meine Mutter hatte er gefälligst nichts zu sagen. Die war mir heilig! Ich drehte mich um. »Was hast du da gerade gesagt?«
»Du hast mich schon verstanden«, antwortete er und grinste mich blöd an. Ich zog meinen Rucksack von der Schulter, holte einmal kräftig aus und gab dem Typen dann sofort eine Bombe. Es ging nicht anders. Er hatte es einfach verdient. Benjamin ließ das natürlich nicht auf sich sitzen und schlug zurück und so war das Ganze ein wenig eskaliert.
Darum war ich jetzt hier. Im Zimmer von Direktor Schneider. Wie sollte ich das jetzt bloß meiner Mutter erklären?
Ich versuchte es. »Schau mal, Mama«, sagte ich. »Der hat ein paar wirklich schlimme Dinge über dich gesagt. Und da musste ich dich doch verteidigen.«
»Das hast du bestimmt gut gemeint, mein Schatz. Aber ich bin eine erwachsene Frau. Und ich kann mich schon selbst verteidigen. Das musst du nicht für mich machen, okay?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich will nicht, dass du mir Ärger machst, okay? Ich will mich nicht um dich sorgen müssen. Das ist mir das Allerwichtigste.«
Ich nickte. »Es tut mir leid, Mama.« Ich nahm mir vor, noch mal meine Spardose zu plündern und ihr in den nächsten Tagen noch mal überraschend ein Eis zu kaufen.
Der Gedanke, dass sie irgendwie enttäuscht von mir war, war für mich das Allerschlimmste.
Ich bekam vom Direktor noch eine dicke Ansage. Dann durfte ich nach Hause gehen.
***
Ein paar Wochen später stand ich auf dem Spielplatz in der Nähe unserer Wohnung. Ich kniff die Augen zusammen. Das Wetter war endlich wieder besser geworden. Es war ein heißer Sommernachmittag. Die Sonne blendete mich. Volle Konzentration. Ich nahm den Ball, legte ihn auf den kleinen Farbpunkt, den wir auf den Asphalt gemalt hatten, und ging ein paar Schritte zurück. Ich fixierte das Tor vor mir.
»Mach schon, Dikka!«
»Ja, Mann, bisschen Geduld«, rief ich zurück. Der dicke Yunus stand im Tor und machte auf nervös. Ich spielte ein wenig damit. Tippelte noch einmal von links nach rechts, ließ noch ein wenig Zeit vergehen.
»Was brauchst du denn so lange? Bist du eingeschlafen, oder was? Ich schwöre halbe Ewigkeit.«
»Komm schon, Anis!«, feuerten mich die anderen an. Ich nahm ein wenig Anlauf, täuschte kurz an und schoss dann den Ball in die rechte Ecke. Direkt an Yunus vorbei. Tor!
»Jawoll!«, brüllte ich und streckte demonstrativ die rechte Faust in die Höhe. Dann setzte ich mich zu den anderen Kindern auf die Tischtennisplatte und nahm mir eine Capri-Sonne.
»Gutes Ding«, lobte mich Tim, der neben mir saß.
Ich nickte, schloss die Augen und genoss die warme Sonne auf meiner Haut. Mein soziales Leben hatte sich endlich ein gutes Stück weit verändert. Das hatte einen Grund. Selim hatte in der Schule mittlerweile richtig schlechte Noten. Darum hatten seine Eltern ihm verboten, den ganzen Tag nur Computer zu spielen, was wiederum für mich bedeutete, dass ich nicht mehr bei ihm rumhängen durfte. Also brauchte ich eine andere Beschäftigung. Ich konnte ja auch nicht den ganzen Tag zu Hause vor dem Fernseher hocken und Sindbad gucken.
Außerdem hatte ich auch irgendwie das Gefühl, das meine Mutter sich ein wenig Sorgen um mich machte, weil ich so viel alleine war. Sie war zwar ähnlich, hatte auch keine Freundinnen in ihrem Alter, mit denen sie sich regelmäßig traf, aber es kam mir so vor, als ob sie mein Verhalten ein wenig, na ja, unnormal fand. Ich konnte ja nicht nur mit alten Frauen rumhängen.
Also ging ich raus. Ich ging einfach vor die Tür. Wir wohnten mittlerweile in der Hobrechtstraße. Die Hobrechtstraße war eine Querstraße, die auf der einen Seite den Herrmannplatz und auf der anderen Seite das Maybachufer miteinander verband. Zwei völlig unterschiedliche Welten. Am Herrmannplatz trafen sich schon damals die ganzen Kanaken, hingen rum, planten irgendwelche krummen Dinger oder lernten zumindest Leute kennen, die irgendwelche krummen Dinger planten. Am Maybachufer wohnten hingegen eher so die wohlhabenderen Menschen. Das Bürgertum. Typen, die den ganzen Tag am Landwehrkanal in irgendwelchen teuren Cafés saßen und das Geld ausgaben, das sie verdienten. Und ich, ich lebte genau zwischen diesen beiden Universen. Die Hobrechtstraße war meine Welt.
Hier hatte ich Freunde gefunden. Wir waren eine Art lose Clique. Wir verabredeten uns auch gar nicht bewusst, wir schauten einfach, wer da war, und hingen dann gemeinsam rum.
»Ey, Jungs!«, hörte ich plötzlich eine Stimme, die mich aus meinen Tagträumen riss. Ich erkannte sie sofort. Das war Wolfgang. »Schieß mal rüber!«, befahl er mehr, als er darum bat. Ich verfolgte, wie der dicke Yunus den Ball aus der Torecke holte und ihn vorsichtig zu Wolfgang kickte. Wolfgang nahm den Ball auf und spielte ein wenig damit herum, während er sich aus seiner Lederjacke eine Packung Marlboro-Zigaretten fischte. Wolfgang war ein älterer, deutscher Typ aus der Nachbarschaft. Er war schon 17 oder 18 Jahre alt und trotzdem hing er hin und wieder mit uns am Platz rum. Irgendwie ziemlich schräg. Aber damals machte ich mir keine großen Gedanken darüber. Wolfgang war halt einfach auch da. Er gehörte, wie so viele andere, zum Hobrechtstraßenkosmos dazu. Er legte sich den Ball zurecht. Dann zündet er sich seine Zigarette an, nahm einen großen Zug, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch genüsslich aus. Ich ballte meine Fäuste und bereitete mich auf das vor, was gleich kommen würde. Genauso wie die anderen Jungs hier. Es war ja immer dasselbe. Ich schaute mich um. Ich hatte Glück. Ich saß auf der Tischtennisplatte. Weit von Wolfgang entfernt. Aber nicht zu weit. Es gab ein nicht zu vernachlässigendes Restrisiko, dass es mich treffen könnte.
Wolfgang grinste. Dann schaute er sich um. Schaute jeden von uns einzeln an. Dann nahm er etwas Anlauf und schoss den Ball mit voller Wucht auf den dicken Yunus, dessen Reaktionsvermögen wirklich nicht das beste war. Er wollte sich noch wegdrehen, aber da hatte er den Ball schon im Bauch. Er sackte sofort zusammen. Das war ein klassischer Wolfgang. Er ließ keine Gelegenheit aus, uns zu demonstrieren, wer der Stärkere hier war, und Mann, natürlich war er hier der Stärkere, er war schließlich sechs Jahre älter und drei Köpfe größer als wir. Aber er brauchte das. Er brauchte seine Machtdemonstration.
»Steh mal auf, Fettsack, so hart war’s doch gar nicht«, rief er Yunus zu, der auf allen Vieren hockte und nach Luft rang.
Der Junge tat mir leid. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie sehr es schallerte, wenn Wolfgang einen wegbolzte.
»Kommt mal, ihr Pisser, ich hab was für euch«, rief er uns anderen dann zu und wir sprangen von der Tischtennisplatte herunter und gingen zu Wolfgang, der ein paar kleine Pakete aus seiner Lederjacke zog. China-Böller. Geile Sache!
»Hier«, sagte er und verteilte sie an uns. »Könnt ihr bisschen Spaß mit haben. Aber Achtung, die haben echt Wumms.«
Irgendwie war es eine komische Sache mit Wolfgang. Auf der einen Seite gehörte er nicht so wirklich zu uns. Er war sehr viel älter und ließ keine Gelegenheit aus, uns auch mal richtig zu knechten. Auf der anderen Seite suchten wir aber auch alle ein Stück weit seine Nähe. Zum einen, weil wir uns erhofften, dass uns das seine Therapie ersparen würde, zum anderen aber auch, weil es einfach cool war, jemanden zu kennen, der älter war und sich irgendwie auch ein bisschen um uns kümmerte. Eigentlich fand ich ihn richtig scheiße. Gleichzeitig bewunderte ich ihn auch dafür, dass er größer und stärker war als wir. Davon konnten wir irgendwie ja auch profitieren. Immerhin verteilte er regelmäßig Böller und Zigaretten an uns. Es war eine ganz besondere Hassliebe, die mich mit Wolfgang verband, eine Mischung aus Bewunderung, Schutzbedürftigkeit und Verachtung, die ich für ihn empfand. Er war halt auch einfach ein richtig hängengebliebener Typ. Einmal zeigte er uns, wie er seinem Hund einen runterholte. Richtig abartig einfach nur.
***
Als ich eines Abends nach Hause kam, wartete meine Mutter schon im Flur auf mich. »Anis«, sagte sie, »kommst du mal bitte in die Küche? Wir müssen reden.«
Okay, alles klar, dachte ich. ›Anis, wir müssen reden‹, das war alles andere als ein gutes Zeichen. Im Gegenteil. ›Anis, wir müssen reden‹ bedeutete Krisenmodus. Ich dachte nach, versuchte in meinem Kopf durchzugehen, was ich angestellt hatte. Aber da war nichts. Zumindest nichts, was meine Mutter hätte wissen können. In der Küche saß schon mein Stiefvater am Tisch. Er hatte die Hände gefaltet und schaute mich ernst an. Mama setzte sich neben ihn. Das war wirklich sehr ungewöhnlich. Es wirkte wie so eine kleine Verschwörung. Ich nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz und schaute die beiden erwartungsvoll an. Mama ließ eine kurze Pause. Dann lächelte sie etwas gequält.
»Anis«, sagte sie. »Es werden sich bald ein paar Dinge in unserem Leben ändern.«
Ich verstand nicht ganz, was sie sagen wollte. Ändern? Was sollte sich denn noch groß ändern? Mama hatte vor ein paar Monaten ein Kind bekommen. Meinen kleinen Bruder. Das war für mich schon Änderung genug, jeden Tag einen Säugling im Haus zu haben, der laut rumbrüllte. Mit Babys konnte ich nicht allzu viel anfangen. Sie lagen ja meist nur rum. Bevor das Bruderthema für mich also wirklich relevant werden würde, würden wohl noch ein paar Jahre vergehen. »Wir werden umziehen«, rückte Mama endlich mit der Sprache heraus. Umziehen? Ich stöhnte. Schon wieder? Und das ausgerechnet jetzt? Wo ich doch gerade so etwas wie einen Freundeskreis gefunden hatte. Ich hoffte, dass wir zumindest bei uns im Bezirk bleiben würden. Schließlich war die Hobrechtstraße so etwas wie mein Zuhause. Meine Welt. Aber es kam anders. Mein Stiefvater hatte den Ärger mit den Behörden bereits vor einigen Jahren endgültig klären können. Er führte jetzt ein ganz normales Leben und war Angestellter bei der Höchst AG. Einem Chemiekonzern. Doch die mussten aus Kostengründen die Berliner Niederlassung schließen. Meinem Stiefvater machten sie ein Angebot: Entweder er arbeitete von jetzt an in der Zentrale bei Frankfurt. Oder er würde arbeitslos werden.
»Also werden wir nach Bad Soden ziehen«, verkündete mein Stiefvater.
Ich brauchte einen kurzen Moment, um zu begreifen, dass Bad Soden nicht nur ein anderer Bezirk, sondern überhaupt nicht mehr Berlin war.
***
Hier war ich also. Bad Soden. Meine ganz persönliche Hölle. Ich saß alleine auf der Tischtennisplatte und ließ meinen Blick langsam über den kleinen Schulhof vor mir schweifen. Da war nichts. Gar nichts. Einfach nur ein leerer Platz, vor dem ein großer Container stand. Der Container war meine neue Schule. Es gab dann noch einen kleinen überdachten Bereich, mit ein paar Sitzbänken. Und das war’s. Ich beobachtete die anderen Kinder. Sie standen in kleineren Grüppchen zusammen und spielten miteinander. Ich spürte richtig, wie sie ständig so verstohlen zu mir rüber schauten. Natürlich taten sie das. Ich war ein absoluter Fremdkörper hier. Wir befanden uns irgendwo im Speckgürtel von Frankfurt. Eine reiche Vorortsiedlung. Wer hier lebte, hatte meistens jede Menge Geld. Außer eben wir. Wir hatten einfach nur von der Firma meines Stiefvaters an diesem Ort eine Wohnung gestellt bekommen. Ich gehörte hier nicht hin. Und das sah man mir an. Zum einen trug ich nicht die teuren Markenklamotten, die die anderen Kinder trugen. Zum anderen war ich der einzige Kanake auf der Schule. Und dann war da noch die Sache mit Berlin. Das schien auf alle irgendwie ziemlich einschüchternd zu wirken. Der Ausländer, der aus der Großstadt kommt. Kurz: Ich war vom ersten Tag an der absolute Außenseiter. Die anderen Kinder wollten einfach original gar nichts mit mir zu tun haben. Ich hatte in meinem Leben ja noch nie viele Freunde gehabt. Aber die Bekanntschaften, die ich gehabt hatte, die waren jetzt auch noch weg. Eingetauscht gegen das hier. Schwalbacher Straße. Drei-Linden-Schule. Richtiger Absturz. Ein langes Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. Die Pause war vorbei.
Ich wartete noch ein bisschen, bis die anderen Kinder in das Hauptgebäude drängten, und trottete ihnen langsam hinterher. Als ich das Klassenzimmer als Letzter erreichte, ging ich an den ganzen Tischen und Stühlen vorbei und setzte mich nach hinten. Letzte Reihe. Einzelplatz. Aber das war okay. Hier fühlte ich mich sowieso am wohlsten.
Nach ein paar Minuten betrat Herr Jakobson den Raum. Unser Deutschlehrer. Herr Jakobson war so ein komischer Ökotyp. Er hatte lockige Haare, eine dicke, braun umrandete Brille und trug immer so komische Pullunder und Sandalen. Man merkte, dass er mich nicht ausstehen konnte. Er behandelte mich immer so, als wäre ich irgendwie anders als die anderen Kinder. Gut, das war ich wahrscheinlich auch. Aber er behandelte mich so, als wäre ich irgendwie dumm. Ich konnte ihn nicht leiden. Herr Jakobson stellte seine dicke cognacfarbene Ledertasche auf das Pult und zog ein paar Blätter heraus. »Heute«, sagte er »werden wir noch einmal ein bisschen über Gegenteilpaare sprechen. Dafür habe ich euch ein paar Arbeitsblätter mitgebracht, die ihr bitte ausfüllt.«
Er ging durch die Reihen und verteilte die Zettel. Die anderen Kinder kramten sofort ihre Füller und Bleistifte aus ihren Mäppchen und beugten sich über ihre Aufgabenblätter. Keiner sagte etwas. Keine Ahnung, warum die das hier alles so ernst nahmen. In Berlin war das anders gewesen. In Berlin war ständig nur Krawall im Klassenzimmer. Ich atmete einmal durch und schaute auf das Blatt, das vor mir lag. Auf dem Blatt standen einzelne Wörter. Die Aufgabe war, zu jedem Wort das entsprechende Gegenteil zu finden. Immer mit der Silbe »un-« davor. Kein großes Ding. Ich ging die Wörter durch: »kompliziert« stand da. Ich schrieb »unkompliziert« daneben. Interessant. Uninteressant. Sauber. Unsauber. Sicher. Unsicher. Hübsch … ich stockte. Moment. Unhübsch? Ne, das konnte nicht sein. Das Wort gab es nicht. Wer würde denn so was sagen? Du bist unhübsch. Auf gar keinen Fall. Das Wort gab es safe nicht. Hübsch? Ich nahm den Stift und schrieb »hässlich« daneben. Wer nicht hübsch ist, der ist hässlich. Klare Sache. Als ich nach ein paar Minuten fertig war, legte ich den Stift weg und streckte mich.
»Schon fertig, Enes?«
Ich hasste es, wie Herr Jakobson meinen Namen ständig falsch betonte.
»Ja, ich bin fertig, Herr Jakobson.«
»Und bist du dir sicher, dass du auch wirklich alles richtig ausgefüllt hast?«
»Ja, ich denke schon …?«
»Lies dir doch sicherheitshalber noch einmal alles ganz genau durch.«
Mann, wollte der mich verarschen? Das hier war doch keine hochkomplexe mathematische Rechenaufgabe. Ich hatte einfach nur ein paar Gegenteilwörter eingetragen. Ich schaute zu den anderen Kindern, die immer noch nicht fertig waren. Mann, waren die alle hängengeblieben.
»Ich bin mir absolut sicher, dass ich das richtig gemacht habe, Herr Jakobson«, sagte ich im Brustton der Überzeugung. Ich verstand nicht, warum er mich ständig wie einen Idioten behandelte, obwohl doch ganz offensichtlich die anderen die Idioten waren.
»Also gut«, sagte er und nahm mein Blatt, um es sich durchzulesen. »Dann lass doch einmal sehen. Mhm, mhm, das sieht gut aus, mhm, ah … aber da haben wir dann doch einen Fehler.«
»Was für einen Fehler?«
Herr Jakobson stellte sich demonstrativ vor die Klasse. »Hüüüübsch …« rief er und ein Chor von Streberschüler antwortete ihm: »Uuunhübsch.«
»Siehst du, Enes, das ist falsch.«
»Es gibt kein ›unhübsch‹!«, sagte ich. »Entweder ist man hübsch oder man ist hässlich. Aber ›unhübsch‹ ist kein Wort.«
»Enes, die Aufgabe war doch ganz klar formuliert. Bilde Gegenteilwörter mit der Vorsilbe ›un-‹.«
»Ja, schon klar. Aber dann ist halt die Aufgabe dumm gestellt«, beharrte ich. »Das Gegenteil von ›hübsch‹ ist verdammt noch mal ›hässlich‹.«
Ich war richtig sauer. Ich fühlte mich verarscht. Ich schaute mich in der Klasse um und alle anderen Kinder schüttelten nur den Kopf. »Nee«, sagten sie. »Das ist falsch.« Was für Idioten, dachte ich. Das sagten sie doch jetzt nur, weil Herr Jakobson ihnen das vorgab. Aber logisch war das nicht.
»Enes, auch wenn du von woanders kommst, du musst dich hier schon ein bisschen an die Regeln halten, hm?«, sagte er in so einem richtig ekelhaften, pseudoverständlichen Ton.
»Sie können mich mal«, murmelte ich vor mich hin und verschränkte die Arme vor meinem Körper.
»Wie war das?«
»Nichts«, sagte ich.
In diesem Moment schloss ich endgültig mit Bad Soden ab. Herr Jakobson konnte mich mal. Die konnten mich alle mal. Die wollten nichts mit mir zu tun haben? Gut! Ich auch nicht mehr mit ihnen. Ich war eh schon die ganze Zeit alleine. Jetzt war ich es aus Überzeugung. Sollten sie doch ihr Ding machen. Ich würde ab sofort meins machen.
Ich hatte einfach gar keinen Bock darauf, mich blind irgendwelchen Autoritäten unterzuordnen.
Ich fand, dass ich bei der Sache absolut im Recht war. Und dafür stellte man mich wie einen Idioten hin. Ich wartete, bis der erlösende Gong kam, schulterte meinen Ranzen und ging nach Hause. Sollten die sich doch alle mal ficken.
***
»Mama?«
Nichts. Keine Reaktion. Ich lief einmal quer durch die Wohnung.
»Mama? Ich bin zu Hause!«