Sahra & Malek - T.D. Amrein - E-Book

Sahra & Malek E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

„Bis dass der Tod euch scheidet“ ist der ultimative Sinnspruch für fast jedes normale Paar. Bei Sahra und Malek war es indessen umgekehrt. Der Tod hat sie zusammengebracht. Malek ist Bestatter, Sahra unterstützt ihn als begabte Leichenpflegerin. Ob sich der in der modernen Welt stets verdrängte, womöglich sogar altersmilde gewordene Sensenmann mit einer solchen Konstellation auf Dauer anzufreunden vermag? Darüber macht sich keiner von beiden irgendwelche Sorgen. Vermutlich wäre es dabei geblieben, wenn man sich nicht ausnahmsweise einmal erlaubt hätte, ihm ein wenig ins Handwerk zu pfuschen. Aber lesen Sie selbst.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Impressum

Texte: Copyright T.D. Amrein

Cover Copyright A&K Buchcover

Verlag: T.D. Amrein

www.tdamrein.com

Bevollmächtigte Vertretung: Firma Theo Wenger

Mühlestrasse 17

CH 3063 Ittigen

[email protected]

Die wichtigsten Protagonisten in der Reihe Krügers Fälle

(Haupt) Kommissar Max Krüger 52, Dienststelle Freiburg im Breisgau

Seine Lebensgefährtin Elisabeth Graßel 52

Kommissar Eric Guerin 39, Kripo (Police judiciaire) Colmar, Elsass, Frankreich

Kommissar Kaspar Gruber 49, Kripo Basel, Schweiz

Seine Lebensgefährtin Sonja Sperling

Krügers Team in Freiburg:

Michélle Steinmann 33, Krügers Liebling und vorgesehene Nachfolgerin

Kriminalrat Peter Vogel 62, Chef der Dienststelle Freiburg

Dr. Franz Holoch, Pathologe, unberechenbarer aber sympathischer Egozentriker

Erwin Rohr, Chef Spuren und sein besonders begabter Mitarbeiter Helmut Paschke

Krügers Assistenten Otto Grünwald 37 und Thomas Sieber 36

Sekretärin Susanne Trautmann 47 guter Geist des Reviers

Grubers Team in Basel:

Sein Assistent Bruno Finger, Adrian Betschart, leitender Staatsanwalt und Grubers Chef,

Pathologe in Basel Dr. Norbert Diener, Spuren Markus Känzig, Sekretariat Kirsten Hohenauer

1. Kapitel

Angelehnt an eine massive Buche, schloss Sahra Kruse für einen Moment die Augen, um ungestört in die Düfte und Geräusche des Waldes eintauchen zu können. Irgendwo in der Ferne erklang das unverkennbare Hämmern eines Spechtes. Ein leiser Luftzug streichelte ihre Haut. Den Geruch des dichten, grünen Moosteppichs kannte sie genau, weil sie sich manchmal hineinlegte, um die Baumkronen von unten zu betrachten. Vor allem an heißen Sommertagen. Sie fand dies mindestens so effektiv abkühlend wie ein Bad in einem der Baggerseen in der Nähe. Die waren einfach zu klein, um das Wasser im Sommer nicht zu einer lauwarmen, mit schleimigen Algen durchsetzten Brühe, verkommen zu lassen. Und im Wald brauchte sie sich kaum über schamlose Gaffer zu ärgern. Was natürlich nicht zwangsläufig bedeutete, dass sie niemals heimlich beobachtet wurde, wenn sie sich genüsslich im Moos räkelte.

Sahra nutzte inzwischen jede Gelegenheit, um rauszugehen. Jedoch keineswegs, um auf Menschen zu treffen. Sondern, um in Ruhe die Natur zu genießen. Fast zwanzig Jahre lang hatte sie sich möglichst Zuhause verkrochen, um den angewiderten Reaktionen von Passanten zu entgehen, die sich hemmungslos über ihre zahllosen Horror-Tattoos mokierten. Wohlgemerkt, bloß über diejenigen, die sich nicht so leicht verstecken ließen. Im Freien einen Bikini zu tragen, blieb für Sahra schlicht unmöglich.

Wie konnte man nur?

Sie war es längst leid, jedem zu erklären, dass sie von einer Bande Halbstarker als junges Mädchen, "zum Spaß verziert" wurde. Mit unauslöschlichen Tätowierungen, die den größten Teil ihres Körpers bedeckten. Natürlich tauchte immer gleich die Frage auf, weshalb sie sich nicht dagegen wehrte, als man ihr eine Höllenfratze direkt unterhalb des Kinns in die Haut gestochen hatte? Die ehrliche Antwort: Sie lag während der Prozedur im Drogenkoma. Dies erweckte öfters anstelle von Mitleid mit ihr, eher mehr Verständnis für die Täter.

Nur weil Sie sich noch irgendwie an der Bande rächen wollte, war sie damals nicht gleich von einer Brücke gesprungen. Doch bald darauf erfuhr sie von ihrer Schwangerschaft. Wer dafür die Verantwortung trug, lag gleichermaßen im Dunkeln. Sahra versuchte das Unmögliche. Und entgegen jeder Erwartung schaffte sie den Absprung.

Ein Student aus besserem Haus unterstützte sie dabei. Er, beziehungsweise seine Eltern, hatten ihm eine kleine Wohnung direkt neben der Uni angemietet. Ohne Bedingungen zu stellen, ließ er sie bei sich wohnen. Er sorgte dafür, dass sie zu den Vorsorgeuntersuchungen ging, sich zweckmäßig ernährte und diente als Gesprächspartner, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Er freute sich ganz offenbar mit ihr auf das Kind. Als Einziger. Ihre eigenen Eltern hatten sie längst verstoßen und Freundinnen aus früheren Tagen wollten ebenfalls nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Es kam, wie es kommen musste. Er stellte sie seinen Eltern vor. Mit bis unters Kinn hochgeschlossenem Kleid. Die Wangen dick gepudert. Dazu trug sie Handschuhe und lange Ärmel. Die Schwiegermutter in spe erkannte natürlich gleich, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Als die dann auch noch erfuhr, dass nicht ihr verwöhnter Liebling Sahra geschwängert hatte, brach die Hölle auf. Er knickte sofort ein. Wagte nicht einmal einen Versuch, seiner Mutter zu widersprechen.

Sie durfte noch bis zur Geburt die Wohnung nutzen. Seine Familie befürchtete einen Skandal, wenn herauskommen sollte, dass sie eine Hochschwangere auf die Straße gestellt hatten. Aber danach musste sie verschwinden. Endgültig. Man riet ihr, den Balg sofort zur Adoption freizugeben. Sahra hatte selbst daran gedacht. Nun kam es nicht mehr infrage.

Heute war sie froh darüber. Es war hart gewesen. Sehr hart. Die Not hatte sie jedoch auch fest zusammengeschweißt. Und seit er verdiente, unterstützte er seine Mutter mit einer regelmäßigen Überweisung. Dadurch verschwand das bisher alles überlagernde Thema in den Hintergrund. Der einzige Wermutstropfen, sein Arbeitsplatz befand sich auf einem Schiff. Auf hoher See. In geschlossenen Räumen oder dauernd an derselben Stelle hielt er es nicht lange aus.

Sie tröste sich insgeheim damit: Besser weit weg, dann brauchte er sich nicht für seine Mutter zu schämen. Obwohl er das niemals getan hatte.

Ein deutliches, rasend schnell näherkommendes Rascheln ließ Sahra erstarren. Etwas streifte ihre Schulter, ein brennender Schmerz im Ohr, es fühlte sich an, als ob sie von einer scharfen Zange gezwickt worden wäre. Gleichzeitig versuchte offenbar jemand, ihr eine ganze Haarsträhne auszureißen.

Sahra blieb absolut bewegungsunfähig. Sie schaffte es nicht einmal, zu schreien. Jetzt passierte genau das, wovor sie sich trotz aller Liebe zur Natur insgeheim gefürchtet hatte. Sie wurde brutal überfallen und ohne jede Hemmung geschlagen, bis sie sich nicht mehr wehren konnte. Restlos verkrampft, erwartete sie den nächsten Schlag. Hoffentlich bereitete man ihr ein schnelles Ende. Natürlich eine absolut naive Vorstellung. Sie würde bestimmt tagelang gequält werden …

Irgendwie entfernte sich das Geräusch nach oben. Gewiss bloß eine Halluzination ihres verstörten Gehirns, das sich vor der Realität bewahren wollte.

Sie wartete vergeblich. Endlich schaffte sie es, nach oben zu sehen. Ein dunkelbrauner Fleck flitzte die Äste entlang, um danach in hohem Bogen in die nächste Krone zu wechseln. Der Fleck verfügte über einen buschigen Schwanz, der sich in der Luft gut erkennen ließ. Sahra griff sich an die Ohrmuschel. Blut. Warm und klebrig. Wie befürchtet.

Vorsichtig drehte sie den Kopf. Keiner da.

Sahra ließ sich ins Moos sinken. Ausgerechnet ein niedliches Eichhörnchen hatte ihr den größten Schrecken eingejagt, den sie sich überhaupt vorzustellen vermochte. Diese Art, die sie oft verzückt beobachtete, wenn sie reglos dalag, hatte bisher zu ihren absoluten Lieblingstieren gezählt. Klar war das keine Absicht gewesen. Aber trotzdem.

Auf dem Rückweg streifte Sahra nicht so unbeschwert wie sonst durch den Wald. Das Erlebnis hatte ihre Aufmerksamkeit deutlich geschärft. Außerdem spürte sie ihren Puls im Ohr. Wenigstens blutete es nicht mehr, aber das Brennen verstärkte sich massiv, sobald sie die Ohrmuschel berührte. Sahra ging normalerweise ohne Schminkspiegel in den Wald. Deshalb wusste sie nicht, wie die Verletzung aussah. Die Anzahl der mit Blut vollgesaugten Papiertaschentücher ließ Schlimmes vermuten. Gott sei Dank trug sie keinen Ohrring, den hätte ihr das Tier bestimmt herausgerissen.

Sahra versuchte, sich selbst zu beruhigen. Sie hatte schließlich schon einiges überstanden. Und zerfetzt fühlte sich das Ohr nicht wirklich an. Außerdem schwemmte das Blut auch Bakterien oder andere Erreger aus der Wunde. Bei Unfällen mit Wildtieren bestimmt kein Nachteil. Die praktische Sahra gewann Stück für Stück wieder die Oberhand.

Etwas Glänzendes, das durch einen einzelnen Sonnenstrahl beleuchtet wurde, fiel ihr im Unterholz auf. Der Wald stand hier nicht besonders dicht. Die Schneise, die man in der Nähe für eine Bundesstraße geschlagen hatte, sorgte für mehr Licht unter den Bäumen als üblich. Mit einem Fuß stieß sie nach dem Ding. Es fühlte sich schwer an. Sie bückte sich und wich unwillkürlich zurück. Eine Pistole. Schwarz, glänzend mit einigen blanken Stellen. Allzu lange konnte die noch nicht hier liegen, ging ihr durch den Kopf. Andererseits schaute sie normalerweise auch nicht so aufmerksam hin, überlegte sie. Trotzdem, keine Spur von Rost an den blanken Stellen. Das dauerte doch im Freien wohl nicht besonders lange.

Nicht das Sahra irgendetwas von Waffen verstanden hätte. Aber ihr erster richtiger Freund, Gonzo, natürlich ein Spitzname, hatte so ein Ding besessen. Die einzige Sache, die er stets gehegt und gepflegt hatte. Einschließlich seiner Freundinnen. Ständig zerlegte er das Ding und reinigte sorgfältig die Einzelteile. Übte stundenlang in eckigen Bewegungen, Deckung von Zimmer zu Zimmer und das schnelle Wechseln des Magazins.

Sahra hob die Pistole auf. Lag gut in der Hand, stellte sie fest. Sie erinnerte sich, welchen Respekt es Gonzo verschaffte, wenn er die seine aus dem Hosenbund gezogen hatte. Da war doch irgendwo ein Druckknopf gewesen.

Das Magazin glitt aus dem Griff und rollte ins trockene Laub. Rasch hob sie es wieder auf. Deutlich erkennbar enthielt es mehrere messingfarbene Patronen.

Sahra schaute sich um. Niemand zu sehen. Sie schob das Magazin zurück in den Griff und steckte die Waffe ein. Eigentlich war sie nicht darauf erpicht, Erinnerungen aus der schlimmsten Zeit ihres Lebens zu wecken. Jedoch genau dazu führte dieser Fund. Aber etwas von Wert, das sich leicht zu Geld machen ließ, einfach wegzuwerfen, das schaffte Sahra nicht. Zu lange hatte der Mangel ihr Leben bestimmt.

***

Das Ohr sah dunkelrot und dick geschwollen, ziemlich schwer verletzt aus. Aber genau genommen handelte es sich bloß um einen tiefen Kratzer. Offenbar war das Hörnchen mit der Kralle an der Ohrmuschel abgerutscht, als es den Stamm hinaufhetzte. Wovor es geflüchtet war, wusste Sahra nicht. Wahrscheinlich fühlte es sich genauso panisch wie sie in diesem Moment. Und seine Todesangst hatte wohl einen konkreten Grund. Im Wald lagen zahlreiche Fuchsbaue mit frisch ausgeworfener Erde davor. Ein sicheres Zeichen, dass sie bewohnt waren.

In der Nacht träumte Sahra, wie sie mit vorgehaltener Waffe einen Tätowierer zwang, einem pickligen Grünschnabel, ein Hakenkreuz mitten ins Gesicht zu stechen. Der Traum entstand nicht einfach aus dem Nichts. Es waren die Gedanken, gegen die sie sich tagsüber gewehrt hatte. Dass das Opfer gesichtslos blieb, lag daran, dass sie tatsächlich nicht wusste, wer damals dabei gewesen war. Außer Gonzo natürlich. Der war immer dabei gewesen, wenn etwas ausuferte. Und auch der würde Respekt zeigen, wenn man eine Pistole direkt auf ihn richtete. Und sich womöglich sogar an die Namen seiner damaligen Kumpels erinnern.

Aber wo der heute stecken mochte? Wahrscheinlich war der längst zum braven Bürger geworden. Hatte möglicherweise Frau und Kinder. Allerdings schwer vorstellbar bei ihm.

Seine damalige Stammkneipe lag nur wenige Kilometer entfernt. Vielleicht könnte man nach der Arbeit einmal kurz vorbeischauen. Auf ein Bier. Sogar so was konnte sie sich jetzt ab und zu leisten. Eventuell würde sie vorsichtig nachfragen.

Sahra arbeitete seit der Geburt ihres Sohnes für einen kleinen Bestatter. Ein oder zweimal die Woche. Nur wenn es bei ihm Arbeit gab, logischerweise. Sie richtete die Verstorbenen her, wusch und schminkte sie. Eklig zwar, aber vergleichsweise gut bezahlt. Eine einfache Einraumwohnung auf dem Firmengelände gehörte dazu. Er hatte ihr überdies immer wieder das Jugendamt vom Leib gehalten, das dauernd damit drohte, ihr das Kind wegzunehmen. Dafür ließ sie ihn ab und zu anfassen oder schlief mit ihm. Das hatte sich so ergeben. Ohne Gewalt. Er benahm sich jederzeit anständig. Demütigte sie nicht und akzeptierte, wenn sie einmal keine Lust hatte. Eigentlich eine fast normale Beziehung. Außer, dass er sie niemals auf den Mund küsste und ihr immer wieder zu verstehen gab, dass er sich auf keinen Fall binden wollte.

***

Die Kneipe sah immer noch genauso aus wie früher. Nur der Typ hinter dem Tresen war ein anderer. Sahra zögerte erst. Was sollte sie tun, wenn sie erkannt wurde?

Aber die jungen Kerle, die sich in einer Ecke zusammendrängten, beachteten sie überhaupt nicht. Die Aufmerksamkeit galt zwei Mädchen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, die versuchten, kokett zu wirken. Es hatte sich wirklich nicht viel geändert. Sahra blieb am Ende des Tresens stehen und bestellte ein Bier.

Gespannt verfolgte sie das Geschehen vorsichtig aus dem Augenwinkel. Die Typen versuchten, sich gegenseitig durch markige Sprüche auszustechen. Offenbar fehlte es allen an Kohle, um den Mädchen ein Getränk anzubieten.

Ein neuer Gast betrat den Raum. Gepflegter Vollbart, schulterlanges, seidig glänzendes Haar. Breite Schultern. Wirkte aber trotzdem relativ schlank. Betont aufrechter, zielstrebiger Gang. Er trug eine abgegriffene Lederjacke und Cowboystiefel mit Metallverzierungen. Lässig ließ er den Wagenschlüssel am kleinen Finger baumeln. „Ein Bier, aber zackig, du Langweiler!“

Sahra verschluckte sich. Die Stimme kannte sie. Gonzo!

Er nahm keinerlei Notiz von ihr. Nicht bloß, weil sie älter geworden war. Sahra zeigte sich in der Öffentlichkeit niemals ohne eine dicke Schicht Theaterschminke im Gesicht. Damit konnte sie ihren Typ in gewissen Grenzen der Situation anpassen. Wenigstens ein Hauch von Vorteil.

Seine Aufmerksamkeit galt jedoch ausschließlich den beiden jungen Mädchen, die sich ihm interessiert zuwandten und nach ihren Schminkspiegeln gegriffen hatten. „Was zu trinken?“, brummte er.

Die beiden standen synchron auf und stellten sich links und rechts von ihm hin.

Immerhin bestellte er ihnen bloß eine Cola. „Ohne Schuss!“, wie er betonte.

„Wieso ohne?“, maulte die eine. „Denkst du, wir vertragen das nicht?“

„Dafür seid ihr zu jung“, stellte er fest.

„Ach, wirklich!“ Die Göre präsentierte ihm ihren Busen. „Wie alt sieht das denn aus?“

„Ja, ist nicht schlecht“, gab er zu.

Die andere wollte nicht zurückstehen und warf sich ebenfalls in Pose.

Er nickte. „Zwei doppelte Wodkas für die Damen!“

Der Keeper verzog das Gesicht. „Das geht nicht. Das weißt du doch!“

„Ja natürlich, du Langweiler. Trinkt aus! Wir gehen woanders hin!“ Ein Zwanziger landete auf dem Tresen. „Trinkgeld gibts heute nicht. Selbst schuld, du Pfeife!“

Die Mädchen kicherten.

„Los, kommt!“

Die beiden hakten sich ein. Gonzo, stolz wie ein Gockel, schleppte sie nach draußen.

Die Jungs verfielen wieder in Lethargie. Sahra trank ebenfalls aus. Sie musste etwas tun. So viel stand fest.

***

Täglich rang Sahra mit sich, ob sie ihren Gedanken freien Lauf lassen durfte oder nicht. Schlummerte in ihr etwa eine Sadistin? Sie redete sich ein, dass es nicht bloß um ihre eigenen, schlechten Erfahrungen ging. Diese armen Mädchen, die von Typen wie Gonzo benutzt und danach achtlos weggeworfen wurden. Dem müsste man Mal eine richtige Lektion erteilen. Am besten kastrieren. Wie einen Kater, der das Streunen einfach nicht lassen konnte. Das Einzige, das sicher half. Und er sollte auch noch etwas davon haben. Ihn bloß schmerzlos umzubringen, schien ihr in seinem Fall als Strafe überhaupt nicht geeignet. Und dass jemand sein eigenes Leben durch einen Mord zerstörte für diesen elenden Strolch. Das war er nun wirklich nicht wert.

Sahra wusste, dass sie es niemals schaffen würde, auf einen Menschen einzustechen. Oder ihm mit einem Messer ein ganzes Teil abzutrennen. Aber ein kleiner Eingriff, der sich kaum davon unterschied, was sie sonst an Leichen manchmal ausführen musste? Wie zum Beispiel einen herabgeklappten Unterkiefer mit einem eingesetzten Stück Draht zu fixieren. Sie hatte schließlich sogar die Möglichkeit, einen Test durchzuführen, sobald der nächste Tote angeliefert wurde. Sahra schüttelte sich angewidert. Auf keinen Fall. So tief würde sie nicht sinken. Niemals.

2. Kapitel

Zwei Wochen später schaffte es Sahra wieder, nicht jeden Tag an Gonzos Bestrafung zu denken. Wie oft in ihrem Leben hatte sie sich über eine Ungerechtigkeit tagelang aufgeregt. Daraufhin Pläne zur Abhilfe geschmiedet, bis sie schließlich einsehen musste, dass sie nichts ausrichten konnte. Es fehlte ihr an Macht, an Geld und an Entschlossenheit. Sie war einfach bloß ein Spielball, den jeder nach Belieben in eine Ecke treten konnte.

Niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass sie an diesem Tag eine junge Frau zum "Aufhübschen" unter dem Leichentuch auf ihrem Arbeitstisch vorfinden würde. Natürlich war es nicht die Erste, die man aus dem Rhein gefischt und ihr hingelegt hatte. Aber Sahra erkannte sofort, dass es sich um eines der Mädchen handelte, die sie kürzlich mit Gonzo gesehen hatte. Auf dem "Lieferschein", wie man das Papier normalerweise unter sich nannte, suchte sie nach der Todesursache. Suizidales Ertrinken. Keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden. Fundort Rheinkilometer …

Sahra zitterte vor Aufregung. Die Tote dürfte höchstens einige Stunden im Wasser gelegen haben. Außer etwas aufgequollener Hornhaut an den Füssen wies nichts auf eine Wasserleiche hin. Selbstverständlich hatte eine rechtsmedizinische Untersuchung der Leiche stattgefunden, bevor man sie zur Beerdigung freigab. Trotzdem konnte Sahra es nicht lassen, sich den Körper des Mädchens genauer anzusehen. Eine Leichenöffnung wurde offenbar, als nicht notwendig erachtet. Sie fand einige wenige Einstiche, die normalerweise der Entnahme von Gewebeproben und Körperflüssigkeiten dienten. Durchaus üblich bei nicht natürlicher Todesursache.

Geübt drehte sie den Körper auf den Bauch. Keine ausgeprägten Totenflecke. Ebenfalls nicht ungewöhnlich bei einer Wasserleiche. Aber mehrere, nur schwach erkennbare dreieckförmige Zeichen auf dem Gesäß des Mädchens, ließen Sahra laut aufstöhnen. Wie oft hatte sie selbst dieses Muster getragen. Es stammte von Gonzos Gürtelschnalle, der seinen Freundinnen gerne den nackten Hintern damit versohlte, wenn sie "frech geworden" waren.

Natürlich sollte sie jetzt die Polizei rufen, um ihre Beobachtung zu melden. Das war Sahra klar. Aber einerseits müsste sie dann zugeben, dass sie selbst lange eine von Gonzos Tussen gewesen war. Und sich brav vorgebeugt hatte, wenn er sie schlagen wollte. Und weshalb hatte sie ihn nicht angezeigt oder wenigstens verlassen? Was konnte sie darauf antworten?

Die Wahrheit? Diese Bestrafungen hatten sie unheimlich stark erregt. Er schlug zwar kräftig zu, aber er verletzte sie nicht wirklich. Trotz der Schmerzen, auch eine Art Zuwendung, die sie sonst nirgends erhielt.

Sich demütigen zu lassen, war sie inzwischen gewohnt. Bloß deshalb würde sie nicht schweigen. Aber was würde passieren? Man würde ihn vielleicht befragen. Und er würde es empört abstreiten. Und selbst, wenn er es zugab. War so was strafbar, wenn es ohne Zwang geschah? Wahrscheinlich nicht einmal das.

***

Sahra radelte in den nächsten Tagen mehrmals gegen Abend an Gonzos ehemaliger Stammkneipe vorbei. Vor der Rückfahrt unternahm sie in deren Nähe einen gemütlichen Spaziergang. Erst hatte sie es bei seiner alten Bleibe versucht, aber dort standen inzwischen moderne Mehrfamilienhäuser. Zu ihrer Zeit war es ein größtenteils verlassenes Gewerbegebiet gewesen. Wo Gonzo sich damals in einem Abbruchobjekt mit einigen Kumpel eine Art private Autowerkstatt eingerichtet hatte. Im Erdgeschoss schraubten die Jungs an ihren Kisten, in der ehemaligen Wohnung im Obergeschoss fanden die Feten statt. Durch einige Matratzen, alte Sofas vom Sperrmüll und einem Holzherd zum Heizen und Kaffeekochen, sowie einer noch brauchbaren Toilette eignete sich der Ort auch für gelegentliche Übernachtungen. Das galt für die Kumpel. Gonzo wohnte praktisch ständig dort und nutzte die Räume auch für seine unzähligen Bekanntschaften. Ausgerissene oder Abgehauene, Drogenabhängige, Aussteiger, Lebenskünstler, Illegale oder Legale. Jeder fand bei ihm Unterschlupf. Falls er zwei wichtige Kriterien erfüllen konnte. Weiblich und nicht über dreißig. Gemeldet war er selbst bei seinen Eltern unter seinem richtigen Namen, Jürgen Hahnloser. Seine Aktivitäten waren in der Umgebung einigermaßen bekannt, schienen aber niemanden weiter zu interessieren.

Sahra hatte im Telefonbuch, das im Büro des Bestatters lag, nachgeschlagen, ob Gonzo oder eben Jürgen immer noch in Freiburg wohnte. Die Adresse, wenn sie sich richtig erinnerte, war die seiner Eltern, die sie auch flüchtig gekannt hatte. Eine ruhige Gegend, wo sie durch Nachforschungen sofort aufgefallen wäre.

Schließlich war es sein unübersehbares Auto, das ihn verriet. Darauf hätte sie eigentlich gleich kommen können, tadelte sich Sahra selbst. Offenbar schaute er immer noch fast jeden Abend in der Kneipe vorbei. Er schien sich tatsächlich kaum verändert zu haben. Bloß mit den Bräuten lief es anscheinend nicht mehr ganz so rund wie früher. Sahra sah ihn in dieser Woche insgesamt vier Mal kommen und gehen. Immer ohne Begleitung.

***

Obwohl Sahra mit ihren Leichen stets ganz alleine blieb, bedeckte sie, sobald der Körper gewaschen war, die intimsten Stellen mit einem Tuch. Der Mann, dem sie heute das Gesicht rasierte, bildete da keine Ausnahme. Sahra verwendete bei starkem Bewuchs ein althergebrachtes, einklappbares Rasiermesser. Gefunden hatte sie das Ding in einer ganzen Sammlung, die wahrscheinlich noch von Maleks Eltern stammte. Die meisten Messer befanden sich in schlechtem Zustand, bis auf das eine, das sie deshalb an sich genommen hatte. Ein solches Rasiermesser setzte eine gewisse Sorgfalt voraus, besonders bei tiefen Falten. Es gab nicht viel, worauf Sahra richtig stolz sein konnte. Aber ihre Fähigkeit, dieses Messer zu schärfen, hielt sie schlicht für legendär. Trotzdem gehörten Einwegrasierer aus Plastik, die sich leichter führen ließen und für einen Damenbart locker ausreichten, natürlich ebenso zur normalen Ausstattung ihres Arbeitsplatzes.

Trotz aller Aufmerksamkeit, die sie ihrer heiklen Aufgabe widmete, glitt ihr Blick immer wieder zu der deutlichen Erhebung im Tuch auf dem Schoss des Toten. Manchmal verhielt sich die Natur im Zusammenhang mit der Leichenstarre, nicht besonders gesittet. Sahra kannte auch dieses Phänomen. Normalerweise entlockte es ihr höchstens ein Lächeln. In Leichenpflegerkreisen nannte man dies auch "Großer Zapfenstreich", in Anlehnung an ein letztes Strammstehen bei militärischen Verabschiedungen.

Endlich gab sie sich einen Ruck und zog das Tuch weg. Natürlich trug Sahra bei ihrer Arbeit eine Plastikschürze und Latexhandschuhe. Sie griff kräftig zu und brachte die schlaffe Haut des Hodensacks dadurch in Spannung. Er war nur schwach behaart. Einzelne Venen schimmerten durch. Einmal tief durchgeatmet, dann zog sie das Rasiermesser über die höchste Stelle. Ansatzlos glitten die Hoden des Mannes heraus. Einfach so, hingen sie bloß noch in gleicher Weise wie ein Batteriepaket "an den Kabeln".

Sahra hatte sich vorgestellt, dass sie die Dinger mühsam herausschälen und in einer längeren, kniffligen Prozedur herauslösen müsste, um sie zu entfernen. Konnte das wirklich so einfach sein?

Verschämt sah sie sich um. Sollte sie die Hoden wieder zurückstopfen? Sie versuchte es. Aber sie quollen immer wieder aufs Neue heraus. Ohne zu nähen, würde es nicht gehen.

Im Nebenraum wurde eine Tür geöffnet. Sahra durchfuhr es heiß. Eigentlich wollte ihr Chef nie zusehen, wenn sie arbeitete. Er ekelte sich zu sehr. Deshalb hatte er sie schließlich damals angestellt und vieles Weitere in Kauf genommen, um nicht selbst Hand anlegen zu müssen.

Sahra konnte es nicht riskieren. Ein schneller Schnitt, und die beiden walnussgroßen Organe verschwanden in ihrer Hosentasche.

Natürlich hörte sie gleich darauf, dass ein Wagen gestartet wurde und wie ihr Chef damit vom Hof fuhr. Der dachte doch nicht im Traum daran, sie zu besuchen, wenn sie präparierte. Aber trotzdem. Wie hätte er wohl reagiert, wenn er sie erwischte? Würde er die monströse Sahra, die tote Männer kastrierte, noch länger in seinem Haus dulden?

***

Nach und nach vervollständigte Sahra die Ausrüstung für ihr Vorhaben. Sie bestellte ein Paar Handschellen bei Beate Uhse, weil die absolut diskret lieferte. Neutral verpackt und ohne Absender.

Außerdem benötigte sie eine zuverlässige Maske für Gonzo, damit er sie nicht erkennen konnte. Ein alter, voluminöser Teekannenwärmer, der seit Jahren unbenutzt herumstand, schien dazu am besten geeignet. Ein sackartiges, dickwandiges Gebilde mit opulentem Blumenmuster. Das sich am offenen Ende durch ein eingenähtes Gummiband, an hineingestellte Kannen jeder Größe von selbst anpasste. Sie hatte es natürlich ausprobiert. Umgedreht schmiegte sich das Band ebenfalls bestens an den Hals eines Menschen.

Aus ihrer Drogenzeit wusste sie, dass man von Benzindämpfen ziemlich schnell das Bewusstsein verlor. Schließlich sollte der Wärmer ihm nicht bloß die Sicht versperren. Sondern, frisch mit etwas Benzin getränkt, auch die Gegenwehr erschweren. Und nicht zuletzt mögliche Schreie dämpfen.

Sahra war den Ablauf der Prozedur bestimmt schon hundertmal durchgegangen. Sie würde auf dem Parkplatz der Kneipe auf ihn warten. In lockiger Perücke, auch ein Utensil aus ihrer Tätigkeit, sehr kurzem Rock und mit maximal hochgeschraubtem Busen. Deshalb hoffte sie, würde er kaum auf ihr Gesicht achten. Sobald er angebissen hatte, wollte sie ihm eine ruhige Stelle ganz in der Nähe, direkt am Rhein vorschlagen. Ein Ort, den sie beide gut kannten.

Er musste selbst hinfahren, das war wichtig, weil Sahra dies nicht konnte. Im Gebüsch unter der kleinen Brücke, die dort einen Gewerbekanal überquerte, würde ihr Fahrrad für den Rückweg schon bereitliegen.

Mit vorgehaltener Pistole wollte sie ihn zwingen, sich selbst mit den Handschellen ans Lenkrad zu fesseln. Dass dies bestens funktionierte, wenn man dem Opfer ein gewisses Stück Bewegungsfreiheit im Auto erhalten wollte, wusste sie ebenfalls aus der Zeit mit ihm.

Wichtiger Punkt: Dass sie sich an dieser Stelle davon überzeugte, dass er die Armbänder richtig geschlossen hatte.

Sobald sie dann den Wärmer mit dem Benzin aus einem Parfümfläschchen präpariert und ihm übergestülpt hatte, konnte eigentlich nicht mehr viel schiefgehen. In einem Auto fanden sich schließlich einige geeignete Stellen, um etwas festzuzurren, falls notwendig.

Ein Problem, woran sie lange gekaut hatte, blieb ihr Rückzug. Dass der auffällige Teewärmer besser nicht zurückbleiben sollte, schien ihr ratsam. Möglicherweise erstattete Gonzo trotz der Schmach Anzeige. Dann konnte sich vielleicht daraus eine Spur für die Polizei ergeben. Eher unwahrscheinlich, aber trotzdem. Außerdem sollte er besser nicht stundenlang Benzindämpfen ausgesetzt bleiben. Er würde kaum vor dem nächsten Morgen entdeckt werden. Bis dahin konnte er möglicherweise sogar ersticken, unter dem Ding. Das wollte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Er sollte möglichst viel mitbekommen. Schmerzen haben und stundenlang frieren. Ohne genau zu wissen, wann er befreit wurde. Eine weitere ihrer eigenen Erfahrungen, die sie ihm verdankte.

Eine Szene in einem Film, den sie inzwischen gesehen hatte, brachte Sahra endlich auf die richtige Idee. Die Helden zogen sich nach einem Gefecht hinter einer dicken Rauchwolke zurück. Rauchpetarden, die wahrscheinlich noch aus dem Krieg stammten, stapelten sich in einer großen Kiste im Lagerkeller ihres Chefs. Sie wusste davon, weil er zum Spaß einmal eine gezündet hatte. Dies ließ sich durch einfaches Aufreißen bewerkstelligen. Bei der vorhandenen Menge würde es kaum auffallen, wenn eine Weitere fehlte.

Ab und zu auftauchende Skrupel erstickte Sahra mit dem Gedanken an die junge Selbstmörderin auf ihrem Arbeitstisch. Selbst wenn Gonzo daran nicht direkt Schuld hatte. Typen wie er, richteten immer wieder das Leben junger Mädchen zugrunde. Sie hatte es jetzt in der Hand, einen davon zur Räson zu bringen. Das Einzige, das man ihr eventuell vorwerfen konnte, sie hatte viel zu lange damit gewartet.

***

Jürgen Hahnloser saß missmutig in seinem Wagen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Schlampe, mit der er verabredet war, erschien einfach nicht. Natürlich hatte die vermutlich auch geschwindelt, mit ihrem Gewicht, dem Alter und der angeblich so tollen Figur. Daran hatte er sich längst gewöhnt. Aber immer noch besser so eine, als die unmöglichen Weiber vom Puff. Die ihn meistens wie einen lausigen Junkie, der seine Triebe nicht im Griff hatte, behandelten. Das lag auch daran, dass man ihn inzwischen überall kannte. Bei neuen Freiern täuschten die wenigstens noch so was wie Vergnügen vor. Aber für die Stammkunden …

Früher hätte er höchstens eine oder zwei Minuten auf eine Braut gewartet. Wenn er rechnete, kam offenbar für jedes seiner Lebensjahre eine Minute dazu. „Himmelarsch und Zwirn!“, fluchte er laut.

Noch eine Viertelstunde. Und wenn die nicht einigermaßen aussah, dann würde er sie einfach hier stehen lassen.

Schließlich gab er es auf. Seine Stammkneipe lag nicht weit entfernt. Ein paar Biere zum Herunterkommen. Und vielleicht hatte sich sogar wieder Mal eine, die es schon lange nötig hatte, dorthin verirrt. Allerdings kam das nur noch ganz selten vor. Früher war das Lokal als Sammelpunkt für Matratzen aller Art bekannt gewesen. Aber heute?

Außer ihm hingen bloß die paar Halbstarken, die praktisch schon zum Inventar gehörten, in der Kneipe herum.

Jürgen lud seinen Frust beim Keeper ab wie meistens. „Mach schon du Langweiler! Soll auf meinem Grabstein etwa stehen, dass ich bei dir verdurstet bin?“

Der zog nicht einmal eine Grimasse. Kein Respekt mehr. Nirgends. Er sollte unbedingt die Gegend wechseln. Hier lief nichts mehr. So was von: tote Hose. Wenn er bloß herausfinden könnte, wo sich die jungen, knackigen Weiber heutzutage regelmäßig trafen. Jürgen trank aus. Er würde ein wenig herumfahren. Vielleicht tauchte irgendwo eine Anhalterin auf, die sich mit Naturalien eine Extrafahrt leisten wollte. Oder sich wenigstens mit sanftem Druck in einem Wäldchen …

Jürgens Laune erholte sich praktisch explosionsartig, als er die blanken Oberschenkel sah, die an seinem Wagen lehnten. Sie gehörten zu einer kessen Schwalbe, die offenbar versuchte, in seine Karre zu spähen. Dazu musste sie sich ein Stück weit herunterbeugen und ihr Hinterteil, von einem knappen Mini nur notdürftig bedeckt, ragte weit in die Landschaft.

Jürgen blieb stehen. Er wollte sie auf keinen Fall stören. Während er den Anblick genoss, überlegte er krampfhaft, ob er tatsächlich einmal erwähnt hatte, wo er regelmäßig anzutreffen war. Wahrscheinlich. Aber warum hatte die bloß kein Bild schicken wollen?

Sie drehte sich ein Stück weit zur Seite. Auch die Titten passten: Richtig prall und kaum noch zu bändigen, stellte Jürgen begeistert fest.

Vorsichtig näherte er sich. „Hallo Sybille!“

Sie fuhr herum. Starrte ihn fassungslos an. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, versuchte er, sie zu beruhigen. Sie war nicht ganz so jung, wie er auf den ersten Blick gedacht hatte. Aber das hatte sie ja auch nie behauptet. Trotzdem, ihre Figur. Das Beste seit Langem.

Sie griff wortlos in ihre Handtasche. Die Pistole ließ ihn einen Schritt zurückweichen. Dann begriff er. Er hatte ihr geschrieben, dass er auf Dominanzspiele stand. Alles nur Show. Weshalb sonst, hatte sie die Knarre noch nicht einmal entsichert oder den Hahn gespannt. Das Ding war bestimmt auch nicht geladen.

Grinsend hob er die Hände.

„Einsteigen!“, zischte sie.

Er legte sich sogar den Sicherheitsgurt um, bevor er losfuhr. Mit einigen Kommandos "zwang" sie ihn, zu einem lauschigen Plätzchen zu fahren.

Es fiel ihm nicht leicht, nicht laut loszulachen, als sie ihm ein Paar Handschellen hinwarf. Schweigend führte er ihre Befehle aus.

Erst als sie ein Fläschchen öffnete, das deutlich nach Benzin roch, verlor er die Contenance. „Benzin im Auto. Spinnst du! Das stinkt und gibt Flecke! Außerdem ist es feuergefährlich!“

Keine Antwort. Sie träufelte das Benzin seelenruhig in ihre Handtasche. Die Knarre lag neben ihr auf dem Sitz. Jürgen brüllte los. „Hör auf, du blöde Kuh! Willst du Feuer legen?“

Panik erfasste ihn. Er rüttelte an den Handschellen.

Sie stülpte ihm etwas über den Kopf. Das Benzin stach ihm direkt in die Nase.

Scheiße, dachte er. Aber wenigstens hatte sie doch nicht vor, ihn abzufackeln. Die verfluchte Hexe hatte ihm echt Angst eingejagt. Er würde sich revanchieren, sobald er an der Reihe war. Die hatte ja keine Ahnung, was er alles mit ihr anstellen würde.

Sie begann, an seiner Hose herumzunesteln. Verstellte seine Rückenlehne ein Stück nach hinten. Er entspannte sich. Ja klar, das gefiel ihm. Bloß die Scheiße mit dem Benzin störte. Er konnte kaum noch atmen.

Langsam dämmerte er weg. Ein brennender Schmerz weckte ihn kurz auf. Dann glitt er wieder in die Dunkelheit zurück.

3. Kapitel

Sahra hatte sich fürs Erste in ihre Werkstatt geflüchtet. Die extreme Anspannung hielt immer noch an. Die angesengte Hand, mit der sie versucht hatte, die brennende Petarde aus dem Wagen zu bringen, begann jetzt unangenehm stark zu schmerzen. Sie konzentrierte sich darauf, möglichst gleichmäßig zu atmen. Um das Schlottern abzustellen, das sie am ganzen Körper erfasst hatte.

Außer der Panne mit der Petarde gab es keinen Grund zur Aufregung. Es hatte besonders am Anfang so gut geklappt, dass sie zwischendurch befürchtet hatte, bloß wieder von der Sache zu träumen.

Wie ein Film lief das Ganze jetzt noch einmal vor ihr ab. Er hatte sie Sybille genannt. Also nicht erkannt. Und sich angesichts der Pistole, gleich seinem Schicksal ergeben. Ihm die Beine zu fesseln, hatte sich erübrigt. Die "Narkose" mit Benzin hatte tatsächlich funktioniert. Er hatte auf den Schnitt überhaupt nicht reagiert. Genauso wenig, wie auf die vorangegangenen Versuche, ihn zum Schreien zu bringen oder um Gnade betteln zu lassen. Und das, obwohl Sahra seine Anatomie kannte und sich ziemlich genau daran erinnerte, was er nicht ertragen konnte.

Etwas weniger Benzin dürfte wohl auch gereicht haben. Möglicherweise hatte er gar nichts mitbekommen? Aber sie zweifelte nicht daran, dass ihm die offene Wunde heute Nacht lang andauernde, quälende Schmerzen bereiten würde.

Eigentlich sollte sie froh sein, dass er so ruhig geblieben war. Bei heftiger Gegenwehr hätte sie sich ebenfalls leicht verletzen können mit dem superscharfen Rasiermesser. Außerdem hatte er vermutlich auch deshalb kaum geblutet. Vorsichtshalber hatte sie einen Druckverband und einen alten, ledernen Schnürsenkel zum eventuellen Abbinden bereitgehalten. Jedoch beides nicht gebraucht.

Einzig am Schluss lief es nicht mehr ganz ohne Probleme. Sie hatte sich auf der Beifahrerseite auf den Rücksitz gesetzt. Dadurch lag er praktisch neben ihr. Die Hände fix am Lenkrad, sein Körper wurde durch den Sicherheitsgurt am Ort gehalten. Sie drückte ihm die Pistole kräftig in die Seite, um ihn in Schach zu halten. Durch leichtes Anheben des Teewärmers mit dem Zeigefinger überzeugte sie sich, dass er normal atmete. Er schien jedoch bewusstlos zu sein. Trotzdem. Sie fand es sicherer, vor dem endgültigen Abnehmen der Maske, den Wagen wenigstens ein Stück weit einzunebeln. Sahra riss den Zünder der Petarde direkt neben sich auf dem Sitz weg und hielt die Luft an. Ein paar Sekunden passierte gar nichts. Schon befürchtete sie, dass das Ding nicht mehr funktionieren könnte. Doch dann, ein bedrohlich wirkendes Zischen. Das Teil erwachte zum Leben. Ballonartig stieg eine gelbliche Wolke neben ihr auf.

Rasch hatte sich der Innenraum mit Rauch gefüllt. Mit einem kräftigen Ruck riss sie ihm den Teewärmer nach hinten vom Kopf. Dass der danach wie leblos zur Seite rollte, spürte Sahra am Sitzpolster. Sie traute ihm zu, dass er den Bewusstlosen spielte, um sie zu überlisten. Deshalb reagierte sie nicht darauf.

Als sie dann nach der Petarde tastete, um sie ins Freie zu stellen, zeigte sich, dass das Ding viel zu heiß geworden war, um es anzufassen. Außerdem hatte sie mit der ungeschützten Hand direkt in den scharf austretenden Strahl gegriffen.

Beim Versuch, das Ding mit der Pistole nach draußen zu befördern, rollte es in den Fußraum.

Dort hatte sie es dann liegen gelassen. Sie musste raus aus dem Auto. Die Petarde rauchte schließlich die ganze Zeit weiter. Wie sollte sie die überhaupt noch finden? Eigentlich war es auch egal. Der Wagen hatte im Innern ohnehin schon zuvor dermaßen nach Rauch gestunken, dass es kaum noch viel schlimmer werden konnte.

Sie hatte mittlerweile beide Hintertüren des Autos geöffnet. Sodass Gonzo, der rücklings auf dem abgesenkten Fahrersitz lag, die Nase praktisch im Freien hatte. Zumindest, wenn er sich bequemte, den Kopf nach außen zu drehen. Hoffentlich ärgerte er sich trotzdem gehörig, dass sie seinen geliebten Untersatz derart verqualmen ließ. Und bestimmt auch für ein paar neue, fette Brandlöcher gesorgt hatte.

Sie musste abwarten, bis die Petarde den Geist aufgab. Dass es immerhin bald so weit sein dürfte, konnte sie am langsam abflauenden Zischen erkennen.

Dieses Warten war ihr schrecklich auf die Nerven gegangen. Sie durfte die Türen erst wieder schließen, wenn sich der gröbste Qualm verzogen hatte. Sonst würde er wahrscheinlich ersticken. Es dämmerte bereits. Eigentlich hatte sie keine einzige Minute mehr zu verschenken, wenn sie vor Einbruch der Nacht Zuhause sein wollte. Unablässig trat sie deshalb die ganze Zeit über, von einem Fuß auf den anderen. Hatte immer wieder wie manisch ihre Taschen durchforstet. Hatte sie alles eingepackt? Nichts vergessen, was sie möglicherweise verraten konnte?

Endlich war ein leiser Luftzug aufgekommen, der den Qualm aus dem Auto schob. Jedoch lange bevor er Details, wie ein Gesicht erkennen konnte, hatte sie die Türen geschlossen und den Wagen von außen verriegelt. Ein kleiner Spalt offenes Fenster, direkt neben seinem Kopf, gestand sie ihm immerhin zu.

Ihr Rad aus dem Gebüsch zu holen, dauerte nur wenige Minuten. Der Wagenschlüssel landete zuvor in hohem Bogen im Kanal. So wie sie Gonzo einschätzte, hatte er den Ersatzschlüssel längst verschlampt. „Zeit zu lernen, dass Unordnung oft zu Scherereien führt“, hatte sie hämisch in seine Richtung gemurmelt, bevor sie sich auf ihr Rad schwang.

Jetzt, in ihrer Werkstatt, versuchte Sahra, sich selbst zur Ordnung zu rufen. Unangenehm war das Warten gewesen, ja klar. Aber trotzdem viel weniger schlimm, als beispielsweise die Brandverletzung oder wenn sie eines ihrer Werkzeuge zurückgelassen hätte. Das Werkzeug war komplett. Die Hand leider nicht. Sie schätzte, dass mindestens zehn Tage vergehen dürften, bis sich wieder eine neue Haut gebildet hatte.

Inzwischen hatte sie sich immerhin soweit beruhigt, dass sie ihre Utensilien reinigen und sortieren konnte.

Seine Hoden hatte sie absichtlich nicht zurückgelassen. Die waren in der Blechschachtel gelandet, in der sie das Rasiermesser mit sich führte. Aus dem einfachen Grund, weil sie nicht wusste, ob ein Chirurg die Dinger eventuell sogar wieder anschließen konnte.

Die lagen jetzt im Tiefkühler, zur Tarnung eingewickelt in zwei große Grünkohlblätter. Bis sie als "Beilage", bei der nächsten passenden Gelegenheit, erst im Ofen landen und die Asche danach endgültig in einer Urne verschwinden würde.

Weil Sahra sich nicht absolut sicher sein konnte, ob ihr Chef die Särge vor der Verbrennung nicht manchmal auf Wertgegenstände durchsuchte oder teure Möbel sogar austauschte, musste sie abwarten. Es kam hie und da vor, dass er sie damit beauftragte, den Ofen selbst einzuschalten. Zum Beispiel, wenn er viel unterwegs war.

Den Teewärmer wollte sie auf jeden Fall behalten. Man konnte schließlich nie wissen.

Wieder cremte sie ihre schmerzende Hand ein. Sahra hatte den Beruf, den sie ausübte, nicht gelernt. Jedoch, dass man bei offenen Wunden nicht mit Leichen hantieren sollte, wusste sie trotzdem. Sie würde extrem vorsichtig sein müssen. Krankfeiern kam ohnehin nicht infrage. Ihre Anstellung beruhte bloß auf einer Art Gewohnheitsrecht. Dass ihre Verletzung nicht von heißem Wasser oder normalem Feuer stammte, dürfte ein erfahrener Arzt mit ziemlicher Sicherheit rasch erkennen. Schon nur deshalb, musste sie sich selbst helfen.

Den Gedanken, gegen Morgen einmal am Rhein nachschauen zu gehen, verbat sie sich kategorisch. Es war gut gelaufen, weil sie es umsichtig geplant hatte. Durch irgendwelche Sperenzchen, die bloß der Neugier dienten, den Erfolg gefährden? Auf keinen Fall!

Sie legte sich deshalb hin. Schlafen konnte sie natürlich trotzdem nicht. Sie nutzte die Gelegenheit, um immer wieder ihre Hand zu pflegen. Erst gegen Morgen, schon mit leichtem Fieber, dämmerte Sahra endlich weg.

***

Der schwarze Wagen ließ direkt auf seinen Besitzer schließen. Übertrieben tiefergelegt, überall ragten Spoiler und andere vermeintlich hilfreiche Verbreiterungen und Applikationen aus der Karosserie. Mit unsauber angebrachter Folie getönte Scheiben sollten den Blick ins Innere erschweren. Breite Felgen in leuchtendem Gelb und abgefahrene Reifen mit nur noch schwach erkennbarem Profil rundeten das Bild ab.

Unpassend erschien dagegen die Leiche auf dem Fahrersitz. Der offene Mund und die weit aufgerissenen Augen verbreiteten kaum irgendwelche Coolness. Dass er nicht einmal im Tod vom Lenkrad lassen wollte, lag jedoch an den Handschellen, die ihn damit verbanden. Typisch unausgegorener Jungspund oder Berufsjugendlicher, der seinen Platz in der Gesellschaft noch suchte, dachte Kommissar Max Krüger spontan. Allerdings zählte das Opfer schon gut vierzig Jahre. Das bewiesen die Ausweise, die in seiner Börse gesteckt hatten. Jürgen Hahnloser, lautete sein Name. Einer, der den Ausgang niemals gefunden hatte. Den mutmaßlichen Hergang, der zu seinem Tod geführt hatte, musste Erwin Rohr von der Spurensicherung zwar noch genauer untersuchen. Aber das Abbrennen einer faustgroßen Petarde in einem geschlossenen Fahrzeug dürfte selbst für einen hartgesottenen Raucher, eine Spur too much gewesen sein. Die Formulierung stammte von Rohrs neuem Azubi. Dass im Auto intensiv geraucht worden war, ließ sich an den knallvollen Aschenbechern und den überall herumliegenden Kippen und Aschekrümeln erkennen.

Rohr hatte den Wagen, der noch aus den Achtzigern stammte, mit einem Schraubenzieher mühelos aufgehebelt. Die bereits erkaltete Leiche ließ er unverändert liegen. Doktor Franz Holoch hatte heute am Sonntag eigentlich frei gehabt und verspätete sich deshalb. Da ohnehin auch jede Hilfe zu spät kam, sollte der Rechtsmediziner den Toten in der originalen Lage vorfinden. Nach dessen erster Einschätzung würde das Fahrzeug komplett aufgeladen und in eine geschlossene Halle gebracht werden. Wo die weiteren Abklärungen ungestört von Wind und Wetter ihren Lauf nehmen konnten. Ein Verfahren, welches sich seit Jahren bewährt und etabliert hatte.

Selbstverständlich suchte ein Team der Spurensicherung die unmittelbare Umgebung ebenfalls gründlich ab. Alles Routine mit klaren Vorgaben.

***

Doktor Holoch entfuhr ein erstauntes, „ach du Grüne Neune“, als er sich anschickte, die Kerntemperatur des Toten zu messen.

Kommissar Krüger, der neben dem Wagen stand, um sich die Umgebung einzuprägen, sah erstaunt hoch. „Etwas Ungewöhnliches, Herr Doktor?“

„Ja, sein Skrotum wurde geplündert.“

Krüger war davon überzeugt, dass Doktor Holoch Fachausdrücke bloß verwendete, um ihn zu ärgern. Aber dieses Wort hatte er zufällig gerade griffbereit.

„Wie darf ich das verstehen, Herr Doktor? Kommt es nicht auch vor, dass jemand einfach keinen Hoden hat. Oder durch Unfall oder sonst wie geschädigt wurde?“

Der Doktor nickte. „Ja ja, das kommt vor. Aber hier dürfte es Absicht gewesen sein. Sehen Sie, Herr Kommissar? Ein sauberer Schnitt. Kein Zögern, kein Schnippeln. Genau die passende Stelle. Sogar die Länge der Läsion entspricht der Norm.“

Krüger, der selbstverständlich nicht genau hingesehen hatte, schüttelte den Kopf. „Ein Schnitt, Herr Doktor? Man hat ihm, ich meine, er wurde …“

Holoch nickte. „Emaskuliert. Oder kastriert. Wie auch immer Sie es nennen möchten, Herr Kommissar?“

„Hat er dabei noch gelebt, Herr Doktor?“

„Die Blutung lässt den Schluss zu. Wenn Sie den Blutfleck auf dem Polster berücksichtigen. Ja, doch, würde ich sagen.“

Krüger verzog das Gesicht. „Eine dieser brutalen Mafia-Abrechnungen möglicherweise? Hat man ihm auch etwas in den Mund gesteckt?“

„Auf den ersten Blick nicht.“

Krüger schien erleichtert. „Wenigstens das. Aber Sie sagten, dass es, äh, fachmännisch vorgenommen wurde. Ein Arzt, Tierarzt vielleicht?“ Krüger zögerte. „Oder ein Schlachter?“

Holoch zuckte mit den Schultern. „Dazu braucht man überhaupt nicht Mediziner zu sein. Jeder Schweinezüchter kennt sich damit aus. Ich denke eher nicht, dass Sie einen Kollegen aus meiner Gilde dafür verantwortlich machen können.“

„Das wollte ich nicht andeuten, Herr Doktor. Aber danke für den Tipp!“

„Bitte! Gern geschehen.“

Holoch ergriff wieder das Thermometer, das er zuvor auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte.

Krüger sah sich unauffällig nach seinen Mitarbeitern um.

„Etwa sechs Stunden“, ließ Holoch fallen.

Krüger überlegte kurz. „Also nach Mitternacht.“

Holoch antwortete nicht, er warf bloß einen vielsagenden Blick über die Schulter.

Kommissar Krüger rief Erwin Rohr und Michélle Guerin zu sich, um sie auf den neusten Stand zu bringen. Bei Michélle musste er immer noch daran denken, sie nicht mit Frau Steinmann anzusprechen. Ihren Status als seine Nachfolgerin hatte sie zwar auf eigenen Wunsch verloren, aber denjenigen als seine Lieblingsmitarbeiterin keineswegs. Obwohl sich Krüger Mühe gab, es nicht allzu offensichtlich zu handhaben. Nur mit ihr fühlte er sich wohl, wenn er zwanglos über erste Eindrücke oder zufällige Gedankengänge sprach. Wie eine Tennispartnerin spielte sie ihm die Bälle zurück oder ließ sie erst mal im Nirgendwo landen. Ansonsten funktionierte solches nur mit seiner Lebensgefährtin, Elisabeth Graßel. Natürlich durfte er laufende Ermittlungen nicht mit ihr besprechen, aber darüber setzte sich Krüger inzwischen ganz locker hinweg. Die einzige Ausnahme, die er sich bei Dienstvorschriften erlaubte. Meistens jedenfalls.

Rohr wirkte leicht angewidert. Er versprach natürlich trotzdem, auf Überreste oder mögliche Gegenstände, die zum neuen Sachverhalt passten, besonders zu achten.

Michélle verhielt sich sehr professionell. Sie nahm Krügers Schilderung scheinbar ungerührt entgegen. Er ließ sich zwar nicht über Einzelheiten aus, fand es jedoch ziemlich schwierig, die richtigen Worte finden. Zum Glück musste Krüger keine offiziellen Erklärungen verfassen. Das blieb Sache seines Chefs, Kriminalrat Peter Vogel. Nicht zum ersten Mal, dass er den nicht um seinen Posten beneidete.

***

Sahra wachte mit starken Schmerzen auf. Die geschwollene Hand lag wie ein fremder Klumpen neben ihr. Weiße, sich rollende Hautfetzen, die sich stückweise vom Fleisch lösten. Schwarze Sprenkel, jeder mit einer eigenen, kegelförmigen Erhebung ausgestattet. Auch an den Stellen ohne Haut. Gelbliche Zwischentöne wiesen auf eitrige Einschlüsse hin. Insgesamt wirkte ihre Handfläche wie eine Landschaft aus pulsierenden Minivulkanen. Den Puls konnte Sahra zwar nicht direkt sehen, aber sie spürte ihn gleichzeitig in ihrem Kopf und in der Hand. Schon bei vorsichtigster Berührung schien in den Kegeln eine lange, unglaublich spitze Nadel zu stecken. Eine kühle Salbe linderte zwar den gröbsten Schmerz. Aber Sahra dämmerte trotz der bleischweren Müdigkeit, dass sie sich ein echtes Problem eingefangen hatte.

Leichen mit akuten Blutvergiftungen hatte sie bereits mehrere auf dem Tisch gehabt. Eines hatten die alle gemeinsam: Sie waren innerhalb weniger Tage vom kerngesunden Menschen zum Fall für einen Leichenpfleger geworden.

Ein paar Tage, überlegte sie. Wenn man ab dem Zustand rechnete, in dem sie sich offenbar schon befand, konnte es sich auch bloß noch um ein paar Stunden handeln.

Ein Gedanke blitzte auf: Eventuell bot sich ihr die Möglichkeit, sich in diesem Fall als Erste, selbst für ihre eigene Aufbahrung zu schminken. Das unwillkürlich hochkommende Lachen über den Einfall artete zum kläglichen Krächzen mit anschließendem heftigem Huster aus. Ein spontaner Ausbruch des Humors, den sie sich im Laufe der letzten Jahre mühsam erarbeitet hatte, dachte sie, nachdem sie wieder normal atmen konnte.

Aufs Neue dämmerte sie weg. „Nur noch für ein paar Minuten die Augen schließen. Unkraut vergeht schließlich nicht so rasch“, murmelte sie vor sich hin. Nur ganz kurz ruhig liegen und durchatmen. Danach musste sie sich unter allen Umständen um die Sache kümmern.

4. Kapitel

Krüger stand am nächsten Morgen wie vorgesehen vor Hahnlosers Haus. Ein in die Jahre gekommenes, grau und abweisend wirkendes Einfamilienhaus mit verwildertem Garten. Von den Fensterläden blätterte der Lack. Kleine Ziegelsplitter, die den Vorplatz mit roten Punkten verzierten, bröckelten vom Dach. So ziemlich das Einzige, das auf dem Grundstück sympathisch wirkte. Die Fensterscheiben zeigten sich verschmiert und gelblich verfärbt, sodass man trotz der fehlenden Gardinen von außen nichts erkennen konnte. Überall lagerten Gegenstände, die ihre Verwendung längst überlebt hatten. Dazwischen einige Stapel Brennholz oder alte Möbel, die wohl auch für diesen Zweck vorgesehen waren. Krüger schwante Schlimmes. Wenn es schon von außen so verwahrlost aussah …

Trotz der Information, dass Jürgen Hahnloser allein hier lebte, klingelte Krüger mehrmals. Nichts rührte sich.

Gleich der erste Schlüssel passte. Ein abgestandener Hauch strömte ihm entgegen. Er hatte zwar Handschuhe dabei, aber keine Atemmaske. Sollte er besser sofort abbrechen?

Er überwand sich und schob sich in den vollgestellten Flur. Das erste Zimmer auf der rechten Seite diente offenbar als Papierlager. Krüger wollte eigentlich so schnell wie möglich ein Fenster öffnen. Jedoch dazu hätte er auf den Berg aus Zeitungen und anderen Druckerzeugnissen steigen müssen. Anscheinend bewahrte Hahnloser hier die Post der letzten Jahre auf. Der nächste Raum, die Küche, wirkte wider Erwarten einigermaßen aufgeräumt. Zumindest angesichts des übrigen Chaos. Hier schaffte es Krüger zwar zum Fenster, aber es klemmte. Die Treppe nach oben wurde durch eine Tür auf halber Stockwerkhöhe unterbrochen. Abgeschlossen. Krüger stutzte. Er probierte alle Schlüssel durch. Keiner passte. Vielleicht doch ein Untermieter, überlegte er? Wenn, dann wahrscheinlich ein Mann. Dass sich eine Frau diesen Schweinestall antun würde, hielt er für ausgeschlossen. Ein weiterer Bewohner könnte möglicherweise auch den Zustand der Küche erklären, setzte er den Gedanken fort. Und der könnte natürlich jederzeit auftauchen! Fast wie ein Einbrecher schlich sich Kommissar Krüger aus dem Haus. Bloß eine Vermutung. Aber sein Bauchgefühl warnte ihn. Niemand war hier angemeldet, außer Hahnloser. Jedoch kaum zu erwarten, dass sich in seinem Umfeld jemand von irgendwelchen Meldevorschriften beeindrucken ließ.

Krüger schlenderte schließlich doch noch einmal zurück zur Haustür. Mit zwei Tröpfchen Sekundenkleber befestigte er ein Haar an Tür und Rahmen. Eine bewährte Methode. Cyanacrylatkleber hatte er eigentlich immer dabei. Und Haare auf dem Kopf auch.

***

Doktor Holoch hat mitgeteilt, dass Kommissar Krüger doch bitte in die Rechtsmedizin kommen solle, sobald er zurück sei, stand auf einem Notizblatt, das auf Krügers Schreibtisch lag. Sehr dringend konnte es nicht sein, sonst hätte man ihn angerufen, dachte der Kommissar. Andererseits, bei Doktor Holoch wusste man nie.

Krüger zog sich erst einen Kaffee aus dem Automaten, bevor er sich auf den Weg machte. Wenn der gute Doktor es wieder einmal übertrieb mit detaillierten Beschreibungen, Fotos oder sogar Originalpräparaten, konnte Krüger dazwischen einen Abfalleimer für den Becher aufsuchen, um kurz durchzuatmen. Im Reich des Doktors wurde kein allgemeiner Abfall geduldet, um Kontaminationen zu vermeiden. Genaugenommen durfte Krüger auch nichts dergleichen mitbringen, aber wer sollte ihm das verbieten?

Holoch schien sich aufrichtig zu freuen über den Besuch des Kommissars. Kein besonders gutes Zeichen aus Krügers Sicht. Das deutete an, dass der Pathologe eine Entdeckung gemacht hatte, die er als äußerst aufschlussreich und für die Ermittlung bahnbrechend einstufte. Nicht, dass dies noch nie vorgekommen wäre. Aber in neun von zehn Fällen entpuppte sich die große Erkenntnis eher als mittlere Sensation. Oder auch als gewagte Spekulation.

„Sie wollten mich sprechen, Herr Doktor?“, begann Krüger so neutral wie möglich.

Der Doktor nickte eifrig. „Ja, Herr Kommissar. Ich denke, dass ich Sie an meinen Gedanken in diesem Fall teilhaben lassen sollte!“

Krüger schwante Schlimmes. Nicht aus fachlicher Sicht. Aber Holoch liebte ungewöhnliche Details. Wie zum Beispiel eine genaue Beschreibung der Metamorphose einer Dasselfliege vom Ei bis zur ausgewachsenen Made. Bei einem menschlichen Wirt, natürlich.

Krügers: „Dann lassen Sie bitte hören“, klang entsprechend vorsichtig.

Holoch stutzte nur kurz. „Nun ja, ich habe die Schnittflächen, die bei der Entnahme der Testikel entstanden sind, unter dem Mikroskop untersucht. Die Wundränder an sich zeigen sich nicht besonders auffällig. Aber an der Außenhaut des Skrotums haben sich dunkle Rückstände abgelagert, die eigentlich nur von der Klinge während des Schneidevorgangs abgestreift worden sein können. Weil ich mich auch ab und zu mit Mineralien beschäftige, weiß ich, wie Korunde unter dem Mikroskop aussehen. Sie leuchten nämlich in bestimmten Farben. Selbstverständlich habe ich eine Probe an unser Labor gegeben, um das zu verifizieren.“

Krüger entspannte sich etwas. „Und was folgern Sie daraus, Herr Doktor?“

„Korund ist ein absolut übliches Schleifmittel. Moderne Einwegklingen wie Skalpelle oder auch diese weitverbreiteten Klingenmesser schärft schon längst niemand mehr. Höchstens noch normale Küchen- und Fleischermesser. Jedoch kann ich mir wirklich nicht vorstellen, dass ein Solches hier zum Einsatz kam. Unpraktisch und viel zu groß für einen so präzisen Schnitt. Der übrigens auffallend gerade verläuft. Eine schwierige Sache mit der Spitze eines langen Messers.“

Krüger nickte zustimmend. „Dazu in der Enge eines Fahrzeuges und zwischen den Beinen …“

„Trotzdem, die Klinge muss sehr scharf gewesen sein“, fuhr Holoch fort. „Kein gezähntes Messer, keine Scharten. Der Schnitt verlief sozusagen spielend leicht wie durch Butter. Für mich kommt deshalb nach Würdigung aller Details eigentlich nur ein klassisches Rasiermesser infrage.“

„Aber das ist doch auch ziemlich groß“, warf Krüger ein.

„Ja, das stimmt natürlich. Jedoch liegt es gut in der Hand. Es lässt sich leicht und sehr genau führen. Und wenn man gewohnt ist, damit zu arbeiten, versteht man normalerweise ebenfalls etwas davon, wie es zu schärfen ist.“

Krüger fasste sich ans Kinn. „Angenommen, Sie haben recht. Gibt es überhaupt noch eine Branche, die mit solchen Messern arbeitet?“

„Gewisse Friseure, die sich als moderne Barbiere sehen.“

„Ja, aber wer würde denn ausgerechnet auf diese Art auf sich aufmerksam machen?“

„Dass man nur aufgrund der Schleifmittelrückstände auf ein solches Messer schließt, dürfte ein durchschnittlich begabter Ausführender kaum erwartet haben, Herr Kommissar.“

Krüger beließ es bei einem schwachen Schulterzucken.

„Selbstverständlich kann es tatsächlich genau umgekehrt gewesen sein, um uns auf eine solche, in diesem Fall natürlich falsche Spur bringen zu wollen“, fuhr der Doktor fort. „Ein sehr raffinierter Täter könnte das Messer mit Absicht zuvor geschliffen und nicht gereinigt haben. Normalerweise zieht man diese Klingen vor Gebrauch bloß an einem Leder entlang. Es ab und zu richtig zu schleifen, ist allerdings trotzdem unerlässlich. Im Verlauf von etwa zehn Rasuren lässt die Schneide deutlich nach. Ich habe übrigens festgestellt, dass diese Messer bei Nichtgebrauch bald zu rosten beginnen …“

Krüger unterbrach ihn. „Entschuldigen Sie Herr Doktor. Das klingt zwar alles sehr interessant. Und ich möchte mich auch gerne genauer damit auseinandersetzen. Aber ich habe in zehn Minuten einen Termin, den ich nicht verschieben kann. Könnten Sie mir Ihre Ausführungen bitte schriftlich darlegen?“

Holoch sah ihn erstaunt an. „Das habe ich doch längst zu Papier gebracht, Herr Kommissar. Darf ich Ihnen gleich ein Exemplar mitgeben?“

Krüger entspannte sich. „Ich bitte darum!“

Holoch kramte eine graue Dokumentmappe hervor. „Bitte sehr, Herr Kommissar!“

Krüger überlegte kurz. „Weiß schon jemand von der Sache?“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sind der Erste.“

„Dann belassen Sie es im Moment bitte dabei. Ich möchte mich zuerst eingehender damit beschäftigen. Möglichst bevor das bekannt wird.“

„Aber selbstverständlich, Herr Kommissar, bleibt das unter uns, wenn Sie das wünschen. Und ich freue mich, dass Sie es interessant finden.“

Krüger suchte krampfhaft nach einer Antwort, die dem Doktor gefallen könnte. Ohne Erfolg. Seinen Satz: „Sie verständigen mich, falls das Labor zu einem anderen Schluss kommen sollte, Herr Doktor?“, fand er selbst eher unpassend.

Holoch lächelte jedoch bloß. „Das wird nicht passieren, Herr Kommissar. Ich bin mir ganz sicher.“

Krüger zog sich zurück. Den vorgeschobenen Termin verband er mit einem Besuch bei Michélle. Sie sollte sich mit Holochs Theorie ebenfalls eine Nacht lang befassen können. Dann konnte er sich morgen mit ihr darüber austauschen. Mit den Mitteln eines durchschnittlich begabten Kommissars, ging ihm durch den Kopf.

***

Gisbert durfte zwar nicht zu Sahra, aber immerhin erhielt er die Mitteilung, dass sie die Nacht überlebt hatte. Ihr Zustand sei unverändert.

Auf die Schnelle hatte ihm der Assistent eines Kollegen ausgeholfen, die zahnlose Oma halbwegs ansehnlich herzurichten. Über welche Begabung Sahra verfügte, wurde Gisbert jedoch erst jetzt so richtig klar.

Zwar hatte der Helfer die unmittelbare Not behoben. Aber die nächste Leiche würde sich turnusgemäß bald einstellen. Gisbert hatte sich darauf eingerichtet, dass er von einer bis zwei Feuerbestattungen in der Woche leben konnte. Versorgt wurde er ausschließlich von Altenheimen oder Kliniken, wo er die Verstorbenen ohne komplizierte Bergungen einfach abholen konnte. Die Bestatter der Gegend kannten sich und hatten sich entsprechend arrangiert. Manchmal, bei großem Andrang, brachte ihm ein Kollege einen "Kunden" vorbei, wenn die eigenen Kapazitäten nicht mehr ausreichten. Die Gebäude und das Grundstück waren längst bezahlt. Außer preiswertem Verbrauchsmaterial und ab und zu einem anderen Leichenwagen, benötigte er kaum Ausrüstung für sein Geschäft. Die Autos kaufte er von Kollegen mit großen Firmen, gebraucht und sehr günstig ein. Zubehör wie Kerzen oder Tannenreisig wechselten mit traumhaften Margen den Besitzer. Ein kleiner Vorrat an Särgen, deren Verkauf ihm einen ansehnlichen Teil seines Verdienstes einbrachte, rundete das Ganze ab. "Die Angestellte", also Sahra, bezahlte er in Anbetracht ihrer Arbeitszeit zwar vergleichsweise großzügig. Aber der Ertrag einer einzigen Bestattung reichte für etliche Monate der "Personalkosten" aus.

Sahra versorgte sich und Gisbert außerdem mit einer Unmenge an selbstangebautem Gemüse und Früchten. Womit sollte sie, die praktisch niemals ausging, sich sonst den ganzen Tag beschäftigen. Im Gemüsegarten blieb sie ungestört und konnte sich sogar ab und zu an die Sonne legen. Ganz nebenbei schnitt sie die Sträucher und den Rasen, räumte Laub und hielt das Unkraut in Schach. Nur bei größeren Arbeiten und beim Schneeschippen half Gisbert manchmal mit. Und alle paar Jahre beauftragte er einen Gärtner, um die Bäume zu stutzen oder neue Stauden anzupflanzen.

Gut, Sahra erledigte dies alles freiwillig. Gisbert würde nur einen Bruchteil ihrer Arbeit tatsächlich verlangen und entsprechend bezahlen müssen.

Trotzdem schwante ihm, dass er sie auch in dieser Beziehung schmerzlich vermissen würde.

Eine Aushilfe besorgen oder doch selbst Hand anlegen? Keine Frage für Gisbert. Jedoch, er wollte unbedingt ein weibliches Wesen im Haus haben. Aus verschiedenen Gründen. Der Helfer des Kollegen war effizient gewesen, das musste Gisbert zugeben. Aber von der harmonischen, sakralen Stimmung, die normalerweise bei Sahras Aufbahrungen herrschte, konnte man nur wenig spüren. Auch dies fiel ihm erst jetzt wirklich auf. Sahra legte die Toten nicht bloß zum öffentlichen Begaffen hin. Ein eklatanter Unterschied, der sich jedoch nicht an klaren Ursachen festmachen ließ.

Frauen in diesem Job waren eher dünn gesät. Nicht so sehr Bestatterinnen an sich, sondern "nur" Leichenpflegerinnen. Eine mit Ausbildung würde sich ohnehin kaum von ihm für bloß einige Stunden in der Woche anstellen lassen.

Aber vielleicht eine ehemalige Zahnarzthelferin, deren Kinder schon etwas größer waren. Er würde das Inserat entsprechend formulieren. Natürlich nur, bis Sahra wieder ihren Posten einnahm. Aber konnte sie überhaupt weiterarbeiten mit nur einer Hand? Gisbert schüttelte den Gedanken ab. Die Ärztin hatte einen kompetenten Eindruck gemacht. Noch handelte es sich nur um eine nicht gänzlich auszuschließende Möglichkeit.

Es ließ sich nicht einfach so abstellen. Würde ihn ein abrupt endender Armstumpf stören, wenn er mit ihr schlief, fiel ihm ein. Was, wenn sie ihn irgendwo damit berührte? Wahrscheinlich schwierig, sich nichts anmerken zu lassen. Dann sollte er es lieber gleich ganz aufgeben?

Jedoch dürfte sie das tief ins Mark treffen. Sahra hatte schon so viel Niedertracht erlebt. Er war der Einzige, der sie bislang ohne Vorbehalt angenommen hatte. Und jetzt zog er in Betracht, dass sie zum schweren Verlust ihrer rechten Hand auch noch verkraften sollte, dass er sie nicht mehr anfassen mochte? Welch fantastische Partnerschaft!

„Moment!“, rief er sich selbst zu Ordnung. „Wir sind überhaupt kein richtiges Paar. Sie ist nur eine …“

Bloß Matratze wollte er sie doch nicht nennen. „Einfach eine Gelegenheit“, murmelte er schließlich. Aber ob er wollte oder nicht. Er vermisste sie. Nicht nur als wohlfeile Angestellte. Jedenfalls fühlte er sich plötzlich nicht mehr sicher? Und was wären sie denn dann die ganze Zeit gewesen? Ein falsches Paar, womöglich?

Gisbert zog sich in den Hobbyraum zurück, um nebenbei weiter nachzudenken. Ein heller, ebenerdiger Raum, in dem früher einmal Sarglager und die entsprechende Werkstatt untergebracht gewesen waren. Während seine Eltern noch gewirtschaftet hatten. Und er fast die gesamte Freizeit, die ihm als Schüler blieb, hier zusammen mit einem erfahrenen Tischler verbracht hatte. Auch heutzutage stand er oft an einer dieser Werkbänke, um sich liebevoll mit Holz zu beschäftigen. Vorwiegend mit altem Holz. Gisbert nahm sich viel Zeit für das Restaurieren von antiken Möbeln. Oder auch um Teile eines geschnitzten Bilderrahmens zu ergänzen, beispielsweise. Sein wichtigstes Kriterium: Er arbeitete genauso, wie man es früher vor der Zeit mit Strom und Maschinen musste. Einzige Ausnahmen, Licht in der Werkstatt und manchmal verwendete er eine Handbohrmaschine. Um unsichtbare Holzdübel in großer Zahl einzusetzen oder für kleine Schrauben vorzubohren. Am Ende sichtbare Löcher, schnitt er jedoch ausschließlich von Hand.

Es ging ihm nicht um eine Art reine Lehre. Aber wer noch nie ein Brett aus einem rohen Stamm mit Körperkraft ausgesägt hatte, konnte gar nicht wissen, was die Gesellen früher geleistet hatten. Gisbert bestand darauf, sich für sein Hobby reichlich Zeit zu lassen, alle Vorgänge wirklich zu genießen. Das Genießen dauerte insgesamt manchmal Jahre. Einfach solange, bis er ein Stück als fertiggestellt empfand.

Neue Objekte erhielt er von Antiquitätenhändlern, die wussten, dass er die bestmögliche Arbeit ablieferte. Bloß ohne jeden Termin. Bei älteren Händlern kam es ab und zu vor, dass erst die Erben die Antiquität zurückerhielten. Gisbert verrechnete keine Stunden. Er erhielt normalerweise einen Teil der Wertvermehrung als Aufwandsentschädigung. Sein echter Lohn lag im Gelingen. Das Neuerschaffen eines Kunstgegenstandes mit seinen eigenen Händen.

Diese Beschäftigung sorgte nebenbei zuverlässig dafür, dass er Unangenehmes beiseiteschieben konnte. So auch heute. Sahras Schicksal verblasste angesichts der Rettung eines gespiegelten Wurzelholzfurniers, das die Umsicht eines kompromisslosen Fanatikers verlangte. Und ein altes Dampfbügeleisen. Schon bald stieg der Geruch von gelöstem Knochenleim in der Werkstatt auf. Ein Fest für Gisberts Sinne.

5. Kapitel

Auf der Intensivstation in der Uniklinik Freiburg reinigte Frau Doktor Elke Steiger eigenhändig die Brandwunde der Patientin Sahra Kruse. Eine Anästhesie benötigte sie dazu nicht. Sahra lag unverändert im Koma. An einigen Stellen ließ sich eine beginnende Heilung erkennen. Das änderte jedoch nichts daran, dass im Zentrum der Handfläche bloß liegende Sehnen und Knochen zu sehen waren. Eigentlich keine Chance mehr für die Hand. Aber solange die Patientin nicht aufwachte und sich deshalb nicht bewegte, konnte man noch hoffen. Außerdem, auch wenn sich der Allgemeinzustand etwas stabilisiert hatte. Dass Frau Kruse überhaupt je wieder ihre Augen aufschlagen würde, stand keineswegs fest. Die Ärztin kümmerte sich nicht einfach so heute selbst um die Patientin. Sie erwartete einen erfahrenen Kollegen, der sich mit Verletzungsursachen besser auskannte als sie. Doktor Franz Holoch, den Rechtsmediziner der Kripo Freiburg.

Es galt, falls es einen Schuldigen gab, den zu finden. Nicht bloß, um Gerechtigkeit zu schaffen. Schließlich würden die Behandlungskosten der Klinik offenbleiben, wenn nicht eine solvente Versicherungsgesellschaft einspringen musste.

Doktor Holoch wurde regelmäßig gerufen, um beispielsweise Hämatome, die von Schlägen stammen konnten, zu beurteilen. Und selbstverständlich bei jeder Art von Stich- oder sogar Schussverletzungen.

Bei Sahra handelte es sich zwar um eine Brandwunde. Allerdings, eine so tief greifende Schädigung hatte Elke noch nie gesehen. Es konnte sich möglicherweise um eine Schweißflamme gehandelt haben, vermutete sie. Aber woher stammten dann die vielen Einschlüsse, die eher auf Schwarzpulver schließen ließen? Das kannte Elke vorwiegend von Feuerwerk. Oder als Streuspur bei Verletzungen durch Vorderlader. Jedoch eine Bleikugel hätte die Hand vermutlich durchschlagen.

Der eintretende Pathologe unterbrach ihre Gedanken. „Ach Sie sind schon hier, Frau Doktor Steiger. Wie schön, Sie wieder mal zu sehen!“