Muriel - T. D. Amrein - E-Book

Muriel E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

Muriel arbeitet im Sommer als Rezeptionistin bei einer Hausbootvermietung an der Saône in Frankreich. Sie hätte wohl auch als Schauspielerin für Furore sorgen können. Sie beherrscht jedenfalls die leicht verwirrte graue Maus ebenso gut wie den eloquenten und unwiderstehlichen Vamp. Jedoch nutzt sie ihr Talent lieber dazu, einsame ältere Herren die als Touristen unterwegs sind, in ihr Netz zu locken. Wenn alles klappt, versenkt sie die ausgeraubten Trottel schließlich als Fischfutter im trüben Fluss. Muriel arbeitet im Winter nicht, also muss sie sich im Sommer ranhalten, um durchs Jahr zu kommen. Der Nebenerwerb macht zwar Spaß, jedoch möchte sie irgendwann den großen Coup landen, um sich danach zur Ruhe setzen zu können. Ein geeigneter Kandidat dafür scheint Meinrad Danner zu sein, der in dieser Saison endlich mal ohne die Nervensäge auftaucht, die er früher im Schlepptau gehabt hat.

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Impressum

Die wichtigsten Protagonisten in der Reihe Krügers Fälle

(Haupt) Kommissar Max Krüger 52, Dienststelle Freiburg im Breisgau

Seine Lebensgefährtin Elisabeth Graßel 52

Kommissar Eric Guerin 39, Kripo (Police judiciaire) Colmar, Elsass, Frankreich

Kommissar Kaspar Gruber 49, Kripo Basel, Schweiz

Seine Lebensgefährtin Sonja Sperling

Krügers Team in Freiburg:

Michélle Steinmann 33, Krügers Liebling und vorgesehene Nachfolgerin

Kriminalrat Peter Vogel 62, Chef der Dienststelle Freiburg

Dr. Franz Holoch, Pathologe, unberechenbarer aber sympathischer Egozentriker

Erwin Rohr, Chef Spuren und sein besonders begabter Mitarbeiter Helmut Paschke

Krügers Assistenten Otto Grünwald 37 und Thomas Sieber 36

Sekretärin Susanne Trautmann 47 guter Geist des Reviers

Grubers Team in Basel:

Sein Assistent Bruno Finger, Adrian Betschart, leitender Staatsanwalt und Grubers Chef,

Pathologe in Basel Dr. Norbert Diener, Spuren Markus Känzig, Sekretariat Kirsten Hohenauer

1. Kapitel

Frankreich im Juli. Le Tour rollte in der zweiten Woche. Wer konnte, begnügte sich tagsüber mit ruhigem Dösen im Schatten. Glücklich, wer über ein Gewässer in seiner Nähe verfügte. Selbst wenn das Kanalwasser der Saône einige Kilometer oberhalb von Gray einen leichten Braunton aufwies, erfrischend blieb es trotzdem. Man brauchte es ja nicht zu trinken. Ein Bad darin reichte völlig aus.

Und nach Sonnenuntergang wurde es am Ufer richtig gemütlich. Übertroffen höchstens noch von einem Aufenthalt an Bord eines luxuriösen Hausboots auf dem Fluss, wie ihn Muriel Bodet in diesem Moment genießen konnte.

***

Natürlich müsste eine ringförmig ausgelegte Schlinge auf der Heckplattform eines Bootes eigentlich auffallen. Sogar im letzten Licht des Tages. Eine dünne, dunkle Leine, in deren Zentrum eine helle, runde Gummimatte lag. Eine Matte, wie sie oft in Duschen oder Badewannen als Gleitschutz Verwendung findet. Die Saugnäpfe an der Unterseite sorgten dafür, dass das Ding nicht bei einem Windstoß im Fluss landete.

Falls jemand Fragen stellen sollte: Der Vorleger diente natürlich dem sicheren Stand beim Abtrocknen nach dem Baden. Und die Schlinge würde zugezogen genau so lang sein, dass man daran zum Beispiel eine Champagnerflasche über die an dieser Stelle randlose Bootskante ins Wasser hängen konnte.

Alle von Muriel betreuten, durch ihre Form bedingt auch Penichette genannten Hausboote wiesen eine eingestickte Markierung an der zugehörigen Leine auf. Um die Stelle zu markieren, an der sie in der automatischen Klemmvorrichtung eingelegt werden sollte. Dem vorgesehenen Zweck, dem Anhängen eines mitgeschleppten Schlauchbootes, diente sie höchstens dann, wenn die Touristen ein solches mitbrachten. In die Schlaufe am Ende ließ sich wahlweise ein Karabinerhaken einhängen oder auch die Leine selbst durchschieben, um sich um einen schlanken Flaschenhals zu legen.

Aber solange Muriel in ihrem hauchdünnen Strandkleidchen im Schneidersitz auf der am Heck fest verschraubten Bank saß, würde kein halbwegs normaler Mann auch nur einen Blick auf den Boden verschwenden.

»Kommst du endlich!«, rief sie in Richtung der offenen Kabinentür, die über eine schmale Treppe das hintere Unterdeck mit der Heckplattform verband.

»Ja, gleich«, brummte eine tiefe Männerstimme zurück.

Thorsten, ein braun gebrannter deutscher Rentner, hatte nicht schlecht gestaunt, als ihn die Rezeptionistin des Bootsverleihs an seinem Liegeplatz besuchte. »Wie kommen Sie denn hier her?«, hatte er verständnislos gefragt.

»Satellitennavigation«, hatte sie ihm lächelnd zugeflüstert.

Da fiel ihm wieder ein, dass sie ihm, während der Instruktionsfahrt erklärt hatte, dass sie ihre Hausboote jederzeit orten konnte.

Inzwischen lag die Penichette in einer Lücke zwischen hohen Bäumen am Flussufer vertäut. Thorsten wäre von selbst nie auf diese romantisch anmutende Stelle gekommen. Aber die offenbar ganz schön wuschige Blondine hatte ihn zielstrebig an ein Plätzchen gelotst, wo sie ungestört am Strand ein Abendessen auf offenem Feuer braten und anschließend im Boot übernachten konnten. Sogar eine passable Flasche Wein, zwei magere Steaks und eine Baguette hatte sie mitgebracht.

Dass die Dame nicht bloß seiner Ausstrahlung erlegen sein dürfte, sondern wahrscheinlich in erster Linie davon ausging, dass er vermögend sein könnte, störte ihn nicht wirklich. Etwas Ernstes mit ihr kam für Thorsten keinesfalls infrage, obwohl sie leidlich Deutsch sprach und er sich eine verwöhnte Geliebte durchaus leisten konnte. Aber sich den Urlaub mit einer üppigen, französischen Mademoiselle zu versüßen: Weshalb sollte er darauf verzichten?

Thorsten stellte sich erwartungsvoll vor sie hin. Seine nackten Füße standen jetzt genau im Zentrum des Vorlegers. Muriels Beine öffneten sich und umschlangen seine Hüften.

»Komm näher!«, lockte sie.

»Wie denn?«, brummte er. Seine vom Alkohol geröteten Augen versuchten mit mäßigem Erfolg, ihr Gesicht zu fixieren. Immerhin stand er nahe genug, um seine Hände an die seitlichen Verschlüsse ihres Bikinihöschens zu legen. Die hatte er am Nachmittag bereits aus der Ferne studieren können, während sie ihm, sich auf dem Vordeck rekelnd, den Weg zu der lauschigen Stelle am Ufer gewiesen hatte. Er nestelte herum. Weil er den Mechanismus nicht gleich durchschaute, fühlte er einfach unter dem Stoff, ob und wie heiß sie war.

Auch sie nestelte. Hinter der Bank ertastete sie die genau an dieser Stelle verlaufende Leine, um sie Stück für Stück zu sich zu ziehen. Wie erwartet, bemerkte er nichts davon.

Vorsichtig zog sie weiter, bis sie den ersten Widerstand an der Leine spürte.

Die Schlinge verhakte sich genau wie bei ihren regelmäßigen Testläufen zuvor in den Saugnäpfen der Gummimatte. Zwischen halb geschlossenen Lidern sah sie, dass die Ränder der Matte sich wie bei einem Tabaksbeutel aufrichteten und das Seil emporhoben. Gelernt ist gelernt, dachte Muriel zufrieden. Wohlig stöhnend öffnete sie ihre Schenkel. Zog die Knie an, um ihm die Fußsohlen auf die Brust zu setzen.

Er lehnte sich locker dagegen, ließ die Hände weiter über ihren Körper wandern.

Erst ein Ruck an der Leine. Danach stieß sie ihn mit der gesamten Kraft ihrer Beine von sich weg. Die Schlinge um die Fußgelenke stoppte ihn, noch aufrecht stehend, praktisch im Flug. Wie ein getroffener Kegel klatschte er rücklings ins Wasser.

Muriel schnappte sich einen Bootshaken, um ihn niederzudrücken, falls er es schaffen sollte, wieder aufzutauchen. Außerdem würde dies einem zufälligen Zeugen klarmachen, dass sie versucht hatte, dem ins Wasser gefallenen Partner zu helfen. Die bereits einsetzende Dämmerung begrenzte die Sicht ohnehin auf die unmittelbare Umgebung des Bootes. Sie wählte den Zeitpunkt schließlich genau so sorgfältig aus, wie alles Andere.

Der Kampf dauerte nur eine Minute. Sein Zappeln erlahmte rasch.

Muriel verlängerte die Leine um einige Meter. Die Strömung des Flusses würde ihn ein Stück hinter dem Boot ans Ufer treiben. Dort konnte Muriel die Schlinge lösen, ohne ihn anheben zu müssen, wozu sie wohl auch gar nicht imstande gewesen wäre.

Mit dem Bootshaken in der Hand eilte sie über das Stegbrett vom Boot ans Ufer. Knietief im Fluss stehend zog sie den Haken am lang gestreckten Arm durchs Wasser, bis sie die Leine erwischte. Selbst wenn ihr jetzt jemand zugesehen hätte. Was sie da genau trieb, blieb buchstäblich im Dunkeln. Nun watete Muriel bis zu den Hüften in den Fluss. Im Schutz des Wassers löste sie die Schlinge von seinen Füßen und streifte sie stattdessen über sein rechtes Handgelenk.

Zurück auf der Heckplattform zog sie den Körper wieder an den Bootsrumpf heran. In der Nacht durften die Boote der Touristen nicht fahren. Muriel kam dies nicht ungelegen, denn sie hatte viel zu tun. Sie musste alles finden, was er bei einer normalen Abreise mitgenommen hätte. Es sollte schließlich so aussehen, als ob er das Boot ordentlich zurückgegeben hätte. Gegen eine kleine Gebühr war das an jedem gewünschten, mit einem Auto erreichbaren Punkt an der Saône möglich. Als besonderen Service brachte der Bootsverleih den Gästen auf Wunsch sogar den eigenen Wagen an eine solche Stelle.

Muriel ordnete und packte seine Sachen. Ordnen in dem Sinne, dass Thorstens Wertsachen und Bargeld in ihren Besitz wechselten, während der Rest seiner Habseligkeiten erst in seinem Gepäck und schließlich in einer zweiten Phase in seinem Auto landen würde. Zu guter Letzt wollte sie das Fahrzeug am Rand einer von der Saône entfernten Stadt stehen lassen. Mit eingestecktem Schlüssel. Dass dieser Wagen von der Polizei gefunden oder als herrenlos gemeldet wurde, war praktisch ausgeschlossen. Stattdessen dürfte er wie von selbst spurlos verschwinden. Den Schmuck ihres Opfers würde sie in einer Pfandleihe derselben Stadt versetzen.

Muriels Methode funktionierte nicht zum ersten Mal reibungslos, abgesehen von kleinen Verbesserungen, die sich im Lauf der Zeit ergeben hatten. Das Wichtigste dabei: Sie begnügte sich mit dem, was sie leicht bekommen konnte, ohne jede Gier. Trotzdem reichte die Beute des Sommers meist aus, um in einigem Wohlstand durch den Winter zu kommen. Der Hausbootsverleih arbeitete naturgemäß bloß im Sommerhalbjahr. Im Winter lebte Muriel im Elsass, abseits der Saône und von vermögenden Touristen. Und nicht zuletzt weit entfernt von ihren Arbeitskollegen, denen ihr vergleichsweise aufwendiger Lebensstil eventuell auffallen könnte.

Bisher war meistens alles gut gegangen, aber Muriel hatte natürlich einen Plan B, falls sich nicht gleich eine Gelegenheit zum Zuschlagen ergab. Sie konnte warten, und wenn sie dafür mit den Männern schlafen musste, machte ihr das nichts aus. Ein verächtliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Nur einmal wäre sie beinahe aufgeflogen. Wie immer, wenn sie daran dachte, durchzuckte der Schreckmoment sie bis in die Fingerspitzen. Ihr Opfer hatte etwas gemerkt und sich aus der Schlinge gewunden. Sie misstrauisch gemustert. »Was soll das denn werden?«

Muriel seufzte erleichtert. Zum Glück war sie geistesgegenwärtig gewesen. »Nur ein Fesselspiel. Du hast doch gesagt, du bist offen für alles. Und jetzt macht dir das keinen Spaß?«

Im Lauf der Zeit war ihr natürlich der eine oder andere durch die Lappen gegangen, doch das machte nichts. Solange niemand Verdacht schöpfte … Todesursache Ertrinken, was könnte natürlicher sein? Bislang war sie noch nie von der Polizei befragt worden, und wenn es doch einmal dazu käme – sie beherrschte die Rolle des naiven Blondchens perfekt.

***

Natürlich war auch Muriel nicht als männermordendes Monster geboren worden. Als kleines Mädchen, bei einem Ferienaufenthalt in Obhut ihres Großvaters Jean, prägte sie ein schreckliches Erlebnis. Jean lebte als Schleusenwärter in einem der winzigen Häuschen, die bis heute an fast jeder Schleuse stehen. Während inzwischen eine automatisierte Hydraulik die Tore schließt und der gesamte Ablauf einer Schleusung keinerlei menschliche Kraft mehr benötigt, sah Jeans Arbeitsalltag früher ganz anders aus.

Selbstverständlich ließen die Schiffer die schon damals äußerst anmutige Muriel bereitwillig auf ihr Boot, damit ihr während der Schleusung nichts passieren konnte. Sie liebte es zum Beispiel, sich am Deckrand kniend an die Reling zu lehnen und mit einer Weidenrute eifrig im einströmenden Wasser zu rühren.

Bei einer solchen Gelegenheit tauchte die halb verfaulte Fratze einer Wasserleiche genau im Kreis ihrer Rute auf. Bald darauf wurde die Leiche geborgen, und das war ein Glück. Wie sonst hätte sich erklärt, was die süße Muriel dermaßen erschreckt hatte, dass sie eine ganze Woche lang nicht mehr sprechen wollte?

Dieses Trauma, stellte sie bald fest, erwies sich als praktische Begründung für fast alles. Deshalb hielt sie den Zustand aufrecht, obwohl sie das Erlebnis in Wahrheit schon bald einigermaßen verarbeitet hatte. Dass sie anfangs tatsächlich in manchem Wasserwirbel eine Fratze auftauchen zu sehen glaubte, stimmte sogar. Ihr gesamtes Umfeld kannte den Grund und nahm es schulterzuckend hin.

Während ihrer ganzen Jugendzeit zog man ab und zu tote Körper aus dem Fluss, die an den Schleusen hängen geblieben waren. Natürlich versuchte man, den Anblick von Muriel fernzuhalten. Sie beobachtete deshalb immer besonders genau. Im Lauf der Zeit fiel ihr auf, dass niemals ein gewaltsamer Tod angenommen wurde, solange die Leichen keine auffälligen Verletzungen aufwiesen.

***

Richtig begonnen hatte Muriels Nebenerwerb allerdings erst, als einer ihrer Gäste, der um eine zweite Instruktion zur Bedienung der Penichette gebeten hatte, sie reinlegen wollte. Oder genauer, eigentlich flach.

Ein glatzköpfiger Sechziger mit Kugelbauch, der klagte, dass er mit dem elektrischen Bugstrahlruder nicht zurechtkomme. Rasch stellte Muriel fest, dass es gar nicht funktionierte. Um die Sicherung zu kontrollieren, musste sie einen in der Kabine befindlichen Bodendeckel öffnen. Als sie davor kniete, packte er sie an den Handgelenken. Rabiat zwang er sie auf den Bauch und drohte, ihr einen Arm auszurenken, falls sie auch nur einen Mucks von sich geben sollte.

Ungelenk fesselte er ihre Hände auf dem Rücken. Er hat das so geplant, wurde Muriel schlagartig klar. Die Panne diente bloß als Vorwand, um sie anzulocken. Und um sie in eine körperliche Lage zu zwingen, aus der sie sich kaum noch zur Wehr setzen konnte. Wahrscheinlich war überhaupt nichts kaputt, ging ihr durch den Kopf. Er muss sich die Stricke zuvor zurechtgelegt haben. Sie versuchte, nicht zu stöhnen, wenn er an ihr zerrte. Warum sie so nüchtern analysieren konnte, statt in Panik zu verfallen, wusste sie selbst nicht.

Ihre Fußgelenke befestigte er an einer Heizungsleitung in der Kabine. Eine weitere Schlinge legte er ihr lose, aber das Ende griffbereit um den Hals.

»Rühr dich nicht, wenn du weiterleben willst«, zischte er. Dann erhob er sich schnaufend.

Muriel lag mit abgedrehtem Kopf auf dem Boden und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er warf eine Pille ein, die er mit einem kräftigen Schluck aus einer Weinflasche herunterspülte. Danach zündete er sich eine Zigarette an. Muriel sah den Rauch, doch der Dicke selbst verschwand aus ihrem Blickfeld. Seine Schritte entfernten sich, und für einen Moment wurde es dunkler in der Kabine, als er sich durch die schmale Tür zwängte.

Seine Knoten saßen nicht besonders fest. Muriel, daran gewöhnt mit Seilen umzugehen, schaffte es in wenigen Minuten, die Hände freizubekommen. Die Füße waren ebenfalls im Nu frei. Ihr erster Impuls war natürlich, rauszulaufen und schreiend auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings herrschte an diesem Tag eine mörderische Hitze. Niemand hielt sich freiwillig im Freien auf. Das Boot lag als Einziges am kleinen Anleger eines Restaurants, das um diese Tageszeit geschlossen blieb. Der Alte hatte den Ort vermutlich mit Bedacht ausgewählt. Muriel konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie überhaupt jemand hören würde. Und sie kochte vor Wut. Mit dem alten Knacker werd ich doch fertig, dachte sie. Wenn sie es schaffte, ihn ins Wasser zu kriegen … Das traute sie sich zu.

Mit einer aus seinen Stricken zusammengeknoteten Leine in den Händen schlich sie sich aufs Vorschiff. Sie konnte ihn zwar hinter dem Bootsaufbau nicht sehen, aber der Rauch seiner Zigarette wies ihr den Weg.

Barfuß stieg sie auf das Oberdeck. Spähte vorsichtig nach hinten. Er saß rauchend mit dem Rücken zu ihr auf der Bank der Badeplattform. Rasch fädelte sie eine Schlinge ein, warf sie dem Alten über den kahlen Schädel und hechtete direkt ins Wasser.

Noch bevor er kapiert hatte, was ihm geschah, zerrte sie ihn an der Leine in den Fluss. Ob der Idiot überhaupt schwimmen konnte, wusste sie nicht. Jedenfalls strampelte er wild und schluckte sofort Wasser. Er ertrank, ohne dass Muriel ihn auch nur anzufassen brauchte, abgesehen vom Strick in ihren Händen. Den beließ sie an seinem Hals, bis er sich nicht mehr regte. Zwar hatte er daran gezerrt, in der Panik jedoch nicht bemerkt, dass er die Schlinge umso enger schloss, je stärker er zog.

Schon wenige Minuten später stand Muriel am Steuer und lenkte das Boot auf den Fluss. Mit der freien Hand zog sie sich ihre triefenden Sachen aus. Falls sie jetzt einer beobachtete, würde er wenigstens nicht auf die Leine achten, die vom Bug herabhing und im Wasser verschwand. Muriel hatte den Alten so befestigt, dass er während der Fahrt unter das Boot gezogen wurde und deshalb nicht gesehen werden konnte.

Als sie jedoch nach einer guten Stunde Fahrt in einem Waldstück, das der Fluss hier durchschnitt, die Leine an Bord holte, stellte sie entsetzt fest, dass sie ihn offenbar verloren hatte. Einer der Knoten musste sich gelöst haben.

Dieses Erlebnis bildete den Start ihrer »Karriere«.

Die Leiche des Alten tauchte ihres Wissens nie wieder auf. Schon damals hatte sie seine Wertsachen als eine Art Entschädigung behalten. Er hatte eine ansehnliche Summe in seinem Koffer gehortet. Für Muriel begann eine finanziell unbeschwerte Zeit, die sie später nicht mehr missen mochte. Seither achtete sie gezielt auf einsame, ältere Herren unter der Kundschaft des Bootsverleihs, am liebsten im Ruhestand. Während des Eincheckens und der darauf folgenden Instruktionsfahrt gaben sie ihr bereitwillig Auskunft über ihren Familienstand und weitere persönliche Details. Die meisten reisten im eigenen Wagen an, eine gute Gelegenheit für Muriel, sich von der finanziellen Ausstattung ihrer potenziellen Opfer ein Bild zu machen. Wenn einer die Kriterien erfüllte, legte sie ihr Netz aus, in dem sich die Herren, ohne zu zögern und leidenschaftlich gern verstrickten. Glücklicherweise blieb der größte Teil ihrer Opfer genauso spurlos im Fluss verschwunden wie der fette Alte. Trotzdem »erlitt« Muriel immer eine »Sichtung«, kurz nachdem sie mal wieder einen Touri versenkt hatte. Als bloße Vorsichtsmaßnahme.

2. Kapitel

Kommissar Eric Guerin wartete geduldig am Rand der ecluse Nr. 07 darauf, dass die Pumpen den rund vierzig mal fünf Meter messenden Trog der Schleuse leerten. Bis auf den Grund in rund sechs Metern Tiefe, wo er auf einen leblosen Körper zu stoßen vermutete. Oder auch hoffte, um den gewaltigen Aufwand zu rechtfertigen, nachdem schon die Taucher erfolglos gesucht hatten.

Die blasse Zeugin, eine Madame Muriel Bodet, hatte er inzwischen zurück in ihr Hausboot gehen lassen. Um ihren Zusammenbruch zu verhindern. Der wäre bestimmt bald erfolgt, wenn er sie noch länger am Rand der Schleuse ausharren gelassen hätte … Eine halb verfaulte Leiche wollte sie im einströmenden Wasser auftauchen gesehen haben. Der Schreck schien ihr extrem zuzusetzen. Für Guerin kein Wunder. Er hatte schon einige Kadaver aus Flüssen erlebt, die man kaum noch als menschlich und schon gar nicht als Individuen wahrnehmen konnte. Sondern einfach nur als stinkende Fleischreste.

Ein Mann in elegantem Anzug gesellte sich zu Guerin. Er trug genau die gleichen teuren, in Handarbeit genähten Schuhe wie der Kommissar, bloß in Rotbraun anstatt in Dunkelbraun.

»Sie sind Kommissar Guerin!« Keine Frage. Eine Feststellung.

Guerin nickte.

»Ich bin der hiesige Präfekt«, stellte er sich vor.

Guerin salutierte vorschriftsgemäß. Eigentlich kein Wunder, dass der Präfekt des Département Haute-Saône persönlich erschien. Schließlich lag sein Büro nur wenige Kilometer entfernt, in Vesoul. Außerdem hatte man Guerin aus dieser Präfektur angefordert. Wer, das wusste Guerin nicht. Das lief über die Vorgesetzten. Er hatte bloß mitbekommen, dass im gesamten Arrondissement Vesoul extremer Personalmangel herrschte.

»Schöne Schuhe, Herr Kommissar«, fuhr der Präfekt fort. »Wo kaufen Sie?«

»In Épinal, Herr Präfekt.«

»Bei Henry?«

»Ja, genau.«

Der Präfekt straffte sich. »Ausgezeichnete Wahl, Herr Kommissar. Allerdings bin ich nicht deswegen hier. Ich muss Sie um Verzeihung bitten. Das Ganze beruht auf einem Missverständnis.«

Guerin sah ihn erstaunt an. »Ein Missverständnis?«

»Ja Herr Kommissar. Eine neue Kraft bei uns, welche die hiesigen Verhältnisse nicht kennt, hat Sie angefordert. Ich kann ihm nicht einmal einen Vorwurf machen. Er hat genau nach meinen Anweisungen gehandelt.«

Guerins Gesicht verzog sich zu einem einzigen Fragezeichen.

»Es ist so«, begann der Präfekt aufs Neue: »Dass man Sie gerufen hat, ist an sich korrekt. Die Zeugin ist das Problem. Madame Bodet ›bemerkt‹ des Öfteren Leichen im Fluss. So ein bis zwei Mal im Lauf eines Sommers. Sie kann nichts dafür. Sie hat als Kind ein entsprechendes Trauma erlitten. Dass sie heute ausgerechnet an und auf einem Fluss arbeitet, ist nicht besonders hilfreich für die Behörden. Verbieten können wir das jedoch nicht. Allerdings ist es normalerweise auch so, dass alle Beamten hier die Situation kennen und sich mit einem kurzen Kontrollgang begnügen. Das verursacht kaum Kosten.«

Guerin schluckte. »Das Becken ist fast leer. Das können wir noch abwarten?«

»Ja natürlich. Aber falls sich erwartungsgemäß nichts findet, geben Sie den Verkehr so rasch wie möglich wieder frei.« Der Präfekt deutete auf die Bootskolonnen zu beiden Seiten der Schleuse. »Wir möchten die Touristen nicht verärgern, wenn es geht.«

Es zeigte sich seitlich bereits die als sanfte Rundung gemauerte Bodenpflasterung des Schleusenbeckens. Trotz seiner klaren Ansage beobachtete auch der Präfekt gespannt den sinkenden Wasserspiegel. Das Becken, das schließlich bei jeder Schleusung gespült wurde, zeigte sich blitzsauber. Einmal abgesehen von Fugen zwischen den tiefschwarz glänzenden Steinen.

Der Präfekt seufzte. »Wenigstens kann uns niemand vorwerfen, dass wir überhaupt nie nachsehen«, brummte er.

»Brauchen Sie einen Bericht, Herr Präfekt?«

»Lassen Sie nur. Wir deklarieren das als Übung. Vielen Dank, Herr Kommissar. Möglicherweise sehen wir uns in nächster Zeit noch öfter. Unsere Personaldecke ist leider so dünn, dass wir laufend Beamte aus anderen Departements ausleihen müssen. Ich hoffe, dass es im nächsten Fall eine interessantere Aufgabe wird.«

Guerin zuckte mit den Schultern. »Danke, Herr Präfekt.«

***

Muriel wurde von einem einheimischen Beamten ermahnt und schließlich nach Hause geschickt. Wenn es eine Leiche gegeben hätte, dann müsste sie am Grund der Schleuse zu finden gewesen sein. Die unteren Tore in Fließrichtung des Kanals waren während der ganzen Aktion geschlossen geblieben. Bloß die oberen Tore hatte man kurz geöffnet, um Muriels Boot von Hand aus der gefluteten Kammer zu ziehen. Natürlich wusste das auch Muriel, aber sie ließ sich nicht von ihrer »Sichtung« abbringen. Der deutsche Rentner lag seit einer knappen Woche im Fluss. Wenn man ihn jetzt finden würde, dürfte er kaum noch zu identifizieren sein. Deshalb die »Sichtung«. Um eine Spur zu legen, die von ihr wegführte. Dass die Polizei daraufhin tatsächlich eine Schleuse auspumpen würde, hatte Muriel ja nicht ahnen können. Falls Horst doch noch auftauchen sollte, gab es jetzt kein Indiz mehr dafür, dass er oberhalb des Bootsverleihs ins Wasser geraten war.

Die Zeit und die zahlreichen Fische der Saône arbeiteten für Muriel, ganz davon abgesehen, dass, selbst wenn ein Verdacht auf sie fallen sollte, es äußerst unwahrscheinlich wäre, dass die Polizei sie tatsächlich als Täterin in Betracht zog. Wo doch jeder wusste, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hatte. Mit der praktischen Einkommensquelle dürfte dann allerdings Schluss sein. Und Muriel war auf keinen Fall bereit, wieder genau einteilen und manchmal sogar darben zu müssen, wenn der Preis für Kartoffeln im Frühling unerwartet um ein paar Cent anstieg.

***

Einige Tage später in Gray auf dem Pont de Pierre, dessen Bögen seit dem 16. Jahrhundert die Saône überspannen. Eine schmächtige junge Frau hatte die Gendarmen gerufen, weil sie in einem an der Flussschwelle hängen gebliebenen Bündel einen menschlichen Körper zu erkennen glaubte. Die Schwelle, die das Wasser der Saône einige Meter unterhalb der Brücke über die gesamte Breite des Flusses zurückhielt, ließ sich vom Brückengeländer aus, gut einsehen.

Mit einem durch eine Leine gesicherten Boot ließen sich die Gendarmen bis zur Schwelle treiben. Das Bündel, von dem die Frau gesprochen hatte, war deutlich zu erkennen. Beim Versuch, es zu bergen, glitt es allerdings über die Kante und verschwand in der tosenden Wasserwalze darunter. Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, konnten die Beamten nicht erkennen, dass ihnen gerade ein menschlicher Körper aus den Händen geglitten war, jedoch schon. Die Leiche befand sich im Stadium der Auflösung und zerfiel beim bloßen Anfassen in schleimige Einzelteile. Die Wasserwalze dürfte den Rest erkennbarer Konturen in wenigen Sekunden vollständig zerlegt haben, sodass sich eine Suche unterhalb der Schwelle erübrigte. Das Einzige, das sich noch erhoffen ließ, war, dass im Wehr bei Mantoche oder an der nächsten Schleuse bei Apremont einzelne Teile der Leiche auftauchten. Das Geschehen wurde selbstverständlich dokumentiert und als eigener Fall in einer Polizeiakte abgelegt.

Natürlich sprach sich die Sache unter den Anwohnern bald herum, besonders bei denen, die mit oder auf der Saône ihren Lebensunterhalt verdienten. Dazu gehörte auch Muriel, die sich als Einzige ziemlich genau vorstellen konnte, um wen es sich gehandelt hatte. Sie fand es ungemein beruhigend, dass nichts von ihrem letzten Opfer geborgen werden konnte. Leider hatte er kein richtig großes Vermögen mit sich geführt. Knapp zweitausend Euro in bar, und für seine Uhr hatte die Pfandleihe auch noch einen Tausender hingelegt. Ein willkommenes Zubrot für Muriel, aber zu wenig für einen ganzen Winter. Sie würde in diesem Sommer mindestens einen weiteren Spender brauchen.

***

Armin Giebisch spürte an der Angel den kräftigsten Ruck seines Lebens. Er saß am Heck des gemieteten Hausboots, das von seiner Frau mit kleinstmöglicher Fahrt flussaufwärts auf Kurs gehalten wurde, damit er in Ruhe seinem Hobby nachgehen konnte. Armin hatte sich einen Ferienangelschein besorgt, den er »mal richtig ausnutzen« wollte. Offenbar schien ihm das Anglerglück hold. Vor seinem geistigen Auge stieg einer dieser meterlangen Welse auf, die ab und zu die Zeitungen zierten. Vorsicht war geboten. Die Schnur sollte zwar angeblich fünfzig Kilo tragen können, dass man einen solchen Brocken nicht einfach rausziehen konnte, wusste jedoch sogar Armin. Er bedeutete seiner besseren Hälfte, dass sie ans Ufer steuern solle. Dort sollte sie die Angel übernehmen, während er in den Fluss steigen und den Fang mit dem Unterfangnetz sichern und schließlich überwältigen wollte. Der Wels hing zwar kräftig am Haken, ließ sich jedoch bisher ohne große Gegenwehr mitziehen. Armin rekapitulierte kurz sein Wissen über die Beute: Welse sind dumm und faul. Die liegen jahrelang in der gleichen Pfütze am Flussgrund. Solange genug zu fressen vorbei treibt, bewegen die sich nicht. Deshalb werden sie so groß und fett.

In aller Eile machte Armin das Boot verbotenerweise an einem massiven Stamm fest. Darauf war bei der Instruktion klar und deutlich hingewiesen worden. Keinesfalls an Bäumen festmachen! Genauso schlimm, wie im Fluss den Anker auszuwerfen. Einzige Ausnahme: ein treibendes Boot mit Motorschaden. Im Unterdeck lagen die vorgeschriebenen Erdanker, etwa einen Meter lange Steinmeißel mit geschmiedeter Spitze, die man zum Festmachen mit dem ebenfalls zur Verfügung gestellten Fäustel am Ufer in den Boden treiben sollte. Natürlich würde Armin das nachholen. Sobald der Wels überwältigt am Strand lag.

Inzwischen trieb der Fisch mit der Strömung hinter der Penichette ebenfalls langsam Richtung Ufer. Armin begann damit, die Angelschnur mit den Händen einzuholen, während seine Frau den losen Teil laufend aufwickelte. Ganz plötzlich stoppte die Leine. Offenbar hatte sich der Wels irgendwo verfangen. Armin blieb nichts anderes übrig, als sich ins Wasser zu bemühen.

Zuvor zeigte er seiner Frau, woran sie die Angelschnur zum Bremsen umschlagen konnte. Falls der Wels doch einen Ausbruchsversuch unternehmen sollte, während Armin in den Fluss stieg.

Mit dem vergleichsweise kleinen Fänger in der einen Hand watete Armin los. Den Fisch schien es nicht zu stören; er blieb völlig ruhig. Das Wasser floss zu trüb, um darin mehr als schwache Konturen zu erkennen, aber er sah trotzdem riesig aus. Mit einem Hechtsprung warf sich Armin auf den Körper und versuchte, mit dem Fänger den Kopf zu erwischen. Dabei geriet ihm allerdings die straff gespannte Angelschnur in den Weg. Er wollte den Fisch mit den Beinen in die Zange nehmen, als er mit den Knien unerwartet auf etwas Hartes traf. Hatte ein Wels richtige Knochen? Mit der leeren Hand tastete Armin seinen Fang ab.

Stoff.

Ein Fisch mit Kleidung und Schuhen. Entsetzt sprang Armin zurück, sobald er begriffen hatte, was da an seiner Angel hing.

***

Als Kommissar Guerin am Fundort eintraf, hatten die örtlichen Spurensicherer am Flussufer ein Schutzzelt aufgebaut, um ihm die Leiche so authentisch wie möglich vor Ort zu präsentieren. Auch der Rechtsmediziner stammte aus Vesoul, der hier zuständigen Justizdirektion. Doktor Roulin wäre ihm natürlich lieber gewesen, weil er sich mit Claude fast blind verstand und ihm auch Fragen stellen konnte, die sich nicht nur auf das Fachgebiet Rechtsmedizin bezogen. Mit ihm unterhielt er sich ebenso über Dinge, die ihn privat oder bloß im Zusammenhang mit dem jeweiligen Fall beschäftigten.

Der fremde Doktor spulte für ihn seine bisherigen Erkenntnisse ab: »Leichnam, männlich. Größe und Gewicht in normalem Bereich. Alter: circa fünfzig bis sechzig. Allgemeinzustand eher unauffällig. Trägt einfache Straßenkleidung. Der Körper wurde durch das Gewicht eines um die Hüften geschlungenen Kettenstücks am Auftauchen oder Treiben an der Wasseroberfläche gehindert. Die Kette, möglicherweise Reste einer Ankerkette, wird von einem gewöhnlichen Vorhängeschloss zusammengehalten. Die Schussverletzung im oberen Schädelbereich war in jedem Fall tödlich. Ich sehe jedoch auch Hinweise, dass er zuvor bereits ertrunken sein könnte. Möglicherweise eine Art Fangschuss, oder um ganz sicher zu gehen? Man kennt das ja aus Filmen.«

Der Doktor zuckte mit den Schultern. »Das muss ich natürlich im Einzelnen im Institut genauer untersuchen. Hier vor Ort sind alle Angaben bloß vorläufig. Die Liegezeit im Wasser scheint nur ein bis zwei Tage gedauert zu haben. Wir können es als großes Glück betrachten, dass ihn ein Angler erwischt hat, bevor der Fluss alle Hinweise zerstören konnte.«

Guerin pflichtete ihm nickend bei. Der Mann lag mit aufgedunsenem Leib vor ihm auf einer Trage. Wohl deshalb saß die Kette absolut straff und schnitt deutlich in den Bauch ein. Guerin ließ sich Zeit, um sich das durch dunkelrote Flecken entstellte Gesicht einzuprägen. Das Einschussloch oben im Schädel verbargen die wirr abstehenden, schwarzen Haare fast vollständig. Deshalb veränderte es das Aussehen des Toten nicht wirklich. Zumindest nicht für jemanden wie Guerin, der sich längst an Leichen gewöhnt hatte. Ob der Mann nur unrasiert gewesen war oder einen sehr kurz geschnittenen Bart getragen hatte? Nicht einfach zu bestimmen. Auffällig der halb geöffnete Mund, in dem sich bloß noch einzelne Zähne erkennen ließen. Waren die Fehlenden früher durch eine Teilprothese ersetzt worden, oder hatte er sie erst im Zusammenhang mit der Ermordung verloren? Das spielte eine wichtige Rolle beim Erstellen eines Bildes, das sie eventuell für die Öffentlichkeit anfertigen mussten, um dem Mann einen Namen zu geben. Darüber würde der Rechtsmediziner Auskunft geben, ohne dass man ihn danach fragen musste. Hoffentlich.

Trotz allem sollte es möglich sein, den Toten anhand seines Aussehens zu identifizieren. Zumindest von jemandem, der ihn zu Lebzeiten gut gekannt hatte.

Der Angelhaken hatte sich im Kragen des robusten und doch nachgiebigen Jeanshemdes verfangen. Vermutlich der Grund, dass der Stoff der Zugbelastung überhaupt standhalten konnte. Bei bloßem Verhaken in einem Weichteil oder an einer Stelle in der Körpermitte hätte sich der Leichnam rasch losgerissen und wäre wieder im Fluss versunken. Also doppeltes Pech für den Mörder, der dies erst so spät wie möglich, erfahren sollte.

3. Kapitel

Man hatte Guerin in einem Stadthotel ganz in der Nähe des Justizpalastes untergebracht. Immerhin lag Vesoul hundertfünfzig Kilometer von seinem Heimatort Colmar entfernt, da konnte er schlecht jeden Abend nach Hause fahren. Das Hotelgebäude stammte aus dem 16. Jahrhundert, natürlich im Innern modernisiert, aber trotzdem ziemlich eng, mit winzigen Zimmern. Zum Glück musste er sich tagsüber nicht in dieser Bleibe aufhalten; ein Schreibtisch stand im Polizeikommissariat Vesoul für ihn bereit, und für Routinerecherchen konnte er auf die Mitarbeiter der Abteilung zurückgreifen.

Sozusagen als Sahnehäubchen erhielt er Megane Gadient als persönliche Assistentin zugeteilt. Sie war eine fröhliche Mittvierzigerin im Rang einer élève-officier (entspricht in etwa einer Kommissaranwärterin), welche die Leute und die Gegend kannte, und, wie ihr Name besagte, eine Perle. Guerin verdankte sie vermutlich dem Präfekten persönlich.

An Guerins zweitem Tag in Vesoul stand ein Besuch bei Doktor Pierre, wie man den Rechtsmediziner hier nannte, an. Der hatte den Mann aus der Saône inzwischen genauer untersucht und wollte heute seinen vorläufigen Bericht näher erläutern.

Megane fuhr, Guerin blätterte auf dem Beifahrersitz in den kargen Unterlagen. Der Hefter enthielt erst wenige Angaben über den Fall. Einzig, dass es sich um einen Mord handelte, stand mit ziemlicher Sicherheit fest. Einen Suizid auf diese Art zu bewerkstelligen – eigentlich unvorstellbar. Zur Identität des Mannes zeichnete sich noch nicht einmal eine vage Möglichkeit ab. In der Vermisstenkartei fand sich bisher kein passender Eintrag. Nicht besonders ungewöhnlich, wenn man die kurze Liegezeit im Wasser in Betracht zog. Möglicherweise wurde der Mann noch gar nicht vermisst, oder er stammte aus dem Ausland.

Die Spurensicherung hatte anhand der Fotos des Toten eine erste Liste von Gegenständen erstellt, die sich bei der Leiche gefunden hatten. Kleidung und eventuelle weitere Funde an oder auch in der Leiche ließen sich erst nach der Untersuchung durch Doktor Pierre asservieren. Von einem Fundort im Sinne des Wortes konnte man genau genommen ebenfalls nicht sprechen. Diese Liste und die fotografischen Aufnahmen der Leiche bildeten die dünne Grundlage zum Beginn der Ermittlung.

Guerin sah nur kurz hoch, als Megane beim Schalten mit dem abgespreizten kleinen Finger leicht sein Bein streifte. Bestimmt ein Versehen. Ihm fiel ein, wie er so eine Situation noch vor gar nicht allzu langer Zeit angegangen wäre. Natürlich wäre er selbst gefahren, den Beinstreifer hätte er sich allerdings verkniffen. Zu plump. Normalerweise reichten einige Komplimente und bewundernde Blicke, um einer Frau wie Megane näherzukommen. Schon deshalb, weil er deutlich jünger war als sie, und seine guten Manieren verfehlten ihren Eindruck selten. Auch sein »Teure-Schuhe-Tick«, stieß bei Damen meistens auf Interesse. Daraus ergab sich Gesprächsstoff, eins führte zum anderen, und nicht selten endete das Ganze in einem Bett. Jedoch – alles Schnee von gestern: Er hatte kürzlich sein Lotterleben beendet und die absolut bezaubernde Michélle geheiratet. Ob und wie lange ihn das gegen Avancen von Frauen wie seine aktuelle Begleiterin immun halten konnte, würde sich zeigen.

Megane parkte vor einer modernen Klinik. Sie ging voraus, er trottete hinterher. Eher zufällig stellte er fest, dass sie auch von hinten ziemlich interessant aussah, zumindest ihre untere Hälfte. Ihr Rock reichte immerhin fast bis zu den Knien, war jedoch so eng, dass es wenig Fantasie bedurfte, was der elastische Stoff verdeckte. Vor allem ihr Hinterteil, das man ohne Übertreibung als markant bezeichnen konnte, beschäftigte ihn. Denn es kreiste beim Gehen irgendwie um ein imaginäres Zentrum. Absolut verwirrend, fand Guerin.

Zum »Glück« blieb sie bald vor einem Lift stehen, bevor er sich näher in den Sachverhalt vertiefen konnte.

Einige Geschosse tiefer erwartete sie Doktor Pierre bereits mit einem schwarzen Klemmbrett in der Hand, das er beim Sprechen mitbewegte, als wäre es überhaupt nicht vorhanden. »Herzlich willkommen im Reich des Hades!«, begrüßte er sie. »Sie sehen jedes Mal jünger aus, Mademoiselle«, schleimte er in Richtung Megane.

Außer einem schwachen Grinsen erntete er nichts dafür, stellte Guerin schadenfroh fest. Der Gebrauch der Anrede Mademoiselle war auch in Frankreich längst passé, aber Rechtsmediziner ticken überall etwas eigen, das wusste Guerin. Außerdem kannten sich die beiden vermutlich schon länger. Vielleicht bloß ein altes Ritual, das sie pflegten.

Der Doktor setzte eine ernste Miene auf. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen!«

Nachdem sie in einem nüchternen Raum Platz genommen hatten, legte der Doktor eine Skizze auf den Tisch, die Zeichnung eines stark stilisierten Menschen. Unzählige Kreuzmarkierungen bedeckten das Blatt. »Alles kleinere und mittlere Verletzungen. Keine Brüche, jedoch eingeschlagene Zähne und zerquetschte Finger. Der Mann wurde über längere Zeit misshandelt, bevor man ihn erst ertränkt und danach auf ihn geschossen hat. Todesursache war Ertrinken«, bekräftigte er.

Megane verzog angewidert das Gesicht. »Erschossen? Wozu? Ohne die sinnlose Schussverletzung wäre der Tod vielleicht als Unfall oder Selbstmord eingestuft worden.«

Guerin musterte sie kurz. »Sinnlos?«, wiederholte er. »Muss nicht sein. Vielleicht ein Racheakt. Ein Exempel?«

»Der Mörder konnte doch nicht damit rechnen, dass die Leiche wieder auftaucht«, warf Megane ein. »An wen sollte die Botschaft denn gehen?«

»Vielleicht an jemanden der schon im Fluss liegt«, meldete sich der Doktor.

Megane sah ihn entgeistert an. »Botschaften an andere Leichen, na klar! Sie hatten schon immer eine blühende Fantasie, Herr Doktor«, stichelte sie.

Guerin schüttelte den Kopf. »So abwegig finde ich das jetzt auch wieder nicht. Pflegen Sie denn keine Rituale, Madame, die an sich sinnlos sind?«

Megane schien skeptisch. »Geben Sie mir ein Beispiel, Herr Kommissar.«

»Salz über die Schulter werfen, Holz anfassen, darauf achten, mit welchem Bein Sie zuerst aufstehen …« Er stockte kurz. Seine Fantasie hatte ihm umgehend ein passendes Bild geliefert.

Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre doch Blödsinn! Hier geht es darum, einen Mord zu vertuschen. Der Täter hat es uns leicht gemacht, seine Tat als solches zu erkennen. Ohne Not!«

»Das wird uns bestimmt noch eine ganze Weile beschäftigen«, sinnierte Guerin. »Weitere Auffälligkeiten?«, fragte er den Pathologen. »Gegenstände in den Taschen?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Außer der Kette, natürlich.«

»Lassen sich Rückschlüsse aus den übrigen Verletzungen ziehen?«

»Hier, die kreisrunden Hämatome auf der Brust.« Er zeigte auf einige Kreuze auf der Skizze. »Scheint so, als wurde er mit einem harten Gegenstand unter Wasser gedrückt. Bestimmt kein Ruder oder ein Bootshaken. Eine kurze Eisenstange möglicherweise.«

»Sie haben doch bestimmt Fotos von den Abdrücken?«, fragte Guerin.

Doktor Pierre nickte. »Alles im Hefter, den ich für Sie zusammengestellt habe. Auch Röntgenbilder der paar Zähne, die man ihm noch gelassen hat.«

Guerin erhob sich. »Danke, Herr Doktor!«

***

Le tour lief in der letzten Woche. Guerin hatte inzwischen mit Megane unzählige Plätze am Oberlauf der Saône besucht, stets mit dem Foto des Toten und einem Muster der Ankerkette ausgestattet. Sie hatten Bootsbauer und Ladenbesitzer genauso befragt wie Hafenmeister und Gemeindeangestellte, Anwohner sowie Personal der Restaurants am Fluss und in der näheren Umgebung. Das Resultat: Keiner wollte den Mann jemals gesehen haben. So eine Kette dagegen hatte fast jeder schon einmal irgendwo bemerkt. Natürlich hatte Guerin den Hersteller gleich zu Anfang gesucht und auch gefunden. Diese Ketten wurden im ganzen Land überall verkauft; völlig illusorisch, damit auf irgendwelche brauchbaren Hinweise zu hoffen. Guerin vermutete, dass das gefundene Kettenstück irgendwo herumgelegen hatte und vom Täter entwendet worden war. Da es mit einem Schweißbrenner abgetrennt worden war, lag der Verdacht nahe, dass es sich um einen Zufallsfund des Mörders handelte. Schweißbrenner standen schließlich nicht an jeder Ecke herum und konnten auch nicht von jedermann ohne Fachkenntnisse benutzt werden. Guerin hoffte, dass jemand genau so ein Stück Kette vermisste. Dann hätte er schon mal einen Ort.

Vergeblich. Guerins Enttäuschung wurde durch die Umstände der Untersuchung gedämpft. Prachtvolles Wetter, jeden Tag im Freien und am Fluss. Er genoss es, die leicht bekleideten Urlauberinnen zu befragen. Wer konnte es ihm verdenken, dass er seinen Charme einsetzte, solange es der Wahrheitsfindung diente? Ohne, dass sie es abgesprochen hätten, übernahm Megane die Herren, bei denen sie mit ihrer einnehmenden Art meistens genauso gut ankam wie er bei den Damen. Außerdem wirkten sie in zivil und als Paar offenbar weniger wie Polizisten, eher wie Urlaubsbekanntschaften, mit denen sich die Touristen ganz locker unterhielten.

Trotzdem brauchte Guerin bald einen Fortschritt, sonst blieb der Fall unlösbar. Immer noch keine Anhaltspunkte, um wen es sich bei dem Toten handelte. Keine weiteren Erkenntnisse oder auch nur der vageste Hinweis, dass jemand glaubte, dem Opfer einmal begegnet zu sein. Sobald der Sommer zu Ende ginge, würde sich die gesamte auf den Tourismus ausgelegte Lebensweise entlang des Flusses verändern. Es war schon möglich, dass ein Zeuge sich später an etwas erinnerte, dem er heute keine Bedeutung beimaß. Ein Name zum Beispiel, oder einer dieser Zufälle, die ab und zu weiterhalfen.

Auch Megane blieb ihm ein Rätsel. Sie behandelte ihn, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Binnen Kurzem hatte sie seine Gewohnheiten und Vorlieben herausgefunden und sich darauf eingestellt, an sich nichts Ungewöhnliches – für eine verliebte Frau. Doch Gefühle schien sie nicht für ihn zu hegen. Ihr lasziver Gang, die zur Schau gestellten Reize, ihre Liebenswürdigkeit galten allen gleichermaßen, ohne dass er dabei besondere Absichten erkennen konnte. Dass sie eine Lesbe sein könnte, hatte Guerin rasch verworfen. Es knisterte durchaus manchmal, wenn eine zweite attraktive Frau erschien, allerdings nicht zwischen den Frauen. Nur eines fiel ihm auf: Megane schien es nicht zu mögen, wenn eine ihr möglicherweise ebenbürtige Konkurrenz auftauchte. Ein eher männliches Verhalten, fand Guerin, nur ohne das übliche Gehabe. Es gab auch weder Gehässigkeiten noch Sticheleien; Megane legte sich höchstens noch mehr ins Zeug.

4. Kapitel

Muriel saß an der Rezeption und sah nachdenklich dem Rentner Meinrad Danner hinterher, der sich gerade verabschiedet hatte. Der Mann schien das ideale Opfer zu sein. Er hatte letztes Jahr schon ein Boot gemietet und kannte den Fluss und die Penichette.

Tatsächlich war er in diesem Jahr ohne die nervige Begleiterin erschienen, die Muriel damals davon abgehalten hatte, sich ihm zu nähern. Auf sanftes Nachfragen hin hatte der Alte durchblicken lassen, dass sich seine Lebensgefährtin aus dem Staub gemacht habe. Dämliche Kuh! Aber um so besser für Muriel. Nur eins ließ sie zögern: Der Mann stammte aus dem knapp hundert Kilometer entfernten Basel. So kurz nach der Polizeiaktion, die sie mit ihrer letzten »Sichtung« ausgelöst hatte, schien ohnehin erhöhte Vorsicht geboten. Normalerweise bevorzugte sie Herren aus Norddeutschland oder wenigstens aus dem Osten der Republik. Allerdings lief ihr die Zeit davon. In sechs Wochen würde der Tourismus an der Saône deutlich abflauen. Dann sanken nicht nur die Temperaturen, sondern auch die Preise. Mit armen Schluckern, die sich die Hauptsaison nicht leisten konnten, wollte sie sich nicht abgeben. Im Fluss mochte man dann auch nicht mehr baden, geschweige denn die Nächte draußen verbringen.

Muriel straffte sich. Sie vermochte sich durchaus eine Ehe mit einem vermögenden Herrn vorzustellen – wenn sie nicht zu lange dauerte und er sie dafür mit einem ansehnlichen Erbe entschädigte. Allerdings hatte sie diese Möglichkeit eher für später vorgesehen, wenn ihre Reize langsam zu schwinden begannen. Jetzt wollte sie ihren Winterwohnsitz im Elsass noch nicht aufgeben. Andererseits, vornehm in Basel leben? Sie nahm sich vor, an einem freien Tag einmal hinzufahren und sich anzusehen, wo und wie der alte Danner wohnte. Die Adresse hatte er natürlich angegeben, wie alle, die bei ihr ein Hausboot mieteten. Besser einen alten Mann erdulden als einen kargen Winter, dachte sie. Immerhin wusste sie schon ziemlich viel über ihn. Auf jeden Fall ein großzügiger Typ. Seine Verflossene hatte vor Schmuck und teuren Kleidern nur so gestrotzt, und er hatte Muriel bei der Schlüsselübergabe eben mehr als deutlich gezeigt, dass er ihren Verlockungen keineswegs abgeneigt gegenüberstand. Außerdem hatte er zuvor mehr über sich preisgegeben, als klug für ihn gewesen wäre. Auch das es keine lästigen Nachkommen gab, die einer Lebensgefährtin das Erbe streitig machen konnten.

***

Guerin schlenderte durch eine Bootswerft, die er sich früher schon mal kurz angesehen hatte. Sie lag neben einem Jachthafen, der über rund vierzig moderne Anleger für Haus- und Sportboote verfügte. Das Areal der Werft wirkte ziemlich überfüllt. An Wasser wie an Land lagen alte Lastkähne in diversen Stadien des Verfalls herum. Das Gelände erinnerte Guerin mehr an einen Schrottplatz als an eine Werft. Das Geschäft mit den Flusstransporten lag schließlich schon längst darnieder. Wenigstens sorgte der Hausboottrend für neues Einkommen in der Gegend. Gearbeitet wurde in den Hallen der Werft ausschließlich an eleganten, teuren Booten; die alten Frachtkähne lagen nicht nur sinnbildlich auf Halde. Der ideale Ort, um über ein herumliegendes Stück Ankerkette zu stolpern, deswegen war Guerin hier.

Außerdem hatten sich bei seinem letzten Besuch kaum alle Angestellten im Werk aufgehalten. Und obwohl er und Megane ein Foto des Toten ans Schwarze Brett der Firma genagelt hatten, bedeutete dies nicht, dass es sich jeder Mitarbeiter auch genauer angesehen hatte. Er hatte sich beim Besitzer angemeldet, aber darum gebeten, das Personal nicht über den Grund seines Besuchs zu informieren.

»Schauen Sie sich ruhig um. Ich hab nichts zu verbergen, und meine Leute auch nicht«, sagte der Mann, noch bevor er Guerin die Hand geschüttelt hatte.

Guerin nickte erfreut. Kein richterlicher Beschluss nötig, das fand er sehr anständig. Er schätzte, dass die Beamten, um alle Räume und Boote zu durchsuchen, mehrere Tage bräuchten. Nun, wenn er eines hatte, dann Zeit, und eine angenehme Beschäftigung war besser, als bloß Däumchen zu drehen. Hauptsache, die Gedanken blieben am Ball beziehungsweise am Fall. Schon oft hatte sich bei solchen scheinbaren Routinedurchsuchungen etwas ergeben, das seinen Gedanken eine neue Richtung gab.

Bald stellte Guerin fest, dass längst nicht alle auf dem Gelände herumstehenden Boote vor dem Verlassen geräumt worden waren. Unmengen von persönlichen Dingen wie Kleidung, Bücher, Kosmetikartikel und alte Lebensmittelkonserven füllten Regale und Schränke. Ein ausgezeichneter Platz für einen Clochard oder einen gesuchten Kriminellen, ging Guerin durch den Kopf. Was hier lagerte, reichte Monate oder sogar Jahre zum Überleben, inklusive Wohnen und Schlafen.

Dass der Tote in diese Kategorie gehörte, glaubte Guerin jedoch nicht. Der Täter schon eher. Natürlich brauchte auch so jemand ab und zu Bargeld. Gelegenheiten, um einsame Wanderer oder Radfahrer auszurauben und im Fluss verschwinden zu lassen, gab es ohne Frage jede Menge. Der Täter könnte das spätere Opfer zur Übernachtung auf einem stillgelegten Boot in der Werft eingeladen haben – leichtes Spiel mit einem Schlafenden. Kurzer Weg ins Wasser. Einen an sich sinnlosen Kopfschuss, um eine falsche Spur zu legen. Genügend Zeug, um eine Leiche zu beschweren, lag auch herum, ohne dass sein Fehlen irgendjemandem auffiele. Je länger Guerin darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm das Ganze. Er würde sich damit beschäftigen müssen, ob hier mehr Leute verschwanden als im landesüblichen Durchschnitt. Oder zumindest an anderen Flüssen in Frankreich.

***

Die Truppe rückte früh am nächsten Morgen in der Werft an. Guerin hatte zehn Beamte mitgebracht, die sich so auf dem Gelände verteilten, dass sich niemand ungesehen davonschleichen konnte. Er hielt die Augen offen, ob jemand auf einem der alten Boote übernachtet hatte. Systematisch durchsuchten sie eine Kajüte nach der anderen. Guerins Gefühl erwies sich als richtig. Insgesamt fünf Personen holten er und seine Gendarmen aus den Kojen, zwei Pärchen und einen einzelnen Mann, jeweils aus verschiedenen Booten. Die Pärchen, die sich ausweisen konnten und aus der Gegend stammten, ließ Guerin bald wieder laufen, den Mann ohne Papiere dagegen vorläufig festnehmen.

Der verhaftete Typ schwieg eisern. Guerin ließ ihn erst mal in einem Einsatzwagen schmoren, während seine Spurensicherer weiter das Boot durchsuchten. Eine alte Peniche, die man schon vor langer Zeit auf Holzbalken ans Ufer gestellt hatte. Sie stand ganz hinten am Waldrand, umgeben von niederem Gebüsch. Ein deutlich erkennbarer Trampelpfad führte zwischen den Sträuchern hindurch zum Steg am Heck. Dass dieser Kahn nie wieder schwimmen würde, konnte sich auch ein Laie leicht ausrechnen. Durch die Ritzen der vermoderten Planken sah man teilweise ins Innere des Rumpfes. Da und dort wuchsen Grasbüschel auf dem Deck. An Stellen, wo Wind und Regen genug Material abgelagert hatten, um Wurzeln einen Halt und etwas Feuchte zu bieten, standen sogar kleine Stauden.

Die Kabine hingegen hatte sich erstaunlich gut gehalten, auch wenn die Bettwäsche vor Dreck starrte und es nach altem Schweiß und Essensresten müffelte. Der Fußboden war bedeckt mit Wollmäusen, Papierfetzen und Styroporverpackungen, dazwischen leere Flaschen und offene Konservendosen. Guerin rümpfte die Nase. Ein echter Messie! Offenbar hauste er hier schon seit einiger Zeit. In den Schränken fanden sich tatsächlich Essensvorräte für mehrere Monate. Dass sich der Bewohner nicht bloß von Konserven ernährte, bewiesen die herumliegenden Fast-Food-Verpackungen und leeren Weinflaschen.

Falls der Kerl Wertsachen besaß, bewahrte er sie allerdings woanders auf als hier. Außer einigen Münzen fanden sich weder Geld noch Schmuck oder Dokumente in der Kabine. Auch seine Hosentaschen enthielten abgesehen von Unrat und Kleinkram nichts von Belang. Seine für einen Obdachlosen recht umfangreiche Garderobe fand sich über mehrere Räume im Boot verteilt. Als Guerin sich ein Hemd genauer besah, stutzte er. Das Etikett war sauber herausgetrennt, nicht bloß abgeschnitten. Oft ein Hinweis auf gestohlene Ware oder auf Leute, die ihren normalen Aufenthaltsort zu vertuschen suchten.

Dasselbe Bild bei den übrigen Kleidungsstücken, unter denen sich elegante Anzugshosen und derbe Jeans in diversen Größen mischten. Ein ähnliches Bild bot sich bei den Schuhen: fünf Paare, drei Schuhnummern. Offenbar stammte die Kleidung von verschiedenen Personen. Womöglich auf all den hier liegenden Booten zusammengesucht. Oder von diversen Wäscheleinen geklaut. Die einzige Gemeinsamkeit der Stücke, alle waren gleich dreckig. Unterwäsche hingegen, schien rar zu sein. Davon besaß der Clochard nur zwei Garnituren. Die eine Unterhose trug er, die andere hing schlaff an einer Schranktür.

Messer oder übrige Dinge, die man als Waffe bezeichnen konnte, fand Guerin nicht. Er vermutete jedoch, dass der Typ nicht so friedlich lebte, wie es den Anschein hatte. Die meisten dieser Kerle waren erfahren im Umgang mit Behörden und vorsichtig genug, sich nicht mit verdächtigen Gegenständen erwischen zu lassen. Dafür sprach auch, dass er absolut keinerlei Fragen beantwortete. Sprechen konnte er allerdings: »Lasst mich frei, ihr Schweine! Reine Willkür ist das! Ich hab nichts getan. Ihr Knechte eines faschistischen Polizeistaats, lasst mich frei!«

Der will sich als linker Spinner darstellen, vermutete Guerin, aber dem ging er nicht auf den Leim. Die fehlenden Etiketten gaben den Ausschlag. Zu typisch für Kriminelle. Solange die Spurensicherung zu keinem klaren Ergebnis gelangte, musste er den Kerl vermutlich trotzdem bald laufen lassen. Guerin brauchte eine Spur. Ein Indiz oder einen Gegenstand, die zu einem Haftbefehl führen konnten.

***

Muriel nutzte den späten Nachmittag für einen Besuch bei Meinrad Danner. Sie hatte kurz im Büro nachgesehen, wo seine Penichette, die Chantal lag. Immer noch bloß wenige Kilometer vom Bootsverleih entfernt. Danner schien keinen Ehrgeiz darauf zu verschwenden, möglichst weit zu kommen. Natürlich kannte Muriel die Stelle, an der er angelegt hatte. Ganz in der Nähe eines Restaurants, »dieses« Restaurants, aber das spielte für sie keine Rolle mehr. Inzwischen hatte das Haus täglich und fast rund um die Uhr geöffnet, ideal für Leute wie Meinrad, die sich gern kulinarisch verwöhnen ließen, ohne einen langen Weg nach Hause vor sich zu haben.

Auch Muriel selbst aß ab und zu dort. Man kannte sich schließlich und empfahl sich gegenseitig. So konnte sie Danner im Glauben lassen, dass sie einen Spaziergang mit anschließendem Bad geplant habe und bloß zufällig auf ihn gestoßen sei. Wie sie ihn einschätzte, würde er sie zum Essen einladen, sobald sie dieses Restaurant oder ein Hungergefühl auch nur erwähnte. Sie würde sich während des Besuchs entscheiden, wann es so weit war, auch darüber, wie der Abend enden sollte. Am Köder würde sie bei einem so dicken Fisch bestimmt nicht sparen.

Muriel stelle ihr Fahrrad beim Restaurant ab. Erst spazierte sie an Danners Penichette vorbei, die er am Ufer vertäut hatte.

Hohe Bäume beschatteten das Boot, sodass der Alte auf dem Oberdeck in einem Liegestuhl dösen konnte, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen. Er reagierte nicht auf Muriel, die ihn aus den Augenwinkeln genau beobachtete, während sie vorbeischlenderte.

Ein kurzes Stück ging sie noch weiter, dann zog sie sich im Gebüsch um, also eigentlich aus. Den knappen Bikini hatte sie schon die ganze Zeit unter der Kleidung getragen. Sie gönnte sich ein ausgiebiges Bad, währenddessen sie immer wieder unauffällig zum Boot hinüberspähte. Danner regte sich die ganze Zeit über nicht.

Schließlich legte Muriel sich unter die Bäume. Strandtuch und Kosmetikartikel hatte sie in einer voluminösen Tasche bei sich. Als sie auf dem Handtuch lag und die Augen ihr zuzufallen drohten, sah sie vorsichtshalber auf die Uhr. Schon bald Essenszeit, dann würde sie ihn aufscheuchen. Wem sollte es verdächtig vorkommen, wenn sie zufällig einen Kunden am Fluss traf und sich nach seinem Befinden erkundigte? Seltsam könnte es eher anmuten, wenn sie einfach achtlos vorbeiginge.

***

Kommissar Guerin stand kurz vor dem Feierabend, als Megane ihn anrief. Offenbar hatten die Techniker gerade die Schatzkiste des Clochards gefunden. Guerin bestand darauf, dass die Arbeit ruhen solle, bis er eingetroffen sei. Vielleicht bot der Inhalt eine Möglichkeit, sich dem Mann zu nähern, der weiterhin jede Auskunft verweigerte. Er machte sich eilends auf den Weg zur Werft.

Die Männer von der Spurensicherung machten ihm respektvoll Platz. Guerin fragte sich, ob die Leute hier einfach nur auf Zack waren, oder ob sich die Gerüchte über seine spektakulären Fälle und phänomenale Aufklärungsquote bereits bis zu ihnen herumgesprochen hatten. Er schickte bis auf zwei Kollegen alle nach Hause. Wie erwartet, hatte der »Schatz«, in diesem Fall ein Alukoffer, nicht einfach in der Kajüte gelegen. Das Schiff hatte einmal einen Innenbordmotor besessen, und daher lagen viele Teile der technischen Ausrüstung wie Tanks für Wasser oder Treibstoff unterhalb des Kajütenbodens. Zugang zu diesem etwa achtzig Zentimeter hohen Unterdeck boten einige Klappluken. Man konnte sich dort unten bewegen, jedoch nur auf allen vieren. Als Guerin sich selbst ein Bild vom Fundort des Koffers machte, entdeckte er zudem einen vergleichsweise sauberen Schlafsack unter einem der Lukendeckel, der sich von unten verriegeln ließ. Vermutlich die letzte Zuflucht des Obdachlosen, wenn er jemanden kommen hörte. Hinter der vorgebauten Wand am Rand des Rumpfes fand sich eine Stelle, an der ein Mensch auch auf diesem Deck aufrecht stehen konnte. In dieser schrankartigen Konstruktion befand sich auf Augenhöhe ein Türspion, durch den man die gesamte Kajüte überblicken konnte. Den Alukoffer hatten die Spurensicherungsbeamten eher zufällig darin entdeckt, weil sie das Glas des Spions von außen entdeckt hatten und ihm nachforschten. Das Versteck an sich dürfte schon länger bestanden haben. Neu wirkte nur dieser Spion. Guerin überlegte sich, ob all der Müll in der Kabine bloß davon abhalten sollte, genauer hinzusehen. Alles in allem ein guter Platz, um sich auch für längere Zeit zu verstecken.

Das Spurensicherungsteam hatte den Koffer für den Kommissar wieder zugeklappt und an die Fundstelle zurückgelegt. Guerin ließ ihn ungeöffnet zum Justizpalast schaffen, dann schickte er die letzten Kollegen nach Hause. Endlich allein! Er wollte den Ort auf sich wirken lassen, und dazu musste er ebenso verlassen sein, wie der Landstreicher ihn normalerweise erlebte.

5. Kapitel

Irgendwann hatte Muriel genug davon, auf Danners Erwachen zu warten. Sie schlüpfte in ihre Kleider und rückte ihr ausladendes Dekolleté zurecht. Auch der geschlitzte Rock ihres Kleides, der den Blick auf ihre gebräunten Schenkel freigab, sollte seine Wirkung nicht verfehlen. Sie stellte sich neben das Boot und warf einen Kieselstein ins Wasser, um auf sich aufmerksam zu machen. Danner hob den Kopf, sah sich um.

»Hallo!« Sie winkte ihm lächelnd zu.

Er wirkte verschlafen. »Hallo«, gab er kraftlos zurück. Erst als er erkannte, wer ihn da geweckt hatte, schob er sich die Brille auf die Nase. »Sie, Madame?«

»Ich wollte Sie nicht stören«, entschuldigte sie sich.

»Aber nicht doch. Welch eine angenehme Überraschung. Kommen Sie bitte an Bord, Madame!« Er schien leicht verwirrt, aber auch sehr erfreut.

Gespielt zögerlich balancierte Muriel über das angelegte Landungsbrett. Danner hatte sich inzwischen erhoben, war vom Oberdeck heruntergestiegen und bot ihr seine Hand an. »Bitte, Madame!«

Sie griff beherzt zu und ließ sich an Deck ziehen, wobei sie den Rock etwas raffte und ihm viel Bein zeigte. Als sie sich extra weit vorbeugte, um ihre Tasche abzustellen, spürte sie seine Blicke auf ihrem Busen fast körperlich. Meinrad hatte ja keine Ahnung, dass er genau das tat, was sie bezweckte.

Mit leicht belegter Stimme sagte er: »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein, vielleicht?«

Sie gab sich verlegen. »Ich vertrage Alkohol nicht besonders gut auf leeren Magen.«

Er reagierte sofort. »Aber natürlich, Madame. Das hätte mir auch direkt einfallen können. Ich esse jeden Abend in diesem ausgezeichneten Restaurant da oben!«

Er deutete eifrig flussaufwärts. »Es wäre mir eine Riesenfreude, wenn Sie mich heute begleiten würden!«

Sie wand sich kokett. »Wie nett von Ihnen. Aber das kann ich doch nicht annehmen. Einfach so?«

»Aber weshalb denn nicht? Ich würde mich unbeschreiblich darüber freuen. Es ist so schön hier. Auch das Boot ist perfekt. Jedoch so ganz allein? Ihre Gesellschaft würde meinen Aufenthalt endgültig unvergesslich machen.«

Muriel gab sich geschlagen. »Wenn Ihnen so viel daran liegt. Hungrig bin ich tatsächlich.«

Danner blühte richtiggehend auf. »Nehmen Sie doch bitte kurz Platz. Ich ziehe mich rasch um.«

Muriel setzte sich brav hin. Er verschwand in der Kabine. Deutlich zu hören, dass er sich duschte. Sie nickte zufrieden. Er schien zu wissen, was sich gehörte. Sie würde zwar einiges in Kauf nehmen, um an sein Vermögen zu gelangen, aber wenn sie sich dabei nicht ekeln musste, umso besser. Wenn er sich Mühe gab, würde sie ihm seine letzten Monate genau so versüßen, wie er es verdiente und danach seine hingebungsvoll trauernde Witwe geben. Zumindest so lange, bis alles geregelt sein würde.

***

Guerin ließ es sich nicht nehmen, bei der Sichtung des Kofferinhalts von Anfang an dabei zu sein. Ähnlich wie ein Rechtsmediziner diktierte der Leiter der Abteilung Spuren seine Eindrücke in ein Aufnahmegerät: »Koffer der Marke Del Sey, Paris. Graue Hartschale, Kanten aus eloxiertem Aluminium. Größe 70 x 55 x 13 Zentimeter. Schlösser nicht verriegelt.«

Der Techniker sah kurz hoch. »Kann ich öffnen, Herr Kommissar?«

Guerin nickte zustimmend. »Bitte!«

Der Techniker rollte mit den Augen, als der Deckel aufsprang. »Das dürfte einige Zeit dauern, Herr Kommissar, bis wir damit durch sind. Wollen Sie wirklich so lange warten?«

Guerin zuckte mit den Schultern. »Bis Sie eine grobe Übersicht haben, bleibe ich.«

»Ok.« Der Techniker griff zu einer Kamera und knipste etliche Bilder. Danach klaubte er eine schwarze Brieftasche aus dem Sammelsurium im Innern des Koffers und begann, die einzelnen Fächer zu leeren und auf dem Tisch auszubreiten. Auch davon machte er Fotos. Danach beschriftete er Zettel, die den Gegenständen beigefügt wurden.

Guerin räusperte sich. »Irgendwas, womit sich der Kerl auf dem Boot identifizieren ließe oder uns sonst weiterhilft?«

Der Techniker grinste. »Zaubern kann ich nicht, Herr Kommissar! Das dauert nun mal.«

Guerin gab nach. »Ich genehmige mir einen Kaffee, dann komme ich wieder.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Herr Kommissar«, empfahl der Mann.

Als Guerin eine halbe Stunde später den Raum wieder betrat, hatte der Techniker bereits eine respektable Liste verfasst. Unter anderem war eine eckige Blechdose mit Deckel aufgeführt. Ihr Inhalt interessierte Guerin: mehrere Portemonnaies und Brieftaschen. Alle enthielten Kleingeld und weitere übliche Dinge wie Quittungen, Fotos, Heiligenbildchen und so weiter, die im Einzelnen noch nicht erfasst waren. Keine Ausweise oder Bankkarten. Gesamtbetrag aller Börsen etwa fünfundzwanzig Euro. Lose im Koffer: ein lädiertes Jagdmesser mit Horngriff, ein Medaillon mit Silberkette, ein zerfleddertes Pornoheft, mehrere Kugelschreiber, ein Notizbuch, schwarz, kaum Einträge. Eine Papierschere, Büroklammern und Gummibänder. Ein Umschlag mit einigen schwarz-weißen Fotos. Kulturbeutel eines Mannes, darin: gebrauchte Rasierklingen, Nagelpflegewerkzeug, zwei Pinzetten, Rasierwasser und ein Parfum, frische und gebrauchte Papiertaschentücher, Zahnstocher, ein Streifen Tabletten mit der Aufschrift Ibuprofen, also ein Schmerzmittel.

Der Techniker winkte ihn heran. »Das hier könnte vielleicht doch interessant sein. Eine evangelische Taufurkunde. Name des Kindes: Georg Wetzel, geboren am 26. Mai 1949, getauft am 21. August 49. Die Taufpatin hieß Dora Müller.«

Guerin runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob das was mit unserem Mann zu tun hat. Eigentlich passt der Koffer nicht zu ihm, eher die Blechdose.«

»Das ist auch mein Eindruck«, bestätigte der Techniker. »Womöglich hat er den Koffer gefunden«, er stockte. »Oder entwendet.«

»Könnte passen«, bestätigte Guerin. »Aber einige der Dinge dürften doch von ihm selbst stammen. Welcher normale Reisende würde ein solches Konvolut an unpraktischen Dingen mit sich herumschleppen?«

»Es erinnert mich an Kram, den jeder irgendwo lagert. Bloß, dass er hier in einem Koffer liegt anstatt in diversen Schubladen«, wandte der Techniker ein. »Bei Durchsuchungen finden Sie oft genau solche Mischungen.«

Guerin musste ihm Recht geben. Damit verdichteten sich die Hinweise, dass der Mann tatsächlich schon seit einiger Zeit in der Peniche hauste, offenbar unbemerkt von den Werftarbeitern.

***

Muriel schlich sich aus dem Salon der Chantal, ohne Meinrad aufzuwecken. Sie hatten nach dem Essen auf dem Boot eine Flasche Wein getrunken und locker geplaudert, bis er schließlich eingenickt war. Sie regte sich nicht darüber auf, dass ihre weiblichen Reize ihn nicht wachzuhalten vermocht hatten. Das hatte sie gar nicht beabsichtigt, und eigentlich fühlte sie sich eher erleichtert. Ob er überhaupt noch imstande war, mit einer Frau zu schlafen, würde sich bei Gelegenheit erweisen.

Für Muriel spielte es keine große Rolle. Aber es fiel natürlich leichter, einen Mann durch gelegentlichen Sex bei Laune zu halten, als durch bloße Sympathie und ihn schließlich dazu zu bringen, sie zu heiraten. Egal. Sie würde sich dem einen wie dem anderen stellen.

Er hatte auf jeden Fall durchblicken lassen, dass er nicht gern allein weiterleben wollte, ohne sie dabei ins Auge zu fassen. Er schien nicht zu erwarten, bei einer Frau wie Muriel überhaupt eine Chance zu haben. Das gab ihr Zeit, ihre Strategie genau auf ihn auszurichten, damit sie ihn perfekt vorbereitet an Land ziehen konnte. Ihn zu heiraten, wäre nur das nächste Etappenziel. Danach gälte es, ihn so schnell wie möglich unter die Erde zu bringen. Warum sich länger als nötig mit einem Kerl abgeben, der ihr außer Geld nichts zu bieten hatte? Dass sie das schaffen würde, daran zweifelte sie nicht, aber noch wusste sie nicht, wie sie es anstellen wollte. Ihr würde bestimmt etwas einfallen; wie immer. Und am Ende winkte eine deutlich fettere Beute als üblich. Muriel sah sich schon als Hausherrin durch Danners nobles Anwesen schlendern. Sie musste sich allerdings auch weitaus mehr vorsehen, denn als reiche Witwe würde sie automatisch zur ersten Verdächtigen.

***

Guerin konfrontierte den Clochard am nächsten Morgen mit den gefundenen Fotos und den Aufnahmen vom Inhalt des Koffers. Der Mann schnaubte verächtlich. »Das habt ihr mir doch untergeschoben, ihr Faschos!«

Den Taufschein hielt Guerin daraufhin noch zurück, obwohl er nicht einmal glaubte, dass das Dokument etwas mit dem Unbekannten zu tun hatte. Die Reaktion des Clochards auf den Anblick wollte er gern unverfälscht bekommen: Er musste den Kerl überraschen, und zwar bald. Allzu lange würde Guerin ihn nicht mehr festhalten können. Einzig, dass der Clochard seinen Namen nicht nennen wollte, ließ noch etwas Spielraum zu.