DEBORA - T. D. Amrein - E-Book

DEBORA E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

Unnatürliche Todesfälle im Umfeld von Frau Doktor DEBORA Nagel häufen sich auffallend. Kommissar Guerin aus Colmar ist davon überzeugt, dass die Blondine die zuvor mit Deboras Partnerin geflirtet hatte, nicht zufällig von einem Dach in seiner Altstadt abgestürzt und verblutet ist. Beweise hat er jedoch keine. Als kurz darauf auch Deboras Partnerin tot aufgefunden wird, scheint sich das Blatt zu wenden. Selbst wenn DEBORA extrem raffiniert ist. Gleichzeitig drei Kommissare aus drei Ländern täuschen zu wollen, das kann unmöglich klappen.

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Impressum

Die wichtigsten Protagonisten der Reihe Krügers Fälle

Haupt) Kommissar Max Krüger 48, Dienststelle Freiburg im Breisgau

Seine Lebensgefährtin Elisabeth Graßel 48

Kommissar Eric Guerin 35, Kripo (Police judiciaire) Colmar, Elsass, Frankreich

Kommissar Kaspar Gruber 45, Kripo Basel, Schweiz

Seine Lebensgefährtin Sonja Sperling

Krügers Team in Freiburg:

Michélle Steinmann 29, Krügers Liebling und vorgesehene Nachfolgerin

Kriminalrat Peter Vogel 58, Chef der Dienststelle Freiburg

Dr. Franz Holoch, Pathologe, unberechenbarer aber sympathischer Egozentriker

Erwin Rohr, Chef Spuren und sein besonders begabter Mitarbeiter Helmut Paschke

Krügers Assistenten Otto Grünwald 33 und Thomas Sieber 32

Sekretärin Susanne Trautmann 43 guter Geist des Reviers

Grubers Team in Basel:

Sein Assistent Bruno Finger, Adrian Betschart, leitender Staatsanwalt und Grubers Chef,

Pathologe in Basel Dr. Norbert Diener, Spuren Markus Känzig, Sekretariat

Kirsten Hohenauer

1. Kapitel

Deboras Zange glitt ganz sanft über die Haut, bevor sie sich in die aufgerichtete Brustwarze krallte. Ein ersticktes Stöhnen war zu vernehmen. Ungerührt wählte sie eine zwei Millimeter dicke Hohlnadel, die genau zu der Zange passte.

„Sie haben doch gesagt, es tut gar nicht weh, Frau Doktor“, quengelte der bärtige Rockertyp, nachdem sie die Nadel wieder entfernt und durch einen Stecker mit Flügelmotiv an den Enden ersetzt hatte.

„War es denn so schlimm?“, fragte Debora scheinheilig.

Er gab keine Antwort, sein hochrotes Gesicht war immer noch schmerzverzerrt.

„Bei der anderen werde ich ganz vorsichtig sein“, versprach Debora lächelnd.

Der Rocker schoss hoch. „Auf keinen Fall!“ Seine rechte Hand klatschte schützend auf die unversehrte Seite.

Debora winkte ihrer Assistentin, die schon eine Rechnung getippt hatte. Für zwei Piercings, natürlich, was dem Patienten jedoch nichts auszumachen schien. Wortlos zählte er den Betrag auf den Tisch, danach wankte er aus dem Studio. Die Tüte mit den Pflegemitteln, die ihm Carmela bereitgestellt hatte, blieb zurück.

„Darf der überhaupt Motorrad fahren, in diesem Zustand?“, erkundigte sich die Assistentin.

„Weshalb denn nicht?“, gab sie zurück. „Er steht ja nicht unter Medikation.“

Carmela zog die Brauen hoch. „Wie können Sie das mit Ihrem Gewissen vereinbaren, Frau Doktor Nagel, wenn der gleich am nächsten Baum landet?“

Debora lächelte erneut. „Ich werde höchstpersönlich einen Neuen pflanzen, falls es so weit kommt.“

Piercingstudio Dr. Debora Nagel, das musste ein Omen sein, hatte sie gedacht, als sie den Entschluss fasste. Als angestellte Zahnärztin war ihr des Öfteren an den Hintern gegriffen worden. Von den Patienten genauso, wie von den Kollegen.

Ihr Chef hatte angeboten, ihre Brüste regelmäßig auf Knoten zu untersuchen. Ohne Berechnung, wie er grinsend versprach. Debora mochte es zwar durchaus, wenn ihr Busen gestreichelt wurde. Jedoch niemals von einem Mann. Dafür war Carmela zuständig, die sie inzwischen als Assistentin angestellt hatte.

Carmela war fünfzehn Jahre jünger als sie. Zierlich, knackiger Hintern, makellose Haut, blaue Augen, die manchmal einen Stich ins Grüne zeigten. Ihr blondes Haar war echt, genauso wie die vollen Lippen.

Unzufrieden war sie nur mit ihrer Oberweite. „Für die zwei Knöpfe brauche ich keinen BH“, pflegte sie zu sagen, wenn sie darauf angesprochen wurde.

Carmela tickte nicht so strikt wie Debora, ab und zu verbrachte sie auch eine Nacht mit einem Kerl. Das hatte den Vorteil, dass es Debora, die sehr eifersüchtig war, nicht störte. Männer zählten nicht.

Das galt auch für ihr Studio. Sie verwendete weder betäubende Creme noch Eis-Spray, wenn wieder Mal einer auftauchte. Bei Frauen arbeitete sie ganz anders, die sollten sie schließlich weiterempfehlen. Als ausgebildete Ärztin beherrschte sie auch die schwierigen Eingriffe, die ein normales Studio keinesfalls anbieten konnte. Selbstverständlich mit örtlicher Betäubung, Nachsorge und was sonst notwendig werden sollte.

Die exklusive Lage, mitten in Basel, trug ebenfalls zum Erfolg bei. Debora verdiente mit halber Arbeit das Doppelte des Lohns, den sie früher gehabt hatte.

***

Zwei Tage später, wiederholte sich die Szene. Ein Rocker betrat in schweren Lederstiefeln das Studio. Ein Kollege habe sie empfohlen, erklärte er. Allerdings wollte er nur einen kleinen Nasenring haben. Über ein Brustpiercing verfügte er bereits.

„Der Kollege war zufrieden?“, fragte Debora nach. „Was hat er den erzählt?“

„Er hat mir nur die Adresse gegeben und bei Ihnen soll man bestimmt keine Infektion bekommen, das war’s“, gab er zurück.

Debora überließ ihn großzügig Carmela, die ohnehin das Handwerk lernen wollte.

Diesmal tippte sie die Rechnung. Der Mann verließ das Studio gut gelaunt. Er war äußerst zufrieden mit seinem neuen Schmuckstück.

Lange konnte er sich jedoch nicht daran erfreuen. Auf der Fahrt zurück nach Deutschland, wurde er von einem LKW-Fahrer übersehen, der seinen Kipper auf der Bundesstraße wendete.

Schon der zweite Motorradfahrer diese Woche, der ums Leben gekommen war. Zwar auf der anderen Seite des Rheins und die Umstände seines Todes waren nicht so klar. Auf gerader Strecke stand rechts eine große Reklametafel, die für ein nahegelegenes Einkaufszentrum warb. Die Skulptur, die bisher das Unterteil geschmückt hatte, war nur noch Schrott, genauso wie die Harley.

Zeugen gab es keine. Die Gendarmen vermuteten überhöhte Geschwindigkeit oder Sekundenschlaf. Keine Anzeichen für ein Fremdverschulden. Der stark verletzte Leichnam war noch nicht identifiziert. Die schwarze Lederbekleidung ließ auf einen vermutlich aus Deutschland stammenden Rocker schließen. Dafür sprach auch das deutsche Motorrad-Kennzeichen, das am Unfallort gefunden wurde. Als Halter wurde ein Motorradmechaniker festgestellt, der angeblich schon vor längerer Zeit zu einem Urlaub in Thailand aufgebrochen war. Wann genau und wo er sich aufhielt konnte jedoch nicht geklärt werden.

Deshalb landete der Fall schließlich auf Kommissar Guerins Schreibtisch.

***

Debora und Carmela verbrachten das Wochenende zusammen im Elsass. In Colmar gab es ein Hotel, wo zwei Damen zusammen übernachten konnten, ohne schräg angesehen zu werden. Schließlich war die Besitzerin vom gleichen Schlag.

Debora hatte stets ein besonderes Auge auf ihre Freundin, wenn sie dort zu Gast waren. Natürlich waren sie selten das einzige lesbische Pärchen. Debora fürchtete und genoss gleichzeitig die schmachtenden Blicke, die Carmela erntete. Besonders auf der Dachterrasse, wo man sich hüllenlos sonnen konnte. Nahtlos braun zu werden, darin bestand der formale Zweck des Aufenthalts, wie in jedem Frühling.

Für vier Uhr, das war ebenfalls üblich, hatte das Hotel einen Imbiss mit eiskaltem Champagner bereitgestellt, der jeweils im Raum unter der Dachterrasse angeboten wurde. Die Damen schlenderten deshalb um diese Zeit, eine nach der andern die Treppe hinunter, um sich zu erfrischen. Ohne Textilien. Schon nur um keine Sonnencreme auf die empfindliche Wäsche zu kleckern. Außerdem war frau ja unter sich.

Gellende Schreie vom Dach zerstörten die knisternde Atmosphäre. Carmela, als jüngste, war auch als Erste wieder oben.

Debora stand wie eine Statue am Rand der Dachterrasse und starrte nach unten. Carmela rüttelte sie am Arm. „Warum hast du geschrien?“, wollte sie wissen.

Debora schien aufzuwachen. „Sie ist runtergefallen! Ich konnte sie nicht mehr halten“, krächzte Debora mit halb erstickter Stimme.

„Was konntest du nicht mehr halten?“, fragte Carmela nach.

„Diese Frau!“

Erst jetzt registrierte Carmela, dass von unten aufgeregte Stimmen zu hören waren. Die Dachterrasse war durch einen Streifen aus Ziegeln von der Fassade getrennt, ein direkter Blick auf die Straße deshalb nicht möglich.

Carmela zog Debora weg von der Brüstung, schob sie stattdessen sanft auf einen Liegestuhl. „Bleib da, ich gehe nachsehen!“, dann stürmte sie die Treppe hinunter.

Erst vor dem Lift fiel ihr ein, dass sie nackt war. Also schnell wieder nach oben, wo ihre Kleider lagen. Sie streifte sich jedoch nur eine Hose und ein Shirt über, während sie schon wieder unterwegs war.

Vor dem Hotel hatte sich eine Reihe Menschen in einem geschlossenen Halbkreis angesammelt. Einige schluchzten, dazu gedämpftes Gemurmel.

Carmela bahnte sich einen Weg durch die Menge, bis sie schockiert stehen blieb. Die Frau, die gerade noch vor einigen Minuten mit ihr geflirtet hatte, lag blutend auf dem dunklen, groben Kopfsteinpflaster. Mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch. Der stark abgedrehte Kopf ließ das Gesicht erkennen.

Der Körper wirkte seltsam unförmig, wie auf einer Seite gepresst. Völlig reglos lag sie da, nur das Blut floss noch immer. Ihre langen blonden Haare waren an den Spitzen schon blutig verfärbt, mäandernde rote Schlieren hatten bereits den ersten Gully erreicht.

Noch nie hatte sich Carmela so hilflos gefühlt. „Hat jemand eine Decke!“, rief sie in die Menschenmenge.

Alle sahen sie nur betreten an, niemand gab eine Antwort.

Carmela lief die paar Schritte zurück ins Hotel und schnappte sich die erstbeste Tischdecke, die sie sah.

Als sie damit zurückkehrte, machten die Leute plötzlich respektvoll Platz.

„Verletzte frieren immer“, murmelte eine ältere Frau kopfnickend.

Carmela glaubte nicht, dass diese Verletzte noch fror. Sie brachte ihr wohl eher ein Leichentuch. Wenigstens aus edlem Damast, wie sie registrierte, während sie es behutsam über den Körper ausbreitete.

Trotz der schrecklichen Situation. Der weiße, schwere Stoff mit dem farblosen Muster, verlieh dem Ganzen eine gewisse Würde. Einige der Umstehenden falteten die Hände, ein immer deutlicher werdendes Vaterunser erklang. Bis es von der Sirene eines heranpreschenden blau-weißen Streifenwagens zerrissen wurde.

***

Kommissar Eric Guerin hatte den Grill im Garten seiner Wohnung gerade angeheizt, Michélle würzte die Steaks, als das Telefon klingelte. „Merde!“, entfuhr Guerin. Michélle runzelte vorwurfsvoll die Brauen.

„Tut mir leid, mon Chérie“, brummte Guerin, „aber ich höre schon am Klang der Klingel, das ich gleich gehen muss.“

Er hörte eine Weile zu, dann folgte ein gedehntes, „ja, klar komme ich vorbei, bis gleich.“

„Soll ich mit dem Essen warten?“, fragte Michélle.

„Ich befürchte, das hat wenig Sinn“, gab er zurück.

„Todesfall?“, fragte Michélle zurück.

Er nickte. Dann hellte sich seine Miene etwas auf. „Du könntest eigentlich mitkommen. Es ist nur ein kurzes Stück, wir können zu Fuß gehen. Wenn wir Glück haben, reicht es dazwischen für ein kleines Abendessen.“

„Dann müsste ich mich umziehen.“

„Ich doch auch“, gab er zurück.

Guerin hatte alle Lebensmittel in den Kühlschrank verfrachtet, bis Michélle ebenfalls fertig war.

Er musterte sie betont auffällig: Sie trug eine weiße Bluse zu einem kurzen, schwarzen Bleistiftrock. Dazu die Strümpfe mit Naht, die er ihr gekauft hatte, trotz der hohen Temperatur. Die Strumpfhalter zeichneten sich unter dem engen Rock deutlich ab. Dazu die neuen, hellen Pumps, mit den höchsten Absätzen, die Michélle je besessen hatte. Natürlich trug sie auch die nur für ihn, sie hätte flache Schuhe vorgezogen. Aber wenn er die so toll fand?

„Oh, la, la, Madame! Sie sehen zum Anbeißen aus“, sagte er schließlich, nachdem sie sich noch einmal umgedreht hatte.

„Untersteh dich!“, gab sie zurück. „Wenn wir essen, dann im Restaurant!“

Auf dem Weg erzählte er ihr, was er bereits wusste, damit sie sich auf die Situation vorbereiten konnte, die sie erwartete.

Guerin wurde von den Gendarmen sehr respektvoll begrüßt, fiel Michélle auf. Er stellte sie bloß als Madame Steinmann vor, ohne weitere Erklärung.

Den Respekt zollten sie ihm allerdings nicht nur für seine legendären Fahndungserfolge, wie Michélle dachte. Guerin stand überdies im Ruf, stets die elegantesten Weiber um sich zu scharen. Was er an diesem Abend wieder einmal, unter Beweis stellte.

„Würdest du bitte hier warten!“, bat er sie, „ich sehe mir die Tote näher an.“

Sie nickte nur, um ihn nicht bloßzustellen.

Guerin verschwand im Schutzzelt, das aufgebaut worden war. Einige Techniker und Claude, sein alter Freund und Pathologe, alle in weißer Schutzkleidung, waren anwesend.

Als Begrüßung musste ein Augenzwinkern ausreichen, um selbst keine Spuren zu hinterlassen.

Guerin streifte sich Handschuhe über, bevor er sich dem Opfer näherte. Eigentlich hätte er sich das auch sparen können, dachte er, als er sie betrachtete. Die Tote war nicht nur völlig unbekleidet, sie trug auch weder Schmuck noch Make-up.

Unnatürlich wirkte jedoch der Glanz auf den unverletzten Teilen der Haut. Sie schien, frisch eingefettet zu sein.

Guerin zog sich in den Vorraum zurück und wartete auf Claude.

„Was kannst du mir schon sagen?“, fragte er, als der Pathologe erschien. „Ist sie nur gefallen oder hat sie auch andere Verletzungen?“

„Auf den ersten Blick, nicht“, war die Antwort, „aber du weißt ja, dass ich ohne genaue Untersuchung…“

Guerin winkte ab.

„Auf jeden Fall war sie sofort tot. Der Schädel ist völlig zertrümmert, Genick und Wirbelsäule sind mehrfach gebrochen“, führte Claude weiter aus. „Man kann von Glück sprechen, dass sie niemanden getroffen hat. Einigen Touristen ist sie direkt vor die Füße gefallen.“

„Woher kommt der Glanz?“, wollte Guerin wissen.

„Sonnencreme.“

„Ach so, Sonnenbad auf dem Dach…?“

„Sieht ganz so aus“, bestätigte Claude.

„Wovon haben sie dich weggeholt?“, fragte Guerin nach.

„Fußball-Übertragung. Und du?“

„Romantischer Abend.“

„Hast du sie allein gelassen?“

„Nein, mitgenommen, sie steht da draußen.“

Guerin zog die Zeltplane ein Stückchen nach unten. „Du kennst sie ja schon.“

Claude nickte. „Inzwischen ist sie noch mehr aufgeblüht. Wie du das immer machst?“, stellte Claude nach einem kurzen Blick fest.

„Das muss an meinen Genen liegen“, scherzte Guerin.

„Das kannst du ruhig ausschließen!“ Claude grinste. „Du bist einfach ein Glückspilz oder ein Sonntagskind, das sind die richtigen Kriterien.“

***

Guerins Assistent, Marcel Morier, hatte schon einige Fakten zusammengetragen, die er ihm nun vortrug. „Also, das Opfer, sie ist im Hotel angemeldet, hier ihr Reisepass, heißt Martina Werthemann. Ihre Adresse, Paracelsusweg 141, Freiburg im Breisgau, Beruf Rechtsanwältin, geboren 23.11. 1940. Familienstand ledig.

Die wichtigsten Zeuginnen: Frau Dr. med. dent. Debora Nagel, wohnhaft in Basel, an der Hebelstraße 421, sowie ihre Assistentin, Carmela Leu, die Adresse ist dieselbe. Die anderen Damen haben nichts beobachtet, sie befanden sich zurzeit des Vorfalls nicht auf dem Dach.“

„Danke Marcel. Hast du auch schon eine Aussage darüber, was vorgefallen ist?“, fragte Guerin nach.

„Ja, Frau Nagel hat angegeben, dass Frau Werthemann plötzlich in Panik geraten ist, um sich geschlagen hat und danach über die Brüstung geklettert ist.

Frau Nagel hat noch versucht, sie festzuhalten. Jedoch ist ihr der Arm der Frau entglitten, infolge der Sonnencreme, wie sie erklärt hat. Ich habe übrigens nachgesehen, es befindet sich ein Wespennest in der Ecke, wo es passiert sein soll. Ihre Aussage scheint mir absolut glaubhaft zu sein“, fügte er noch an.

„Und diese Assistentin, die war dabei?“, fragte Guerin nach.

„Nein, dabei war sonst niemand, sie war nur die Erste, die das Dach erreicht hat, nachdem die Schreie gehört wurden.

Sie hat sich danach um das Opfer gekümmert, die anderen Damen blieben bei Frau Nagel.“

„Schade“, seufzte Guerin. „Also können wir es nicht gleich als Unfall einstufen. Informieren sie bitte Doktor Roulin, damit er auf eventuelle Wespenstiche achten kann. Ich werde noch mit den beiden Zeuginnen sprechen.“

Marcel nickte. „Bis später, Herr Kommissar.“

Guerin bat Michélle, ihm Protokoll zu führen, damit sie nicht mehr alleine herumsitzen musste. Und außerdem, da das Opfer aus Freiburg stammte, konnte sie schon erste Informationen sammeln, inoffiziell natürlich, sie würden später einen Weg finden, das zu legalisieren, falls nötig.

Frau Doktor Nagel hatte sich inzwischen gefasst. Neugierig musterte sie Guerin und seine „Protokollführerin“, als sie von Morier in den improvisierten Vernehmungsraum, eigentlich das Frühstückszimmer des Hotels, geführt wurde.

Auf die Fragen Guerins wiederholte sie praktisch Wort für Wort die Aussage, die der Kommissar schon von Marcel erhalten hatte.

„Madame!“, fragte Guerin nach, „haben Sie eine Ahnung, was die Panik bei Frau Werthemann ausgelöst haben könnte?“

„Frau Werthemann“, wiederholte Debora. „Ihren Namen kannte ich bisher nicht. Und nein, ich habe keine Erklärung, ich bin bloß Zahnärztin, keine Psychologin.“

Guerin seufzte leise. „Madame, ich wollte auch keine ärztliche Diagnose nachfragen. Sondern, sagen wir mal einfach so, ohne Fachkenntnisse: Was ging Ihnen den durch den Kopf, in diesem Moment?“

„Mein erster Gedanke, meinen Sie?“

„Ja, Madame, so könnte man sagen.“

„Die spinnt völlig, das habe ich gedacht, auch wenn das jetzt ziemlich herzlos klingt.“

„Haben Sie vielleicht auf dem Dach die Anwesenheit von Wespen bemerkt, Madame?“, fragte Guerin nach, ohne auf ihre Antwort einzugehen.

Sie zog die Augenbrauen hoch, „Wespen? Ja es kann sein, dass um die Früchte einige herumgeschwirrt sind.“

Dann begriff sie den Sinn der Frage. „Ach so, Sie denken, dass sie Angst vor Wespen hatte, und deshalb die Panik…

Ja, jetzt wo Sie es sagen, das wäre durchaus möglich.“

„Danke Madame, das war im Moment alles. Wenn Sie dann,“ er blätterte in seinen Unterlagen, „bitte Frau Leu, zu mir schicken würden, das wäre sehr nett!“

„Was wollen Sie denn von Carmela? Die war ja gar nicht dabei!“, zischte sie.

Jetzt zog Guerin die Brauen hoch, „Frau Leu kennen Sie also, Madame?“

„Sie ist schließlich meine Lebenspartnerin, Herr Kommissar, auch wenn Ihnen das womöglich nicht gefällt!“, antwortete sie, immer noch ziemlich gereizt.

Guerin blieb ganz ruhig. „Ich bitte Sie, Madame, ich achte selbstverständlich jedermanns Auffassung. Wenn Sie dann also bitte Ihre Lebenspartnerin zu mir bitten könnten.“

Debora beschränkte sich auf einen giftigen Blick, bevor sie aufstand. Guerin wartete, bis sie fast an der Tür war, bevor er seine letzte Frage stellte. „Einen Moment noch, Madame!“

Sie drehte sich abrupt um. „Was ist denn noch?“

„Kennen Sie von den anderen Gästen auch noch jemand näher?“, wollte er wissen.

„Ja, wir kennen uns seit Jahren, wir treffen uns immer im Frühling hier, um uns zu sonnen. Nur diese Frau… Wettermann, war neu, niemand hat sie gekannt.“

„Werthemann, Madame.“

„Ja, dann eben, Werthemann. Die anderen sind übrigens auch Pärchen, nur damit Sie nicht fragen müssen, Herr Kommissar!“, schnauzte sie ihn grob an.

Carmela machte dagegen einen traurigen Eindruck, schüchtern trat sie ein. Guerin schonte sie, soweit möglich, las ihr nur die Notizen von Marcel vor, und fragte dann, ob sie noch etwas hinzufügen möchte. „Die arme Frau“, sagte sie nur. „Und ich konnte gar nichts mehr helfen.“

Auf die Frage nach den Wespen schüttelte sie nur den Kopf.

Entgegen seiner ersten Absicht, ließ Guerin auch die beiden Pärchen, Erika und Lotti, sowie Anna und Kerstin rufen.

Sie erklärten übereinstimmend, dass die „Neue“ offenbar Carmela schöne Augen gemacht hatte. Von Wespen wollten sie jedoch ebenfalls nichts bemerkt haben.

„Schluss für heute, mon Cherié“, sagte Guerin schließlich, als die Zeuginnen gegangen waren. „Jetzt gehen wir schön essen, und dann gleich ins Bett.“

„Ich bin noch nicht so sehr, müde“, antwortete Michélle lächelnd.

„An Schlafen hatte ich eigentlich nicht gedacht“, antwortete Guerin.

„Gibt es hier denn kein Tanzlokal oder so was Ähnliches?“, fragte Michélle zurück.

„Natürlich gibt es das, aber ich bin ein lausiger Tänzer“, antwortete Guerin leicht verlegen.

„Dann musst du dringend üben“, stellte sie fest. „Ich gebe dir dann heute Abend gleich die erste Stunde!“

„Schwachstelle gefunden und sofort darin herumstochern, so seid ihr Frauen“, seufzte Guerin.

„Ja, wenn du nicht möchtest?“

„Doch natürlich, ich würde es gerne lernen, ich hatte nur bisher wenig Gelegenheit. Und vermutlich werde ich dir dabei ab und zu auf deine hübschen Füßchen treten.“

„Da bist du keineswegs der Einzige, der das auch schon versucht hat“, antwortete sie schelmisch. „Mach dir deswegen um mich keine Sorgen.“

Während des Essens fiel Guerin plötzlich ein, woher er den Namen der ersten Zeugin kannte. Der unbekannte tote Motorradfahrer hatte eine Rechnung von einem oder einer namens Nagel in der Tasche gehabt. Allerdings nicht von einem Zahnarzt, da war er sich sicher.

Um die Stimmung nicht zu stören, ließ er sich nichts anmerken. Das konnte bis Montag warten.

2. Kapitel

Samstag-Nachmittag in Hausen im Wiesental. Matthias Brändle gönnte sich ein Bier. Schließlich hatte er gerade die letzte Schubkarre geleert, die in der Wechselmulde vor dem Haus noch Platz fand.

Monate hatte es gedauert, bis er mit dem Aushub für die Erweiterung des Hauses beginnen konnte. Die Baugenehmigung hatte er im Wohnzimmer, eingerahmt, aufgehängt.

Hinter dem Haus, das seine Eltern kurz nach dem Krieg gekauft hatten, lag ein sehr steiler Abhang mit einer dünnen Humusschicht auf dem rötlichen Sandstein, der sich weiter oben, ab und zu zeigte.

Nur deshalb hatte er die Behörden schließlich überzeugen können, dass keinerlei Rutschgefahr bestand.

Matthias war in diesem Haus aufgewachsen. Soweit seine Erinnerung zurückreichte, hinter dem Haus wucherte schon immer diese absolut undurchdringliche Brombeerhecke. Die hatte ihn die letzten zwei Samstage beschäftigt. Seine Frau hatte ihn die ganze Zeit damit geneckt, dass er dahinter wohl ein Dornröschen vermutete.

Ganz zu Ende war der Kampf noch nicht, die Wurzeln der Brombeeren würden ihn noch eine Menge Schweiß kosten. Für eine Baumaschine reichte der Platz einfach nicht aus.

Matthias rechnete damit, dass er auch noch ein Stück Sandstein von Hand abbrechen musste. Jedoch solange er das selbst machte, kostete es schließlich auch nicht viel.

Mit frischer Kraft griff er nach dem Pickel. Es zeigte sich, dass er an den Seiten des Ausbruches, bald auf Stein stieß. Jedoch in der Mitte drang das Werkzeug leicht bis zum Stiel ein. Also begann er dort, die Erde herunterzukratzen. Die herabhängenden Wurzeln bildeten praktisch einen Vorhang, hinter dem er immer weiter eindringen konnte.

Bis am Abend hatte er so viel Erde gelöst, dass es für eine weitere Wechselmulde ausreichen würde. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Wenn man so davorstand, sah es wie ein Höhleneingang aus, ging ihm durch den Kopf.

Nach dem Abendessen, die Sache ließ ihm keine Ruhe, obschon er hundemüde war, versuchte er mit einer langen, dünnen Eisenstange, die Tiefe bis zum Fels zu messen. Die Stange fand kaum Widerstand, sie ließ sich einfach immer weiter einschieben bis zu ihrem Ende. Hinter der Erde musste sich ein Hohlraum oder nur noch ganz lockeres Material befinden.

Trotz der Spannung, heute konnte er nicht mehr weitermachen. Gähnend schlurfte er ins Haus zurück. Dornröschen würde bis Montagabend warten müssen.

***

Am Montagabend, Matthias hatte etwas früher Feierabend gemacht, räumte er erst die gelockerte Erde weg, bis ihn ein Gewitter zwang, die Arbeit zu unterbrechen.

Am Dienstagabend war es dann endlich so weit. Schaufel für Schaufel aus der lockeren Mitte landete auf einem Haufen zwischen dem Haus und dem Abhang. Die Neugier verlieh ihm eine Ausdauer, die ihn selbst erstaunte. Die Erde rutschte stets von oben nach, bis sich plötzlich eine Rundung abzeichnete.

Ein Gewölbe aus Sandstein. Das war trotz der schwarzen Schicht, deutlich zu erkennen. War es möglicherweise eine Art Dorfbackofen gewesen, ging Matthias durch den Kopf.

Enttäuschung machte sich breit, was sollte in einem alten Ofen schon zu finden sein? Er hatte insgeheim doch auf einen veritablen Schatz gehofft.

Oder zumindest auf verborgene Räume, die seine Nutzfläche zum Beispiel um einen Weinkeller, in dem man auch Partys mit Freunden feiern konnte, erweitert hätten. Nur gut, dass er Margarethe noch nichts davon gesagt hatte. Er wusste, dass sie es nicht böse meinte, aber es traf ihn trotzdem jedes Mal, wenn sie ihn, ob seiner blühenden Fantasie auslachte.

Schluss für heute! Außerdem wollte er zuerst den nervigen Vorhang aus diesen Wurzeln weghaben, die ihm dauernd im Weg hingen. Dazu musste er sich jedoch irgendwo eine Leiter borgen. Und eine kräftige Maschine mit flachem Spitzmeißel besorgen, um dem Wurzelwerk gründlich zu Leibe zu rücken…

Bis Freitag hatte er immerhin die Leiter organisiert, dabei war es jedoch geblieben.

Jetzt, am Samstag, hieb er mit einer alten Axt die Wurzeln, die ihn so lange geärgert hatten, aus den Ritzen. Schlag für Schlag legte er den Sandstein bis auf gute zwei Meter Höhe völlig frei. Mühsam war es schon. Die Axt wurde rasch stumpf, die Leiter half zwar, aufzusteigen, stand jedoch gleichzeitig auch im Weg.

Trotzdem, bis zum Mittagessen war der Sandstein oben sauber, unten war ein respektabler Wall entstanden. Am Nachmittag würde er eine weitere Mulde mit Erde, Sandsteinstücken und Wurzeln, füllen können.

Für den Rest und den Inhalt des "Ofens", würde er noch eine Letzte brauchen, dann waren die Erdarbeiten endlich beendet, schätzte er.

Die Rückwand des neuen Anbaus, eine Mauer aus Zementsteinen, würde auf dem Sandstein guten Halt finden. Zuvor galt es jedoch, eine Entwässerungsrinne in den Stein zu schlagen. Die nächste Knochenarbeit, die auf ihn wartete.

Kurz nach drei, die Mulde war gefüllt, ein Bier getrunken, machte er mit dem Ausschaufeln des Ofens weiter. Schnell wurde die Öffnung oben größer, das Gewölbe schien doch einige Meter in den Fels zu reichen. Außerdem zeigte sich, dass das Loch nicht einfach mit Erde gefüllt war, sondern eher nur an der Außenseite zugeschüttet.

Matthias stellte die geborgte Leiter noch einmal auf, um besser einen Blick ins Innere werfen zu können. Viel war nicht zu sehen, ein dunkles Loch. Matthias warf einen Stein in die Öffnung, deutlich hörte er ein Glas klirren.

Also wohl doch ein Keller.

Mit einer Taschenlampe bewaffnet stieg er abermals auf die Leiter. Jetzt wollte er es genau wissen.

Der Raum maß sicher vier mal vier Meter, stellte er fest. Viel war zwar nicht zu erkennen, an der Rückwand standen Regale, die unter einer dicken Staubschicht lagen. Matthias war trotzdem begeistert. Ein Felsenkeller. Was konnte man da alles aufbewahren. Käse, Bier, Wein und zur Not, auch noch Kartoffeln.

Mit neuer Kraft grub er weiter. So schnell wie möglich wollte er in den Raum.

Er brauchte nur genug Platz, um oben durchzukriechen, den Rest der Erde konnte er später noch wegräumen.

Mit den Füssen voran, ließ er sich auf der Rückseite des Erdhügels hinunter gleiten. Sofort war er völlig verdreckt, aber das spielte im Moment überhaupt keine Rolle.

Natürlich hatte er Staub aufgewirbelt, zu sehen war trotz der Lampe nur noch wenig. Tastend suchte er den Boden ab, bekam etwas zu fassen, das sich wie ein Besenstiel anfühlte. Er hob es auf, um es genauer zu betrachten.

Das Ding war nicht ganz rund, am oberen Ende war eine deutliche Verdickung zu erkennen. Matthias ließ es entsetzt fallen, als er das "Ding" erkannte. Ein Oberschenkelknochen. Vermutlich war es der einzige Knochen, den er sicher einem Menschen zuordnen konnte. Und ausgerechnet den musste er erwischen, ging ihn durch den Kopf, als er schon wieder draußen war.

Margarethe machte große Augen, als sie ihn sitzen sah, „wie siehst du den aus, hat es dich verschüttet?“, wollte sie wissen.

Das einzig Erkennbare in seinem Gesicht waren die Augen, der Rest war gleichmäßig schwarz. Immerhin konnte sie deshalb nicht sehen, wie blass er war.

Er schüttelte den Kopf, „ich war da drin, deshalb.“

„Das wasche ich nicht mehr, das kannst du gleich wegschmeißen!“, schnaubte sie, „und komm ja nicht so in die Wohnung, sonst kannst du etwas erleben!“

Sie machte auf dem Absatz kehrt, laut schimpfend ging sie zurück ins Haus.

Matthias war noch nicht klar, was er tun sollte. Das Loch einfach mit Brettern verschließen, wäre vermutlich das Beste. Aber die Sache würde ihm niemals Ruhe lassen. Vielleicht waren die Knochen schon hunderte Jahre alt, dann wäre es nicht so schlimm.

Schnell verwarf er den Gedanken wieder, die Regale hatten nicht so ausgesehen, als ob sie aus der Steinzeit stammten.

Eine offizielle Grabkammer konnte es auch nicht sein, dann hätte man davon gewusst. Er musste die Polizei verständigen und Margarethe davon erzählen. Dass sie keine Gräber mochte, das wusste er.

Wie sie damit fertig werden würde, dass sie nur wenige Meter von einer Leiche entfernt, jahrelang gewohnt und geschlafen hatte, das würde sich bald zeigen, dachte er.

Brav zog er sich bis auf die Unterhose aus, bevor er die Wohnung betrat. Sie ging ihm sofort aus dem Weg, jedoch sein eigener Anblick im Badezimmerspiegel ließ ihn für einen Moment die Sache vergessen. Frisch geduscht und einigermaßen gefasst schlenderte er zu ihr in die Küche.

Als sie sich schnell aus dem Raum stehlen wollte, packte er sie an den Handgelenken. „Schluss mit dem Theater! Ich muss mit dir reden.“

„Ach ja, über was denn?“, wollte sie wissen.

„Da draußen“, er wies mit der Hand in die Richtung, „habe ich einen alten Keller entdeckt.“

Jetzt hörte sie schon aufmerksamer zu.

„Das ist aber noch nicht alles“, sanft schob er sie auf einen Küchenstuhl, „ich habe einen Knochen gefunden.“

„Einen Knochen“, wiederholte sie.

„Ja, aber nicht irgendeinen, einen Oberschenkelknochen. Da drin liegt eine Leiche!“

Sie brauchte einige Sekunden, um zu verstehen. „Bist du sicher?“, presste sie schließlich hervor.

„Ich fürchte, ja“, gab er zurück.

„Dann musst du die Polizei rufen!“

„Ja, gleich, ich wollte es nur dir, zuerst sagen.“

„Entschuldige wegen der Wäsche! Ich hatte schon schlechte Laune, das war aber nicht wegen dir. Karin hat vorher ins Bad gekotzt, ich war gerade fertig mit dem Putzen.“

„Schon in Ordnung, mach dir keine Sorgen.“

Matthias hatte schon ein Kabel gezogen und seinen Halogenscheinwerfer installiert, bis zwei Beamte eintrafen, die von Margarethe zur Baustelle geführt wurden.

Der Knochen war deutlich zu erkennen, und wenn man wusste, wonach man suchte, konnte man auch den Rest des Skelettes im Staub erkennen.

„Ja, das sind eindeutig menschliche Knochen“, bestätigte der Jüngere der beiden, der als erster auf die Leiter gestiegen war. „Die dürften allerdings schon eine ganze Weile daliegen“, fügte er noch an.

„Mindestens seit 1948“, bestätigte Matthias, „in diesem Jahr hat mein Vater das Haus gekauft.“

„Der Keller war nicht bekannt“, fragte der ältere Beamte.

Matthias schüttelte den Kopf, „ganz bestimmt nicht!“

Der Beamte wandte sich an seinen Kollegen. „Was meinst du, es ist Wochenende? Auf ein oder zwei Tage mehr, kommt es jetzt auch nicht mehr an.“

„Denke ich auch. Außerdem ist die Fundstelle gut geschützt. Sie lassen einfach bis Montag niemanden an die Stelle, Herr Brändle. Und am besten behalten Sie das Ganze für sich!“

Matthias nickte.

„Wer weiß bis jetzt davon?“, fragte der Ältere nach.

„Nur ich und meine Frau“, erwiderte Matthias.

„Haben sie Kinder?“

„Ja.“

„Die haben noch nichts mitbekommen?“

„Nein, aber wenn sie den Streifenwagen gesehen haben, werden sie und die Nachbarn natürlich Fragen stellen“, antwortete Matthias.

„Sagen Sie einfach, wir suchen nach einem angefahrenen Reh“, antwortete der Beamte. „Das fällt nicht auf.“

„Wenn Sie meinen.“

„Am Montag kommen dann allerdings schon eine ganze Menge Leute, nur dass Sie sich darüber klar sind, Herr Brändle.“

„Am Montag muss ich arbeiten“, antwortete er.

„Zumindest am Morgen sollten Sie anwesend sein, sonst riskieren Sie, dass man Sie abholt“, mahnte der Beamte.

Matthias gab sich geschlagen. „Gut, ich bleibe hier.“

„Und verändern Sie bitte, nichts mehr!“

„Ich habe versprochen, die Leiter bis Sonntag zurückzubringen“, wand sich Matthias.

„Das ist möglicherweise gar nicht schlecht“, sagte der jüngere Beamte. „Dann kommt auch keiner auf die Idee, da rauf zu steigen. Am besten bringen Sie, sie heute noch.“

Matthias versprach es, die Beamten verabschiedeten sich, dann war Margarethe auch schon mit dem Abendessen fertig.

Als Matthias später, mit der Leiter auf der Schulter, die Straße hinabging, waren auffallend viele Nachbarn in den Gärten oder auf ihren Balkonen, die ihn beobachteten. Bald sprach ihn die Erste an. „Was hat denn die Polizei bei Ihnen gemacht?“, wollte sie wissen.

Matthias erklärte, wie geheißen, dass sie nach einem geflohenen, angefahrenen Reh suchten.

Das Interesse verflog sehr schnell, schon nach kurzem Getuschel, war fast niemand mehr zu sehen.

Nur einer der Nachbarn, er war nicht draußen gewesen, stützte nachdenklich den Kopf in die Hände. Jetzt war es wohl so weit. Der Tag, vor dem er sich seit bald fünfzig Jahren fürchtete, war heute gekommen.

***

Kommissar Krüger gönnte sich an diesem Freitag etwas früher Feierabend, um seine Partnerin, Elisabeth Graßel, von der Arbeit abzuholen. Zu Fuß. Er liebte es, mit ihr, Hand in Hand, durch Freiburg zu schlendern.

Etwas mehr als ein Jahr wohnten sie jetzt zusammen. Sie hatte seine Vorstellung von Frauen völlig verändert, ließ sich nicht einordnen und verlangte ihm viel ab. Trotzdem war Krüger noch nie so glücklich in einer Beziehung gewesen. Egal, was sie wollte, sie war es ihm wert.

Meistens bat er sie unterwegs in ein Café, denn dort hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit. Zu Hause blieb sie kaum länger als ein paar Minuten sitzen, immer war noch etwas zu tun, dass sie nicht lassen konnte.

Vor der Stadtbibliothek, wo sie arbeitete, wartete er geduldig, bis sie erschien.

Zusammen mit einer Kollegin, eifrig im Gespräch, trat sie vor den Eingang, zwinkerte ihm zu, während die Kollegin ohne Pause weitersprach.

Krüger winkte lässig zurück, dann blieben seine Augen an ihrer Begleiterin hängen. Eine auffallend schöne Frau, mit langen, gekräuselten roten Haaren.

Sein Blick fiel auf ihre, ebenfalls roten Pumps, dann folgten die sehr langen Beine, die unter einem kurzen, weißen Rock endeten. Weil die Damen einen guten Meter über ihm, oben auf der Steintreppe standen, ließ sich erkennen, dass auch ihr Höschen, farblich zu Schuhen und Haaren passte.

Eine äußerst peinliche Situation. Was sollte er tun? Deutlich wegschauen wäre genauso unhöflich, wie sie anstarren.

Wenn er geraucht hätte, dann könnte er sich abwenden und eine Zigarette anzünden, ging ihm durch den Kopf. Ein Taschentuch, um sich umständlich die Nase zu putzen, hatte er auch nicht dabei.

Schuhe binden, fiel ihm ein. Er ging in die Hocke und nestelte an seinen Schuhen herum. Zwischenzeitlich warf er einen Blick nach oben in der Hoffnung, das sich die Sache von selbst erledigte. Eines war klar. Wenn jetzt jemand zusah, dann würde der oder die denken, dass er das Schuhe binden nur vortäuschte, um noch besser hinsehen zu können. Dass es Elisabeth nicht so empfand, konnte er nur hoffen.

Zum Glück drehte sich die Sirene kurz darauf auf dem Absatz um und verschwand wieder im Gebäude. Elisabeth stieg zu ihm herab. „Du holst mich ab, wie nett von dir.“

Krüger versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Ich konnte ja nicht wissen, dass du noch etwas mit einer Kollegin besprechen wolltest. Hattet ihr noch etwas vor?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das war nur eine Praktikantin, die noch etwas fragen wollte.“

Sie sah ihn an, „eine schöne Frau, nicht wahr?“

Krüger spürte, dass er rot wurde. „Ja, nicht schlecht, aber so genau habe ich nicht hingesehen“, schwindelte er.

„Doch sie ist eine wirkliche Schönheit“, beharrte sie, „die gefällt allen. Diese Haare, zweiundzwanzig Jahre alt, Pfirsichhaut und dazu ist sie auch noch klug. Fast zu viel des Guten.“

Krüger bot ihr den Arm, zog sie mit. „Was hast du denn heute gemacht?“, fragte er, auch, um vom Thema wegzukommen.

„Monique, die von eben, hat mich den ganzen Tag begleitet“, antwortete sie. „Monique ist richtiggehend in Bücher verliebt, es macht Spaß, ihr beim Stöbern zuzusehen. Sonst war alles wie immer. Und bei dir?“

Krüger hatte schon wieder ein Bild vor Augen, Monique auf der Leiter. Trotzdem antwortete er gleichmütig. „War ein lockerer Tag, nichts Besonderes. Deshalb konnte ich ja auch so früh Feierabend machen.“

Am ersten Café schlenderten sie noch vorbei, Krüger hoffte insgeheim, dass sie direkt nach Hause gehen würden, um das Gespräch nicht wieder auf die Praktikantin kommen zu lassen.

Beim zweiten erhielt er einen Stups in die Rippen, „da war doch ein sehr guter Kaffee, letztes Mal, wir wollten doch wiederkommen.“

Schon musste Krüger wieder schwindeln, „ja, ja, da wollte ich auch hin, ich bin nur in Gedanken fast daran vorbei gegangen.“

„Was beschäftigt dich denn“, wollte sie wissen, nachdem sie Platz genommen hatten.

Schon saß Krüger wieder in der Falle, was sollte er antworten. Am besten Flucht nach vorn, er wollte sie nicht anlügen. Ein wenig Schwindel um des lieben Friedens willen, war noch vertretbar, aber so richtig bewusst lügen, das würde sich irgendwann rächen.

„Ja, weißt du, die Situation vorhin, das beschäftigt mich“, gab er zu.

„Die Situation“, wiederholte sie. „Welche denn?“

„Ja, du und diese Praktikantin auf der Treppe, ich weiß wirklich nicht, wie ich in so einem Fall, ich meine, wie ich reagieren soll, hinsehen oder nicht?“, versuchte er zu erklären.

„Weshalb solltest du nicht hinsehen?“, fragte sie zurück.

„Also entschuldige“, begehrte Krüger auf. „Dass ihr Frauen das nicht mögt, wenn der Partner einer anderen nachschaut, das ist schon ein Fakt, auch wenn ihr es nicht immer zugebt.“

„Nachschauen ist etwas anderes“, erklärte sie. „Aber hinsehen, darfst du schon.“

Er lachte kurz auf. „Und worin genau, besteht der Unterschied?“

„Sobald du zu flirten anfängst, dann ist es nicht mehr in Ordnung“, erklärte sie ernsthaft.

„Ach so“, gab er zurück. „Dann ist ja alles klar.“

„Ja, ist doch ganz einfach.“

„Ja, genauso einfach, wie vier Elefanten im Käfer. Zwei vorne und zwei hinten, das war’s“, antwortete er verschmitzt.

Sie machte große Augen.

„Sag nicht, den kennst du nicht?“, fragte er nach.

„Noch nie gehört“, behauptete sie.

„Der ist älter als ich“, brummte er.

„Worum geht’s denn bei diesen Elefanten, wie man sie zusammenbringt?“

„Du treibst wieder einen deiner Späße mit mir“, mutmaßte er.

„Nein!“

„Also bitte, Schatz, ich versuche endlich einmal herauszufinden, wie ein Mann sich verhalten soll, wenn zwei, oder noch schlimmer, mehrere Frauen anwesend sind, und du nimmst mich auf den Arm.“

„Das beschäftigt dich also. Du möchtest nichts falsch machen, wenn ich dich richtig verstehe?“

„Schön“, brummte Krüger. „Wir machen Fortschritte.“

„Geht es jetzt im Besonderen um Monique?“, wollte sie wissen.

„Ja, könnte man sagen. Ich wäre allerdings auch um eine allgemeingültige Version, froh“, erklärte er grinsend.

„Mit Monique hast du ja nicht geflirtet, also alles in Ordnung.

Im Allgemeinen, also, eigentlich, ja, du musst schon die Situation berücksichtigen. Die Laune, die gerade vorherrscht. Ist sie in festen Händen, mag ich sie oder nicht, das spielt alles eine Rolle“, antwortete sie.

„Wichtig ist dabei noch, ist sie dein Typ oder nicht, schaust du nur oder ziehst du sie mit den Augen aus, wirst nervös, verhältst du dich anders als sonst“, zählte sie auf.

Krüger nickte ergeben, „also war ich schon auf der richtigen Spur, es liegt gar nicht an mir, ihr macht da einfach mit uns, was ihr wollt“, stellte er fest.

„Es gibt natürlich solche Frauen“, behauptete sie, „denen es nur darum geht, den Partner ins Unrecht zu setzen, egal ob er etwas gemacht hat oder nicht.“

Krüger nickte eifrig, „kenne ich.“

„Ja siehst du, wie du Glück hast, dass ich nicht so eine bin. Mit so einer Hexe zu leben muss schwierig sein, das kann ich mir vorstellen“, stellte sie fest.

„Ja, das muss höllisch sein“, antwortete er grinsend.

„Und siehst du, wir können über so etwas ganz normal sprechen. Es ist schon sehr wichtig, dass der andere weiß, was geht und was nicht, findest du nicht auch?“

„Doch, doch“, bestätigte er, „da hast du recht.“

„Jetzt habe ich das Gefühl, dass du mich nicht ganz ernst nimmst“, fragte sie lauernd.

„Nein, so meine ich das nicht“, besänftigte er. „Ich habe gefragt und du hast geantwortet, ein Stück weit sehe ich klarer, aber so ganz verstanden habe ich, vermutlich noch nicht.“

„Soll ich es noch vertiefen“, fragte sie, fast schon an eine Therapeutin erinnernd.

„Für heute ist es gut“, wehrte er ab. „Es war ja auch nur wegen deiner schönen Kollegin.“

„Du hast sie also doch angesehen“, stellte sie, messerscharf, fest.

Er hob den Zeigefinger, „aber ohne zu flirten.“

„Ja das stimmt“, gab sie zu. „Jedoch hat sie einen festen Freund, in den sie sehr verliebt ist. Du hättest ohnehin keine Chance“, fügte sie noch an.

Krüger hatte nicht gerade viele Zitate auf Lager, aber das vom armen Tor, der so klug ist, wie zuvor, das ging ihm schon während des ganzen Gesprächs durch den Kopf. Unbekanntes Terrain, konnte man es auch nennen oder diesen Streifen Niemandsland der Frauen, der sich jeglicher Kontrolle, durch ein männliches Wesen, entzog.

Außerdem wusste sie schon intime Dinge über diese Monique, obwohl sie sich heute zum ersten Mal gesehen hatten. Krüger hatte den unbestimmten Verdacht, dass Frauen unter sich, ganz locker über ihre Erlebnisse plauderten.

Krüger kannte keinen einzigen Kollegen, mit dem er ein solches Gespräch hätte führen wollen. Auch nach Jahren nicht.

Sie holte ihn aus seinen Gedanken. „Was ist nun mit diesen Elefanten?“, wollte sie wissen.

„Das ist nur ein uralter Witz“, gab er zurück.

„Dann erzähl ihn“, verlangte sie.

„Ja, aber du kennst ja die Pointe schon.“

„Trotzdem, vielleicht kann ich ihn behalten, bis Montag“, drängte sie.

„Besser nicht, du würdest dich vermutlich blamieren, weil die meisten ihn schon seit ihrer Schulzeit kennen“, brummte Krüger. „Aber wie du möchtest. Die Frage ist, wie bringt man vier Elefanten in einen VW-Käfer?“

„Ach so. Ja, und wie?“

„Zwei vorne und zwei hinten, wie gesagt“, antwortete Krüger mit einer wegwerfenden Handbewegung.

„Aber die gehen doch gar nicht durch die Tür“, gab sie zurück. „Und wo sollte der Fahrer sitzen?“

„Ja, rutsch rüber“, antwortete Krüger tonlos.

Sie brach in schallendes Gelächter aus, „rutsch mal rüber, der ist gut, den muss ich mir merken.“

Krüger seufzte. Wie so oft bei ihr, eine Antwort, warf mindestens drei neue Fragen auf. Ein endloses Labyrinth, in dem er sich mit ganzem Herzen gerne verirrte. Und kein Gedanke daran, jemals wieder herausfinden zu wollen.

3. Kapitel

Montagmorgen gegen halb neun in Hausen füllte sich die sonst so ruhige Straße, an der die Brändles wohnten, mit Fahrzeugen.

Die Nachbarn sahen aus den Fenstern oder schlenderten in den Vorgärten herum, um nichts zu verpassen. „Viel Aufwand für ein verletztes Reh!“, machte die Runde.

Jemand behauptete, Karin, die neunjährige Tochter der Brändles, seit Freitag nicht mehr gesehen zu haben.

Matthias wurde von KM Sieber befragt, während die Techniker der Kripo seinen Keller freischaufelten.

Nach dem Mittagessen trafen Krüger mit Michélle und Holoch für einen ersten Augenschein ein. Erwin Rohr, der Chef der Spurensicherung, berichtete: „Bisher haben wir die Skelette von vier Individuen sichergestellt.“

„Vier!“, wiederholte Krüger. „Es war doch nur von einem Knochenfund die Rede. Stehen wir jetzt vor einem Massengrab?“

Rohr zuckte mit den Schultern. „Zwei erwachsene Personen und zwei Kinder. Weitere sind jedoch nicht zu erwarten, sie lagen offen im Keller, der aus massivem Sandstein besteht. Darin lässt sich nichts vergraben.“

Die Techniker hatten einige Bretter ausgelegt, um den Keller mit sauberen Schuhen zu erreichen. Der Raum erinnerte eher an eine archäologische Ausgrabung, als an einen Tatort.

Das einmal eine Holztür den Keller abgeschlossen hatte, lies sich nur noch an den Roststellen erkennen, die von den eisernen Kloben im Sandstein stammten. Die Tür und die Beschläge hatten der feuchten Erde nicht standgehalten. Die Regale an der Rückwand, waren dagegen noch ziemlich gut erhalten.

Die Stellen um die Skelette waren sauber gewischt, die Knochen selbst lagen noch am ursprünglichen Platz. Nur einer der Oberschenkelknochen, derjenige, den Matthias fallen gelassen hatte, befand sich nicht mehr in der normalen Lage.

Dieses Opfer hatte sich in der Mitte des Raumes befunden, während die anderen sich offenbar, im Hintergrund, nahe beieinander, aufgehalten hatten.

Holoch betrachte einen Knochen genauer. „Nach Zustand und Farbe könnte er durchaus in die Kriegszeit passen“, stellte er fest.

„Dafür spricht auch“, meldete sich Rohr, „die Etikette, die wir gefunden haben: Zwetschgen 44, handgeschrieben, mit Bleistift.“

Sieber ergänzte: „Die Familie Brändle lebt seit 1947 hier, von diesem Keller haben sie jedoch nichts gewusst. Der Vater, inzwischen verstorben, hat das Haus von der Ortsverwaltung gekauft, sagt der Sohn. Wer vorher hier gewohnt hat, davon hat er ebenfalls keine Ahnung.“

„Dann haben Sie also noch Eingemachtes gefunden“, fragte Krüger nach.

„Eigentlich nicht“, erwiderte Rohr, „nur Scherben und vertrocknete Reste, die wir noch analysieren müssen. Auf den ersten Blick, würde ich sagen, eine Explosion. Möglicherweise eine Handgranate. Die Rostpunkte, die überall verteilt sind, könnten von einem Splittermantel stammen.“

Er zeigte an die Decke. „Sehen Sie die schwarze Verfärbung des Sandsteins? Die sauberen Flecke sind Stellen, die inzwischen abgeblättert sind, das ist normale Erosion. Die dunkeln Vertiefungen, sprechen jedoch für den erwähnten Splittermantel.“

Krüger wandte sich an Sieber: „Gehen Sie doch gleich einmal bei der Ortsverwaltung vorbei! Wenn die das Haus verkauft hat, könnten im Archiv noch Angaben über die früheren Bewohner vorhanden sein. Auch wenn natürlich kaum zu erwarten ist, dass es sich bei den Opfern um diese handelt. Deren plötzliches Verschwinden wäre bestimmt aufgefallen und entsprechend bekannt im Ort. Danach fragen können Sie ja trotzdem. Aber diskret bitte!“

Sieber nickte. „Bin schon unterwegs!“

Doktor Holoch räusperte sich. „Ich kann hier im Moment nichts mehr tun. Ich fahre dann zurück, oder haben Sie noch Fragen, Herr Kommissar?“

Krüger überlegte kurz. „Nein danke, Herr Doktor“, antwortete er. „Ich besuche Sie dann in der Pathologie, wenn Sie die Knochen erhalten und genauer untersucht haben.“ Schließlich wollte er sich nicht vor versammelter Mannschaft blamieren, wenn Holoch ihn wieder einmal mit Fachausdrücken eindeckte.

„Wir könnten jetzt mit der Bergung beginnen“, sagte Rohr. „Es ist alles aufgenommen.“

Krüger nahm es nickend, zur Kenntnis. Ihm graute schon vor diesen Ermittlungen. Zeugen zu finden, die bis fünfzig Jahre zurück, klare Erinnerungen hatten. Wie groß war die Chance, dass der, oder die Täter überhaupt noch am Leben waren?

Er stellte sich vor, dass vielleicht eine Flüchtlingsfamilie hier Zuflucht gesucht hatte, die dann für Plünderer gehalten wurden. Handgranaten waren zu Ende des Krieges in riesigen Mengen vorhanden gewesen. Sie abzuziehen und von außen in einen Raum zu werfen, schaffte ein Kind genauso, wie ein Tattergreis.

Trotzdem, ein vierfacher Mord, musste untersucht werden. Jemand hatte schließlich den Keller zugeschüttet, also war ein Selbstmord, sehr unwahrscheinlich.

Das konnte immerhin ein Ansatz sein. Wer hatte überhaupt Gelegenheit gehabt, dies zu tun, ohne aufzufallen?

Für Matthias Brändle brach an diesem Nachmittag seine Welt zusammen. Sobald Margarethe erfahren hatte, dass vier Skelette, davon zwei Kinder, gefunden wurden, begann sie zu packen. „Glaubst du wirklich, ich und die Kinder schlafen auch nur noch eine einzige Nacht in diesem Haus!“, hatte sie ihm weinend erklärt, als er sie mit einem Koffer in der Hand aus dem Schlafzimmer kommen sah.

„Aber das ist doch unser Haus? Der neue Anbau, wo willst du denn hin?“

„Egal, nur weg!“

„Ich kann den Keller zumauern“, schlug er verzweifelt vor.

„Vergiss es, nie im Leben!“

„Was soll ich denn machen?“, fragte er kopfschüttelnd.

„Such uns eine Mietwohnung. Aber nicht hier, am besten in der Stadt, wo uns niemand kennt. Ich wohne mit den Kindern solange bei meinen Eltern.“

„Und ich?“

„Wo du willst. Bei meinen Eltern geht nicht, das weißt du, es wird schon für und drei, eng.“

Matthias antwortete nicht darauf. Etwas unheimlich war das schon, aber deshalb alles aufgeben? Die letzten Jahre hatte er das Gebäude, Stück für Stück renoviert, alles, was vom Verdienst übriggeblieben war, steckte in diesem Haus. Der Anbau sollte noch der Höhepunkt werden, fast eine Villa, hatte er immer gescherzt.

Und jetzt! Wer würde ihm die Bude abkaufen, mit dem gruseligen Leichenkeller?

Alles war umsonst gewesen! Die Erkenntnis trieb auch ihm die Tränen in die Augen.

„Ich brauche das Auto“, murmelte Margarethe. „Ich muss ja nun jeden Tag die Kinder in die Schule bringen, bis wir wieder einen festen Wohnsitz haben.“

„Nimm es“, antwortete er gleichgültig. Was scherte ihn überhaupt noch irgendetwas. Er konnte sich dann gleich ein wenig hinlegen, dachte er. Das Einzige, wonach ihm wirklich zumute war.

***

Am nächsten Tag fand im Präsidium in Freiburg die Einsatzbesprechung statt. Sieber hatte auf der Ortsverwaltung in Hausen doch noch einige Informationen auftreiben können. Das Haus war bis kurz vor Kriegsende an eine Familie Wallner vermietet gewesen. Zugezogen aus Berlin, war in der Akte vermerkt. Die letzte Mietzinszahlung war im April fünfundvierzig geleistet worden, noch in bar an die Ortsverwaltungskasse. „Das war damals so üblich, nicht jeder hatte ein Bankkonto“, führte Sieber aus, was ihm von Polizeirat Vogel, ein Stirnrunzeln eintrug. Danach hatte noch jemand handschriftlich vermerkt, Familie verschollen. Die Personalien: Vater Ewald Wallner, Frau Anette, genannt Anne, Töchter, Helene und Hildegard. Die Familie lebte von einer Rente der Kriegsopferversorgung, deshalb war die Miete tiefer als üblich, auch dazu gab es einen Eintrag in der Akte. „Der Archivar der Ortsverwaltung hat mir versprochen, weiterzusuchen“, schloss Sieber seinen Bericht.

Krüger hatte sich schon gestern und die halbe Nacht damit beschäftigt, wie er vorgehen wollte. „Ich denke“, begann er, „dass wir systematisch im Dorf die Senioren befragen, jemand sollte sich doch noch erinnern. An die Familie, diese Wallners. Sicher hat doch jemand als Kind dort gespielt und weiß noch von diesem Keller. Den zuzuschütten war eine ziemliche Arbeit, hat das eventuell jemand mitbekommen? Damit möchte ich Michélle betrauen. Ich gehe davon aus, dass sich, äh, ältere Herren, am ehesten einer jungen Frau öffnen.“

Den Blick, den er dafür von Vogel erhielt, ließ sich nicht so einfach einordnen, er konnte Erstaunen oder Empörung ausdrücken.

„Sie beginnen auf der Ortsverwaltung, Michélle!“, fuhr Krüger ungerührt fort. „Lassen Sie sich eine sortierte Liste der ältesten Einwohner geben, welche Sie dann aufsuchen und befragen können. Viele andere Möglichkeiten sehe ich zurzeit nicht, bis wir Laborergebnisse und die DNA der Opfer haben.

Oder hat jemand einen Vorschlag?“, gab er in die Runde.

Sieber meldete sich. „Wir könnten doch auch in den Archiven der Wehrmacht nachforschen?“

„Ja, natürlich, Sie und Grünwald übernehmen das. Mit den anderen Möglichkeiten hatte ich nur die Ermittlungen vor Ort gemeint, die internen Sachen laufen so wie immer“, wehrte Krüger ab.

Krüger wandte sich an Michélle. „Haben Sie irgendwelche Fragen?“

Dazu im Moment noch nicht. Aber ich hätte Sie gerne in einer anderen Sache kurz allein gesprochen, Chef.

„Kommen Sie nach der Besprechung in mein Büro!“

„Und Sie, Herr Polizeirat?“

„Viel Glück, kann ich da nur noch sagen. Da der Fall solange zurückliegt, wird die Öffentlichkeit kaum mit schnellen Ergebnissen rechnen.

Also können wir den Aufwand begrenzen. Wir ermitteln selbstverständlich gründlich, jedoch ohne Eile. Neue Fälle haben jederzeit Vorrang. Nach fünfzig Jahren kommt es auf einen Tag mehr oder weniger schließlich auch nicht mehr an.“

„Das bleibt natürlich unter uns“, fügte Krüger an.

Vogel nickte. „Genauso wie alles andere, was wir hier besprechen!“, ergänzte er laut.

„Natürlich, Herr Polizeirat“, beeilte sich Krüger, zu sagen. Er würde trotzdem nicht auf die Meinung von Elisabeth verzichten. Gerade in einem solch komplizierten Fall. Ob Vogel wirklich nie mit seiner Frau über einen Fall sprach? Es konnte natürlich sein, dass sie davon lieber gar nichts hören wollte.

***

Michélle suchte Krüger am Nachmittag auf, um das angekündigte persönliche Gespräch zu führen. Sie wollte ihn über den Vorfall vom Wochenende informieren. Seit dem gemeinsamen Abendessen im Winter wusste Krüger, dass sie mit Guerin eine Beziehung hatte. Er würde ihr deshalb kaum Vorwürfe machen, dass sie praktisch an einer polizeilichen Befragung in Frankreich teilgenommen hatte, hoffte sie. Dies war eine äußerst heikle Angelegenheit, wie jeder Polizist im Grenzgebiet wusste. Es war ja auch nicht ihre Absicht gewesen, sondern hatte sich eher so ergeben. Die Verantwortung dafür lag überdies klar bei Kommissar Guerin. Und der würde sie bestimmt nicht in Schwierigkeiten bringen. Michélle erinnerte sich noch genau an den Moment, als sie ihn ihrem Chef vorgestellt hatte. Krüger bestand darauf, nichts bemerkt zu haben, was Michélle damals zuerst nicht glauben wollte.

Die beiden Kommissare hatten sich zuerst sehr bemüht, ein Gesprächsthema zu finden, das nichts mit dem Beruf zu tun hatte. Kennengelernt hatten sie sich schon früher, der Kontakt war allerdings bis dahin nur dienstlich gewesen.

Ein leidenschaftlich geführtes Kartenspiel brach das Eis. Michélle und Elisabeth verstanden sich auf Anhieb. Sodass sich der Abend schnell zu einem Duell zwischen den Geschlechtern entwickelte. Krüger und Guerin, durch den weiblichen Frontalangriff augenblicklich zum Team zusammengeschweißt, verteidigten sich wacker, und konnten ab und zu ein paar Punkte verbuchen. Den Sieg trugen allerdings die Damen davon.

Der Gewinn war natürlich eher symbolisch. Krüger hätte Essen und Getränke ohnehin selbst übernommen. Der größere Erfolg bestand darin, dass man sich echt angefreundet hatte.

Michélle berichte kurz, was am Samstag in Colmar vorgefallen war. Dass das Opfer aus Deutschland stammte und wie ungewöhnlich die Befragung dieser Frau Doktor Nagel verlaufen war.

„Wie geht’s Eric?“, war trotzdem Krügers erste Frage.

Michélle strahlte. „Danke, es geht ihm gut. Er wird einen Antrag auf gemeinsame Ermittlungen stellen. Außerdem fragt er auch ab und zu nach Ihnen. Sie sollten sich wirklich wieder einmal treffen!“

„Dann könnte sich ja bald eine Gelegenheit ergeben“, stellte Krüger fest. „Ich würde mich freuen.“

„Ich werde es ihm gerne ausrichten“, versprach Michélle.

„Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie Sie die Ermittlungen im Einzelnen angehen wollen?“, fragte Krüger nach. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu sehr überrumpelt, bei der Besprechung. Ich bin wirklich davon überzeugt, dass Sie mehr erfahren können. Nicht bloß weil Sie eine Frau sind natürlich“, schwächte er ab. „Die Landbevölkerung tickt auch anders. Ich denke, dass Sie das am besten von allen hier erspüren und sich anpassen können.“

„Auf jeden Fall werde ich es versuchen“, versprach sie. „Auch wenn ich nicht davon überzeugt bin, die Beste zu sein“, antwortete sie verlegen.

„Doch, doch, Sie sind die Beste“, beharrte Krüger. „Höchstens vor einem Umstand muss ich Sie warnen. Das könnte einer dieser Fälle sein, den Sie bis zu Ihrer Pensionierung nicht lösen können.“

Damit entlockte er ihr ein Lächeln.

„Sie reagieren absolut richtig“, stellte er fest. „Es ist wichtig, dass Sie das diese Möglichkeit nicht zu schwer nehmen. An solchen Geschichten sind schon einige Kollegen zerbrochen, weil sie den ausbleibenden Erfolg mit den Jahren einfach nicht mehr ertragen haben. Vor allem wenn auch noch Kinder involviert sind. Also zögern Sie nicht, wenn es Ihnen zu viel wird. Sagen Sie es mir, dann übergeben wir die Sache an einen anderen Beamten.“

„In Ordnung, Chef und danke!“

„Viel Glück!“

Krüger griff nach der Abschrift, die sie ihm hingelegt hatte. Dass er dazu gar nichts sagte, fand Michélle sehr beruhigend. Es war richtig gewesen, ihm zu vertrauen.

Sie spürte, dass er ihr mit dieser Aufgabe einen spektakulären Erfolg ermöglichen wollte. Wenn sie den Fall lösen konnte. Wenn es nicht gelang, was eigentlich zu erwarten war, dann würde ihr niemand einen Vorwurf machen.

Sie hatte sich vorgenommen die Gespräche mit den Zeugen, falls möglich, jeweils direkt aufzunehmen. Dadurch konnte nichts mehr verloren gehen und sie sich in Ruhe darin vertiefen. Krüger oder ein Psychologe, je nachdem, würde ihr bei einer genaueren Analyse helfen können, wenn sie darum bat. Schriftliche Berichte, die sie natürlich trotzdem anfertigen würde, konnten da kaum mithalten.

Oft war es schließlich nur ein Zittern in der Stimme, das verriet, dass etwas nicht stimmte. Manchmal schwadronierte jemand wortreich um ein Thema herum oder versuchte auf andere Art, ein Gespräch von einem bestimmten Punkt weg zubringen. Mehrmals nachfragen, um einen Zeugen wie bei einem Verhör unter Druck zu setzen, dürfte kaum möglich sein.

Die alten Damen, denen sie wohl zwangsläufig begegnen würde, würden sie hochgeschlossen, zurückhaltend erleben, während sie den Herren durchaus auch optisch etwas bieten wollte. Das würde die Bereitschaft, sich mit ihr zu beschäftigen, mit Sicherheit deutlich erhöhen. Weshalb sollte sie das nicht versuchen? Es funktionierte schließlich wohl schon seit ewigen Zeiten. Und außerdem wollte sie sich ja damit weder persönlich bereichern noch jemandem schaden.

So plante sie ihre Strategie in groben Zügen. Für Hintergrundinfos oder weitere Recherchen konnte sie jederzeit auf Sieber und Grünwald zurückgreifen. Wenn jemand noch etwas über die Sache wusste, dann sollte es auch herauszufinden sein. Davon war sie inzwischen überzeugt.

Fraglich erschien ihr eher, dass der oder möglicherweise die Täter, überhaupt noch am Leben waren.

Welche Jahrgänge sollte sie eingrenzen? Alle, bis fünfundzwanzig? Das hieße, die jüngsten wären 1944, mindestens neunzehn gewesen. War das schon alt genug, um eine ganze Familie auszulöschen?

Die wären heute bereits siebzig. Dann musste sie alle zwischen aktuell 70 und 100 Jahren befragen. Zwischen 20 und 50 waren Mörder, gemäß Statistik, am aktivsten.

Zumindest galt das heute. 1944 hatten die meisten jungen Männer in der Wehrmacht gedient. Sogar hinunter bis sechzehn. Nur die Alten und die nicht Wehrfähigen waren zu Hause.

Man konnte sich damals auch nicht so frei bewegen wie heute. Eine eigene Meinung zu äußern, konnte rasch lebensgefährlich werden. Sogar in privater Umgebung.

Ganz andere Verhältnisse. Was wusste sie darüber?

Eigentlich nicht viel, wenn sie ehrlich war.

4. Kapitel

Carmela bezog am Montag einen freien Tag. Sie hatte in den zwei letzten Nächten so wenig geschlafen, dass sie beim gemeinsamen Frühstück kaum die Augen offen halten konnte. Debora kümmerte sich liebevoll um sie, schickte sie jedoch schließlich in Bett zurück.

Sie schlief zwar ein, aber nach kurzer Zeit schreckte sie immer wieder hoch, weil sie von den Erlebnissen am Samstag träumte. Medikamente hatte sie bislang verweigert, sie dachte, auch so mit der Situation fertig zu werden.

„Du hast ein klassisches Trauma“, hatte Debora gesagt. „Du brauchst eine Therapie.“

Noch bis letzten Samstag hätte Carmela ihr blindlings vertraut. Inzwischen quälte sie der Gedanke, ob Debora vielleicht doch diese Frau mit Absicht vom Dach gestoßen hatte. Aus blinder Eifersucht.

Carmela hatte sich noch nie Gedanken gemacht, wie lange sie mit Debora zusammenbleiben wollte. Solange es gut funktionierte, weshalb sich eine Andere suchen. Oder sie verliebte sich spontan, wie sie es auch schon erlebt hatte. Wenn allerdings Debora schon mordete, bloß um eine mögliche Konkurrentin loszuwerden, was würde denn passieren, wenn sie verlassen wurde?

Vor allem irritierte sie, wie leicht Debora das alles wegsteckte. Sie hatte nur für einige Minuten die Fassung verloren, danach war sie wieder ganz normal.

Heute Morgen hatte sie ihr von einer Handtasche erzählt, die sie am Samstag im Elsass gesehen und unbedingt haben wollte.

Wie konnte sie, wenn sie an dieses Wochenende zurückdachte, auf eine Handtasche kommen?

Verdrängte sie das Geschehene einfach, oder war es ihr egal? Oder noch schlimmer: hatte sie erreicht, was sie wollte?

***

Für Guerin begann der Montag mit Sichtung der ersten Ergebnisse der Spurensicherung, Claude kam schon bald darauf bei ihm vorbei, um ihm einen vorläufigen Bericht zu geben.

„Du hast also keine Wespenstiche gefunden“, wiederholte Guerin. „Was bedeutet, dass die Aussage dieser Frau Doktor, nicht untermauert wird.“

„Aber es widerspricht ihr auch nicht direkt. Wespen können eine ängstliche Person in Panik versetzen, bevor sie tatsächlich gestochen wird“, wandte Claude ein.

„Ja, natürlich“, erwiderte Guerin. „Trotzdem, es hätte meine Zweifel verkleinert.“

„Was lässt dich denn zweifeln?“, wollte Claude wissen.

„Schwierig zu erklären! Ihre Mimik, oder besser gesagt ihre fehlende Mimik. Ich hatte bei der Befragung das Gefühl, mit einer Puppe zu sprechen. Ich habe sie mit Absicht provoziert, die Wut war ihr leicht anzumerken. Jedoch ob sie gelogen hat, keine Ahnung?“

„Motiv?“, fragte Claude nach.

„Eifersucht!“

„Dafür hast du einen Anhaltspunkt, wenn du so schnell antwortest“, behauptete Claude.

„Ja“.

„Ich muss doch sehr bitten!“, sagte Claude.

Guerin lachte kurz auf. „Wenn du gerade dabei bist, mich zu verhören, wollte ich doch wissen, wie du es angehen würdest.“

Claude antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf.

„Alle, außer ihrer Lebenspartnerin haben ausgesagt, dass Frau Werthemann intensiv, mit eben dieser geflirtet hat. Sie war auch die Einzige, die allein gekommen ist“, erklärte Guerin.

„Dann wäre es möglich, dass Frau Nagel das Wespennest gesehen und dann eiskalt die Gelegenheit ergriffen hat.“

„Genau so. Übrigens haben die Wespen sonst keinen gestört, allzu aggressiv können sie daher nicht gewesen sein“, fügte Guerin an.

Claude wirkte nachdenklich, schwieg jedoch.

„Da fällt mir gerade noch ein, was ich schon den ganzen Morgen nachsehen wollte.“ Guerin angelte nach einem dünnen Hefter, der am Rand seines nicht besonders gut aufgeräumten Schreibtisches lag. „Letzte Woche ist doch dieser Motorradfahrer reingekommen…“

Claude nickte. „Ja, ich weiß, welchen du meinst.“

„Der hatte ein Papier in der Tasche“, er schob ihm das in Folie eingelegte Blatt hin.

„Eine Rechnung“, stellte Claude emotionslos fest.

„Ja, aber von wem?“

„Von einem Piercingstudio. Stimmt, eine seiner Brustwarzen war offenbar frisch durchstochen und deshalb angeschwollen. Das habe ich doch in meinem Bericht so festgehalten. Also ist das keine große Neuigkeit oder worauf willst du hinaus?“ „Ließ bitte den Briefkopf genauer!“

„Frau Dr. med. dent. Debora Nagel…

Ist doch kaum die Gleiche? Das wäre ja ein Riesenzufall!“, sagte Claude kopfschüttelnd.

„Das muss die Gleiche sein“, antwortete Guerin. „Keine zweite Zahnärztin in Basel, mit diesem Namen. Basel ist keine Millionenstadt und der Name Nagel ist dort auch nicht gerade häufig.“

„Über deutsche Namen weiß ich natürlich nicht so genau Bescheid, wie du“, gab Claude zu.

„Du hast auch keine Anzeichen für ein Fremdverschulden gefunden, wenn ich mich richtig erinnere?“

„Nein, da war gar nichts, nicht einmal Alkohol. Zumindest was die Standardtests hergeben, eine gezielte toxische Untersuchung war nicht vorgesehen“, antwortete Claude.

„Würdest du das dann, bitte, nachholen!“

„Ja natürlich. Dauert allerdings mindestens zwei Wochen, bis die Ergebnisse da sind“, gab Claude schulterzuckend zurück.

„Diesmal ist mir das egal! Bis ich die Dame gründlich durchleuchtet habe, werden sicher auch noch einige Wochen vergehen“, antwortete Guerin. „Ich muss mit Kommissar Gruber aus Basel sprechen. Bin gespannt, ob der etwas über sie hat.“

„Grüß ihn von mir!“

„Ja, mache ich bestimmt“, versprach Guerin.

***

Michélle traf am Dienstagmorgen auf der Ortsverwaltung von Hausen ein. Sieber hatte für sie eine Aufstellung mit den Personen, die sie befragen wollte, im Voraus bestellt. So dass sie diese nur noch abzuholen brauchte.

Die Liste umfasste alle Einwohner von Hausen mit den Jahrgängen vor 1932. Total achtzehn Namen zusammen mit den Adressen.

Michélle hatte sich für die erste Befragung die beiden Ältesten, mit Jahrgang 1905 und 1910 ausgesucht.

Von diesen Zeitzeugen erhoffte sich Michélle nicht nur Einzelheiten über die verschwundene Familie, sondern auch allgemeine Auskünfte über die damaligen Lebensumstände.

Helga Attinger wohnte im Altersheim am Ort, mit ihren fünfundachtzig Jahren, war sie die Älteste, der Auswahl. Nachdem Michélle ihr erklärt hatte, was sie von ihr wollte, verschwand das Lächeln auf dem Gesicht der Alten.

„Wie ich das Kriegsende erlebt habe!“, moserte sie. „Wozu brauchen Sie das denn?“

„Es interessiert mich einfach“, behauptete Michélle keck.

„So, so, es interessiert Sie. Wie war doch gleich der Name?“

„Steinmann, Michélle.“

„Verheiratet?“

„Nein.“