Anna und Jadwiga - T. D. Amrein - E-Book

Anna und Jadwiga E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

Kommissar Krüger hat in eine provisorische Abteilung des BKA gewechselt, die sich um ungelöste Altfälle mit neuen Erkenntnissen wie DNA-Treffer kümmert. Sein erster Fall dreht sich um ein polnisches Kindermädchen, das vor 15 Jahren im Schwarzwald vermisst und Monate später halbverwest im Unterholz aufgefunden wurde. Bald darauf verschwand eine weitere blutjunge Nanny. Spurlos. Die beiden hatten sich gekannt und stammten aus derselben Stadt in Polen. Dies blieb die dürftige Bilanz der bisherigen Ermittlungen. Bis neulich an einer Uhr aus Diebesgut die gleiche Gensequenz auftauchte wie in einem sichergestellten Handschuh am damaligen Fundort. Die legendäre heiße Spur?

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Epilog

Impressum

1. Kapitel

Quadratzentimeter für Quadratzentimeter suchte Kommissar Krüger die Gegend ab, die hauptsächlich aus Wald bestand. Eine lang gezogene Ortschaft lag im Zentrum des Suchgebiets. Ab und zu wurde das Meer der seltsam genau geformten Baumkronen durch scharf begrenzte Wiesen und einige wenige Äcker unterbrochen. Der Ort hieß Schramberg, das hatte jemand in Handschrift am unteren Rand des tischgroßen Luftbildes notiert. Der einzige weitere Hinweis, ein mitten im Wald sauber gezogener Kreis, trug den Vermerk: Fundort.

Hier hatte der Hund eines Wanderers einst einen halbverwesten Torso aufgespürt. 1987, vor fünfzehn Jahren. Die Aufnahme stammte jedoch aus dem September 2002. Angefertigt auf ausdrücklichen Wunsch Krügers, der sich damit im wahrsten Sinne des Wortes erst mal einen Überblick verschaffen wollte.

Den Torso hatte man damals der seit einigen Monaten vermissten Anna Duda zuordnen können. Ein polnischstämmiges Kindermädchen, gerade 19 Jahre alt geworden, das in Diensten einer vermögenden Familie in Schramberg stand. Sie stammte aus der Nähe von Krakau, aus der unmittelbaren Umgebung von Oswiecim. Am Fundort konnte damals außer Annas Überresten nur ein einziger interessanter Gegenstand sichergestellt werden. Ein einzelner Latexhandschuh. Aus seinem Innern stammte die DNA-Spur, die kürzlich zu einem weiteren Treffer geführt hatte. In einem als gestohlen gemeldeten Wagen, der in Konstanz beschlagnahmt worden war, wurde an einer Herrenuhr, die unter dem Fahrersitz gelegen hatte, eine identische Gensequenz festgestellt.

Wer die Spuren hinterlassen hatte, blieb bislang völlig im Dunkeln. Die Sicherstellung an sich lag bereits mehrere Monate zurück. Die Auswertung der im Fahrzeug gefundenen Spuren hatte im Rahmen von Routineuntersuchungen erst mit der üblichen Verspätung stattgefunden. Trotzdem entschloss man sich im BKA, aufgrund der neuen Erkenntnisse, einen Sonderermittler einzusetzen. In Person des erfahrenen Hauptkommissars Max Krüger, der bisher in der Dienststelle Freiburg im Breisgau Dienst geleistet hatte. Sein erster Fall in dieser Funktion. Da Schramberg bloß 40 Kilometer entfernt liegt, konnte Krüger direkt aus seinem Büro in Freiburg agieren.

Die wenigen Schriftstücke, die zum Sachverhalt existierten, hatte der Kommissar rasch ein erstes Mal grob durchgearbeitet. Außer der Identität und der Herkunft des Opfers lag das meiste in Dunkeln. Die Ausnahme: Anna hatte eine gleichaltrige Kollegin gehabt, die damals ebenfalls in Schramberg angestellt gewesen war. Zwar in einer anderen Familie, aber die beiden hatten sich gekannt. Man hatte Jadwiga Grabowska natürlich befragt, sogar mehrfach. Ohne zu relevanten Erkenntnissen zur Tat zu gelangen. Bis sie schließlich ein halbes Jahr später spurlos verschwand. Erst nahm man an, dass sie einfach den Ort oder die Familie gewechselt hatte. Aber Jadwiga tauchte nie mehr auf. Weder tot noch lebendig.

***

Krüger erwartete an diesem Tag seine neue Assistentin, die ihm von Wiesbaden für diesen Fall zur Verfügung gestellt wurde. Die Dame hieß Nadja Smolenska, eine Deutsche mit polnischen Wurzeln. Sie solle beide Sprachen absolut perfekt beherrschen, das war die Hauptqualifikation, hatte Krüger schon gehört. Als ehemalige Kommissarin verfüge sie außerdem über Erfahrung bei der deutschen Kripo. Allerdings habe sie in den letzten Jahren nicht mehr bei der Behörde gearbeitet, sodass man ihr wohl eine gewisse Eingewöhnungszeit zugestehen müsse. Klang fast perfekt. Bloß die verklausulierte Beschreibung weckte einen kleinen Argwohn in Krüger. Wenn sie eine normale Wiedereinsteigerin war, dann konnte man das ganz einfach so nennen, fand er. Sonst entstand leicht der Eindruck, dass mit der Kollegin etwas nicht stimmte.

Sprachliche Feinheiten dieser Art waren ihm früher kaum aufgefallen. Erst seit er mit seiner neuen Partnerin, Elisabeth Graßel, zusammenlebte, hatte sich das verändert. Eine Frau mit messerscharfem Verstand und gnadenlosem Durchblick durch windige Fassaden. Sie hatte ihm nicht bloß öfters mit unerwarteten Ideen ausgeholfen. Sondern auch seine Wahrnehmung für ungewöhnliches Verhalten oder versteckte Andeutungen enorm geschärft.

Selbstverständlich wusste sie Bescheid über seinen Tag und würde ihn heute Abend mit Fragen bezüglich "der Neuen" ziemlich hart bedrängen. Deshalb konnte er froh sein, dass er zwischenzeitlich über die Formulierungen eines vermutlich männlichen Kollegen lästern konnte, anstatt selbst eine möglichst neutrale Beschreibung einer attraktiven Dame abzuliefern.

Schon an sich ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.

Ob Frau Smolenska diese Bezeichnung verdiente, wusste er zwar noch nicht, hoffte es jedoch sehr. Interessante, selbstbewusste Frauen inspirierten ihn. Es ging dabei nicht bloß um markante, weibliche Formen oder gutes Aussehen. Er wünschte sich eine echte Partnerin mit eigener Meinung, keine devote Untergebene. Obwohl es, ebenfalls eine Erfahrung von zu Hause, manchmal ziemlich anstrengend werden konnte. Wenn man sich, anstatt einfach zu befehlen, in echt einigen musste. Trotzdem überwogen die Vorteile. Eine Kollegin mit starker Ausstrahlung hielt beispielsweise die meistens männlichen Kunden Krügers in Unruhe. So dass sich manch einer mangels Konzentration in Widersprüche verwickelte, wenn er versuchte, ihr einen Bären aufzubinden. Andererseits im Umkehrschluss, was geschah bei einem Zeugen, bei dem diese Wirkung keineswegs erwünscht war? Stellte dies nicht das ganze Prinzip in Frage?

Über solche Ansichten hatte er mit Elisabeth noch nie diskutiert. Was die wohl dazu sagen würde? So ein Blödsinn! Es macht dir einfach viel mehr Spaß, mit einer attraktiven Frau zu arbeiten. Aber das würdest du niemals zugeben! Krüger zuckte mit den Schultern. „Wo sie recht hat, hat sie recht“, murmelte er.

***

Die Dame vom Empfang brachte die Besucherin zu Krüger.

„Guten Tag, Herr Hauptkommissar!“, begann sie. „Ich bin Nadja. Nadja Smolenska. Man hat mich Ihnen zugeteilt.“

Krüger ergriff ihre ausgestreckte Hand. „Herzlich willkommen, Frau Smolenska!“ Er versuchte, sie nicht zu taxieren. Jedoch gelang es nicht vollkommen. Ihre leuchtend weißen Zähne und das unglaublich dichte, kupferfarbene Haar fielen einfach auf. Dazu trug sie eine hellblaue Bluse und eine dunkelblaue Hose. Aus den vorne offenen Schuhen leuchteten ihre Fußnägel in exakt demselben Blau wie das Oberteil. Für eine Frau hatte sie einen festen Händedruck, empfand Krüger.

„Nehmen Sie doch bitte Platz, Frau Smolenska!“, forderte er sie auf.

„Danke, Herr Hauptkommissar!“

„Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

Sie schien amüsiert. „Ich bin Ihre persönliche Assistentin, Herr Hauptkommissar. Ich bin gekommen, um Sie zu unterstützen, nicht um mich verwöhnen zu lassen“, stellte sie lächelnd fest. „Aber trotzdem: Danke, nein.“

„Ist schwierig für mich“, versuchte Krüger zu erklären. „Ich fühle mich nicht wohl, wenn der Eindruck entsteht, dass ich jemanden als Bediensteten behandle. Also wenn Sie denken, Frau Smolenska, dass ich zu viel von Ihnen verlange, dann wehren Sie sich bitte!“

Sie zuckte mit den Schultern und strahlte ihn an.

„Nun ja, ich werde Sie bestimmt nicht bitten Kaffee zu holen oder mir eine Zeitung zu besorgen“, fuhr er fort. „Aber es kann natürlich vorkommen, dass ich in Gedanken …“

„Weshalb sollte ich denn nicht Kaffee für Sie holen, Herr Hauptkommissar?“, fragte sie erstaunt. „Ich unterstütze Sie in allen Belangen. Gerade wenn wir unterwegs sind, sorge ich für Hotel und Essen. Für ein Büro, für saubere Wäsche und Kosmetikartikel, falls notwendig. Und selbstverständlich fahre ich den Dienstwagen, wenn Sie es möchten.“

Krüger schien ratlos. „Ja dann. Ich denke, wir werden sehen. Einen Wunsch hätte ich dann doch?“

Sie richtete ihre rehbraunen Augen auf ihn wie eine doppelläufige Flinte. „Ja bitte, Herr Hauptkommissar?“

„Könnten Sie mich einfach nur Chef nennen?“

„Aber selbstverständlich, Herr, äh, Chef.“

„Wenn Sie etwas anderes bevorzugen, dann …“

Sie seufzte vernehmlich. „Ist schon okay, Chef.“

„Danke, Frau Smolenska!“

„Bitte! Möchten Sie gleich über den Fall sprechen oder soll ich erst nachsehen, ob Sie wirklich alle Unterlagen erhalten haben? Daran hapert es oft bei der Abteilung, habe ich gehört?“

„Viel ist es wirklich nicht“, bestätigte Krüger. „Mit Ausnahme der Luftbilder, die ich selbst bestellt habe, bleiben nur diese beiden Hefter.“ Er griff nach den dünnen Umschlägen und reichte sie ihr.

„Der Bericht der polnischen Kollegen fehlt“, stellte sie fest.

„Mit denen könnte ich wahrscheinlich ohnehin nicht viel anfangen“, vermutete Krüger.

„Doch“, wehrte sie ab. „Ich habe die ganze letzte Woche damit verbracht, die Texte ins Deutsche zu übersetzen. Ich kümmere mich darum, sobald ich kann!“

„Dann sind Sie schon länger an der Sache?“, stellte Krüger fest.

„Einen Monat etwa. Ich habe jedoch ausschließlich Fakten zusammengetragen und soweit notwendig übersetzt. Alle Informationen stammen aus einem Archiv oder aus öffentlichen Quellen. Ich habe weder irgendwelche Fundorte besucht noch Leute befragt. Alles ganz still und unauffällig, um nirgendwo Argwohn zu wecken.“

„Was stelle ich mir unter öffentlichen Quellen vor?“, hakte Krüger nach.

„In erster Linie Zeitungsarchive und Rundfunksendungen, die damals erschienen sind. Natürlich in Bild und Ton“, ergänzte sie.

„Damals? Dann betrifft dies den alten Fall in Schramberg. Heben Sie sich auch mit Konstanz beschäftigt?“

„Nur am Rande. Das ist schließlich aktuell. Da können wir auf die Berichte der Kollegen vor Ort zurückgreifen.“

***

Elisabeth erwartete Krüger tatsächlich in der Küche mit betörend duftendem Gebäck. Eine Art österreichische Maultaschen, die Krüger sehr gerne mochte. Auf dem Tisch stand ebenfalls eine Flasche Wein mit zwei Gläsern, die jedoch noch verschlossen war. „Wenn du magst, dann öffne sie bitte. Sonst mache ich Kaffee.“

Krüger wusste nie, ob sie solche Situationen mit Absicht plante, oder ob sie einfach Lust dazu hatte, nett zu sein. Auch das kam gelegentlich vor.

„Wein ist gerade richtig“, murmelte er. „Passt herrlich zu deinen wunderbaren Krapfen!“

Sie hantierte herum, bis er die Gläser gefüllt hatte und sie zum Anstoßen rief. Irgendwie schien sie doch ein wenig nervös. „Prost, mein Schatz. Und danke fürs Backen!“

„Ja, Prost“, gab sie zurück. „Und, wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen? Oder ist sie gleich wieder gegangen?“

Sie ist nicht nur nervös, sondern auch kampflustig, dachte Krüger mit leisem Spott. Aber er hatte schmerzhaft gelernt, dies nicht zu unterschätzen. Zwar lag der letzte derbe Rippenstoß ziemlich lange zurück, aber eine unvorsichtige Bemerkung konnte genügen. „Nein, sie ist geblieben. Ist eigentlich ganz nett!“, erwähnte er so beiläufig wie möglich.

„Eigentlich ganz nett!“, wiederholte sie. „Du willst mich wohl ärgern. Oder haben sie dir tatsächlich so eine Pflaume geschickt, wie du befürchtet hast?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Wie, nein? Los komm schon! Wie sieht sie aus? Ist sie jung? Gefällt sie dir?“

Er nickte. „Ja.“

„Also bitte!“

Er grinste. „Ja, selbstverständlich erfährst du alles, was ich weiß. Aber zuerst musst du mir eine Frage beantworten?“

„Okay!“

„Bist du eifersüchtig?“

„Nein. Wirklich nicht. Aber ich bin jetzt über fünfzig. Ich merke selbst, dass ich nicht mehr so attraktiv bin wie früher. Also fürchte ich manchmal, dass du eventuell irgendwann einer Jüngeren den Vorzug geben könntest. Wir sind schließlich nicht mal verheiratet.“

„Aber nein, wo denkst du hin! Komm her!“

Sie kuschelte sich an ihn. „Du brauchst nichts zu versprechen. Ich würde es sogar verstehen.“

„Ich glaube nicht, dass ich einfach so loskommen würde. Selbst wenn ich es wollte. Außerdem ist sie wohl nur für diesen einen Fall meine persönliche Assistentin.“

Sie hob den Kopf. „Ach, wirklich?“

„Ich habe sogar heimlich ihren Ausweis kopiert, extra für dich!“

„Zeig schon her!“

„Die ist genau dein Typ“, stellte sie fest.

„Na ja, was soll ich sagen. Du bist mein Typ. Aber das spielt keine Rolle. Sie ist attraktiv. Sehr sogar. Das kann man nicht bestreiten. Wozu auch?“

„Und wie findest du sie sonst? Hältst du sie für intelligent? So super kann sie ja nicht sein, sonst hätte sie eine bessere Stellung inne. Oder hat sie vielleicht eine Macke?“ Elisabeths Gesicht hellte sich auf. „Natürlich stimmt etwas nicht mit der. Arbeitet als persönliche Assistentin. Wenn sie früher schon einmal Kommissarin war?“

Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es wirklich nicht, mein Schatz. Aber du hast wahrscheinlich recht. So wie meistens. Trotzdem, ich werde ihre Personalakte nicht lesen.“

„Deshalb mag ich dich.“

„Na ja, ich bin schließlich auch sonst ganz liebenswert.“

„Aber selbstverständlich! Trotzdem meine ich das ernst. Du würdest auch eine zugelaufene Katze liebevoll aufnehmen, das weiß ich. Du hättest nicht einmal das Bedürfnis, Fragen zu stellen. Bei dir kann jeder ganz neu anfangen. Dazu müsste ich mich zwingen.“

„Ein Kompliment von dir. Ich staune.“

„Heute hast du das verdient. Aber denk jetzt nicht, dass du damit für alle Zeit ausgesorgt hast.“

„Würde mir nicht einmal im Traum einfallen.“

2. Kapitel

Krüger hatte sich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, die Besichtigung des Fundortes so diskret wie möglich anzugehen. Er und Nadja in Begleitung des einzigen Beamten, Oswald Pickel, der den Fall miterlebt hatte und heute noch im Dienst stand. Inzwischen jedoch bei der Stadt Schramberg. Sein damaliger Posten in Tennenbronn existierte nicht mehr. Während der Fahrt mit einem zivilen Geländewagen der Forstverwaltung durch schmale Waldwege achtete Krüger darauf, ob die Strecke auch mit einem normalen PKW zu schaffen wäre. Bei trockenem Wetter schien es möglich gewesen zu sein, obwohl der Weg nur gekiest war und meistens anstieg. Dass jemand eine Gefesselte oder sogar eine Tote ohne Fahrzeug an den Fundort verbracht hatte, erschien höchst unwahrscheinlich. Allerdings hatte Krüger auch schon einen solchen "Transport" mit einem verschließbaren Handwagen erlebt. Und nicht zuletzt anhand der Luftaufnahme schien die Zufahrt zum Fundort ebenfalls vom Berg ins Tal möglich. Auf den Berg gelangte man auf einer ganz normalen, asphaltierten Straße. Die richtige Abzweigung nicht zu verpassen, setzte jedoch genauste Ortskenntnisse voraus. „Würden Sie den Ort auch von oben nach unten fahrend finden, Herr Pickel?“, fragte Krüger deshalb.

Der schüttelte den Kopf. „Als der Fall ganz frisch war, sind wir einmal die verschiedenen Forstwege weg vom Fundort einzeln abgegangen und haben tatsächlich mehrere Möglichkeiten festgestellt. Jedoch, dass ich heute eine dieser anderen Strecken auf Anhieb finden könnte, das halte ich für praktisch ausgeschlossen!“

„Gehen Sie davon aus, Chef, dass die Tote bewusst genau an dieser Stelle abgelegt wurde?“, meldete sich Nadja.

„Da möchte ich mich nicht festlegen. Der Kreis der Personen, die sich hier wirklich auskennen, kann nicht besonders groß sein. Absolut möglich, dass jemand einfach auf gut Glück in den Wald gefahren ist, um die Tote loszuwerden.“

„Mit dem unkalkulierbaren Risiko gesehen zu werden oder stecken zu bleiben?“, warf Nadja ein.

„Eventuell jemand, der im Wald nicht besonders auffällt wie ein Jäger oder Förster“, gab Krüger zurück.

„Das gilt dann natürlich auch für ganz normale Waldarbeiter“, spann Pickel den Gedanken weiter.

„Wenn wir so weit gehen: Es ist an sich nicht schwierig, sich als eine solche Person auszugeben. Eine farbige Jacke, ein grüner Geländewagen, vielleicht noch eine Motorsäge und fertig ist der unverwechselbare Holzfäller.“ Nadja auf dem Beifahrersitz deutete mit den Händen eine üppig geformte Person an.

Krüger nickte. „Guter Einfall, Frau Smolenska!“ Er hatte allein auf dem Rücksitz Platz genommen. Neben sich die ausgebreitete Luftaufnahme, auf der er den bereits zurückgelegten Weg mit einem Bleistift laufend markierte.

„Mit Axt und wallendem Bart!“, ergänzte Pickel schmunzelnd. Selbstverständlich warf er ab und zu einen Seitenblick auf Nadja, die seine Aufmerksamkeit zumindest nicht zu stören schien.

„Ich habe ein Bild ohne Bart im Kopf“, behauptete sie keck. „Aber eine Wollmütze oder einen Schutzhelm, das könnte ich mir vorstellen.“

Krüger stutzte zwar kurz, ließ sich jedoch nicht auf den Disput der beiden ein. Seinen wichtigsten Ansatz, sich nicht gleich auf eine erste Idee festzulegen, hielt er stets eisern durch bei solchen Abklärungen.

***

Pickel hatte den Wagen mitten auf dem Weg stehen gelassen. Etwa hundert Meter vor der Stelle, wie von Krüger bestimmt. Jetzt bewegten sie sich zu Fuß, aufmerksam beobachtend wie üblich, wenn man sich einem Fundort näherte. Obwohl das Ereignis schon fünfzehn Jahre zurücklag. Gewohnheit, aber nicht nur. Krüger blieb stehen. „Wie wurde die Umgebung damals abgesucht, Herr Kollege?“

„Na ja, wir sind einfach herumgegangen. Für eine klassische Suchkette waren wir ohnehin zu wenige.“ Pickel schien nachzudenken. „An einen Hund erinnere ich mich. Aber ob und worauf er abgerichtet gewesen war? Keine Ahnung. Ich stand damals erst kurz im Dienst und wurde weder gefragt noch informiert über die Vorgehensweise.“

„Metallsuchgeräte?“, schob Krüger nach.

„Das hatten wir damals auf keinen Fall in der Ausrüstung!“ Pickel schien amüsiert. „Daran würde ich mich erinnern.“

„Na ja, die Truppe nicht. Aber die Spurensicherung?“ Krüger wirkte leicht genervt.

„Spuren wurden ausschließlich durch uns gesammelt. Ein Doktor war ebenfalls nicht nötig bei einer halbverwesten Leiche. Für Fotos sorgte einer von denen, die eine Kamera bedienen konnten.“ Pickel zuckte mit den Schultern.

„Das heißt, eine echte Spurensicherung hat damals gar nicht stattgefunden?“, stellte Krüger zögernd fest.

„Könnte man sagen.“

„Die Tote war laut Bericht unbekleidet. Erinnern Sie sich, ob trotzdem irgendwelche Textilreste gefunden wurden? Vielleicht unterhalb des Torsos oder in der Nähe, im Unterholz beispielsweise?“

„Da war gar nichts. Daran erinnere ich mich ziemlich genau, weil darüber noch lange gesprochen wurde. Und es war ja wohl der Hauptgrund, dass man gleich von einem Verbrechen ausging. Wer würde sich völlig nackt selbst umbringen?“

Krüger zog es vor, dies nicht zu vertiefen. „Wie wurde die Leiche abtransportiert?“

„Wenn ich mich recht entsinne, hat man den örtlichen Totengräber gerufen. Abgeladen hat er das Skelett allerdings bei der Gerichtsmedizin in Freiburg. Das steht ja auch so in der Akte.“

„Von einem Totengräber habe ich in der Akte nichts gelesen“, insistierte Krüger.

„Ja, möglich. Aber das mit Freiburg steht drin!“, beharrte Pickel.

„Wie lief denn die Identifizierung ab?“

„Na ja. Das Mädchen wurde seit rund drei Monaten als vermisst geführt. Da fiel es nicht schwer, den Zusammenhang zu sehen.“

Krüger stutzte wieder. „Sagen Sie nicht, es gab gar keinen verlässlichen Hinweis, dass es sich tatsächlich um Anna Duda gehandelt hat!“

„Weiß ich nicht mehr. Aber die Rechtsmedizin hat es schließlich ebenfalls bestätigt. Ich bin außerdem nicht die richtige Ansprechperson. Wie gesagt, ich hatte gar nichts zu melden damals!“

Krüger winkte ab. „Ja natürlich. Es geht mir auch gar nicht darum zu kritisieren, wie das seinerzeit abgelaufen ist. Ich möchte bloß meine Schlüsse auf Fakten abstellen, nicht auf nur angenommene Vorgänge. Wer hat eigentlich den Handschuh entdeckt?“

„Keine Ahnung. Ich war es jedenfalls nicht.“

„Ja dann.“

Krüger setzte sich wieder in Bewegung. „Ich habe hier die Originalskizze dabei.“ Er deutete auf das Klemmbrett, das er in der Hand hielt. „Können Sie mir sagen, wo der Handschuh genau lag, Herr Kollege?“

Pickel drehte sich und zählte die Stämme ab. Schließlich stockte er. „Wenn ich mich nicht komplett irre, dann stand dieser Baum damals noch.“ Er deutete auf einen Strunk, der offensichtlich schon vor etlichen Jahren abgesägt worden war. „Die Fallrichtung zeigt genau auf die Stelle“, überlegte er laut. „Ob das ein Zufall gewesen ist?“

Krüger zuckte mit den Schultern. „Was könnte es bringen? Spuren verwischen? Nachdem man die Tote gefunden und die Stelle gründlich untersucht hat?“

„Unwahrscheinlich“, pflichtete Pickel kleinlaut bei.

Neue Erkenntnisse blieben erwartungsgemäß aus. Aber damit hatte Krüger auch nicht gerechnet. Er wollte bloß eine naturgetreue Situation im Kopf haben, wenn er über Motiv und Zeugenaussagen nachdachte. Nadja fotografierte fleißig, wie von Krüger aufgetragen, um die Umgebung im Bild festzuhalten. Die original vorhandenen Fotos zeigten nur Dinge, die damals für relevant gehalten wurden wie die Tote oder den einzelnen Latexhandschuh. Teuren Film für die Aufnahme von bloßem Waldboden oder gewöhnlichen Baumstämmen zu verschwenden, war früher absolut nicht üblich gewesen.

Krüger wusste dies aus eigener Erfahrung. Ein erstes Mal, dass er Meyer mit Ypsilon recht geben musste, dass ein älterer Ermittler bei solchen Fällen tatsächlich über gewisse Vorteile verfügte.

***

Um die Akten zum Vorgang der verschwundenen Jadwiga Grabowska, der Kollegin von Anna Duda zu vervollständigen, schickte Krüger seine neue Assistentin alleine los. Er ging davon aus, sie würde die aktiven und die ehemaligen Beamten der Dienststelle Schramberg bei Bedarf ganz locker um den Finger wickeln. Beispielsweise um an Infos zu kommen, die in keinen Berichten standen. Krüger war aufgefallen, dass die Vermisste zum Schicksal ihrer Kollegin mehrfach befragt wurde, bevor sie selbst verschwand. Obwohl ihre Aussage kaum wesentlich zur Klärung beitragen konnte. Sie hatte Anna nur flüchtig gekannt. Sie stammten zwar aus dem gleichen Ort und waren durch die dieselbe Vermittlerin zu ihren Gastfamilien gekommen. Ein einziges Mal reisten sie gemeinsam nach Hause, zum letzten Weihnachtsurlaub von Anna. Im Zug hatten sie sich kennengelernt und während der Fahrt unterhalten. Lauter Belanglosigkeiten, die Mädchen in diesem Alter vorwiegend interessieren, hatte jemand handschriftlich auf der Akte vermerkt. Die zarte Schrift ließ auf eine Dame schließen. Allerdings hatte die Person es vorgezogen, anonym zu bleiben.

Jedoch waren von der Zeugin mehrere Fotos in der Akte enthalten, die ihre Eltern zur Verfügung gestellt hatten. Jadwiga Grabowska, damals knapp zwanzig, hinterließ zweifellos bei den meisten Menschen einen bleibenden Eindruck. Sie strahlte eine vornehme Anmut aus, vermengt mit nobler Zurückhaltung. Eine unwiderstehliche Mischung aus zartem Engel und üppigen Formen, gekrönt durch eine absolut aufrechte Körperhaltung, die ihren außerordentlich elegant geschwungenen Hals erst richtig zur Geltung brachte. Krüger war es schwergefallen, die Bilder einfach in den Karton zurückzulegen. Welch ein Frevel, sich an dieser Vollkommenheit zu vergreifen, ging ihm immer wieder durch den Kopf. Auch Anna war eine junge Schönheit gewesen. Jedoch neben Jadwiga verblasste sie zum Mittelmaß.

Allerdings stimmte die Begründung für Nadjas Alleingang, den er ihr genau erklärt hatte nicht hundertprozentig. Krüger hatte vor, den Fundort Annas nochmals ungestört aufzusuchen. Davon brauchte vorerst niemand etwas zu wissen. Auch Nadja nicht. Noch kannte er sie kaum. Falls er wider Erwarten einen relevanten Fund erzielte, würde er sein Umfeld selbstverständlich einweihen. Oder andernfalls die Sache einfach unter den Tisch fallen lassen. Außerdem ging es darum, sich die Loyalität der Beamten vor Ort zu erhalten. Die könnten seine Aktion leicht als Rückenschuss ansehen. Obwohl die damaligen Ermittlungen den Namen kaum verdienten, bedeutete dies nicht, dass man durch ernsthafteres Suchen zwangsläufig weitere Indizien gefunden haben müsste.

***

Diesmal fuhr Krüger selbst. Zuvor hatte er sich bei der Fahrbereitschaft einen Geländewagen und bei der Spurensicherung einen Metalldetektor besorgt. Seine neue Stellung ermöglichte dies ohne klare Angaben, wozu er die Ausrüstung benötigte. Den Weg wiederzufinden, schaffte er nur dank seiner Kreuzchen auf der Luftaufnahme. Die direkte Erinnerung an den Ausflug mit Pickel und Nadja erwies sich als praktisch nutzlos. Die einheitlich braunen Stämme am Wegrand wiederholten sich unablässig. Egal, auf welchem Waldweg man sich bewegte.

Ein Aspekt, den man keinesfalls außer Acht lassen durfte, wenn man sich gedanklich in denjenigen versetzen wollte, der Anna hier deponiert hatte. Schon bloß diese Erkenntnis rechtfertigte den heutigen Aufwand, dachte er. Für einen Stadtmenschen wie ihn wäre es völlig unmöglich, sich in diesem Wald zurechtzufinden. Selbst ohne Leiche im Kofferraum.

Er parkte wie üblich ein Stück vor der Stelle. Die Reifenspuren am Wegrand von Pickels kompliziertem Wendemanöver zeigten ihm an, dass er richtig lag. Die Abdrücke wirkten so frisch, als ob sie erst von heute stammten. Hier im Wald dauerte jegliche Veränderung viel länger als in seiner gewohnten Umgebung, schloss Krüger daraus.

Er griff nach dem Detektor und stieg aus. Die Stille im Wald brachte ihn dazu, sich selbst so lautlos wie möglich zu verhalten. Ungewohnt, sogar irgendwie beklemmend. Was konnte er tun, wenn plötzlich ein Bär auftauchen sollte?

„Bären in Schramberg“, murmelte er vor sich hin. „So ein Blödsinn!“

Ein deutliches Rascheln ließ ihn erschauern. Allerdings kein Bär, sondern einige Rehe, die ein Stück entfernt vorbeihuschten. Er schüttelte den Kopf. Tatsächlich geschafft, sich selbst zu erschrecken.

Entschlossen schaltete er den Detektor ein, nachdem er sich einen der Ohrhörer eingesteckt hatte. Das andere Ohr wollte er sich lieber freihalten. Natürlich nicht um möglicherweise auftauchende Bären …

Ein Schlenker am Wagen vorbei zur Kontrolle entlockte dem Gerät einen an- und abschwellenden Signalton. Er nickte zufrieden. „Wenigstens macht das Ding keine Sperenzchen!“, murmelte er.

Wie vorgegeben, schlenderte er in regelmäßigen Bahnen hin und her, das Gerät vor sich schwenkend. Natürlich erschwerten die Bäume eine genaue, schachbrettartige Suche. Irgendwelche Zeichen, wo er bereits gesucht hatte, verkniff er sich. Außerdem versuchte er, gelegentlich vorkommende Kräuter oder andere kleinere Grünpflanzen unbehelligt stehen zu lassen. Schließlich wollte er Spuren suchen, nicht welche legen.

Nach und nach näherte er sich der Liegestelle. Pickel hatte sie durch einen hingelegten, flachen Stein markiert. Als Krüger den Suchteller darüber schwenkte, schlug das Gerät an. Natürlich grenzte er die Stelle sofort genauer ein. Auf dem Display blinkte ein Symbol, ein durchgekreuztes Hufeisen.

„Nichteisenmetall“, brummte Krüger. Offenbar genau unter dem Stein.

Moment! Das hatte er schon einmal erlebt. Da wurde er durch einen Stein, der offenbar irgendwelche Metallanteile in sich barg, zum Narren gehalten. Er griff nach dem Stein und legte ihn zur Seite. Erneut glitt die Spule des Gerätes über die Stelle. Das Signal blieb unverändert. Kein Zweifel, hier lag Metall in der Erde. Kein Eisen. Möglicherweise der Verschluss einer Aludose. Oder ein Kronenkorken, den ein durstiger Wanderer achtlos ins Gebüsch geschmissen hatte. Wahrscheinlich. Sehr wahrscheinlich sogar. Jedoch würde ein im Boden steckendes Geschoss vermutlich kaum ein anders geartetes Signal verursachen.

Was nun?

Wenn er zu graben begann, war es vorbei mit der Geheimhaltung. Den Waldboden konnte man nicht perfekt wiederherstellen. Falls er doch nur ein Stück belanglosen Müll erwischte, würde man ihm zu Recht vorwerfen, dass er wie ein Trottel gehandelt hatte. Das Gerät zeigte eine Tiefe von mehr als zwanzig Zentimetern an. Eine unauffällige Sondierung schloss sich damit aus. Andererseits, wie gelangte ein Stück Abfall so tief ins Erdreich? Die Antwort fügte sich gleich an. Manche Menschen vergruben nach einer Rast ihren Müll, um nicht erwischt zu werden.

Allerdings könnte eine auf eine liegende Person abgefeuerte Kugel …

3. Kapitel

Nadja wurde schnell klar, was in Pickels Abteilung fehlte. Eine weibliche Beamtin in begehrenswertem Alter, die sich gerne von den Kollegen bewundern und verwöhnen ließ. Die Beschreibung passte hervorragend zu ihr selbst. Natürlich arbeiteten auch einige Damen in den Büros der Etage. Jedoch ausnahmslos von der Sorte graue Mäuse, deren Fehlen kaum einem Mann auffallen würde.

Nicht nur Pickel und dessen Kollegen gaben sich beeindruckt von Frau Smolenska. Auch die beiden Praktikanten wirkten gleich nervös, sobald sie bloß an ihnen vorbeiging. Wobei der Ausdruck, gehen, dem Vorgang kaum wirklich gerecht werden konnte. Allerdings wollte Nadja nichts von denen. Ihr Ziel lag woanders. Auch Pickel selbst bedeutete nur einen Zwischenschritt. Der in den Akten erwähnte Eduard Schuster, damaliger Chef des Postens in Tennenbronn und damit Leiter der Ermittlung an Annas Fundort. Der genoss inzwischen seine Pension und konnte deshalb nicht einfach zur Auskunft aufgeboten werden. Oder unter Druck gesetzt, um eventuelle Fehler zuzugeben. Diese Dienststelle wurde kurz nach Schusters Abgang endgültig geschlossen. Mitarbeiter und Akten fanden in der Stadt Schramberg eine neue Bleibe.

Schusters heutige Wohnadresse hatte Pickel schon längst ausgeplaudert. Jetzt ging es für Nadja darum, einen Grund zu finden, um den Mann zu treffen. Absolut unverfänglich. Krüger hatte als oberstes Gebot gesetzt, so wenig wie möglich von den neuen Untersuchungen durchsickern zu lassen. Dies galt vor allem für Leute, die irgendwie an der Sache beteiligt gewesen waren oder auch gewesen sein könnten. Zu gegebener Zeit, beispielsweise um jemanden nervös zu machen, würde sich die Taktik entsprechend nutzen lassen.

„Sag mal, Waldi, was habt ihr früher eigentlich in Tennenbronn so gemacht, bevor es Internet gab. War das nicht grauenhaft langweilig?“ Nadja spitzte absichtlich zu und zwinkerte fast mit den Augen bei der Frage.

„Na hör mal!“, reagierte Kollege Pickel sofort, „denkst du etwa, uns sei damals nichts eingefallen?“

„Ja was denn zum Beispiel?“

Oswald, Waldi wie er sich gewünscht hatte, stutzte kurz. Darüber hatte er gar nicht nachdenken können. „Damals pflegten wir noch einen zünftigen Stammtisch“, begann er. „Im Alten Krug war immer etwas los. Nicht nur saufen. Wir haben auch ernsthaft diskutiert. Über Politik und …“

Nadja bleckte ihre wunderschönen Zähne. „Über Frauen?“, schob sie ein.

„Ja klar. Die Weiber. Ich meine natürlich die Damen!“ Er ließ einen krass abgehackten Lacher hören. „Waren öfters ebenfalls Thema. Ist ja auch keine einfache Sache, äh, Sorte oder?“

Sie wirkte irritiert und zuckte bloß mit den Schultern.

„Na, komm schon. Ist doch meistens Absicht, wenn ihr so, so schwierig herumzickt? Oder etwa nicht?“

„Absicht?“ Nadja wirkte echt erstaunt. „Was könnten wir denn damit beabsichtigen?“

„Na ja. Sich Aufmerksamkeit verschaffen. Im Gespräch bleiben. Wünsche erfüllt bekommen, wofür ihr dann eine Weile Ruhe gebt.“

Sie konnte ein Grinsen kaum unterdrücken. „Ich habe ja zu diesem Thema schon Verschiedenes gehört. Jedoch das ist mir neu.“

„Sei bitte nicht böse, aber ich glaube dir kein Wort.“

„Du kennst dich also aus“, stellte sie fest.

„Mit schwierigen Bräuten, meinst du? Na ja. Auf jeden Fall habe ich schon eine ganze Menge miterlebt. In Tennenbronn gab es keine Beamtinnen im Dienst. Wir mussten auch mal ran, wenn es sich eigentlich nicht gehörte.“

„Hast du ein Beispiel?“

Er zögerte kurz. „Da war mal so eine Waldfete. Worum es genau ging, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall mussten wir eingreifen, weil einige Hühner aufeinander losgegangen sind. Wir waren ohnehin schon vor Ort. Fand ich speziell, die raufenden Weiber zu greifen und zu fesseln!“

Nadja hob die Brauen. „Greifen und fesseln?“

„Also natürlich hatte alles seine Ordnung. Der Chef war schließlich auch dabei. Wir haben die Damen voneinander getrennt und mit Handschellen gesichert. Genau nach Vorschrift. Aber was sollte ich machen? Jede hatte praktisch nur noch zerrissene Kleider. Ist doch klar, dass wir versucht haben, wenigstens die Brüste oder sogar nackte Hintern wieder irgendwie zu bedecken.“

„Und wie bist du vorgegangen?“ Nadja wirkte belustigt. „Um die Brüste zu bedecken, meine ich“, ergänzte sie. „Womit hast du dir geholfen?“

Waldi zuckte mit den Schultern. „Die BHs waren ja noch da. Bloß heruntergerissen. Da haben wir die Dinger einfach wieder dahin zurückgestopft, wohin sie gehören. Also die Titten, meine ich.“

„Hatte ich auch so verstanden“, murmelte Nadja. „Bei gefesselten Frauen. Als eine Art Dienstleistung. Natürlich, die Polizei, dein Freund und Helfer“, stichelte sie.

„Ich sagte ja, dass sich so was nicht gehört. Immerhin blieb es ein Einzelfall. Viel öfter kam vor, dass ich betrunkene Frauen aus dem Verkehr ziehen oder welche nach Ladendiebstählen verhören musste. Ich kenne sogar solche, die ihre Ehemänner misshandeln. Und letztes Jahr hat hier in der Stadt eine ihren Mann mithilfe von Pilzen aus der Welt geschafft. Das alles hat meine Wahrnehmung der Damenwelt im Lauf der Zeit wesentlich verändert.“

„Solche Dinge kommen natürlich vor“, bestätigte Nadja kleinlaut. „Auch Frauen können nicht immer nur Engel sein.“ Sie klang irgendwie betroffen, stellte Waldi fest. Mehr, als zu erwarten war.

***

Krüger wollte auf keinen Fall die gleichen Reifenspuren hinterlassen wie der Kollege Pickel. Deshalb verzichtete er auf einen Versuch, den Wagen zu wenden. Er fuhr stattdessen nach oben. Irgendwann würde er auf die Bergstraße gelangen, die von Schramberg über den Hügel ins Sulzbachtal führte. Natürlich hatte er auf eine Probegrabung verzichtet. Sein nächster Anhaltspunkt sollte die Gerichtsmedizin in Freiburg werden. Bestand die Möglichkeit, dass an den eingelieferten Überresten des Leichnams eine Schussverletzung übersehen worden sein könnte? Weniger infolge einer schlampig ausgeführten Untersuchung, sondern weil der Körper damals unvollständig aufgefunden und wohl auch nicht mit besonderer Sorgfalt transportiert wurde. Nach Pickels Ausführungen wurden die Leichenteile einfach eingesammelt und auf eine Plane geschichtet, die der Bestatter am Schluss zu einem Bündel formte und als Ganzes in einen normalen Leichensack stopfte. Dass dabei einiges durcheinandergeraten war, hatte sich bestimmt nicht vermeiden lassen.

Tatsächlich führte der Waldweg nicht direkt in die Bergstraße. Immer wieder gabelte er sich auf. Krüger wählte jeweils die Seite, die er für die richtige hielt. Dass dies eine reine Lotterie sein dürfte, war ihm klar, obwohl er darauf achtete, ständig weiter nach oben zu fahren. Es kam, wie es kommen musste. Plötzlich endete der Weg. Immerhin an einer imposanten Jagdhütte. Wenigstens konnte man hier wenden, ohne auffällige Spuren zu hinterlassen. Allerdings stieg er erst aus und klopfte an ein Fenster des Hauses. Keine Reaktion.

Schließlich gab er auf und breitete seine Luftaufnahme auf der Motorhaube aus. Vor der Hütte befand sich ein Fleck ohne Bäume. Dieser musste auf dem Foto zu finden sein, wenn man wusste, wonach man suchte. Es dauerte trotzdem mehrere Minuten, bis Krüger sicher war. Er stand tatsächlich gar nicht weit weg von der Bergstraße. Ein Stück zurück, dann die zweite links, bei der nächsten Gabel wieder auf die rechte Seite wechseln. Dieser Weg führte direkt auf die asphaltierte Straße, wo sie in einer engen Kehre einmündete. Von oben an den Fundort Annas zu gelangen, ohne perfekte Ortskenntnisse, ließ sich wirklich praktisch ausschließen. Von unten her schien es eher möglich, dass jemand auf gut Glück in den Wald hinein gefahren war. Jedoch wohl kaum mit einer Leiche im Kofferraum? Oder konnte einer so blöd sein?

Vermutlich kam ein völlig anderer Ablauf viel eher infrage. Beispielsweise eine ausufernde Party in der Jagdhütte, die mit einem schweren Übergriff geendet hatte. Wahrscheinlich bestand keine Absicht, das Mädchen umzubringen. Man brachte sie bloß an einen extrem abgelegenen Ort, um sich einen bedeutenden Vorsprung zu verschaffen oder um in Ruhe untertauchen zu können. Dabei könnte dann etwas schiefgegangen sein. Eventuell hatte sie den oder auch einen der Täter erkannt. Oder sie hatte sich so massiv gewehrt, dass sie dabei verletzt wurde und sich die Sache deshalb nicht mehr einfach vertuschen ließ.

Jeder Jäger trug eine Kurzwaffe mit sich herum, um einem verletzten Tier den erlösenden Fangschuss zu geben. Oder auch einer laut um Hilfe schreienden Frau, die anders nicht mehr zu beruhigen war? Eine krasse Vorstellung.

Aber wenn es sich bei dem Metallstück im Boden um eine Kugel handelte, dann trotzdem eine nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit.

Wurde Anna möglicherweise bei einem Handgemenge direkt an der Fundstelle erschossen, fiel Krüger plötzlich ein? Vielleicht hatte sie es geschafft, ihrem Angreifer die Waffe zu entreißen, aber nicht, sie danach gegen ihn anzuwenden.

Eine vergleichsweise plausible Möglichkeit. Und bei einem liegenden Paar würde der Schusskanal tatsächlich nach unten zeigen.

Ein Jäger war daran gewöhnt, seine Beute so rasch wie möglich auszuweiden. Also würde er vermutlich auch über die Nerven verfügen, von einer Toten alles zu entfernen, was sie an oder auf sich trug, um Spuren zu verwischen.

In diesem Fall schloss sich ebenso nicht aus, dass es im Verlauf einer an sich normalen Beziehung passiert sein könnte. Normal jedoch bloß aus Annas Sicht. Krüger hatte in Jägerkreisen schon davon gehört, dass sich nicht jeder nur mit Abschüssen von Rotwild begnügte. Diese Rangliste wurde zwar nicht offiziell geführt. Der Sieger genoss jedoch trotzdem einen sehr hohen Stellenwert in der Gemeinschaft. Man suchte sich dazu leicht zu beeinflussende Opfer. Idealerweise ein junges, unerfahrenes Ding, das in der Gegend über keinerlei Anhang verfügte. Wie beispielsweise ein ausländisches Kindermädchen. Angelockt mit der Aussicht auf ein besseres Leben an der Seite eines vermögenden Partners. Bis sie dann begriff, worum es wirklich ging, war es meistens zu spät. Und fast immer blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als zu schweigen. Wenn sie sich zu Hause noch einmal blicken lassen wollten.

Krüger musste seine düsteren Überlegungen etwas einschränken, um sich besser auf das Fahren zu konzentrieren. Er hatte die Bergstraße längst erreicht. Trotzdem: Noch bevor er die Rechtsmedizin in Freiburg aufsuchte, würde er herausfinden, zu wem die stattliche Jagdhütte gehörte. Die Situation passte einfach zu präzise, um sie zu ignorieren. Ein gewisser Reichtum, Waffen im Haus, ausgezeichnete Ortskenntnisse. Höchstwahrscheinlich mit Geländewagen im Besitz. Kaum Gefahr, durch einen abgegebenen Schuss im Wald aufzufallen. Und nicht zuletzt: definitiv die Umgebung für Familien, die sich normalerweise dauerhaft Kindermädchen oder Haushaltshilfen leisteten. Und sei es nur, um Nachbarn und Freunde zu beeindrucken. Oder auch, um immer genügend Jungwild zur Hand zu haben.

4. Kapitel

Kommissar Krüger studierte die Akte während der Bahnfahrt von Freiburg nach Konstanz ein weiteres Mal, um auch im Detail sattelfest zu sein. Gerade jüngere Kollegen vermuteten sonst rasch, dass der ältere Herr vom BKA die Abläufe nicht mehr bis ins letzte Detail erfassen konnte. Im Groben wusste er längst Bescheid: Eine Streife hatte einen als gestohlen gemeldeten Opel Corsa in einem Gewerbegebiet in Konstanz nahe der Schweizergrenze entdeckt. Da damals kein weiterer Zusammenhang bekannt gewesen war, wurde das Fahrzeug unverzüglich sichergestellt. Ohne die eventuelle Chance zu nutzen, dem Dieb eine Falle zu stellen.

Der Opel stand einige Wochen auf einem gesicherten Parkplatz, bis er schließlich "abgearbeitet" wurde. Reine Routine. Lange schon war man dazu übergegangen, bei Bagatelldelikten nur noch DNA-Profile zu erstellen und eventuell vorhandene Fingerabdrücke zu sichern. Anstatt Einbrecher und Kleinkriminelle aktiv zu verfolgen. Diejenigen, die es regelmäßig betrieben, wurden früher oder später ohnehin erwischt. Dann konnte man ihnen gleich die gesamte Liste ihrer Anwesenheit an Tatorten präsentieren. Die Methode erwies sich als gründlich, sicher und vergleichsweise mit wenig Aufwand verbunden.

Der Wagen selbst stellte bloß noch einen minimalen Wert dar. Der letzte angemeldete Besitzer aus Tuttlingen fuhr längst einen neueren Opel und wollte die alte Karre nicht einmal umsonst zurückhaben.

Immerhin entdeckten die Spurensicherer eine ziemlich teure Herrenuhr unter dem Fahrersitz. Dem Vorbesitzer gehörte sie jedoch nicht, wie erst vermutet. Dass der oder die Diebe sie absichtlich zurückgelassen hatten, konnte man mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.

Es zeigte sich anhand der reichlich vorhandenen Hautschuppen im Armband, dass die Uhr der einzige Spurenträger im Wagen mit diesem DNA-Profil blieb. Und das Profil führte zu einem Treffer in der Datenbank. Die Uhr und den Gummihandschuh, der neben Annas Leiche gefunden wurde, hatte dieselbe Person mindestens einmal getragen. Das bedeutete nicht zwangsläufig, dass es sich dabei um den Mörder handeln musste. Aber vorsichtig ausgedrückt, Erklärungsbedarf bestand auf jeden Fall.

Trotz der scheinbar guten Ausgangslage: Die Person war leider unbekannt. Deshalb hielt man die biologischen Erkenntnisse vorerst zurück. Ganz offiziell suchte man bloß nach dem Besitzer der Uhr, um ihm sein Eigentum zurückzugeben.

Allerdings herrschte keinerlei Hektik bei der Suche. Und Krüger erhielt lediglich Bericht aus Konstanz, wenn sich in der Sache etwas bewegte oder falls neue Maßnahmen geplant wurden.

Nichtsdestotrotz hatten die zuständigen Kollegen inzwischen eine ganze Reihe von Einbruch- oder Diebstahlopfern angeschrieben und ihnen Fotos samt genauer Beschreibung dieser Uhr zukommen lassen.

Bislang jedoch vergeblich.

Nun beabsichtigte man als Nächstes eine Veröffentlichung in Zeitungen und eventuell im Fernsehen zu veranlassen. Selbstverständlich ging das nicht ohne die Zustimmung des Sonderermittlers aus Freiburg. Für Krüger ein Grund, endlich selbst einmal nach Konstanz zu reisen. Geplant hatte er dies ohnehin seit Längerem, er wollte jedoch nicht mit völlig leeren Händen auftauchen. Deshalb hatte er mit "seiner persönlichen Beraterin" eine Strategie ausgeheckt, die er nun umzusetzen gedachte. Logischerweise zweifelte niemand daran, dass es sich bei der Beraterin um Nadja Smolenska handelte. Krüger sah trotzdem keinen Grund zu erklären, dass damit in erster Linie seine Lebenspartnerin gemeint war. Selbstverständlich bezog er Nadja mit ein. Aber das Wesentliche entstand aus den gemeinsamen Überlegungen mit Frau Graßel.

Die Strategie diente dem Ziel, den Uhrenbesitzer möglichst ohne öffentliches Aufsehen ausfindig zu machen. Beginnen wollte Krüger mit dem Opel. Laut Bordbuch war das Fahrzeug zum letzten Mal am 15. Juli in der Werkstatt gewesen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Kilometerstand notiert. Seither waren bloß 951 weitere Kilometer dazugekommen. Gestohlen wurde der Opel am 17. August. Ein Beamter sollte mithilfe des Besitzers anhand dessen Fahrgewohnheiten ermitteln, welchen Teil davon der Dieb in etwa zurückgelegt haben könnte. Krügers Überlegung: Mit ziemlicher Sicherheit dürfte der Gesuchte innerhalb dieses Radius bestohlen worden sein. Zwischen Konstanz und Tuttlingen lagen 55 Kilometer, von da nach Schramberg weitere 55. Krüger ging davon aus, dass der Wagen nur kurz, höchstens für einige Tage als Fluchtwagen benutzt wurde. Beispielsweise am Wochenende vom 17 – 19. August.

Durch Abgleich von Einbrüchen in der berechneten Distanz an diesem Wochenende versprach sich Krüger einen relevanten Anhaltspunkt. Dass der Wagen nicht nur für ein Delikt, sondern für eine ganze Diebestour geklaut wurde, setzte er zunächst einmal voraus.

***

Nadja hatte inzwischen einen Weg gefunden, um unauffällig bei Eduard Schuster aufzukreuzen. Sie sollte erst mal erkunden, wie er heute zu den Fällen Anna Duda und Jadwiga Grabowska stand. Würde er aktiv mithelfen oder sich sperren und zurückziehen, um eigene Fehler zu vertuschen. Überspitzt formuliert, hatte er in dieser Angelegenheit ziemlich versagt. Vor allem, wenn man die offensichtlichen Mängel bei der Bergung von Anna miteinbezog. Das Problem bestand nicht darin, dass man damals nicht über die notwendigen Mittel zu einer adäquaten Untersuchung verfügt hatte. Sondern, dass er es versäumte, die Spezialisten des Landeskriminalamtes einzuschalten.

Dass etliche Revierleiter das jeweilige LKA lieber außen vor ließen, war an sich nichts Neues. Man empfand es als demütigend als Eingeständnis der eigenen Inkompetenz, den "großen Bruder" rufen zu müssen. Anstatt es einfach als die nächste Stufe der Optionen zu sehen. Hier lag der Fehler offenbar eher im System.

Die Angaben zu Schusters Person schienen widersprüchlich. Einerseits wurde er als korrekt und kompetent beschrieben, andererseits auch als aufbrausend und rechthaberisch. Wie fast überall war der Chef nicht bei allen Mitarbeitern gleich beliebt.

Schuster hatte sich im Ruhestand dem Verein Heimatmuseum Tennenbronn angeschlossen. Als aktives Mitglied. An mehreren Tagen im Monat stand er für Führungen oder Aufsicht während der Öffnungszeiten des Museums zur Verfügung. Das wusste Nadja von Kollege Pickel, nachdem sie ein Gespräch auf mögliche Langeweile im Ruhestand gelenkt hatte. In der Sammlung befanden sich angeblich nicht bloß alte Haushaltsgegenstände und landwirtschaftliche Geräte. Sondern auch etliche Folterwerkzeuge sowie beklemmende Schriftstücke, die von den Methoden der mittelalterlichen Justiz berichteten. Auf dieser Schiene, so hoffte Nadja, ließ sich eine Unterhaltung über alte und schließlich auch neuere Kriminalfälle einfädeln.

Vorteilhaft wie meistens dürfte sich dabei eine hübsche, echt interessierte weibliche Fragestellerin auswirken.

Bei ihrem ersten Besuch war er schlicht nicht da. Immerhin stand im Vorraum eine Tafel mit den "Highlights" der nächsten Tage und wer sie dem staunenden Publikum präsentieren würde. Ein E. Schuster fand sich für kommenden Dienstag auf der Liste. Bis dahin mussten sich Nadja und der Kommissar gedulden.

***

Krüger erhielt bei der Forstverwaltung Auskunft über das Jagdrecht im Wald, in dem Anna gelegen hatte. Jagdrecht und Hütte gehörten der örtlichen Farbenfabrik. Das Revier stellte einen sogenannten Eigenjadbesitz dar, der mit niemandem geteilt werden musste. Soweit ging die offizielle Auskunft. Der Förster, der Krüger zu einem "gepflegten Schnäpschen" eingeladen hatte, erzählte von sich aus, wie die Sache gehandhabt wurde. „Von der aktuellen Besitzergeneration jagt niemand mehr selbst. Man überlässt es verdienten Kadermitarbeitern als exorbitantes Privileg, den Wildbestand im Zaum zu halten. Die Berufung, die jedes Jahr aufs Neue vergeben wird, solle extrem begehrt sein“, fuhr der Förster mit leiser Stimme fort: „Die jeweiligen Nutznießer gehören danach praktisch automatisch zu den besseren Kreisen der Stadt Schramberg. Weitere Einladungen zur Jagd in anderen Revieren bleiben fast unvermeidlich, sobald der Ritterschlag erfolgt ist. Dass diese neuen Bekanntschaften auch weiterreichende Vorteile bedeuteten, kann man sich ja leicht ausrechnen“, schloss er.

Krüger nahm die Informationen dankbar zur Kenntnis. Blieb zu ergründen, wie lange dieser Modus bereits existierte. Hoffentlich länger als fünfzehn Jahre.

***

In der Rechtsmedizin der Uni Freiburg kannte man Kommissar Krüger selbstverständlich. Deshalb rief die Empfangsdame gleich den Direktor des Instituts, nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte. Professor Gründel war seit mehr als zwanzig Jahren hier tätig und damit auch der Dienstälteste.

Der Professor hatte Krüger während seines Aufenthalts in der Klinik mehrmals besucht und war deshalb auf dem Laufenden. „Sie haben sich ja prächtig erholt, Herr Kommissar“, ließ er anerkennend hören.

Krüger winkte ab. „So schwer verletzt war ich nun auch wieder nicht, Herr Professor.“

„Na ja, tatsächlich sind Sie nicht direkt bei mir gelandet, Herr Kommissar. Aber zu spaßen war mit dieser Fraktur trotzdem nicht.“

„Ich beuge mich selbstverständlich Ihrer Einschätzung, Herr Professor. Ehrlicherweise bin ich jedoch nicht meinetwegen hergekommen. Ich möchte Sie um Rat bitten in einer anderen Sache. Es geht um eine Tote, deren Überreste hier im Institut untersucht wurden. Allerdings sind seither fünfzehn Jahre vergangen. Die Tote hieß Duda. Anna Duda, sie stammte aus Polen. Teile von ihr wurden in einem Wald bei Schramberg gefunden. Die Liegezeit wurde damals auf etwa drei Monate geschätzt.“ Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich erwarte selbstverständlich nicht, dass man sich einfach so an eine Untersuchung erinnert, die fünfzehn Jahre zurückliegt. Außerdem könnte der damalige Gerichtsmediziner längst pensioniert sein oder sich einem anderen Institut zugewandt haben.“

Der Professor lächelte. „Damals war ich einer der aktiven Fachärzte. Der Name sagt mir zwar auf Anhieb nichts. Jedoch kann unser Archivar die Akte problemlos heraussuchen. Darin ist selbstverständlich vermerkt, wer sie auf dem Tisch hatte. Aber selbst wenn sie nicht bei mir war. In den meisten Fällen wirft man ohnehin mal zwischendurch einen Blick auf die Arbeit der Kollegen. Oder es wird auch einfach gemeinsam über einen Befund diskutiert. Gut möglich, dass ich trotz allem etwas mitbekommen habe. Duda, sagten Sie?“

Krüger nickte. „Anna Duda.“

Der Professor schlenderte zu einem an der Wand angebrachten Haustelefon. „Das Archiv bitte!“

Krüger wartete geduldig, während der Professor versuchte, den Archivar an die Strippe zu bekommen. „Schon Zuhause! Um diese Zeit?“, moserte er.

Schließlich gab Gründel auf. „Tut mir leid, Herr Kommissar. Heute geht das nicht mehr.“

Krüger gab sich entspannt. „Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nach fünfzehn Jahren nicht an. Außerdem haben wir kaum eine andere Wahl, oder?“

„Wir könnten natürlich selbst suchen gehen“, sinnierte der Professor. „Aber bei diesen Mengen im Archiv …“

„Bestimmt nicht“, wehrte Krüger ab. „Das ist absolut kein Notfall.“

„Trotzdem, Herr Kommissar. Ich kümmere mich darum. So bald wie möglich. Wollen Sie nur den Bericht haben oder möchten Sie den Vorgang lieber mit mir besprechen?“

„Das Letztere fände ich ausgezeichnet!“

„Dann machen wir das so. Wie kann ich Sie erreichen?“

Krüger zückte eine seiner neuen Visitenkarten. „Bitte, Herr Professor!“

Der stutzte kurz. „BKA, Sonderermittler. Wie soll ich Sie denn jetzt korrekt ansprechen?“

„Bloß keine Umstände!“, wehrte Krüger ab.

„Wenn Sie meinen, Herr Kommissar.“

„Danke für Ihre Zeit, Herr Professor!“

„Aber gerne.“

***

Die Führung im Heimatmuseum startete pünktlich um zehn Uhr. Nadja hatte kaum erwartet, dass außer ihr etliche weitere Besucher anwesend sein könnten. Darin hatte sie sich jedoch gründlich getäuscht. Offenbar hatte der Veranstalter einer Kaffeefahrt von dieser praktischen Gelegenheit, um Zeit totzuschlagen, Wind bekommen. Ein weiterer Irrtum, wie Nadja bald feststellte. Eduard Schuster wies gleich von Anfang an darauf hin, dass man die vorgestellten Spezialitäten der Gegend am Nachmittag bei gemütlichem Zusammensein zu günstigen Konditionen erwerben könne. Wenigstens ließ sich dadurch der Sinn des Ganzen ziemlich klar erkennen. Ausgerechnet ein pensionierter Hauptkommissar mit normalerweise ausreichender Beamtenpension beteiligte sich mit klarer Begeisterung an dubiosen Verkaufsveranstaltungen. Nadja überlegte während der gesamten Führung durch das Museum, ob sie Schuster überhaupt befragen sollte. Er würde bestimmt rasch dichtmachen, sobald er vermutete, dass es sich um Nachforschungen zu seinem Nebenjob handeln könnte. Als langjähriger Polizist dürfte er schwer zu täuschen sein, vor allem wenn es um die eigene Haut ging. Einen zufriedenen Rentner mit weiblichen Reizen einzuwickeln, verlangte dagegen kaum besondere Fähigkeiten, falls frau entsprechend ausgestattet war. Nadja beschloss, sich zuvor mit Krüger zu besprechen. Deshalb schlich sie sich erst unauffällig auf eine Toilette und verließ danach direkt das Museum.

***

Krüger traf sich zur gleichen Zeit erneut mit Professor Gründel in der Rechtsmedizin. Der kam gleich zur Sache: „Sobald ich die Akte aufgeschlagen hatte, erinnerte ich mich sofort wieder. Selten habe ich eine solche Schlamperei erlebt wie bei dieser Sache. Ich obduzierte damals leider nicht selbst, sonst hätte ich eventuell etwas retten können. Bevor ein Assistent den gesamten Inhalt der Lieferung in ein Becken kippte.

Anstatt uns vorschriftsgemäß an den Fundort zu rufen, schmiss man uns ein Bündel mit Leichenteilen vor die Füße. Durch den Druck des Sackes und die Erschütterungen beim Transport vermengten die letzten vorhandenen Weichteile zu einem undefinierbaren Brei. Aus dem die Knochen in wirrer Zusammenstellung herausragten. Bloß weil sich das Opfer auch ohne Obduktion sicher identifizieren ließ und der Todeszeitpunkt höchstwahrscheinlich dem Datum des Verschwindens entsprach, sah das Institut schließlich von einer Anzeige an die Dienstaufsicht ab.

Außerdem ging der zuständige Staatsanwalt davon aus, dass das Mädchen mit bloßen Händen erwürgt wurde. Spuren einer Strangulation hätten wir ohnehin nicht mehr feststellen können. Auch vor Ort nicht.“

Krüger reagierte empört. „Erwürgt! Mit bloßen Händen? Davon steht überhaupt nichts in den Berichten! Wer sollte das festgestellt haben und wie?“

Der Professor nickte. „Ich war damals ein normaler Angestellter. Trotzdem haben wir im Kollegium darüber diskutiert, daran erinnere ich mich. Aber man erklärte uns schließlich, dass der Staatsanwalt über weitere Anhaltspunkte zur Todesursache verfügt haben solle.“

Krüger schüttelte den Kopf. „Davon kann keine Rede sein. Wie sollten diese Anhaltspunkte denn ausgesehen haben?“

„Na ja, welche erfuhren wir natürlich nicht. Jedoch beispielsweise Augenzeugen, ein Geständnis oder andere Leichen, die das gleiche Tatmuster aufwiesen … Möglichkeiten wären durchaus vorhanden.“

„Es gab nichts dergleichen. Zumindest nicht nach meinem Kenntnisstand. Und ich war mit einem der Polizisten am Fundort, die damals die Leiche oder besser die Leichenreste geborgen haben.“

„Dann bleibt wohl nur übrig, dass Sie den damaligen Staatsanwalt befragen“, schlug der Professor vor.

„Ist leider inzwischen verstorben!“

„Ach so. Das ist natürlich unglücklich.“ Der Professor konnte ein schwaches Grinsen kaum verbergen.

„Ja, aber eigentlich spielt das keine so große Rolle“, fuhr Krüger fort. „Es ging dem Staatsanwalt vermutlich bloß darum, die Blamage durch eine Schutzbehauptung zu vermeiden. Konkret frage ich mich, ob Anna eventuell durch ein Geschoss zu Tode gekommen sein könnte?“

Der Professor runzelte die Stirn. „Erschossen?“, wiederholte er. „Sie haben einen konkreten Grund für diese Vermutung, oder?“

Krüger nickte. „Zugegeben, eher eine vage Vorstellung. Wenn Sie es jedoch auch nicht völlig ausschließen können, dann lasse ich den Fundort auf Metallrückstände untersuchen.“

„Der Schädel und die Knochen des Torsos waren vollständig vorhanden. Also Rippen, Becken, Wirbelsäule et cetera. Auch einige Knorpelteile von Kehlkopf und Speiseröhre sowie kleine Reste der großen Muskeln des Gesäßes. Erkennbare Spuren einer Schussverletzung wären uns bestimmt nicht entgangen. Jedoch kann auch eine Kugel tödlich sein, die nur Weichteile, große Blutgefäße oder Organe trifft. Ein seitlicher Bauchschuss könnte beispielsweise den unteren Teil der Aorta treffen.“

„Organe waren keine verletzt?“

Der Professor zuckte mit den Schultern. „Die Innereien waren schlicht nicht mehr vorhanden, nach Monaten im Wald. Maden und Tierfraß! Das ist in der freien Natur völlig normal.“

Krüger wusste das natürlich auch. Aber trotzdem schauderte er kurz. „Danke Herr Professor. Ich denke, das ist im Moment alles.“

„Wie Sie meinen.“

„Ja, danke. Auf Wiedersehen, Herr Professor.“

„Sie können jederzeit wiederkommen, falls Sie weitere Auskünfte wünschen.“

„Vielen Dank. Ich weiß das sehr zu schätzen!“

„Bitte, Herr Kommissar!“

Krüger verließ das Institut mit flauem Gefühl im Magen. Er hatte an einen sofort tödlichen Schuss gedacht. Ins Herz beispielsweise. Das könnte von unterhalb des Rippenbogens vielleicht noch möglich sein. Aber dass diese Kugel beim Austritt weder Schulterblätter noch Halswirbelsäule tangierte? Praktisch undenkbar.

Er vermied es lieber, sich die alternative Version genauer vorzustellen.

***

Natürlich hatte Nadja bei den polnischen Kollegen nicht nur über Anna Duda Material gesammelt. Sondern auch zu deren vermissten Kollegin, Jadwiga Grabowska. Dass sie damals verschwand, daran bestand kein Zweifel. Jedoch, ob sie sich irgendwo versteckte, ausgewandert oder verstorben war, ließ sich nicht mit Gewissheit feststellen. Die deutsche Polizei hatte auf Nachfrage des Elternpaares, das sie beschäftigt hatte, einige laue Versuche angestellt, um sie zu finden. Eher lapidar wurde schließlich festgestellt, dass Jadwiga das Land höchstwahrscheinlich verlassen habe. Die polnischen Behörden behaupteten ziemlich genau das Gegenteil. Anfangs wurde bei Leichenfunden die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um die Gesuchte handeln könnte. Im Lauf der Jahre erloschen Erinnerung und Interesse an Jadwiga. In beiden Ländern. Eine logische Entwicklung angesichts der Zahl von jährlich neu verschwundenen Personen.

Was immerhin als neue Möglichkeit denkbar schien: Falls sich eine DNA-Probe gewinnen ließe, die in der Datenbank zu einem Treffer führen könnte. Dazu benötigte man jedoch nicht kontaminiertes Material. Am besten eine Blut- oder Gewebeprobe, die seinerzeit fachgerecht präpariert und archiviert wurde. Erschien bei einem jungen Mädchen äußerst unwahrscheinlich. Eine vage Hoffnung: Früher war es üblich, von Kindern eine Haarlocke aufzubewahren. Wenn beim Abschneiden mit einer stumpfen Schere einige Wurzeln mit ausgerissen wurden, könnte eine Analyse vielleicht gelingen. Als Plan B blieb die Untersuchung des Erbgutes von Geschwistern möglich. Das Eine wie das Andere müsste jedoch erst mal beigebracht werden können.

5. Kapitel

Matthias Ramstedt durchsuchte zum x-ten Mal seine Bleibe nach der Uhr, die er vor Jahren als eine Art Sprungprämie von einer reichen Witwe erhalten hatte. Für ein einziges Mal Sex! Ein Schlüsselerlebnis. Seit damals hatte er es nur mit "richtiger" Arbeit versucht, wenn es gar nicht mehr anders ging.

Seine Bleibe, als Wohnung konnte man es nicht wirklich bezeichnen, bildete ein ziemlich verlottertes Fabrikgebäude. Er hatte schon darin gelebt, bevor Lofts in Deutschland total trendy wurden. Die Hütte ließ sich im Winter kaum heizen und verwandelte sich im Sommer in einen Backofen. Dafür blieb die Miete symbolisch und es bestand keine Gefahr, dass sich ein vermögendes Hipster-Pärchen einzunisten versuchte. Leider war die Menge an Ritzen, Spalten sowie dunklen Ecken hinter vorstehenden Metallteilen, die eine solche Uhr zu schlucken vermochten, schier unbegrenzt. Dass er bereits einige andere vermisste Gegenstände wiederentdeckt hatte, blieb ein schwacher Trost. Die Uhr vervollständigte sein cooles Outfit optisch und mental in einer Weise, die ihn unwiderstehlich machte. Dabei drängte die Zeit. Matthias benötigte unbedingt eine neue, möglichst leistungsfähige Milchkuh. Diese selbstverständlich bloß intern verwendete Bezeichnung bezog sich nicht auf ein prächtiges Euter. Obwohl ihn sowas nicht wirklich gestört hätte. Das wichtigste Teil seines neuen Lieblings stellte ein möglichst dickes Bankkonto dar. Und sie sollte nicht besonders an der Knete hängen. Viel bedeutsamer im Leben war doch ein potenter, aufmerksamer Partner. Der bei ihr Saiten zum Klingen bringen konnte, deren Vorhandensein sie bisher noch nicht einmal geahnt hatte.

Hauptsächlich trieb sich Matthias auf der Suche an Orten herum, wo er eine Chance sah, sich einer locker zusammengewürfelten Gesellschaft anzuschließen. Manchmal ganz spontan, ab und zu gezielt, wenn er zuvor von einem entsprechenden Anlass gehört hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---