Verstrickt - T. D. Amrein - E-Book

Verstrickt E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

Helene Huber und Lorenz Kocher leben in ihren persönlichen Welten, in die sie ungefragt hineingeboren wurden. Mit der Zeit sickern in jede Biografie kleine Notlügen, Schummeleien oder Ausreden. Meistens erledigen sich die sorgsam hinter der Fassade versteckten, dunklen Punkte wie von selbst. Jedoch nicht immer. Wer Pech hat, steckt plötzlich bis zum Hals in bösen Schwierigkeiten. Und nicht alle überleben.

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Inhaltsverzeichnis

1.Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Impressum

1.Kapitel

Geduldig fräste Freddy Strich für Strich an der Kante von Sallys auffällig elegant geformtem Schlüsselbein entlang. Bloß nicht abrutschen! Zwar würde sich die Besitzerin des einzigartigen Knochens bestimmt nicht beschweren, falls es doch passieren sollte. Aber es gehörte zur Berufsehre eines Präparators, seine Objekte ohne grobe Kratzer auf den Gebeinen freizulegen.

Eigentlich verhielt sich der eingetrocknete Ton, in dem Sallys Knochen steckten, ganz manierlich. Auf jeden Fall im Vergleich zu knallhartem Kalk bei echten Fossilien, der Freddy meistens beschäftigte. Sein aktuelles Objekt war schließlich vergleichsweise fast noch als Backfisch zu bezeichnen. Sie stammte aus der Jungsteinzeit und dürfte etwa zur gleichen Zeit wie Ötzi unterwegs gewesen sein. Also vor rund 5000 Jahren. Jedoch nicht im Süden der Alpen, sondern in der Nähe des heutigen Hinterzartens im deutschen Schwarzwald.

Freddy hatte sie als einen sogenannten, komplett geborgenen Block erhalten, aus dem er sie nun Millimeter für Millimeter herausschälte. Ob sie im tonhaltigen Schlamm stecken geblieben und dadurch umgekommen war oder ob man sie darin begraben hatte, ließ sich nicht mehr feststellen. Sie war eines von mehreren Objekten, die man an dieser Stelle aus der Erde geholt hatte. Danach hatte sie zwei Jahre im Lager gelegen. Gut geschützt in dem Holzrahmen, mit dessen Hilfe man sie aus ihrer Grube gehoben hatte. Das führte ganz nebenbei dazu, dass ihre Hülle aus Lehm in Ruhe vollständig durchtrocknen konnte. Bevor sie endlich an der Reihe war, um erneut das Licht der Welt zu erblicken. Man versuchte verständlicherweise zuerst die interessantesten Funde zu bearbeiten. Mit Anzeichen wie außerhalb der Norm liegende Gebeine oder für wertvolle Grabbeigaben.

Bei Sally war bislang kein einziges Schmuckstück aufgetaucht. Auch nicht auf der Röntgenaufnahme, die vor Beginn der Arbeiten angefertigt worden war. Diese Folie diente Freddy als eine Art Vorschau, in welcher Haltung sich Sally im Block befand. Das Bild zeigte den Verlauf der großen Knochen und die Lage des Schädels. An Stellen, an denen die Gebeine direkt aufeinanderlagen, ließen sich jedoch kaum alle Einzelheiten ausmachen.

Dass es sich um ein weibliches Exemplar handelte, schien aufgrund des typisch breiten Beckens immerhin festzustehen. Freddy hatte bei den Fußknochen begonnen und sich inzwischen bis zum Schultergürtel hochgearbeitet. Er mochte seine Arbeit und vergab jeweils Namen, sofern die Präparation länger als einen Monat dauerte. Deshalb hieß "die Neue" Sally. Freddy liebte es, wenn er in der Kneipe ernsthaft davon erzählen konnte, wie er zuerst Sallys Knochen ordentlich auslegen musste, um sie in ihrer gesamten Schönheit betrachten zu können. Die ungläubigen Gesichter der Touristen waren den Aufwand meistens wert. Und es war schon vorgekommen, dass einer die Polizei angerufen hatte. Inzwischen rückten die jedoch nicht mehr aus, sondern trieben ihre eigenen groben Späße mit den Fremden.

Sally lag sozusagen auf dem Bauch vor Freddy. Ihr Brustkorb war jedoch zusammengedrückt, die Rippen hatten dem Druck des Erdreichs nicht standhalten können. Die oberste Schicht, mit der Wirbelsäule bis zum Hals, den Schulterblättern und lose im Ton steckenden Rippenteilen hatte er mittlerweile sorgsam entfernt. Alles, was einst Sallys hoffentlich entzückenden Rücken geformt hatte. Nach den Schlüsselbeinen würde er sich ihrer Vorderseite im unteren Teil des Blocks zuwenden. Der Schädel, der praktisch senkrecht nach unten im Ton steckte, würde als letztes größeres Stück übrig bleiben.

Offensichtlich zierte sich Sally und hielt sich die Hände vor der Brust. Das erschloss sich aus der Lage der Armknochen. In ihrem Zustand eine eher sinnfrei anmutende Geste. Sie führte jedoch dazu, dass sich unter dem Brustbein eine knöcherne Ansammlung gebildet hatte, die ihn wochenlang beschäftigen würde. Zeit die er benötigte, um die dicht aufeinanderfolgenden Knöchelchen ihrer Handwurzeln und Fingerglieder unversehrt auseinanderzuklauben.

Freddy hatte sich bei der ersten Betrachtung der Röntgenaufnahme dabei ertappt, dass er im Bereich von Sallys Händen zwei kreisförmige, schwache Schatten zu erkennen glaubte. Natürlich behielt er das für sich. Logisch, dass ihm sein Gehirn, das an dieser Stelle selbstverständlich einen Busen erwartete, gerne einen fiesen Streich spielte.

Die Fantasie ließ sich nicht einfach abschalten. Auch wenn man ernsthaft versuchte, streng wissenschaftlich zu arbeiten.

***

Endlich war es so weit: Freddy legte sorgfältig den letzten der über fünfzig Handknochen Sallys in den Karton, der ihre Gebeine enthielt. Die Schachtel war gerade so lang, dass eine normale Femur, also ein Oberschenkelknochen, darin Platz fand. Für die vielen kleinen Fundstücke wie die Teile der Hände, standen Behältnisse aus Hartpapier mit entsprechender Einteilung zur Verfügung. Noch immer war kein einziges Schmuckstück aufgetaucht. Das ließ darauf schließen, dass Sally doch eher nicht begraben wurde, sondern verunglückte. Vielleicht auf der Flucht in den Sumpf, in finsterer Nacht. Vor damals üblichen Angreifern, die tatsächlich gerne fremde Frauen raubten, um die eigene Sippe mit frischem Blut zu versorgen. Die Abnutzung ihrer Gelenke war nicht besonders ausgeprägt. Also dürfte es sich bei ihr vermutlich sogar um eine junge Schönheit gehandelt haben. Solche Zusammenhänge festzustellen, oblag zwar nicht Freddy. Aber logischerweise verfügte er über langjährige Erfahrung. Die oft mehr Details erkannte, als ein Frischling von der Uni selbst mit aufwendigen Tests herauszufinden vermochte. Allerdings war ihm bisher bei Sallys Präparation kaum Ungewöhnliches aufgefallen. Im Innern der Handflächen hatte ihn zwar eine schwach anders wirkende Zwischenschicht kurz irritiert. Überreste von Handschuhen, war der erste Gedanke gewesen? Unwahrscheinlich. Eine plausible Erklärung dafür war jedoch bald gefunden. Geschützt zwischen Handflächen und Oberkörper dürfte eine Bekleidung aus feinem Leder oder auch Pelz etwas länger überdauert haben als am Rest des Torsos.

Die Unterkante von Sallys Unterkiefer zeichnete sich schon deutlich im Ton ab. Er lag ganz knapp vor den Schlüsselbeinen, die er vor zwei Monaten herauspräpariert hatte. Dies ergab sich aus der Lage des Schädels, der ihr so tief wie möglich auf die Brust gesunken war. Der Schädel war natürlich der interessanteste Teil einer fünftausendjährigen Leiche. Weil die darin steckenden Zähne viel über Lebensweise und Alter einer Person verrieten. Und manchmal, im gut geschützten Innern, sogar eine Chance zur DNA-Bestimmung boten. Und nicht zuletzt, die Möglichkeit einer Gesichtsrekonstruktion, ausgehend von der Form des Schädelknochens.

Freddy hielt sich ran. Es dauerte kaum mehr als eine Stunde, bis er die linke Seite des zarten Unterkiefers freigelegt hatte. Sallys Mund stand leicht offen. Genügend Platz, um mit dem Fräser zwischen die Kauflächen einzustechen. Perfekt! Er grinste zufrieden. Eine massive Zeitersparnis zeichnete sich ab. Zwar hatte er sich gerne mit ihr beschäftigt. Aber irgendwann wurde es auch wieder Zeit für etwas Neues. Freddy wechselte das Werkzeug. Eine gröber gezahnte Scheibe, mit deren Hilfe er den Ton im Rachenraum zügig entfernen konnte. Von unten, durch den Bogen des Unterkiefers. Da war nichts mehr vorhanden, das Schaden nehmen konnte. Durch die Eile löste sich jedoch ein Backenzahn und rollte über Freddys Oberschenkel auf den Boden. Leise fluchend kroch er unter den staubigen Werktisch, um das verlorene Teil einzusammeln. Es fühlte sich schwer an, das fiel ihm gleich auf. Noch auf den Knien betrachtete er den Zahn genauer. Eigentlich nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Er wischte den Staub weg. Ein dunkler Fleck erschien auf der Kaufläche. Freddy erstarrte. Sallys Zahn wies eine Füllung auf. Bleigraues Amalgam. Ganz bestimmt keine 5000 Jahre alt.

Freddy fror plötzlich. Sally hatte es irgendwie geschafft, ihn reinzulegen. Er schob sich keuchend zu seinem Schreibtisch. Darauf stand ein altmodisches Telefon. Der Chef würde gleich total ausrasten.

Plötzlich hielt er inne. Welche Blamage für ihn? Und für das gesamte Team.

Bisher wusste sonst niemand Bescheid. Besser erstmal in Ruhe darüber nachdenken. Eigentlich war ohnehin schon längst Feierabend. Sowas konnte man doch nicht Knall auf Fall entscheiden.

***

Krüger klaubte umständlich sein brummendes Handy aus der Jackentasche. Meyer mit Y, stand auf dem Display. „Hallo Herr Kollege Meyer“, brummte Krüger vor sich hin.

„Ich weiß, dass Sie einige freie Tage haben, Kollege Krüger“, begann Meyer ansatzlos. „Es handelt sich auch bloß um eine kurze Recherche, für die ich einen außenstehenden Beamten benötige. Die zuständigen Kollegen in Titisee-Neustadt sind im Zusammenhang mit einer Fundsache mit denjenigen vom Landesdenkmalamt aneinandergeraten.

Fahren Sie bitte mal hin, sehen sich die Sache an und schlichten Sie den Streit am besten direkt! Die Adressen und einen Bericht finden Sie in Ihrem Mailpostfach. Alles klar, Herr Kollege?“

„Ja. Und ich habe sogar Zeit“, gab Krüger zurück.

„Hatte ich gar nicht gefragt?“

„Nein.“

„Tut mir leid. Eigentlich bin ich mit den letzten Vorbereitungen für Ihren nächsten Auftrag schon am Anschlag. In zehn Tagen haben wir dazu einen Termin vor Ort. Hat Frau Smolenska Sie nicht informiert?“

„Nein, bislang nicht.“

„Ich sorge dafür, dass sie es bald nachholt. Aber diese andere Sache betrifft eine Ausgrabung in der Gegend bei Hinterzarten. Falls Sie zum Fundort wollen, der befindet sich offenbar direkt neben dem Dorf Matislesmoos. Beziehungsweise im Hochmoor, das gleich dahinter liegt. Die Grabung ist im Winter jedoch eingestellt. Sie müssten mit dem Denkmalamt in Stuttgart Kontakt aufnehmen, bevor Sie hinfahren. Steht alles in der erwähnten Nachricht. Wahrscheinlich wird es überhaupt nicht notwendig, vor Ort zu recherchieren. Aber das überlasse ich selbstverständlich Ihnen.

Ergänzende Angaben zum Fundstück erhalten Sie von Professor Gründel, vom Rechtsmedizinischen Institut. Den kennen Sie ja persönlich.“

„Ja, wir hatten schon gemeinsame Fälle“, bestätigte Krüger vorsichtig.

„Ja, dann Herr Kollege, viel Erfolg!“

2. Kapitel

Krüger hatte erst bei Gründel angerufen, bevor er ihn aufsuchte. Deshalb war der Professor bestens vorbereitet auf seinen Besucher. Nach der Begrüßung in der Kantine mit Kaffee und einem kleinen Schwatz über den letzten Fall folgte Krüger dem Professor schließlich in ein separates Labor im Institut.

„Man hat sie bereits über den Sachverhalt informiert, nehme ich an, Herr Kommissar?“, begann Gründel.

Krüger schüttelte den Kopf. „Ein Fundstück stiftet offenbar Unfrieden? Das ist mein Wissensstand.“

„Dann muss ich mich dafür entschuldigen, dass ich nicht gleich zur Sache gekommen bin, Herr Kommissar. Aber wir betrachten die Kantine als öffentlichen Raum und sprechen deshalb dort nur zurückhaltend über Befunde oder heikle Sachverhalte.“

„Eine kleine Pause schadet doch nicht“, wehrte Krüger ab.

„Da gebe ich Ihnen gerne recht, Herr Kommissar. Aber wie auch immer, eine dermaßen kuriose Geschichte habe ich noch nie erlebt. Und das will etwas heißen! Ein Skelett aus der Jungsteinzeit mit modernen Amalgamfüllungen in den Backenzähnen?“ Gründel wedelte mit der Hand vor dem Gesicht.

Krüger sah ihn fassungslos an. „Ein Ötzi mit Plomben?“

Gründel nickte. „So könnte man es ausdrücken. Allerdings dürfte es sich um ein weibliches Exemplar gehandelt haben. Eine Ötzia…“

Gründel stockte. „Lassen wir das lieber! Im Zusammenhang mit Hinterzarten lässt sich da wohl kaum eine unverfängliche Marke prägen.“

Auch Krüger konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Immerhin versuchte er, sein Gesicht rasch wieder unter Kontrolle zu bringen. „Aber die Plomben haben offenbar nicht sofort dazu geführt, dass man meine Kollegen vor Ort informiert hat?“, fragte er nach.

„Es ist etwas komplizierter. Beim ersten Auftauchen von Skeletten wurde selbstverständlich ein Gerichtsmediziner hinzugezogen. Der hatte jedoch rasch festgestellt, dass es sich bei den Gebeinen um archäologische Funde handelte. Also war kein Ermittlungsbedarf gegeben und die Formalität erfüllt. Der Kollege hat jedoch naturgemäß nicht alles gesehen, was vor Ort schließlich auftauchte. Bei jeder Ausgrabung finden sich die Knochen nach und nach. Man gräbt sorgfältig, manchmal dauert es Jahre, bis eine Fundstelle vollständig dokumentiert ist.“

„Aber nicht bei jeder Grabung finden sich zwischenzeitlich jüngere Knochen aus späterer Zeit?“, hakte Krüger nach.

„Natürlich nicht“, Herr Kommissar.

„Aber sind neuere Gebeine nicht deutlich heller und elastischer als solche, die Jahrtausende alt sind?“

„Normalerweise ja. Ich habe Aufnahmen der Knochen hier. Sehen Sie selbst!“

Gründel legte einige Fotos aus. „Optisch lassen sich die Gebeine tatsächlich auf den ersten Blick nicht von denjenigen unterscheiden, die seit vielen Jahrhunderten dort liegen. Da der Fundort am Rand eines Hochmoores liegt, werden alle diese Knochen in kurzer Zeit bräunlich verfärbt. Sie kennen doch sicher Bilder von Moorleichen, mit dieser typischen dunkelbraunen Farbe, mit Stich ins Violette?“

„Ja natürlich“, bestätigte Krüger. „Aber im Moor verwesen die Toten doch normalerweise gar nicht?“

„Das ist richtig. Jedoch liegt der Platz nicht im Moor, sondern nur am Rand eines solchen. Gelegentlich bei Hochwasser sickert an dieser Stelle Grundwasser vom Moor ein. Für eine gleichmäßige Verfärbung reicht das bloß zeitweilig vorhandene saure Medium aus. Dies entkalkt außerdem die Knochen in unregelmäßigen, keinesfalls noch irgendwie nachvollziehbaren Zyklen. Auch die anderen normalen Anzeichen, einmal abgesehen von der Farbe wie Gewicht, Elastizität oder Geruchsemissionen leiden stark unter einer solchen Umgebung. Der ständige Wechsel begünstigt sogar eher die Verwesung von Weichteilen. Für ein dauerhaft sauerstoffarmes Milieu des Erdreichs wie im Moor reichen diese bloß gelegentlichen Durchfeuchtungen nicht aus.“

„Ein wahrhaftig komplizierter Sachverhalt“, stimmte Krüger zu. „Wie häufig könnte denn ein solcher, sagen wir mal Lapsus, bei Ausgrabungen vorkommen, Herr Professor? Angesichts der offenbar schwierigen Identifizierung, drängt sich die Frage auf?“

Der Professor winkte ab. „Kann ich mir nicht vorstellen, dass das häufiger passiert. Das Problem bestand trotz allem nicht vorwiegend darin, dass sich ein jüngerer Knochen überhaupt nicht von einem alten unterscheiden lässt. Vor allem, wenn man sogar im direkten Vergleich prüfen kann. Wenigstens irgendwelche Zweifel müssten auftauchen. Das würde ich von einem erfahrenen Archäologen durchaus erwarten, selbst ohne Labortest. Ein solcher sollte in der Folge dann natürlich durchgeführt werden, um Gewissheit zu erlangen. So funktioniert das Geschäft normalerweise. Es lag wohl vielmehr an der täglichen Routine, dass dieses Skelett erst mal nicht als andersartig erkannt wurde. Mangelnde Sorgfalt, Schlendrian oder auch Betriebsblindheit. Egal wie man es nennen mag, Herr Kommissar. Es wurde zwar eine Röntgenaufnahme von jedem der Skelette angefertigt. Man hat sich bei der Sichtung jedoch nur auf eventuellen Schmuck oder metallene Grabbeigaben konzentriert. Bei ihr war leider nichts dergleichen zu erkennen. Diese Knochen lagerten deshalb seit zwei Jahren unberührt in einem Regal.“

„Zwei Jahre, ohne das jemandem etwas auffiel?“ Krüger schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich muss ein Stück weit ausholen, Herr Kommissar, um das zu erklären. Im Rahmen einer Ausgrabung werden heute meistens bei allen entdeckten Skeletten die offengelegten Stellen mit einem Gipsüberzug erneut konserviert, um danach als ganzer Block geborgen zu werden. Dazu hebt man um das Fundstück herum einen Graben aus und schiebt schließlich einzelne Bretter untendurch.“

Der Professor stockte. „Sie haben ein Bild vor sich, Herr Kommissar?“, fragte er.

Krüger nickte. „Habe ich schon mal gesehen. Der große Klotz wird dann mit einem oder mehreren Kränen gehoben und auf einen Tieflader gestellt!“

Der Professor zuckte mit den Schultern. „Für ein einzelnes Skelett benötigt man wohl keinen Tieflader. Ein solcher Block wiegt maximal zwei Tonnen. Da reicht ein normaler LKW mit aufgebautem Kran. Aber ansonsten ist das Vorgehen genauso, wie Sie es beschrieben haben.“ Gründel lächelte versöhnlich.

„Diese Blöcke werden dann zunächst eingelagert. Im Winter ruhen die Außenarbeiten. Deshalb haben die Archäologen in der kalten Jahreszeit ausreichend Muße, sich gründlich um die Präparate aus dem Fundus zu kümmern. Dieses Vorgehen ist durchaus üblich und wohl auch sinnvoll. Bloß will jetzt keiner der Depp gewesen sein, der nicht gleich bemerkte, dass es sich um eine, sozusagen frische Leiche gehandelt hat. Dies ist zumindest meine Einschätzung, Herr Kommissar.“

Krüger schien nachdenklich. „Ganz taufrisch waren die Gebeine wohl trotzdem nicht. Kann man schon eingrenzen, wie alt sie tatsächlich sein könnten?“

„Die Analysen sind noch im Gange. Auf eine Vermutung lasse ich mich aufgrund der geschilderten Umstände lieber nicht ein“, wehrte Gründel ab.

„Na schön. Trotzdem ist mir nicht ganz klar, weshalb meine Kollegen vor Ort jetzt nicht einfach die Ermittlungen aufnehmen.“

„Da wurde zu viel Porzellan zerschlagen. Zwischen dem Denkmalamt und den örtlichen Ermittlungsbehörden wird die Verantwortung für den Fall hin und her geschoben. Man traut einander nicht mehr. Anstatt zusammenzuarbeiten, werden dauernd neue Anschuldigungen erhoben. Von beiden Seiten! Und von mir wollen alle jeweils die Absolution erteilt haben.“

„Okay. Das kann ich nachvollziehen.“ Krüger schüttelte den Kopf. „Es sind immer wieder die gleichen Rituale. Keiner ist schuld! Bloß nichts zugeben. Eine Omertà wie in der Cosa Nostra.“

Jetzt grinste Gründel. „Eine solche Einschätzung scheint mir zwar passend, Herr Kommissar. Aber es anderswo laut zu sagen, davon rate ich ab. Wenn so was an die Presse gelangen sollte …“

„Natürlich nicht!“, winkte Krüger ab. „Eine andere Frage, Herr Professor. Sie haben doch mit Ihren Studenten ab und zu Gesichtsrekonstruktionen durchgeführt. Wären Sie bereit, eine weitere in Betracht zu ziehen? Der Schädel ist doch vorhanden?“

„Ja, der Schädel ist geborgen und befindet sich hier im Institut. Er weist übrigens eine massive Fraktur auf. Durch einen stumpfen Gegenstand. Form und Größe der Läsion entsprechen möglicherweise dem Abdruck einer Glasflasche. Oder einem ähnlich geformten, nicht sehr langen zylindrischen Teil. Der Bruch befindet sich seitlich, links am Hinterkopf. Der Schlag wurde ihr wahrscheinlich von hinten im Stehen zugefügt. Dafür spricht die schräg nach oben verlaufende Grundlinie der Einbuchtung.“

Krüger erschauerte. „Jemand hat sie erschlagen wie eine räudige Katze!“

Gründel zuckte mit den Schultern. „Wenn es Sie beruhigt, Herr Kommissar, sie dürfte auf jeden Fall sofort tot gewesen sein.“

Krüger hob abwehrend die Hände. „Ich werde mich trotzdem niemals vollständig an solche Berichte gewöhnen können, Herr Professor.“

„Es gibt auch eine gute Nachricht. Diese Beschädigung am Hinterhaupt hat kaum Auswirkungen auf ihre Gesichtszüge. Sobald das Ergebnis der C 14-Analyse vorliegt, können wir mit der Rekonstruktion beginnen. Wir möchten doch gerne die vorherrschende Ernährungssituation und Frisurenmode der damaligen Zeit einbeziehen.“

Der Professor lächelte schelmisch. „Das war nicht ganz ernst gemeint, Herr Kommissar. Solche Einsprengsel mache ich bloß, um die volle Aufmerksamkeit meiner Studenten zu behalten.“

Krüger sah ihn ratlos an.

„Was die Frisuren betrifft, war Spaß“, ergänzte Gründel. „Trotzdem würde ich die Altersbestimmung abwarten. Das Gesicht einer Person, die vor mehr als achtzig Jahren gelebt hat, dürfte kaum relevant für deren Identifizierung sein. Es dauert ohnehin nur noch ein paar Tage.“

***

Krüger und Nadja trafen sich zu einer sehr kurzfristig angesetzten Besprechung mit Meyer. „Eine Aussicht, dass die Kollegen vor Ort die Sache unbefangen angehen können, sehe ich nicht“, begann Meyer. „Wir verschieben deshalb den neuen Fall, in dem wir ohnehin im Verzug stehen, erstmal um zehn Tage. Das schafft die Möglichkeit, für die Tote eine Akte zu erstellen und die ersten Erkenntnisse zusammenzutragen. Die Kollegen waren ja nicht völlig untätig. Aber das Denkmalamt torpedierte soweit möglich sämtliche Nachforschungen in seiner Domäne. So kann man den Fall überhaupt nicht ins System einbauen. Je nachdem, was Sie herausfinden, bleiben Sie danach voll am Ball oder bearbeiten die Sache bloß nebenbei. Einverstanden, Kollege Krüger?“

Der Kommissar nickte. „Ich bin gerne dabei.“

Und Sie, Frau Smolenska?

„Mit dem größten Vergnügen, Herr Meyer!“

„Ob es ein Vergnügen wird, wage ich zu bezweifeln. Sie sind damit gleichzeitig in zwei Fälle involviert. Aber bitte, wie Sie wünschen, Frau Smolenska.“

„Ich bin es gewohnt, mehrere Dinge parallel zu bewältigen“, behauptete sie keck.

Meyer winkte ab. „Wir sind keine Akkordtruppe, Frau Smolenska. Fordern Sie rechtzeitig Unterstützung an, falls notwendig. Ich winke das durch. Alle nötigen Unterlagen werden bis morgen an Ihr Büro in Freiburg zugestellt. Sie erhalten Abschriften der bisherigen Berichte aus Titisee-Neustadt. Der örtliche Staatsanwalt ist übrigens ebenfalls draußen. Falls Sie Amtshilfe oder was auch immer benötigen, Meldung bitte direkt an mich. Ich sehe außerdem keine Veranlassung, dass Sie sich auf der örtlichen Wache melden. Der Chef dort wird informiert, er wird dafür sorgen, dass Sie nicht behelligt werden. Hoffe ich wenigstens. Alles klar?“

Krüger und Nadja nickten gleichzeitig.

„Ja dann, viel Glück!“, brummte Meyer.

***

Stolz präsentierte Professor Gründel den Kopf der jungen Frau, der auf einer Kopie von Sallys Schädel modelliert war. „Das Original haben wir gescannt und daraus auf einer computergesteuerten Maschine ein perfekt genaues Duplikat gefräst“, erklärte er.

„Hübsches Mädchen“, brummte Krüger versonnen. „Sie hätten ebenso ein erfolgreicher Bildhauer werden können, Herr Professor.“

Der zuckte zusammen. „Der Feinschliff stammt nicht von mir, leider. Ich hatte eher die technische Seite im Blick. Aber Sie haben recht. Der junge Mann, der sie geschaffen hat, sollte sein Talent eigentlich nicht verschwenden und bloß Mediziner werden. Jedoch bitte kein Wort davon an Außenstehende. Seine Eltern würden mich teeren und federn lassen für einen solchen Satz.“

„Ich schweige selbstverständlich“, versprach Krüger. „Soll ich einen Polizeifotografen beauftragen oder wollen Sie uns die Büste überlassen?“

„Wenn Sie es einrichten können, weder noch, Herr Kommissar. Fotos von allen Seiten haben wir längst angefertigt und das Objekt an sich möchten wir doch gerne für unser hauseigenes Museum behalten!“

„Wenn Sie mir einige der Aufnahmen überlassen, sehe ich kein Problem“, brummte Krüger.

„Ausgezeichnet, Herr Kommissar, vielen Dank. Sie können selbstverständlich jederzeit weitere beziehen oder auch die Negative …“

„Schon gut“, wehrte Krüger ab. „Für den Moment reichen mir einige Schnappschüsse des Objekts.“

Der Professor schluckte. „Schnappschüsse“, murmelte er. „Aber gut, Sie haben die Bilder ja noch gar nicht gesehen. Warten Sie bitte einen Moment! Ich hole Ihren Umschlag aus meinem Büro.“

Krüger zog es vor, zu schweigen. Offenbar hatte er sich gerade etwas despektierlich ausgedrückt. Es galt, sich die Sympathie des Professors auf keinen Fall zu verscherzen.

Die Fotos zeigten sich ebenso ausgezeichnet wie die Büste. Krüger nickte mehrmals zustimmend, während er sie betrachtete. „Gut gemacht, Herr Professor, sehr gut sogar. Man würde gar nicht auf die Idee kommen, dass es sich um ein Modell handelt. Sie wirkt absolut lebendig.“

„Ich werde Ihren Kommentar gerne weiterleiten, Herr Kommissar. Danke!“

***

Zwei Tage später hingen in Matislesmoos ein Dutzend Plakate an einigen Gebäuden oder auch an Bäumen im Ort. Die Aufschrift war betont zurückhaltend gewählt. Wer kennt diese Frau? Sie hat vor längerer Zeit vermutlich hier gelebt. Die angegebene Telefonnummer, in Streifen zum Abreißen, führte direkt auf Nadjas Handy. Kein Hinweis auf Polizei oder eine andere Behörde. Krüger hatte sich mit seinen engsten Beraterinnen, also mit Elisabeth und Nadja, auf dieses Vorgehen geeinigt. Als Experiment. Wenn es zu keinem Ergebnis führte, würde man sich immer noch an die große Öffentlichkeit wenden können. Jedoch schreckte das möglicherweise Zeugen ab, die sich nicht exponieren wollten oder eventuell sogar eine Strafverfolgung befürchteten. Die ehemaligen Freundinnen beispielsweise. Oder ein heimlicher Verehrer, der inzwischen, sehr wahrscheinlich, in einer anderen Beziehung lebte. Eine Garantie, dass Sally tatsächlich aus der Gegend stammte oder das Gründels Modelleur nicht zu viel Fantasie in die Büste eingearbeitet hatte, gab es natürlich nicht. Die Aktion war bloß ein erster Versuchsballon. Aber Krüger wollte es auf jeden Fall wagen.

3. Kapitel

Krüger ließ sich von Nadja auf das Weingut Kocherhof fahren. Erstens weil sie den Weg kannte und zweitens, um sich während der Fahrt ein weiteres Mal in die Akte vertiefen zu können. Eine völlig abstruse Geschichte. Angefangen hatte alles durch einen beim Notar hinterlegten Briefumschlag. Darauf die vielversprechende Aufschrift: „Erst nach meinem Tod zu öffnen.“ Allerdings ging es nicht um ein unbekanntes Vermögen, auf das die Erben kurz gehofft hatten, sondern die Verblichene beschuldigte ihren ehemaligen Dienstherrn, einen gewissen Lorenz Kocher. Er solle seine ungetreue Ehefrau mitsamt ihrem Kuckuckskind in einem der tiefsten Keller des Weingutes eingesperrt haben. Solange, bis die beiden dort unten elend verhungert gewesen seien.

Der Weinbauer genoss einen sehr guten Ruf in der Gemeinde. Niemand zweifelte daran, dass die Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehrten. Bloß der Racheakt einer herb enttäuschten Frau. Selbst der Umstand, dass die erwähnte Ehefrau vor 28 Jahren tatsächlich plötzlich verschwand, führte nicht zu echter Verunsicherung. Die Denunziantin musste die Behauptung schließlich an irgendeinem Ereignis festmachen. Und dieses eignete sich ausgezeichnet für eine gemeine Verleumdung. Was er ihr angetan haben konnte, wusste niemand. Außer vielleicht Lorenz Kocher selbst. Aber man konnte sich denken, dass die damalige Magd wohl gerne den Platz der Verschwundenen eingenommen hätte.

Kocher erklärte sich damit einverstanden, dass man auf dem Hof nach Spuren suchte, um die Sache ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Der seit Jahrhunderten bewirtschaftete Hof verfügte wahrhaftig über fast endlos tiefe Lagerkeller. Die von vorangegangenen Generationen nach und nach aus dem Vulkangestein unter dem Kaiserstuhl geschlagen worden waren. Natürlich verwendete man längst moderne Edelstahltanks für die Weinproduktion. Die alten Gänge dienten höchstens noch als Hinweis auf die sorgfältig gepflegte Weintradition.

Entgegen jeder Erwartung fanden die Kriminaltechniker Fragmente von menschlichen Knochen in einer der Höhlen. Die Gebeine eines Kleinkindes. Es konnte höchstens fünf Monate alt geworden sein, war jedoch mit Sicherheit keine Totgeburt gewesen. Rückschlüsse auf die Todesursache waren nicht möglich. Bestattet wurde der Säugling in einer viereckigen Blechdose mit aufgesetztem Deckel. Eingewickelt in Gewebe aus Baumwolle, wie es früher für Windeln verwendet wurde. Ohne persönliche Gegenstände wie Schmuck oder Spielzeug. Lediglich ein einfaches Kruzifix aus Holz hatte man ihm auf die letzte Reise mitgegeben.

Die Blechbüchse stammte von einem deutschen Zwiebackhersteller und war vor mehr als fünfzig Jahren angefertigt worden. Bevor sie zum Sarg wurde, hatte man sie wohl für Kekse benutzt. Jedenfalls fanden sich in den Ritzen entsprechende Rückstände.

Die Schachtel wurde in einer dunklen Nische in eine Ecke gestellt und notdürftig bedeckt. Ein echtes Vergraben im Gestein wäre schließlich gar nicht möglich gewesen. Das vorhandene lose Material reichte immerhin dazu aus, einen an dieser Stelle zusammengekehrten Haufen aus Sand und Staub vorzutäuschen.

Die Keller blieben trocken und kühl, das ganze Jahr über. Der Boden des Behältnisses war trotzdem irgendwann von innen durchgerostet und hatte die flüssigen Überreste des kleinen Leichnams nicht mehr zurückhalten können. Dadurch entstanden typische Flecke mit Rückständen von Körperflüssigkeiten im Gestein. Die bewiesen, dass die Dose zu diesem Zeitpunkt bereits an dieser Stelle gestanden haben musste. Ob sie zwischenzeitlich einmal gefunden und dabei verschoben oder vorübergehend an einen anderen Platz gestellt wurde, ließ sich objektiv nicht ausschließen. Sobald der Inhalt völlig getrocknet gewesen war, verströmte er auch keinen auffälligen Leichengeruch mehr.

***

Trotzdem. Krüger blieb keine Wahl. Er musste die Sache absolut unvoreingenommen untersuchen. Der Bauer schien offenkundig selbst bekümmert über den Fund. Hielt er es für möglich, dass der Säugling sein sehnlichst erwarteter und bis heute ausgebliebene Stammhalter gewesen sein könnte?

Ob die Knochen von einem Knaben oder einem Mädchen stammten, war allerdings bislang nicht klar.

Oder holte ihn eine frühere Untat jetzt tatsächlich ein?

Indessen, falls die ehemalige Magd wirklich etwas darüber gewusst hätte, weshalb sollte sie dem vermögenden Bauern nicht wenigstens eine kleine Rente abgetrotzt haben? Sie hatte in einfachsten Verhältnissen gelebt, bis zu ihrem zugegeben unerwartet raschen Ableben. Hatte sie es möglicherweise erst neulich versucht und war deshalb ebenfalls ein Opfer Kochers geworden?

Oder war sie selbst diejenige gewesen, die das Kind und womöglich die Frau des Bauern in beschriebener Weise beiseitegeschafft hatte?

Jedoch, wie sollte das unbemerkt geschehen sein? Es fanden sich weder abschließbare schalldichte Türen noch feste Ringe oder Ketten in den Felskammern. Über die Möglichkeit, den Zugang zum Weinkeller nachhaltig zu verhindern, verfügte ausschließlich der Hausherr selbst.

Andererseits, weshalb sollte der Bauer in den inzwischen 28 vergangenen Jahren seit dem Verschwinden seiner Frau niemals eine Gelegenheit gefunden haben, um die verräterischen Knochen endgültig zu beseitigen?

In normal feuchter Erde wären die bald restlos vermodert gewesen. Mitsamt der Dose. Das war jedem Bauern mit Sicherheit klar. Deshalb ging Krüger davon aus, dass Kocher wirklich nichts von der kleinen Leiche in seinem Keller gewusst hatte.

***

Eine Besichtigung des Fundortes sparte sich Krüger für den Moment. Er wollte erst mit dem Gutsherrn sprechen. Allein, ohne Protokoll. Was dachte der über die Frau, die ihn posthum beschuldigte. Trude Henzer, hatte sie geheißen. Eigentlich Gertrud, aber das interessierte auf dem Land keinen. Krüger hatte einen Spaziergang durch den Weinberg vorgeschlagen und der Bauer hatte eingewilligt. „Warum die Trude den Brief hinterlegt hat? Das wüsste ich auch gern, Herr Kommissar. Und woher sie über das tote Kind in unserem Weinkeller Bescheid wusste?“ Er zuckte mit den Schultern.

„Das steht keineswegs fest“, erwiderte Krüger. „Womöglich hängen der Brief und das Kind überhaupt nicht zusammen“, mutmaßte er.

„Sie halten mich wohl für einen potenziellen Massenmörder, Herr Kommissar!“

„Aber nein, Herr Kocher! Es kann tausend Gründe geben, ein Kleinkind heimlich zu bestatten. Jedoch, dass es absichtlich von einem Fremden umgebracht wurde, ist äußerst unwahrscheinlich. Meistens sind es verzweifelte Mütter, die keinen anderen Ausweg mehr sehen. Am häufigsten sind jedoch natürliche Ursachen, die bei Säuglingen in den ersten Monaten zum Tod führen. Besonders, wenn sie ohne jegliche ärztliche Betreuung bleiben. Bis vor einigen Jahrzehnten war dies auch hierzulande absolut nicht ungewöhnlich.“ Krüger zuckte mit den Schultern. „Ich gebe bloß wieder, was mir der Rechtsmediziner darüber erzählt hat.“

Kocher wirkte skeptisch, schwieg jedoch.

„Erzählen Sie mir von Frau Henzer. Wann hatten Sie den letzten Kontakt, zum Beispiel?“

„Kontakt zu Trude? Gar nie!“

„Sie war doch auf dem Hof angestellt? Irgendwann haben Sie mit ihr gesprochen?“ Krüger schien leicht gereizt.

„Ja, eventuell damals. Aber seither. Sie war bloß eine einfältige Magd. Kein einziges Mal!“

„Wann hat Frau Henzer ihren Dienst auf dem Hof beendet? Bevor Ihre Ehefrau verschwand oder danach?“

„Wissen Sie das tatsächlich nicht, Herr Kommissar?“ Kocher schüttelte den Kopf.

„Es wäre nett, wenn Sie mir einfach antworten würden“, brummte Krüger.

„Es war ungefähr ein Jahr später, glaube ich. Oder zwei. Genau weiß ich es nicht mehr. Ist schließlich schon über ein Vierteljahrhundert her.“

„Und Sie haben absolut keine Idee, womit Sie Frau Henzer gekränkt haben könnten.“

„Eventuell hat sie gespürt, dass ich sie für nicht besonders intelligent gehalten habe. Oder sie hat versucht, mich zu bezirzen und ich habe es nicht einmal bemerkt?“ Kocher schnippte mit den Fingern. „Woher soll ich wissen, was im Kopf einer solchen Person vor sich geht?“

„Was war sie für eine Frau? War sie gut aussehend?“

„Na ja, wie man es nimmt. Reichlich Holz vor der Hütte hat sie gehabt und ihre blonden Haare trug sie immer sehr lang. Zwar als Zopf, aber immerhin.“

„Das heißt ja?“

„Wenn Sie es so hinbiegen wollen, Herr Kommissar. Aber als Bäuerin wäre sie trotzdem niemals infrage gekommen. Zu naiv. Ungebildet. Die konnte kaum lesen und schreiben. Worüber hätte ich mit ihr sprechen sollen? Über Haus-und Stallarbeit? Das war der Trude sicher selbst ebenso klar, falls Sie daraus ein Motiv konstruieren wollen, Herr Kommissar. Und die Nachbarn hätten sich kaputtgelacht.“

„Finden Sie das nicht auch ein wenig selbstgefällig, Herr Kocher?“

Er zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Aber es stimmt trotzdem.“

„Was denken Sie, ist mit Ihrer Frau passiert? Sie hatten damals nicht gleich eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Erst als es sich nicht mehr vermeiden ließ. Können Sie das näher erklären?“

„Sie ist mit dem fremden Balg im Bauch abgehauen. Dass er nicht von mir war, weiß ich sicher. Wir schliefen damals schon länger nicht mehr im gleichen Bett. Aber ich wollte ihr und dem Strolch, der sie geschwängert hat, eine faire Chance lassen. Ich denke, sie sind irgendwo in Kanada oder in den USA abgetaucht.“

Krüger runzelte die Stirn. „Sie gehen davon aus, dass Ihre Frau noch lebt? Weshalb haben Sie sich denn nicht gegen die Todeserklärung gewehrt? Das verstehe ich nicht.“

„Interessiert mich, was irgendeine Behörde beschließt? Hauptsache, die geben endlich Ruhe. Hat übrigens bestens geklappt.“

„Einen konkreten Hinweis haben Sie jedoch nicht, oder? Das Ganze ist bloß eine Vermutung?“

Der Bauer zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie das sagen.“

Krüger blieb stehen. „Sie haben gesagt: Mit dem fremden Balg im Bauch! Haben Sie schon daran gedacht, dass es sich beim gefundenen Säugling um dieses Kind handeln könnte?“

Kocher sah ihn kopfschüttelnd an. „Was halten Sie von mir, Herr Kommissar? Das würde ja bedeuten, dass ich von der Niederkunft meiner Frau nichts mitbekommen hätte.“

Krüger nickte. „Das ist ein Argument. Sie war nie einige Zeit abwesend, bevor sie verschwand? Bei einer Freundin oder bei ihrer Familie.“

Kocher schien jetzt nachdenklich. „Ich glaube nicht. Sicher kann ich jedoch nicht sein. Zu lange her. Meine Frau war groß und nicht besonders schlank. Es könnte sein, dass man ihr kaum etwas angesehen hätte. Und wir gingen uns soweit wie möglich aus dem Weg, bevor sie verschwand. Auch in der Nacht. Der Hof bot dafür genügend Platz. Deshalb konnte sie sich überhaupt mit dem Strolch ungestört treffen.“

„Ihre Ehe war offenbar nicht allzu glücklich“, dachte Krüger laut nach. „Gab es einen besonderen Grund dafür, dass sich die Liebe so schnell verflüchtigt hat?“

„Damals war die Welt noch nicht so kompliziert, Herr Kommissar. Jedenfalls nicht dieser Beziehung. Das Ziel unserer Ehe war Nachwuchs, nicht romantische Liebe. Wenn die Frau nicht liefert, muss ich mich nach einer anderen umsehen. Ein Grundprinzip meines Standes. Das war überhaupt keine Frage.“

„Einfach auf die Schnelle eine andere Frau finden? Die dazu standesgemäß ist und mit der man tiefgründige Gespräche führen kann. Stelle ich mir eher schwierig vor, Herr Kocher?“

„Eine kleine diskrete Nachricht hätte ausgereicht, um mir eine ganze Auswahl an Bewerberinnen zu verschaffen. Schöne, junge, kluge Frauen. Und keine davon mit leeren Händen. Ich war und bin bis heute ohne Stammhalter. Mein Hof würde an die Familie der Braut gehen, wenn das so bleibt. Wissen Sie, was das hier bedeutet, Herr Kommissar?“

„Vermutlich kann ich das nicht genau einschätzen“, gab Krüger leicht verlegen zu.

„Ihre Frau wurde ja nach den üblichen zehn Jahren für tot erklärt“, fuhr Krüger fort, nachdem sie ein Stück schweigend zurückgelegt hatten. „Also gelten Sie seitdem als verwitwet. Darf ich fragen, weshalb Sie dann doch nicht wieder geheiratet haben? Gerade im Zusammenhang mit dem fehlenden Erben und der von Ihnen erwähnten Auswahl finde ich das ehrlich gesagt wiederum befremdlich?“

Der Bauer zuckte mit den Schultern. „Eigentlich ist das ja meine Privatsache. Aber ich habe nichts zu verbergen und Sie werden es wohl nirgends breittreten. Ich war mir zwischenzeitlich nicht sicher, ob der fehlende Nachwuchs eventuell an mir liegt. In diesem Fall wollte ich besser einen guten Jungen adoptieren, als den Hof einem gierigen Familienclan zu überlassen, der mir dafür eine ihrer Töchter zum Fraß hinwirft.

Oder was würden Sie an meiner Stelle tun, Herr Kommissar?“

Krüger zog es vor, darauf nicht einzugehen. Dass das Landleben andere Prioritäten verlangte, davon hatte er schon gehört. Aber sich hier unüberlegt auf irgendeine Antwort festzulegen, schien ihm zu verwegen.

„Zum Glück zeichnet sich vielleicht eine Lösung ab, über die ich noch nicht offen sprechen kann“, fuhr Kocher fort. „Ich habe möglicherweise doch einen Sohn, es war allerdings bisher bloß eine Vermutung. Ich warte auf letzte Ergebnisse. Sonst bleibt nur eine Adoption übrig. Meine Zeit wird jetzt langsam zu knapp, um mit der Balz noch einmal ganz von vorne anzufangen.“ Kocher grinste unverhohlen.

Krüger nickte bloß. Trotz allem war er zufrieden mit dem Gespräch. In erster Linie wollte er ja herausfinden, wie der Bauer tickte. Das Ergebnis fand er wirklich außergewöhnlich. Jedenfalls hätte er den Mann sonst ganz anders und bestimmt ebenso falsch eingeschätzt.

***

Nadja hatte sich inzwischen mit den Angestellten auf dem Hof beschäftigt. Keiner war solange hier, dass er Frau Henzer noch gekannt hatte. Über den Chef wollten sie nicht wirklich etwas sagen. Er sei streng, aber gerecht, hörte sie wiederholt. Ein Patron von altem Schlag.

Nadja befragte das weibliche Personal einzeln und eher durch die Blume. Er sehe schon hin, wenn irgendwo ein Rock kurz hochrutsche oder mal ein Knopf zu viel offen sei. Aber die Damen hielten das nicht für ungewöhnlich bei einem alleinstehenden Mann. Angefasst habe er bisher keine, versicherte man ihr. Und ganz im Vertrauen, auch keine von denen, die nichts dagegen gehabt hätten.

Die Spurensuche und die Bergung der Gebeine hatten natürlich alle mitbekommen. Deshalb konnte Nadja keine überraschenden Fragen zum Fund stellen. Einzig sie hielt es für möglich, dass sich ab und zu jemand vom Personal heimlich in den Kellern aufgehalten hatte. Und dabei möglicherweise auf die Dose gestoßen sein könnte. Man konnte den Inhalt nicht gleich richtig erkennen. Es hatte eher wie ein schmutziges Bündel aus alten Lappen ausgesehen, in dem ein einfaches Kruzifix liegen geblieben war. Die vergessene Spielzeugkiste eines Bauernmädchens, die als Hort für ihre Puppen gedient hatte? Trotz alledem, eine golden glänzende Beigabe, die wäre bestimmt aufgefallen. Dass ein möglicher Finder die Sache für sich behalten hätte, schien ebenfalls ziemlich logisch.

Aber jetzt, im Wissen, dass man einem toten Kind sein einziges wertvolles Gut entwendet hatte, wäre es für einen Gläubigen eine schwerwiegende, kaum zu verzeihende Sünde. Für die er lange in der Hölle schmoren würde.

Nadja war selbst nicht besonders religiös, aber sie kannte die katholischen Gepflogenheiten aus ihrer Kindheit sehr genau. Wenn sie es gründlich analysierte: ein Diebstahl aus einem Behältnis, das als Sarg diente, bei physischer Anwesenheit des Gekreuzigten? Praktisch direkt aus seiner Obhut? Eigentlich unvorstellbar, falls man seine Religion irgendwie ernst nahm.

Natürlich wusste Nadja, dass hier in der Gegend nur wenige Katholiken lebten. Trotzdem, ein solch dreister Raub müsste eigentlich jeden halbwegs anständigen Menschen empören.

Höchstens das Fragment einer möglichen Spur. Aber sie würde es im Kopf behalten.

4. Kapitel

Sie verließen den Kocherhof ohne irgendwelche Besichtigung oder Nachstellung einer möglichen Situation. Krüger wollte jegliche Bildung einer Abwehrhaltung der Bewohner vermeiden. Eine homogene Gruppe wandelte sich rasch zur geistigen Festung, wenn sich einige Mitglieder bedrängt fühlten. Nadja fuhr, Krüger hielt einen Stift in der Hand und einen Notizblock auf den Knien. Wäre Nadja nicht neben ihm gesessen, hätte er wohl längst damit begonnen, Kringel zu formen.

„Haben Sie einen ersten Eindruck gewonnen, auf dem Sie aufbauen können, Nadja?“, fragte er vorsichtig. Er hielt sich streng an seine Regel, aus wenigen Hinweisen keine Richtung zu bestimmen, ohne wenigstens einige Zeit gründlich darüber nachgedacht zu haben.

Sie nickte. „Eine Sache scheint mir interessant, Chef. Möchten Sie es hören? Es ist allerdings erst ein vages Gefühl.“

„Nein Nadja. Lassen Sie es erst reifen und erzählen Sie es frühestens morgen.“

„Wie Sie meinen. Und Sie, Chef?“

Krüger winkte ab. „Ich muss zuerst ordnen. Eines kann ich Ihnen jedoch versichern. Das hier ist eine ganz andere Welt als die unsere.“ Er stockte.

„Gestatten Sie mir eine persönliche Frage, Frau Smolenksa?“

Sie konnte ein Grinsen kaum unterdrücken. „Was möchten Sie denn wissen, Herr Kommissar?“

„Wo sind Sie aufgewachsen? Auf dem Land oder in der Stadt?“

„Auf dem Land. Ein winziges Kaff im Norden. Wenigstens lag es direkt an einer internationalen Hauptstraße. Sonst wäre es bestimmt ausgestorben gewesen, bevor ich auf die Welt kam.“

„Das ist ausgezeichnet, Nadja!“

„Wie bitte?“ Sie drehte den Kopf und rollte kurz mit den Augen.

„Ich meine bloß für den Fall. Sie werden manches viel besser einordnen können als ich. Denke ich zumindest.“

***

Wenn Krüger sich an einen neuen Fall ohne frische Leiche oder andere klare Anhaltspunkte setzte, besprach er das Vorgehen stets ausführlich mit seiner Lebensgefährtin. Zwar entsprach das nicht den Vorschriften, hatte sich jedoch bestens bewährt. Früher hatte er dazu auch Michélle zur Verfügung gehabt. Nadja löste diese inzwischen ab, aber zu ihr hatte er ein anderes weniger vertrautes Verhältnis.

Elisabeth genoss heute einen freien Tag, sie arbeitete bloß Teilzeit in der Stadtbibliothek von Freiburg. Deshalb erwartete sie ihn schon ziemlich ungeduldig. Die Angaben aus den Akten der Spurensicherung hatte sie inzwischen praktisch auswendig griffbereit. Sie war in dieser Beziehung äußerst penibel.

„Wie schätzt du den Bauer jetzt grundsätzlich ein?“, wollte sie als erstes wissen. „Hat er das Potenzial, um Frau und Kind im Keller verhungern zu lassen?“

Krüger schüttelte den Kopf. „Das können wir wahrscheinlich ausschließen. Er wirkt ruhig und erstaunlich gelassen. Aber nicht aalglatt wie jemand, der bloß eine Rolle spielt. Das tote Kleinkind scheint ihm ernsthaft leidzutun. So wie den meisten normalen Menschen.“

„Eine Erklärung für den Brief hat er aber nicht geliefert?“

„Eine Meinung hat er, eine plausible Erklärung jedoch nicht. Er denkt, dass Frau Henzer ihn bloß nicht mochte, weil er sie nicht ganz für voll genommen hat. Und sie ihm deshalb sozusagen posthum eine reinhauen wollte.“

„Der Bauer spricht von posthum?“

„Nein, mein Schatz, das war Professor Gründel. Der Bauer sprach von Holz vor der Hütte, aber er verwandte doch auch den Ausdruck, Niederkunft. Also ich würde ihn intellektuell nicht unterschätzen.“

„Holz vor der Hütten ist sehr intellektuell“, stichelte sie.

„Hütte ohne N. Das ist die bayrische Version.“

Sie sah ihn entrüstet an. „Du könntest wenigstens so tun, als ob es dich störte!“

„Wir analysieren hier einen möglichen Verdächtigen. Da ist Genauigkeit gefragt, nicht irgendwelche moralische Korrektheit“, brummte er.

„Ja natürlich. Ich wollte dich doch bloß ein wenig auf die Palme bringen.“

„Wär ich nie drauf gekommen!“

„Ich bleibe jetzt ganz brav“, versprach sie lächelnd. „Übrigens, um wessen Hütte ging es dabei?“

„Onkel Toms!“, zischte er.

Sie lachte laut. „Das kannst du mir nicht weismachen.“

„Um Frau Henzer ging es. Er hat sie so beschrieben. Außerdem soll sie lange blonde Haare gehabt haben. Wenn auch als Zopf getragen“, erklärte er.

„Ein langer Zopf kann sehr erotisch wirken“, stellte sie fest. „Ein Mann überlegt sich doch automatisch, ob das Haar geöffnet bis zum Hintern reichen würde? Oder nicht?“

„Ist gut, Schatz. Ich erinnere mich. Aber ich glaube nicht, dass sie ihn als Frau beeindruckt hat. Ich empfand es eher so, als ob er wenigstens etwas Positives über sie sagen wollte. Alles sei schon sehr lange her. Und sie überhaupt nicht seine Kragenweite. Grundsätzlich hielt er sie für geistig schwach und ungebildet. Er war der Meinung, dass sie kaum richtig lesen und schreiben konnte.“

„Wirklich? Das könnte schon fast ein passendes Motiv sein für den Brief, wenn sie davon gewusst hatte.“

Krüger schien skeptisch. „Meinst du?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Da dürfte wohl noch mehr dahinterstecken. Immerhin macht er sich die Mühe, einige ihrer wenigstens aus seiner Sicht positiven Eigenschaften hervorzuheben. Wenn sie ihm damals so völlig egal gewesen wäre, wie behauptet, hätte er sich das kaum so genau gemerkt.“

Krüger sah sie fragend an.

„Oder sie hat ihn abgewiesen“, fuhr Elisabeth fort. „Dann könnte man sogar von einer typischen Reaktion sprechen.“

„Das hat er vehement bestritten. Es geht da in erster Linie um den Hof, beziehungsweise darum, wer den Hof erbt. Er kann langfristig nur der Familie erhalten bleiben, wenn ein männlicher Stammhalter existiert. Auch eine Tochter würde die Linie schließlich unterbrechen. Da sind die Kriterien offenbar ziemlich streng. Es ist nicht ganz einfach zu erklären. Ich habe ein Gedächtnisprotokoll über das Gespräch mit Kocher verfasst. Das könntest du lesen, während ich mir eine Dusche gönne!“

Sie nickte. „Hättest du gleich sagen können!“

„Wenn ich mal richtig zu Wort kommen würde“, murmelte er.

„Wie bitte?“

„Ach nichts. Das Papier ist in meiner Mappe. Die habe ich irgendwo im Flur stehen gelassen. Moment, ich hole sie.“

Elisabeth las den Bericht mehrmals durch. Dass der Bauer es tatsächlich zugab, möglicherweise selbst unfruchtbar zu sein, fand sie ungewöhnlich. Aber nachdem seine Frau offenbar von einem anderen Mann problemlos schwanger geworden war, sollte selbst dem größten Macho eigentlich irgendwann klar werden, was Sache war.

Ein mächtiges Motiv für einen selbstverliebten Pascha, seine Frau und das Kuckuckskind möglichst jämmerlich zugrunde gehen zu lassen. Dass der Schluss zu schnell und zu einfach wäre, bloß weil er zum Brief der ehemaligen Magd passte, war ihr allerdings ebenso klar. Darüber würde sie gründlich nachdenken müssen. Und dieser letzte Versuch, offenbar einen alten Fehltritt zu reaktivieren, bevor man sich endlich mit der Tatsache abfand, schien ihr absolut folgerichtig. Erstaunlich bloß, dass er überhaupt darüber sprach. Aber irgendwann wünschte sich wohl selbst ein solcher Mann ein Ventil, um dem Druck Herr zu werden.

***

Am nächsten Morgen trafen sich Nadja und Krüger zum ersten Austausch über den Fall Kocher.

Nadja hatte die festgestellten Tatsachen aufgeschrieben, ihre Überlegung zum möglichen Diebstahl erzählte sie Krüger bloß. „Ich weiß, das Ganze ist an den Haaren herbeigezogen, Chef. Aber falls es stattgefunden haben sollte …“

„Ich finde das sehr interessant, Nadja. Selbst wenn es kaum direkt darauf hinweist, wer das Kind dort abgelegt hat. Immerhin könnte es schließlich dazu führen, dass sich die Mutter ebenfalls schuldig fühlt und ihre Tat gesteht, weil sie es nicht mehr aushalten kann.“

„Dann wäre das tatsächlich der separate Fall, der gar nichts mit dem Bauern zu tun hat.“

„Davon gehe ich ohnehin aus. Ich sehe keinen plausiblen Grund, weshalb Kocher ein totes Kind einfach herumliegen ließe, bloß weil es nicht mit ihm verwandt ist!“

Nadja nickte. „Finde ich auch. Aber Sie haben mit dem Mann gesprochen. Wollen Sie mich in Ihre Gedanken einweihen, Chef?“

„Bitte!“ Krüger schob ihr eine Kopie seines Protokolls hin. „Da steht alles drin, woran ich mich erinnere. Ist ihr persönliches Exemplar. Bewahren Sie es bitte gut auf. Ich möchte nicht, dass es irgendwann in einer offiziellen Akte landet. Es ist nur ein Festhalten meines ersten Eindrucks. Sobald wir konkretere Hinweise haben, die dagegen sprechen, verbrennen Sie es bitte!“

Nadja schien belustigt. „Ich sollte Meyer wohl darum bitten, uns einen eigenen Reißwolf zu besorgen. Damit wir die alten Papiere nicht irgendwo hinter dem Gebäude in Brand zu stecken brauchen!“

Krüger winkte ab. „Es war nicht ganz ernst gemeint, Nadja. Sie können es einfach wegschmeißen, wenn es sich erledigt hat!“

***

Die Stimme klang dünn, zerbrechlich. Eine alte Frau? Nadja musste sehr genau zuhören, um etwas zu verstehen. „Woher haben Sie das Bild? Lebt Jenny doch noch? Wir dachten, sie ist irgendwo in einer arabischen Wüste verdurstet.“

„Jenny?“, wiederholte Nadja vorsichtig. „Jenny, war das ihr richtiger Name?“

„Ja. Also eigentlich Jennifer. Jennifer Hönig.“ Die Stimme klang jetzt fast normal. Die Schüchternheit war verflogen. Man hatte vereinbart, mögliche Zeugen nicht zu verschrecken. Deshalb fragte Nadja nicht nach Name oder Adresse. „Können wir uns treffen und über Jenny reden? Egal wo, ich komme an jeden Ort, den Sie mir nennen!“

„Wenn Sie möchten? In zwei Stunden könnte ich am Bahnhof sein und dort warten.“

„Ausgezeichnet. An welchem Bahnhof meinen Sie?“

„Matislesmoos hat doch bloß einen Bahnhof!“ Sie wirkte erstaunt.

Inzwischen hatte die Nervosität bei Nadja eingesetzt. Sie durfte auf keinen Fall etwas Falsches sagen. „Woran kann ich Sie erkennen?“

„Das ist nicht schwer. Ich sitze in einem blauen Rollstuhl.“

Nadja konnte ein „wunderbar“, dass ihr auf der Zunge lag, nur knapp zurückhalten. „Falls wir uns verpassen? Würden Sie mich nochmals anrufen?“, fragte sie stattdessen.

„Ja, ich denke schon. Ich heiße übrigens Helene. Und Sie?“

„Nadja. Ich freue mich, Helene. Bis gleich!“

Es blieb etwas Zeit, um sich mit Krüger abzusprechen. Für die Fahrt würde sie höchstens eine Stunde benötigen.

„Wie soll ich es angehen, Chef? Sie sitzt im Rollstuhl. Ich kann sie nicht einfach mitnehmen, wenn sie gefährdet ist.“

„Knüpfen Sie erst mal den Kontakt richtig und tasten Sie ab, was die Dame weiß. Einen Transport habe ich schnell organisiert, falls nötig. Rufen Sie mich in diesem Fall an. Im Übrigen muss ja nicht alles gleich beim ersten Gespräch geklärt werden. Das wird schon.“

Sie nickte. „Ja, ich halte mich selbstverständlich genau an das abgesprochene Vorgehen. Aber jetzt bin ich sehr nervös. Ich könnte sie dadurch verschrecken.“

„Fahren Sie ohne große Erwartungen hin. Sie hat sich ja freiwillig gemeldet. Und einen Namen haben wir immerhin bereits erhalten. Ich suche inzwischen, was sich über eine Jennifer Hönig auf die Schnelle herausfinden lässt.“

„Okay, Chef.“ Nadja hastete davon.

***

Eine Stunde später schob Nadja Helene in einen kleinen Park neben dem Bahnhof in Matislesmoos.

„Hier haben wir oft gesessen, wenn wir ungestört plaudern wollten“, erzählte Helene schon während der Fahrt. „Jenny hatte im Gasthof keine ruhige Ecke.“

„Wohnte sie in einem Gasthof?“, fragte Nadja nach.

„Ja, ihre Eltern führten hier am Rand des Ortes eine einfache Pension mit Tankstelle. Direkt an der Bundesstraße. Dazu gehörten ein großer Parkplatz und eine Imbissstube. Das Haus brannte vor einigen Jahren ab und wurde nicht wieder aufgebaut. Jennys Eltern haben zwar weitergemacht, aber ihre Beziehung ist wohl an der Trauer und der Ungewissheit zerbrochen.“

„Sie waren also gute Freundinnen, wenn ich das richtig verstanden habe?“

„Ja, das waren wir. Jedoch, was ist nun mit ihr geschehen? Das Bild ist natürlich nicht aktuell, das ist mir inzwischen auch klar geworden. Aber woher haben Sie es?“

Nadja wand sich. „Nun ja, es ist eher unwahrscheinlich, dass Ihre Freundin noch am Leben ist, tut mir leid!“

„Das ist mir bewusst, sonst hätte sie sich längst gemeldet. Ich war bloß im ersten Moment völlig überrascht.“

„Ja, dann!“ Nadja stellte den Rollstuhl neben einer Bank hin und setzte sich neben Helene. „Es stammt aus der Rekonstruktion eines Schädels, der unlängst gefunden wurde. Hier, ganz in der Nähe!“

„Hier in Matislesmoos?“

„Ja, es fanden Ausgrabungen statt, gleich hinter dem Bahnhof.“

Helene nickte. „Ja, davon habe ich natürlich gehört. Man ist dabei auf uralte Gräber gestoßen.“

„Eines der gefundenen Skelette, stammte nicht aus der Jungsteinzeit wie die übrigen, hat man mittlerweile festgestellt. Aus dem Schädelknochen wurde dieses Gesicht rekonstruiert.“

„Wirklich! Wir dachten, dass sie auf Ihrer Weltreise verschollen sei. Das war eine große Sache. Jahrelang hat sie sich vorbereitet. Deshalb wollte sie auch nicht heiraten, obwohl sie viele Verehrer hatte.“

„Hatte sie zu dieser Zeit einen Freund?“

„Ja, der Stefan. Der ist mit ihr auf die Reise …“

„Sie war nicht allein?“

„Aber nein. Der Stefan sollte ihr Auserwählter werden, sobald sie gemeinsam zurückgekehrt waren. Aber dann ist sie ja wahrscheinlich überhaupt nicht weggefahren?“

Nadja nickte vorsichtig.

„Ich kann mich erinnern. Als sie fahren wollten, hatten Bauarbeiter der Gemeinde im Moor Löcher ausgehoben für den neuen Steg, der damals gebaut wurde.“

„Das bot dann wohl die Gelegenheit, um sie im Moor abzulegen“, dachte Nadja laut. „Wahrscheinlich sogar, ohne selbst graben zu müssen!“

„Das ist ja schrecklich! Dann lag sie fast dreißig Jahre direkt neben uns!“ Helene schüttelte sich angewidert.

„Wissen Sie noch, in welchem Jahr das geschehen ist. Ich kann es natürlich auch selbst herausfinden, wenn Sie nicht sicher sind“, schwächte Nadja ab.

„Natürlich weiß ich welches Jahr. 1974. Im Juni.“

„Ausgezeichnet Helene! Ich arbeite übrigens für das BKA in einer Sonderabteilung, die sich um alte Fälle mit neuen Hinweisen kümmert. Trotzdem können Sie völlig anonym bleiben, wenn Sie wollen. Wir berichten nicht über Zeugen oder unsere Quellen.“

„Freut mich, dass ich Ihnen ein Stück weit helfen konnte.“

„Vielen Dank, Helene. Sie haben mir sogar sehr geholfen!“

„Bitte! Wenn Sie weitere Fragen haben, ich stehe gerne zur Verfügung. Ich gebe Ihnen meine Nummer.“

„Das ist sehr nett, Helene.“ Nadja zückte einen Notizblock mit angestecktem Stift und schob ihn in Helenes Hand.

Diese kritzelte einige Zahlen auf das Papier. „Bitte!“

„Ich komme bestimmt darauf zurück!“ Nadja lächelte sanft. „Aber erst mal muss ich die Details ordnen und verifizieren, danach sehen wir weiter.“

„Was könnte denn dann mit Stefan geschehen sein? Soll ich ein wenig herumfragen, Nadja?“

„Bitte nicht, Helene. Genau das möchte ich nicht. Wer weiß, was passiert, wenn der oder die Täter bemerken, dass es eine konkrete Spur geben könnte. Natürlich verfügen wir über ein effizientes Zeugenschutzprogramm, aber Sie möchten wohl kaum Hals über Kopf für immer von hier weg, oder?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Dann bitte ich Sie, zum Inhalt unseres Gesprächs zu schweigen. Sie können sagen, dass sich eine übereifrige Pressetante aus Freiburg wichtigmachen will. Die möchte aus dem Schicksal von Verschwundenen wie Jenny Kapital schlagen. Für welche Zeitung ich arbeite, wollte ich nicht sagen. Bloß kein Wort über polizeiliche Nachforschungen oder Ermittlungen. Bitte Helene! Falls Sie jemand bedrängt, sagen Sie, dass man mich doch selbst anrufen soll. Für eine gute Story würde ich sogar was springen lassen. Meine Nummer steht schließlich überall auf den Plakaten. Ich wäre völlig untröstlich, Helene, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte, nur weil Sie mit mir gesprochen haben!“

„Wie Sie meinen! Ich werde schweigen wie ein Grab. Eine übereifrige Pressetante!“ Helene kicherte. „Ich wäre aber trotzdem gespannt, wie es weitergeht.“

„Natürlich halte ich Sie soweit möglich auf dem Laufenden“, versprach Nadja. „Schaffen Sie den Weg zurück allein oder soll ich Sie schieben, Helene?“

„Aber sicher schaffe ich das. Gehen Sie ruhig. Und viel Glück, Nadja!“

***

Die Erinnerungen brachten mehr als nur eine schlaflose Nacht für Helene. Sie wusste, was Stefan damals passiert war. Die Umstände zwangen sie jedoch dazu, Nadja in diesem Punkt anzulügen. Aber dass Jenny damals doch nicht abgehauen war, wie sie all die Jahre sicher geglaubt hatte, das war ein echter Schock gewesen. Und da man sie hier im Ort verscharrt hatte, dürfte der Täter vermutlich zumindest aus der Umgebung stammen.

Und dadurch ließ es sich wohl nicht ausschließen, dass tatsächlich ein Mörder in ihrer Nähe lebte, der sie genau im Auge behielt. Und der sie womöglich schon bei geringsten Zweifeln ebenfalls aus dem Weg räumen würde.

Eventuell könnte er sogar einer der Stammkunden in der Fußpflegepraxis sein, die sie betrieb. Die ideale Möglichkeit, um sie regelmäßig auszuhorchen.

Gott sei Dank wusste sie tatsächlich nichts über den Verbleib oder über die Umstände des Todes ihrer besten Freundin. So hatte sie auch nie etwas ungewollt preisgeben können. War sie nur deshalb bislang verschont geblieben?

Jedoch unter diesem Damoklesschwert in Gelassenheit weiterzuleben, dürfte schwierig werden. Ab jetzt würde sie sich dauernd vorsehen müssen, dass sie sich nicht verplapperte. Sie konnte nur darauf hoffen, dass der Mörder rasch gefunden wurde. Und ohne dass man dabei ihre eigenen dunklen Flecke aus der Vergangenheit aufstöberte.

5. Kapitel

Ein Kurier brachte die Akten, die damals zum Verschwinden des Pärchens Jennifer Hönig und Stefan Zenger angelegt worden waren in Krügers Büro. Kollege Meyer hatte sie aus dem Zentralarchiv für ihn angefordert. Zum größten Teil stammten sie aus der Feder eines Kriminalkommissars Eugen Heller, der sich lange nicht mit dem dürftigen Ergebnis zufriedengeben wollte. Er trug jahrelang alle Versuche zur Klärung und resultierende Erkenntnisse in den Berichten nach. Krüger hätte ihn natürlich gerne befragt. Jedoch war der fleißige Kollege inzwischen leider verstorben.

Krüger und Nadja verfertigten deshalb eine eigene neue Zusammenfassung der wichtigsten Daten, Aussagen und Personen. Einerseits ganz klassisch zwiebelförmig dargestellt an der Pinnwand, mit Fotos von Jenny und Stefan im Zentrum. Ergänzt durch Skizzen, Notizzettel und Verbindungslinien für jeweilige Gemeinsamkeiten oder auch abgegrenzte Blöcke für individuelle Aspekte. Die beiden waren zwar als Pärchen unterwegs gewesen, standen jedoch in keiner offiziellen Verbindung. Eine bloße Freundschaft, die sich jederzeit folgenlos auflösen ließ.

Dazu andererseits einen möglichst kompakten Text als Arbeitshypothese abzufassen, überließ Krüger "großzügig" seiner Assistentin.

Vermutete Ausgangslage und erste Erkenntnisse:

Ende Mai, das genaue Datum konnte nicht festgestellt werden, des Jahres 1974 sind Jennifer Hönig und Stefan Zenger zu ihrer lange geplanten großen Fahrt um die Welt aufgebrochen. Sie reisten mit speziell ausgerüsteten Fahrrädern, um unabhängig und möglichst nahe an der Natur zu bleiben. Die Tour sollte sie erst nach Marseille in Südfrankreich führen. Dazu hatten die beiden etwa zwei Wochen Zeit eingerechnet. Nicht bloß für die Strecke, sie planten einige Tage davon am Strand des Mittelmeeres zu verbringen.

Fixpunkt 2:

Stefan hatte eine günstige Mitfahrgelegenheit auf einem Frachter organisiert. Der sollte sie am 9. Juni 1974, einem Sonntag, in Marseille an Bord nehmen und etwa 4 Tage später im ägyptischen Hafen Port Said, am Eingang des Suezkanals absetzen. Danach wollten sich die beiden, ohne engen Zeitplan, weiter nach Süden durchschlagen.

Kommissar Heller hatte die mitgeführte Ausrüstung genau beschrieben: Zwei Fahrräder mit selbst gebauten Anhängern, die sich zu einem stabilen, von innen verriegelbaren Container zusammenfügen ließen. Eine Behausung, in der die Wertsachen und zwei Verliebte ausreichend Platz fanden. Außerdem bot sie je nach Witterung ein trockenes oder auch schattiges Plätzchen zum Ausruhen. An verschiedenen Stellen angebrachte Türspione ermöglichten einen unbemerkten Blick nach außen. Stefan wollte einen sicheren Unterschlupf für die Nächte in der Wüste dabeihaben. Ein Zelt schützte aus seiner Sicht zu wenig vor wilden Tieren oder Dieben.

Diese kaum zu verwechselnde Einrichtung war bisher nirgendwo aufgetaucht.

(Hypothese dazu in der Folge bitte beachten.)

Zeitschiene:

Es dauerte mehr als zwei Monate, bis Jennifer und Stefan von ihren Familien überhaupt vermisst wurden. Jenny hatte versprochen, aus allen größeren Städten Postkarten zu schicken oder im Notfall ein Telegramm aufzugeben. Nichts davon traf jemals bei den Eltern ein.

Deshalb wandte sich die Mutter von Jenny, Hannelore Hönig, schließlich am 12. August 1974 an die Polizei, um ihre Tochter als vermisst zu melden.

2. Teil

Vorhandene Ergebnisse und Anmerkungen der zuvor ermittelnden Beamten. Die Liste entstand anhand der vorliegenden Akten.

Kommissar Heller hatte es nach eigenen Angaben geschafft, den Frachter ausfindig zu machen und mit dem Kapitän zu sprechen. Allerdings erst im Sommer des folgenden Jahres. Diese Passage war offenbar beliebt, der Frachter verfügte über Kabinen für rund dreißig Passagiere, die im Frühsommer meistens ausgebucht waren. Darunter befanden sich regelmäßig junge Pärchen, die für wenig Geld nach Ägypten reisen wollten. Der Skipper ging davon aus, dass die beiden tatsächlich mitgefahren waren. Jedenfalls seien damals alle Plätze besetzt gewesen. Die Einreiseformalitäten wurden jeweils durch die Hafenbehörden in Port Said direkt abgewickelt, deshalb existierte keine echte Passagierliste. Daraus entstand die glaubhafte Vermutung, dass Jenny und Stefan irgendwo in der saudi-arabischen Wüste verdurstet sein dürften. Heller zitierte dazu einen Fachmann, der sich in dem fraglichen Gebiet auskannte: „Die Wanderdünen begraben rasch jegliche Ausrüstung und verhindern dadurch eine zufällige Entdeckung des letzten Lagers. Die schweren Fahrräder mit den Anhängern durch den weichen Sand bewegen zu wollen, musste eine unvorstellbare körperliche Anstrengung bedeutet haben. Die Wüste ist unerbittlich und verzeiht keinen Fehler. Immer wieder wird unerfahrenen Touristen zum Verhängnis, dass sie glauben, sich ohne Führer in diesem wasserlosen, glühend heißen Meer aus rastlosen Sandkörnern zurechtzufinden.“

Einen bemerkenswerten Zwischenfall, der noch vor der Vermisstenmeldung stattgefunden hatte, erwähnte Kommissar Heller in seinem Bericht. Ein Rentner wollte im Mathisleweiher beim heimlichen Angeln eine Leiche gesichtet haben. Heller beschrieb das Gewässer mit der ihm eigenen Akribie: „Dieser Weiher ist ein Moorsee bei Hinterzarten. Er misst rund 140m mal 200m, liegt auf 999 m über Meer und ist im Schnitt bloß etwa vier Meter tief. Der Boden ist mit dunklen Algen besetzt, was die Sicht stark behindert.“

Seine Beamten hatten jedoch erst nach der Anzeige von Jennys Mutter, die bezeichnete Stelle mit Harken und Sondierstangen gründlich abgesucht. Ohne Erfolg. Nachdem die Passage von Jenny und Stefan nach Afrika glaubhaft bestätigt war, schloss Kommissar Heller diese Suche ab. Handschriftliche Anmerkung dazu, jedoch ohne Visum: „Der Zeuge war ein allgemein bekannter Säufer aus Hinterzarten, der vermutlich sein eigenes verwahrlostes Spiegelbild im Wasser für eine Leiche gehalten hatte.“

Gez. Nadja Smolenska 3. November 2003

***

Selbstverständlich forderte Krüger bei Meyer umgehend ein Taucherteam an. Zurzeit waren die Temperaturen in Hinterzarten noch erträglich und der Mathisleweiher dürfte Reste der Rekordhitze dieses Sommers gespeichert haben. Wenn man zögerte, konnte das Gewässer jedoch rasch zufrieren, befürchtete Krüger. Schließlich lag der Weiher auf 1000 m ü. NN und die Umgebung war als Skigebiet bekannt. Meyer versicherte zwar, dass dies für seine Spezialisten keine Rolle spiele, versprach aber trotzdem, schnell zu handeln. Krüger wollte den Einsatz vor Ort selbst beobachten. Nadja spielte ja bereits die Rolle der "übereifrigen Pressetante" in der Gegend.

Am nächsten Tag war es so weit. Man hatte Krüger empfohlen, erst gegen die Mittagszeit vorbeizukommen, da die Vorbereitung doch einige Zeit benötige. Offiziell lief die Aktion als Bestandsaufnahme des Zustandes des Gewässers. Nichts wies darauf hin, dass die Froschmänner im Auftrag des BKA unterwegs waren. Der Weiher lag in einem Schutzgebiet und war nur zu Fuß oder mit einem schmalen Flurfahrzeug erreichbar. Die Männer suchten nicht nur als Taucher den Weiher ab, sondern ebenso mit einem elektrisch angetriebenen Schlauchboot.

„Das Boot verfügt über einen Glaseinsatz im Boden, wodurch man an klaren Stellen praktisch bis ganz nach unten sehen kann“, erklärte ein sichtlich stolzer Einsatzleiter. „Bloß die dunkle Schicht aus abgestorbenen Pflanzen und ins Wasser gewehtem Laub erschwert die Sicht am Ende. Kleinere Gegenstände lassen sich darin nicht mehr erkennen. Und trotz der einsamen Lage befindet sich eine ganze Menge Schrott und anderer Unrat am Grund des Weihers. Teile von Fahrrädern, Ski-und Stöcke, Angelruten, Eimer und alte Töpfe und so weiter“, erklärte er. „Trotzdem leben daneben erstaunlich viele putzmuntere Fische im Wasser.“

„Etliches stammt wohl noch aus der Zeit, als es nicht besonders ungewöhnlich gewesen war, Abfälle in Gewässern zu entsorgen“, vermutete Krüger.

Der Einsatzleiter schüttelte den Kopf. „Das sehe ich nicht so. Die Oberfläche hier friert im Winter regelmäßig zu und wird auch mit Schnee bedeckt. Das können ein bis zwei Meter werden, wenn der Wind mithilft. Beim Auftauen versinkt alles, was sich auf der Oberfläche befand. Außer den Dingen natürlich, die im Wasser schwimmen.“

Krüger zog die Brauen hoch. „Das würde dann wohl auch für eine im Winter abgelegte Leiche gelten?“

Der Einsatzleiter hob die Hände: „Vermutlich“, erwiderte er. „Aber der Anlass zur Suche stammt aus der warmen Jahreszeit oder nicht?“

„Ja ja, das ist so. War nur ein Gedanke, was möglich wäre, falls sich tatsächlich ein Skelett finden sollte.“ Krüger grinste freundlich.

„Interessante Schlussfolgerung“, brummte der Einsatzleiter. „Das werde ich mir auf jeden Fall merken.“

Krüger ging nicht darauf ein. „Ich spaziere einmal um den Teich herum“, kündigte er an. „Ist wirklich eine schöne Ecke hier. Sie haben ja bislang keinen spektakulären Fund, oder?“

„Nein, leider nicht!“