Hobbymörder - T.D. Amrein - E-Book

Hobbymörder E-Book

T. D. Amrein

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Beschreibung

Kommissar Krüger hat sich in Freiburg eingerichtet. Doch kann er mit seiner neuen Flamme den Frühling nicht unbeschwert genießen, weil immer neue Frauenleichen auftauchen. Eines haben sie gemeinsam: Todesursache unklar. Einige waren gefesselt und geknebelt, als ihre Herzen stehen geblieben sind. Krüger muss wohl oder übel in der SM-Szene ermitteln, die ihm völlig fremd ist. Seine Einschätzung, dass vielleicht zwei bis drei, von tausend Frauen, solche Praktiken pflegen, dürfte zu knapp sein. Seine Neue ist da realistischer. Sie versucht, ihm auf die Sprünge zu helfen. Gern verwendet er die Fakten, die sie zusammengetragen hat. Jedoch Ihre zarten Signale prallen von ihm ab.

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Seitenzahl: 366

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T.D. Amrein

Hobbymörder

Krügers skurrilster Fall

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Samstagabend, 29. Februar. Luzia fror erbärmlich. Trotz des langen Pelzes, den sie trug. Sie wartete am Freiburger Münster auf ihren neuen Bekannten, den sie heute zum ersten Mal treffen wollte.

Am Pelz lag es nicht, dass sie zitterte. „Er“, hatte verlangt, dass sie nur rote Schuhe mit möglichst hohen Absätzen zum Pelz tragen sollte. Sonst Nichts.

Dass sie ab neunzehn Uhr hier stehen musste, bis er kommen würde, gehörte ebenfalls zum Spiel. Sie hatte jahrelang gezögert, bis sie sich jetzt endlich die Erfahrung holen wollte, von der sie zuweilen träumte: Sich mit einem Fremden zu treffen, dem sie sich bedingungslos unterwerfen und hingeben würde.

So ganz fest stand das allerdings noch nicht. Wenn er nicht sauber und wenigstens einigermaßen akzeptabel aussehen sollte, dann würde sie das Treffen abbrechen. Bisher hatten sie nur schriftlichen Kontakt gepflegt. Sie hatte ihm kürzlich ein Foto geschickt, erhielt jedoch keines von ihm zurück. Er hatte stattdessen dieses Rollenspiel vorgeschlagen.

Noch zehn Minuten, dachte sie grimmig. Danach kann er sich eine Andere suchen. Was bildet der sich bloß ein? Sie war schließlich eine erfolgreiche Geschäftsfrau und gewohnt, dass man ihren Anweisungen folgte.

„Du bist Luzia?“, wurde sie endlich angesprochen.

„Ja“, bestätigte sie. „Du bist Gilbert?“

Er nickte, während er sie von unten bis oben betrachtete. Sie konnte von seinem Gesicht nur wenig erkennen. Er versteckte sich in einem verschnürten Kapuzenshirt, das er zusätzlich mit einer Baseball-Kappe überdeckte. Immerhin überragte er sie deutlich und wirkte schlank.

Wortlos zupfte er den einen seiner schwarzen Lederhandschuhe von den Fingern. Dann griff er ihr durch den Mantel direkt in den Schritt.

Reflexartig verpasste sie ihm eine schallende Ohrfeige, die ihn taumeln ließ.

„Du Schlampe!“, fauchte er noch, dann rannte er davon.

Luzia biss sich auf die Lippe. Sie wusste wirklich nicht, ob sie froh sein oder sich ärgern sollte?

Weshalb hatte er sie nicht gewarnt? Aber selbst wenn: Einen solchen Zugriff in der Öffentlichkeit hätte sie ihm niemals erlaubt.

Jetzt wollte sie nur noch nach Hause. Sich waschen und aufwärmen. Das Treffen hatte trotz allem seinen Zweck erfüllt. Auf sowas würde sie sich nicht mehr einlassen.

***

Kommissar Krüger und Michélle Steinmann ließen sich von Doktor Holoch dessen erste Einschätzung erklären. „Die Tote liegt vermutlich seit der Nacht auf Sonntag hier. Ob es eine Überdosis war?“ Er zeigte auf die vielen Einstiche, „sie kann auch einfach erfroren sein.“

Der Fundort lag hinter einem Lagerhaus in einer dunklen Einfahrt. Bestens geeignet, um etwas zu verstecken. Das ließ eher auf ein Verbrechen schließen. Eine Süchtige hätte sich kaum freiwillig an einen so dunklen, kalten Ort zurückgezogen.

Krüger sah des Öfteren auf seine Uhr. Heute Nachmittag würde der LKW mit Elisabeth samt ihren Möbeln eintreffen. Er wollte am Morgen nur kurz im Büro vorbeischauen, aber dann hatte ihn Michélle zu diesem Fundort gebeten.

Jetzt räumte der Hausdienst seine Dienstwohnung ohne ihn leer.

Trotzdem versuchte er, sich zu konzentrieren. Michélle hatte Recht: Die Leiche sollte beim Dom oder am Bahnhof gefunden werden.

„Ist sie hier gestorben, Herr Doktor?“, fragte er nach.

„Das kann ich noch nicht sagen“, brummte Holoch. „Wie ich bereits erwähnte. Hören Sie überhaupt zu, Herr Kommissar?“

Krüger zuckte zusammen. Davon hatte er nichts mitbekommen. „Entschuldigen Sie, Doktor Holoch! Ich habe über etwas nachgedacht“, beeilte er sich, zu erklären.

„Zum Glück schreibt Ihre Kollegin alles auf“, antwortete der Pathologe, mit einem Augenzwinkern an Michélle.

***

Es war schon nach zwölf Uhr am Mittag, als Krüger endlich mit Staubwischen in seiner inzwischen leeren Wohnung beginnen konnte. Elisabeth würde staunen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte, dachte er. Und was sich so alles ansammelte, unter den Möbeln. Er eilte zum Putzschrank. Aber der stand gähnend leer. Diese Idioten hatten einfach alles mitgenommen.

Als Krüger vom Einkaufen zurückkehrte, stand der LKW schon vor dem Haus und Elisabeth fand er mit in die Hüfte gestemmten Händen in der Küche.

Ihre Umarmung fiel deutlich weniger leidenschaftlich aus, als Krüger erwartet hatte.

„Ich bin so glücklich, dass du da bist“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Du hast mir extrem gefehlt“, legte er noch nach.

„Das habe ich schon gesehen“, stellte sie ziemlich trocken fest.

Krüger sah sie fragend an.

„Ich sollte ja eigentlich wissen, dass ihr das einfach nicht könnt“, fuhr sie fort.

„Was können, wir, nicht?“, fragte Krüger verständnislos, das wir, extra betonend.

„Eine Wohnung sauberhalten oder saubermachen. Denkst du wirklich, ich würde da auch nur ein einziges Möbelstück hinstellen?“

Noch nicht einmal richtig angekommen und schon der erste Knatsch, dachte Krüger.

„Was soll ich tun?“, fragte er unterwürfig.

„Du gibst es also zu?“, sagte sie, schon etwas netter.

„Ich gebe alles zu. Egal was du hören möchtest“, antwortete Krüger.

Sie sah ihn an. „Ich meine das ernsthaft. Du kannst dich nicht einfach nur herausreden“, sagte sie kopfschüttelnd.

„Also gut“, gab er nach. „Was möchtest du?“

„Alles Putzen und Streichen. Die Böden polieren. Küche und Bad muss man von Grund auf reinigen und die Fenster sehen auch dermaßen schmuddelig aus. Arbeit für mindestens zwei Wochen“, stellte sie fest.

„Streichen?“, wiederholte er. „Alles? Ich weiß nicht, ob wir das dürfen?“, warf Krüger ein. „Es ist eine Dienstwohnung.“

„Wie bitte?“ Es klang bedrohlich.

„In Ordnung!“ Krüger hob die Hände. „Wir streichen.“

Zuerst musste jedoch der LKW abgeladen werden. Sie stellten alle Möbel und Kartons in ein freies Zimmer. Krügers Rücken schmerzte, er fühlte sich fix und fertig, als der Fahrer sich verabschiedete.

„Wo schlafen wir heute Nacht?“, fragte er Elisabeth, die schon Teile des Bades auf Vordermann gebracht hatte.

„Keine Ahnung“, antwortete sie fröhlich.

Er nahm sie vorsichtig in den Arm. „Bist du mir böse?“, fragte er.

„Ich sollte, aber ich schaffe es nicht“, antwortete sie.

Die Nacht verbrachten sie nach einem romantischen Essen in einem einfachen Hotel, das Krüger vorsichtshalber für die ganze weitere Woche reservierte.

***

Am Dienstag saß Krüger wieder im Büro, während sie in der Wohnung weitermachte. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie alles, was sie für notwendig hielt, einfach tun sollte. Michélle erstatte ihm Bericht: „Die Tote vom Lagerhaus, den Namen kennen wir noch nicht, ist an einer Überdosis gestorben. Das ist bereits sicher, sagt Doktor Holoch.

Eine extrem hohe Dosis übrigens. Die Leiche wurde nicht bewegt. Eine Fremdeinwirkung lässt sich nicht feststellen. Ausschließen allerdings auch nicht, die vielen Einstiche am ganzen Körper lassen sich naturgemäß nicht zuordnen.“

„Das ist klar“, brummte Krüger. „Was sagt die Spusi?

Michélle blätterte in den Unterlagen. „Noch nichts.“

Was denken Sie, Michélle?“, fragte er weiter.

„Eine Süchtige, die über Stoff für eine ganze Woche verfügt, bringt sich nicht auf diese Weise um. Und schon gar nicht an diesem Ort“, stellte sie fest.

„Wenn wir davon ausgehen, was wir bis jetzt wissen“, sinnierte Krüger, „dann ist sie noch lebendig an den Fundort gelangt. Was denkt Holoch? Wie lange könnte es gedauert haben, von der Injektion des Stoffes bis zum Tod des Opfers?“

„Dazu steht nichts da“, antwortete Michélle.

„Hatte sie noch sexuellen Kontakt? Alkohol?“, fragte Krüger weiter.

Michélle schüttelte nur den Kopf.

„Kommen Sie!“, sagte Krüger zu ihr. „Wir gehen in die Pathologie.“

Doktor Holoch fanden sie in dessen Büro. „Ich schreibe gerade den abschließenden Bericht“, brummte er, noch bevor Krüger die erste Frage stellen konnte.

„Ich brauche ein paar Antworten, die nicht unbedingt in Ihrem Bericht zu finden sind“, sagte Krüger betont freundlich.

„Zum Beispiel?“, fragte Holoch interessiert zurück.

„Wie lange kann sie vom Zeitpunkt der Injektion gerechnet, noch gelebt haben, zum Beispiel?“, passte sich Krüger an.

„Vielleicht fünfzehn Minuten“, lautete die Antwort.

„Nur noch eine Viertelstunde?“

Der Pathologe nickte.

„Hatte sie noch Verkehr?“, fragte Krüger weiter.

„Kann ich nicht sagen. Zumindest nicht Ungeschützten. Sie war allerdings untenrum derart schmutzig, dass es kaum vorstellbar ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine?“

„Sonst noch was?“ „An den Brüsten hat sie ein paar blaue Flecke. Aber die kann sie sich auch selbst zugefügt haben“, antwortete Holoch.

„Keine weiteren Verletzungen?“

Der Pathologe hob die Brauen. „Das hätte ich in meiner ersten Einschätzung erwähnt, Herr Kommissar.“

„So habe ich das selbstverständlich nicht gemeint, Herr Doktor“, gab Krüger zurück.

Michélle verfolgte das Wortgefecht mit zunehmendem Interesse.

„Möchten Sie vielleicht auch noch etwas wissen, Frau Steinmann?“, wandte sich Holoch an Michélle. „Möglicherweise ein Detail, das wirklich nicht in meinem Bericht zu finden ist?“

„Gibt es Einstiche an Stellen, die sie selbst nicht erreichen konnte?“, fragte Michélle zögernd.

Die Herren sahen sie überrascht an.

„Darauf habe ich nicht speziell geachtet“, gab Holoch zu. „Wir sehen uns das gleich an!“ Doktor Holoch stand auf. „Kommen Sie bitte mit!“

Er zog ein Schubfach auf und entfernte das Tuch. Die Tote lag unbekleidet auf dem Rücken vor ihnen. Außer der Entnahme einiger Gewebeproben hatte bisher keine Leichenöffnung stattgefunden.

Trotzdem: kein schöner Anblick. Der Körper übersät mit roten Pusteln, die sich zum Teil entzündet und vereitert oder sich zu kleinen offenen Wunden, weiter entwickelt hatten.

Die erwähnten blauen Flecke ließen deutliche Abdrücke von Fingern erkennen.

Holoch zog sich Handschuhe über und drehte den Leichnam geübt auf den Bauch.

Abgesehen von den lilafarbigen Liegeflecken am Rücken: keine Pusteln, keine Einstiche. Doktor Holoch schob den rechten Gesäßmuskel der Toten nach oben. In der Falte zum Oberschenkel fand sich eine winzige Verletzung.

„Kompliment, Frau Steinmann“, brummte Holoch. „Sie verfügen wirklich über eine gute Nase.“

Michélle strahlte.

„Ich schließe mich an“, sagte Krüger anerkennend.

„Eindeutig ein frischer Einstich in eine Vene“, dozierte Holoch. „Das dürfte die Fremdeinwirkung sein. Ich muss meinen Bericht anpassen.“

Er wandte sich an die beiden: „Sonst noch etwas?“

„Nein, danke Herr Doktor!“, antwortete Krüger. Eine unpassende Bemerkung verkniff er sich.

***

Luzia Hehl hatte trotz allem, erneut Post von ihrem Unbekannten erhalten. Er beschwerte sich, dass sie sich völlig danebenbenommen habe. Eine Sklavin, die ihren Herrn schlägt! Unerhört! Dafür würde er sie angemessen bestrafen.

Lass mich in Ruhe, hatte sie darauf geantwortet. Für sie hatte sich die Sache erledigt. Ein wenig beunruhigend fand sie, dass er ihre Adresse kannte und dazu noch die Briefe und ein Bild von ihr besaß. Würde er sie womöglich damit erpressen wollen?

Was sie ihm geschrieben hatte, würde in ihrem Umfeld mehr als Kopfschütteln auslösen. Sie hatte sich ziemlich klar und eindeutig ausgedrückt. Andererseits, besaß sie auch seine Briefe. Damit konnte sie sich verteidigen, wenn es notwendig werden sollte. Ihr als selbständige Innenarchitektin konnte er viel weniger schaden, als sie im Gegenzug ihm, zum Beispiel bei seinem Arbeitgeber.

***

Gilbert Weber leerte den Briefkasten, den er bei einem fast leeren, alten Mietshaus, mit diesem Namen angeschrieben hatte, jeden Tag. Bisher schien niemandem aufgefallen zu sein, dass er gar nicht hier wohnte. Das Schloss auszutauschen, war lächerlich einfach gewesen.

Regelmäßig antwortete er auf Annoncen, in denen Frauen eine dominante Beziehung suchten. Diese Antworten liefen meistens unter einer Chiffre Nummer über die Zeitschriften. Jedoch für weiteren Kontakt brauchte er eine normale Adresse.

Alles eine Folge dieser Operation, die ihn seine Potenz gekostet hatte. Die Chirurgin, diese verfluchte Hexe, hatte ihm offenbar versehentlich einen Nerv durchtrennt.

„Kann vorkommen“, lautete ihr Kommentar dazu.

Gilbert hatte kaum Zweifel gehegt, dass es ihr absolut egal gewesen war.

Ab und zu, schlenderte er an ihrem Grab vorbei. Ihren Tod hatte er ohne Schwierigkeiten als Unfall darstellen können. Über diese Sache war längst Gras gewachsen.

Jedoch Gilberts Leben geriet danach völlig aus den Fugen. Seine Frau hatte ihn bald darauf verlassen. Die Kinder hatte sie einfach mitgenommen. So weit weg, wie möglich, zog sie in den Norden Deutschlands. Das führte dazu, dass er sein Besuchsrecht, das er mühsam erstritten hatte, praktisch kaum nutzen konnte.

Am Anfang hatte er die Reise ein paar Mal gemacht. Immer traf er sie gerade nicht zu Hause an oder sie musste unverzüglich zu einem dringenden Termin. Und er fuhr am Ende des Tages, ohne die Kinder gesehen zu haben, wieder zurück. Dabei sparte er monatelang für die Reisekosten. Schließlich hatte er aufgegeben.

Und jetzt: Diese Schlampe, die ihn solange scharf gemacht hatte, bis er sich mit ihr treffen wollte? In der Öffentlichkeit geohrfeigt. Vor allen Leuten. Er hatte nicht erwartet, dass ihn eine Frau noch tiefer erniedrigen konnte, als es bereits geschehen war.

In seiner Wut, die sich einfach nicht mehr legen wollte, hatte er danach diese Süchtige umgebracht. Die hatte auch selbst Schuld. Weshalb musste sie ihn um Geld anbetteln, in seinem Zustand.

Das war natürlich nicht sorgfältig geplant gewesen. Einige Zeit würde er die Sache beobachten müssen. Ein schlechtes Gewissen plagte ihn nicht. Abhängige starben jeden Tag irgendwo. Genaugenommen hatte er bloß ihren Weg abgekürzt.

Gilbert arbeitete als Laborant in einem Chemiewerk. Er kannte sich mit dem Nachweisen von kleinsten Mengen organischer Stoffe bestens aus. Solche Fehler hatte er bei ihr nicht gemacht. Von ihm blieb keine verwertbare Spur zurück. Aber trotzdem. So etwas durfte nie wieder vorkommen.

***

Krüger sah die Akte noch einmal durch, als KM Grünwald atemlos erschien. „Wir haben einen möglichen Namen für die Tote vom Lagerhaus. Eine Petra Heimlich aus der Umgebung wird vermisst. Alter wie Umstände könnten passen.“

„Ausgezeichnet!“, lobte Krüger. „Sie sehen durchgefroren aus. Wärmen Sie sich in der Kantine etwas auf!“

„Danke Chef“, gab er zurück. „Das kann ich jetzt wirklich gebrauchen.“

Grünwald und Sieber hatten den ganzen Tag in der Nachbarschaft des Fundortes die Anwohner befragt. Krüger vermutete, dass das Opfer aus der Gegend stammte.

Natürlich fanden die Befragungen nicht bloß deshalb, sondern bei jedem Delikt routinemäßig statt. Oft verbargen sich die besten Hinweise in diesen Protokollen. Auch wenn sie nicht immer sofort auffielen.

Michélle suchte im Polizeicomputer nach näheren Angaben über Petra Heimlich. Jedoch in Freiburg stand keine Person dieses Namens im Melderegister.

Einzig, im letzten Jahr, fand sich an der Uni ein Eintrag. Das Studium schien jedoch ohne Angabe von Gründen, abgebrochen worden zu sein.

Sie stammte aus Stuttgart, wie Michélle weiter ermittelte. Die Eltern offenbar vermögend, beide Akademiker, Petra ein Einzelkind. Die Geschichte, für Michélle wie ein Déjà-vu. Alles ganz normal. Irgendwann entglitt die Tochter den Eltern, die weiter daran glaubten, dass sie als brave Studentin, in Freiburg lebte. In einer von den Eltern bezahlten Wohnung, in der sich eine Art Kommune von Abhängigen, eingenistet hatte.

***

Endlich Feierabend. Krüger öffnete vorsichtig die Tür zu seiner Dienstwohnung. Schon auf dem Gang roch es nach frischer Farbe. Durch eine gesprenkelte Folie sah er Elisabeth auf einer Leiter. Mit einem langen Pinsel strich sie die Ecke zwischen Wand und Decke aus.

„Hallo Spatz!“, rief er ihr zu.

Ihre Antwort fiel zu undeutlich aus, um etwas zu verstehen.

„Du streichst das selbst?“, fragte er erstaunt, von unten, als er sich zu ihr durchgekämpft hatte.

Ihr Blick sprach Bände.

„Das hat sich der Herr natürlich nicht so vorgestellt, oder?“, stellte sie, schon wieder etwas spöttisch, fest.

„Ich staune“, gab Krüger zurück. „Sieht ganz professionell aus, wie du das machst.“

„Das will ich doch hoffen“, antwortete sie gutgelaunt.

„Kann ich etwas helfen?“, fragte er weiter.

„Du könntest Kaffee machen!“, antwortete sie.

„Ich mache: Aber nur, wenn ich zuerst einen Kuss bekomme!“, forderte er.

Sie schien zu überlegen. Plötzlich strich sie ihm mit dem langen Pinsel kurz über die Nase.

Instinktiv wich er zurück. Natürlich nicht, ohne gleich an seine Nase zu fassen. Ungläubig betrachtete er die Farbe an seiner Hand.

Sie lachte laut auf. „Steht dir gut!“, prustete sie von der Leiter.

„Aber das ist Farbe?“, protestierte er laut. „Wie soll ich das wegmachen?“

„Mit Wasser, es ist Dispersion“, antwortete sie, immer noch ziemlich unverschämt grinsend.

Krüger zog sich zurück. Er traute ihr ohne weiteres, noch eine Attacke zu. Sie schien es zu lieben, die klassischen Rollen zu vertauschen, das hatte er schon öfters festgestellt.

Die Farbe ließ sich wirklich leicht abwaschen, wie sie gesagt hatte. Also setzte er Wasser auf, während er überlegte womit er, als angemessene Reaktion, aufwarten konnte.

„Ist serviert!“, rief er laut ins Wohnzimmer.

„Ich komme gleich!“, rief sie zurück.

Sie schälte sich aus ihrem leichten Overall, darunter trug sie nur Unterwäsche. Krüger sah interessiert zu, bemühte sich aber dann, ihr einen Bademantel zu holen.

Liebevoll schmiegte sie sich an ihn. Widerstandlos ließ sie sich küssen, als wäre nichts gewesen.

„Du bist mir doch nicht böse, wegen vorhin?“, hauchte sie ihm ins Ohr.

Krügers Rachepläne begannen sofort, sich in Nichts aufzulösen.

„Ich kann doch einen Spaß vertragen“, behauptete er.

„Das mag ich an dir“, antwortete sie. „So eine Gelegenheit. Da konnte ich einfach nicht widerstehen. Entschuldige bitte.“

„Wird dir das alles nicht zu viel?“, fragte er vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf. „Es hat auch sein Gutes. So habe ich gar keine Zeit für Heimweh“, antwortete sie leise.

Krüger drückte sie fester an sich.

„Aber am Wochenende fahren wir ins Elsass. Da wird nicht gearbeitet!“, bestimmte er.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Und wenn“, fuhr er fort, „dann arbeite ich. Du gibst nur Anweisungen.“

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Könnte interessant werden“, antwortete sie.

2. Kapitel

Bahnhof Freiburg, Ausgang in die Stadt. Mit vorsichtigen Schrittchen tapste ein Rentner die groben Steinstufen hinunter. Immer beide Hände am an der Wand angebrachten Handlauf. Auf einem Treppenabsatz ruhte er ein wenig aus, ließ die Eiligen an sich vorbeiziehen. Also fast alle.

Nur der Mann, der am Anfang der Treppe auf der Mauer saß, ein aufgeschlagenes Buch zwischen den Knien, die gleichzeitig noch einen dunkeln Rucksack festhielten, bildete die Ausnahme.

Der Rentner wartete auf eine Lücke im Menschenstrom, damit er auf das Geländer, das ab hier in der Mitte der Treppe aufragte, überwechseln konnte.

Endlich lichtete sich die Menge ein Stück weit. Der Rentner tapste auf dem Absatz seitlich soweit hinüber, wie seine Armlänge es ihm erlaubte. Mit der rechten Hand griff er nach dem glänzenden Metallrohr, ohne den Handlauf in der Linken loszulassen. Geschafft!

Mit weit ausgestreckten Armen verharrte er wie eine Puppe, in dieser Stellung.

Offenbar getraute er sich nicht, einen weiteren Schritt zu machen. Rasch entstand ein kleiner Stau. Allerdings nur solange, bis die ersten auf die freie Seite der Treppe schwenkten und achtlos weiter an ihm vorbei strömten.

Der Rentner sank auf die Knie. Immer noch mit beiden Händen an den Rohren festgekrallt.

Die ersten Passanten blieben stehen. Dann schien sich seine Blockade schlagartig aufzuheben. Wie ein Bündel Lumpen, rollte er die Stufen hinunter.

Einige schrien laut auf. Schnell teilte sich die Menge in diejenigen, die helfen wollten und in die, die sich so rasch wie möglich, entfernten.

Der Mann mit dem Rucksack, der trotz des Buches, alles genau beobachtet hatte, sah demonstrativ auf seine Uhr. Mit der vom Buch verdeckten Hand schob er die Anschlussklemmen in den Rucksack zurück. Danach klappte er das Buch zu, bevor er mit federnden Schritten im Bahnhof verschwand.

***

Krüger und Elisabeth fuhren am Freitagabend ins Elsass, wo sie das erste gemeinsame Wochenende in ihrem Ferienhaus verbringen wollten. Seine Dienstwohnung befand sich nun in einem Zustand, der auch ihren Ansprüchen genügte. Trotzdem hatten sie beschlossen, die Einrichtung erst in der nächsten Woche, in der Elisabeth noch nicht arbeiten musste, fertigzustellen.

Der Besitzer der Ferienwohnung erwartete sie bereits mit dem Schlüssel in der Hand, als Krüger den Wagen in die Einfahrt rollen ließ.

„Herzlich willkommen im Elsass, Madame und Monsieur Krüger“, begrüßte er sie überschwänglich.

Elisabeth stupste Krüger leicht in die Rippen: „Er hat uns schon verheiratet“, flüsterte sie ihm zu.

„Halb so schlimm“, antwortete er, was ihm einen weiteren, kräftigeren Stups eintrug.

Der Vermieter zog sich gleich wieder zurück: „Ich habe Ihnen das Feuer im Kamin angezündet. Nun will ich nicht länger stören“, verabschiedete er sich.

Krüger schleppte das Gepäck ins Schlafzimmer. Sie verschwand gleich in der Küche. Die Wohnung war vollständig eingerichtet. Mit schönen alten Möbeln. Auch Kochgeschirr, Besteck und Porzellan fanden sich im Überfluss, wie sie bei der ersten Besichtigung schon festgestellt hatten. Deshalb brauchten sie fast nichts mitzubringen, außer Kleidern und Toilettensachen. Lebensmittel konnten sie morgen im Dorf einkaufen.

Krüger ließ sich auf ein Polstermöbel sinken. Minutenlang betrachtete er reglos das Feuer. Genauso hatte er sich das vorgestellt.

Und sie? Schon wieder Arbeit gefunden? Sicher kontrolliert sie gleich, ob alles sauber ist, spann er den Gedanken weiter.

Die Überraschung war groß, als sie mit einem Tablett, darauf Gläser, eine Flasche Rotwein und etwas zum Knabbern, vor ihn, auf den antiken Salontisch stellte.

„Woher hast du das?“, fragte er verblüfft.

„Mitgebracht“, gab sie zurück, „versteckt.“

„Du bist wirklich wunderbar“, schwärmte er.

Sie wirkte tatsächlich etwas verlegen. „Schade, dass ich kein schönes Kleid mitgenommen habe“, antwortete sie.

„Du gefällst mir auch so“, hielt er fest.

Sie zögerte. „Öffnest du denn Wein! Ich bin gleich wieder da.“

Krüger machte sich ans Werk. Er hatte gerade den Korken gezogen, als sie wieder erschien. Ihr Anblick ließ ihn verharren. In einem durchsichtigen Negligé, das ihre Vorzüge gekonnt betonte, stellte sie sich vor ihm auf.

„Extra für dich gekauft“, legte sie noch drauf.

Krüger ließ die Flasche stehen, um sie eingehend zu betrachten.

„Und?“, fragte sie schließlich.

„Du bist eine richtige Sexbombe!“, sagte er grinsend.

„Sexbombe?“, wiederholte sie mit einem leichten Unterton, der ihm jedoch nicht besonders aufzufallen schien.

„Komm, lass dich entschärfen!“, forderte er sie auf.

Sie setzte sich neben ihn. Er war beeindruckt, das sah man ihm an. Deshalb verzieh sie ihm diesmal die ungeschickte Wortwahl, griff nach einem Glas, das er gleich füllte.

„Prost, meine Schöne!“, das Kaminfeuer ließ dazu passend eine Harzgalle platzen, „auf unser neues Leben!“

***

Gilbert Weber öffnete seine „besondere Post“, meistens erst am Abend, wenn er es sich bequem gemacht hatte. Soweit bequem, in diesem einzigen Zimmer, das er bewohnte, überhaupt möglich sein konnte.

Das Haus, ein flacher Bau am Stadtrand, hatte früher einmal als eine Art Wohnheim gedient. Fleckige, graue Filzteppiche überall. Die Toiletten auf den Gängen. Die Wände schienen aus Papier zu bestehen, so leicht hörte man alles.

Positiv blieb nur zu vermerken, die niedrigen Mieten und dass in den übrigen Zimmern ausschließlich junge Studentinnen wohnten.

Die riefen ihn ab und an zu Hilfe, wenn was klemmte oder nicht mehr funktionierte. Das brachte ihm wenigstens etwas Gesellschaft und manchmal auch einen interessanten Einblick. Für alles Andere waren sie zu jung und er zu alt.

Zumindest hatte er das auf diese Weise durchblicken lassen, um die Sache mit seiner Impotenz zu verbergen. Nicht dass er keine Lust auf die meistens unbekümmert zur Schau gestellte Erotik empfunden hätte. Ganz im Gegenteil. Er fühlte sich wie ein Ballon, der immer weiter aufgeblasen wurde. Bald würde er platzen, wenn er den Druck nicht irgendwie abbauen konnte.

Deshalb versuchte er auf diese Weise, willige Frauen zu finden. Zuvor wollte er es einmal in einem Bordell versuchen. Die Schlampen des Etablissements hatten ihn bloß ausgelacht. Von Verständnis, keine Spur.

Das erste Kuvert enthielt ein Bikinifoto einer, wie sie dazu schrieb, etwas molligen Dame. Gilbert schätzte sie auf rund hundertsechzig Kilo. Ihr Brief landete direkt im Papierkorb.

Der Zweite schien interessanter. Eine einsame Mittvierzigerin. Die Figur noch einigermaßen, leider nur ein schwarzweißes Bild, aber immerhin. Sie würde sich gerne fesseln lassen, von einem attraktiven, potenten ... Der Brief landete auf dem ersten.

Einer blieb noch übrig. Wenn der auch eine Niete sein sollte, dann musste er sich die störrische Luzia an diesem Wochenende noch einmal vornehmen, dachte er. Die entsprach seinen Ansprüchen. Tolle Figur und sie schien auch über Geld zu verfügen. Bei der sollte man sich einrichten können. Aber früher oder später, würde auch die mit Spielen allein, nicht mehr zu befriedigen sein. Gilbert hatte schon zu viel erlebt, um Illusionen nachzuhängen.

Mit leiser Hoffnung schnitt er das letzte Kuvert auf. Erst fingerte das Bild heraus, das die meisten, wie verlangt, beilegten. Dann schnappte er unwillkürlich nach Luft. Die war höchstens fünfundzwanzig. Hundert, sechzig, neunzig, schätzte er mit Kennerblick. Eine absolute Luxuspuppe. So etwas, das hatte er gesucht.

Genüsslich studierte er das Foto. Sie trug nur schwarze Spitzenunterwäsche, die ihre Weiblichkeit kaum verbergen konnte. Unglaublich, diese Rundungen. Die schlanken Fesseln, zu denen er perfekt passende Metallbügel in seinem Spielzeugkoffer bereithielt.

Bedächtig faltete er den beiliegenden Brief auseinander: „Hallo lieber Meister“, stand da. „Ich suche eine harte Hand, die mich ab und zu in Ketten legt!“

„Aber gern“, murmelte er.

„Keine Beziehung, kein GV, nur gelegentliche Treffen.“

Das war die Richtige. Heureka, hätte er am liebsten gebrüllt, aber bei diesen dünnen Wänden ließ er es bleiben. Unten am Brief fand er in winzigen Buchstaben noch einen kleinen Satz als PS: Das Bild ist nicht von mir. Aber ich sehe fast genauso aus.

Gilbert lief rot an vor Wut. Wie schafften es die verfluchten Weiber bloß, ihn immer wieder zu verarschen.

Sehe fast genauso aus, das fand er zum Brüllen. Eventuell, wenn man sich darauf beschränkte, dass sie auch zwei Beine und zwei Arme besaß, dann stimmte es möglicherweise noch. Wütend zerriss er den Brief.

Das Bild dagegen, stellte er auf seinen Nachttisch. Zu dieser Luzia konnte er jetzt auch nicht mehr gehen. Er würde bestimmt die Kontrolle verlieren.

So wie letztes Mal.

Die hatte ihm Sex in jeder gewünschten Art versprochen, wenn er ihr eine Ampulle kaufen würde.

Danach hatte sie ihn mit in ihre Wohnung genommen. Eine richtige Drogenhöhle. Mehrere Junkies lagen apathisch herum, keiner ansprechbar. Die bemerkten überhaupt nicht, dass noch jemand gekommen war.

Zuerst wollte sie sich den Schuss setzen. Klar, das hatte er erwartet.

Sofort glitt sie in ihr Nirwana. Kein Interesse mehr für ihn. Sie wehrte sich zwar nicht, als er ihre Brüste auspackte. Es schien ihr offenbar ganz einfach, egal zu sein.

Deshalb machte er allein weiter. Mühsam begann er, der in Embryohaltung zusammengekrümmten Gestalt die Hose auszuziehen. Bis er ihre unglaublich schmutzige Unterhose entdeckte.

Angewidert ließ er sie liegen. Auch diese Schlampe hatte ihn bloß reingelegt. Alles Schütteln half nichts. Er wollte, dass sie duschte. Aber sie kicherte nur oder stöhnte herum, das war alles.

Schließlich packte ihn diese unkontrollierbare Wut. Er drehte sie auf den Bauch, damit er sie nicht länger ansehen musste.

Sein Blick fiel auf die achtlos auf den Boden geworfene Spritze. Die Ampulle daneben war noch zu Dreiviertel gefüllt.

Gilbert kannte sich mit Spritzen aus. Er führte auf der Arbeit auch regelmäßig Tierversuche durch. Sie hatte doch Drogen haben wollen, ging ihm durch den Kopf. Also würde er ihr welche geben.

Eigentlich war ihm klar, was er da tat. Dieser Schuss würde ihr Letzter sein. In einer Mischung aus Wut und Trotz, drückte er auf den Kolben.

Die Zufriedenheit währte nur kurz. Er erwachte wie aus einem bösen Traum.

Schnell zog er sie wieder an und schleppte sie aus der Wohnung.

Sie lebte noch, als er sie in einer dunkeln Einfahrt zu Boden gleiten ließ.

Gilbert besaß schon lange kein Auto mehr. Das war früher einmal gewesen. Zu gefährlich für ihn, sie durch die Stadt zu einem Arzt zu tragen. Außerdem dauerte das viel zu lange.

Wenn er über ein Fahrzeug verfügt hätte, dann hätte er sie noch zur Uniklinik gefahren.

Ja, wenn.

Er schlich sich noch einmal in die Wohnung. Den Schlüssel hatte er beim Gehen schon mitgenommen. Gründlich beseitigte er mögliche Fingerspuren. Die Spritze und die Ampulle hatte er schon vorher in die Tasche seiner Jacke gesteckt.

Auf ihrem Bett lag noch die offene Blechschachtel, gefüllt mit neuen Spritzen und einigen leeren Ampullen. Also reinigte er die verwendeten Utensilien, um sie dazuzulegen.

Wenn sie das Besteck bei ihr fanden, dann bestand die Chance, dass es als einfache Überdosis durchging.

***

Gilbert trug wieder seine Lederhandschuhe, als er neben ihr niederkniete. Deshalb versuchte er gar nicht erst, ihren Puls zu fühlen.

Sie lag noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Den Schlüssel schob er in ihre Hosentasche, die Schachtel verschwand unter ihrem Pullover. Was sollte anders aussehen, wenn sie das selbst getan hätte. Noch ein letzter Blick, dann schlich er davon.

***

Holger Tauber packte zufrieden seine Messinstrumente zusammen. Als Hobby Elektroniker hatte er jetzt Sphären erreicht, die auch einen Fachmann beeindruckt hätten. Sein Wechselstrom Generator mit stufenlosem Frequenzgang zwischen dreißig und neunzig Hertz funktionierte einwandfrei. Sogar den Einsatz, mit fast widerstandslosem Material, das die Gefahr eines Kurzschlusses in sich barg, hatte das Gerät ohne nennenswerte Schwankungen ertragen.

Das Schwierigste, mit so kleinen Strömen zu arbeiten, dass eine einfache Blockbatterie ausreichte, hatte er zuletzt auch gelöst. Jetzt war er gerüstet, von einem angenehmen Kribbeln bis zu tödlichem Herzflimmern, alles auszulösen. Ohne Spuren zu hinterlassen. Holger war ein echter Perfektionist. In seiner Umgebung gab es nichts Ungeordnetes. Er hasste Chaos aus tiefstem Herzen. Wenn jemand in seiner Wohnung die akribisch ausgerichteten Möbel und Einrichtungsgegenstände sehen könnte, verstünde er sofort, welches Genie hier herrschte. Dazu kam es jedoch nie. Holger duldete keinen Besuch in seinen Räumen.

Die Testreihen, inklusive Feldversuch am Bahnhof, hatte er erfolgreich abgeschlossen.

Schon bald, konnte er eines dieser unglaublich gutbezahlten Videos drehen, das ihm ein sorgloses Leben ermöglichen sollte.

Nur einer seiner Beweggründe. Der Wichtigste blieb: dass die Behauptung, es sei unmöglich, das perfekte Verbrechen zu begehen, für ihn eine absolut unwiderstehliche Versuchung darstellte.

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Am Mittwoch erhielt Luzia einen neuen Brief. Erst wollte sie ihn gleich wegschmeißen, aber dann öffnete sie ihn doch.

„Du hast dich sehr ungezogen aufgeführt. Aber weil Du noch neu bist, wird Deine erste Strafe milde sein.“ Luzia starrte ungläubig auf das Papier. Was bildete der sich ein?

Trotzdem, las sie weiter: „Am Samstagabend um acht, werde ich Dich besuchen. Dabei erkläre ich Dir, wie Du Dich Deinem Meister gegenüber zu benehmen hast. Auch Deine verdiente Strafe wirst Du bei dieser Gelegenheit von mir empfangen dürfen.“

Am Schluss stand eine elegante Unterschrift. Die von Gilbert, die sie kannte.

Am Samstag bin ich bestimmt nicht da, war ihr erster Gedanke. Das ist doch wohl nicht möglich, der Zweite.

Den Brief hatte er auffallend sorgfältig verfasst. Alle Anreden mit Großbuchstaben. Geschrieben mit richtiger Tinte, nicht bloß mit einfachem Kugelschreiber.

Sie schwankte zwischen Bewunderung und Abscheu. Sollte sie sich etwa doch darauf einlassen?

„Auf keinen Fall!“, schalt sie sich selbst. Sie legte den Brief für den Moment ab. Heute standen wichtige Termine an, sie hatte jetzt keine Zeit, sich mit Gilberts wilden Fantasien auseinanderzusetzen.

Aber die Sache beschäftigte sie den ganzen Tag, so sehr sie auch versuchte, die aus ihrem Kopf zu kriegen.

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Holger Tauber saß missmutig an seinem Schreibtisch. Seit Jahren musste er auf seine Beförderung in die Ebene der Geschäftsleitung warten. Jetzt wäre er an der Reihe gewesen. Bald stand die Pensionierung eines Teilhabers an, ganz natürlich sollte er da nachrutschen. Jedoch dieser Andreas Riemenschneider, der erst lächerliche drei Jahre in der Firma vorweisen konnte, würde ihn offenbar einfach überholen. Sie planten Bauprojekte. Keine gewöhnlichen Bauten. Ausschließlich Häuser für höchste Ansprüche oder extravagante Villen auf der ganzen Welt.

Allerdings erhielt Holger in der letzten Zeit immer öfters Details zur Bearbeitung, während sein neuer Kollege an die wichtigen Sitzungen gerufen wurde.

Die Begründung, dass Holger einfach der Beste sei, um beispielsweise sämtliche Nasszellen in einem Gebäude mit dreißig Zimmern zu planen, stimmte natürlich. Daran lag es nicht.

Aber wenn dieser Grünschnabel die ihm zustehende Stellung erhielt, dann würde er zu seinem direkten Vorgesetzten aufsteigen. Und nicht bloß dafür sorgen, dass es Holger niemals mehr bis in die Geschäftsleitung schaffen konnte. Sondern ihn darüber hinaus jederzeit schikanieren und piesacken, wie es ihm gefiel.

Riemenschneider war noch ehrgeiziger als Holger selbst. Einer der wenigen Bereiche, wo er ihm das Wasser tatsächlich nicht reichen konnte.

Genaugenommen wusste Holger längst, was er zu tun hatte. Jedoch hier in der eigenen Firma?

Riemenschneider befand sich genau im richtigen Alter für den ersten Infarkt. Er arbeitete meistens an die sechzig Stunden in der Woche. Urlaub hatte er schon lange nicht mehr genommen. Niemand würde sich im Geringsten wundern, wenn sein Herz den Geist aufgab.

Wo konnte Holger zuschlagen? Privat hatten sie keinen Kontakt. Dass Riemenschneider im Büro an seinem Schreibtisch zusammenbrach, kam nicht in Frage. Zumindest nicht als direkte Folge von Holgers Generator.

Bei Auslandaufenthalten waren sie noch nie zusammen gewesen. Einer reichte vollkommen, beharrte der Chef. Was Holger auch richtig fand. Die Vorstellung, mit Riemenschneider im gleichen Hotel zu wohnen? Einfach ekelhaft.

Holger gab sich einen Ruck. Er begann damit, eine mehrfach verschlüsselte Tabellenkalkulation anzulegen, worin er die Gewohnheiten Riemenschneiders in Bezug zur Tageszeit eintragen konnte.

Was trieb der Kerl eigentlich am Wochenende? Vermutlich arbeitete er die ganze Zeit, gab Holger sich die Antwort selbst. Er würde ihn erstmal beschatten und seine Eigenheiten studieren. Auch ein Typ wie Riemenschneider hatte eine schwache Stelle, davon war Holger überzeugt.

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Kommissar Krüger verbrachte eine ruhige Woche. Der Fall Petra Heimlich brachte zwar eine Menge Routinearbeit, die Krüger jedoch problemlos an seine Mitarbeiter delegieren konnte. Eine heiße Spur hatte sich noch nicht ergeben. Wie auch? In diesem Umfeld, wo sich jeder nur um seinen nächsten Schuss kümmerte, schien es fast unmöglich, an Informationen zu kommen. Auch Petra war kaum in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Meistens blieb sie tagelang in der Wohnung. Nur wenn das Geld der Eltern und der Stoff knapp wurden, ging sie zuweilen betteln.

Die anderen Junkies, die in ihrer Wohnung herumlagen, wussten zum Teil nicht einmal Petras Namen. Einfach ein Ort, wo man ungestört und gemütlich im Warmen liegen konnte. Niemand stellte völlig uninteressante Fragen wie: Wer die Wohnung bezahlte oder wem die Möbel gehörten.

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Elisabeth hatte die Einrichtung der Dienstwohnung inzwischen fertiggestellt. Am Donnerstag kochte sie zum ersten Mal ein großes Abendessen. Gedacht als eine Art Abschlussfeier.

Krüger trug einen prächtigen Strauß Rosen und eine Flasche Wein mit sich, als er zu Hause eintraf. Schon im Eingang duftete es verführerisch nach Braten, wie er befriedigt feststellte.

Am Wochenende im Elsass hatten sie die ganze Zeit im Restaurant gegessen, außer zum Frühstück. Elisabeth hatte ihn beim Wort genommen, dass sie nichts arbeiten durfte. Das Frühstück konnte Krüger inzwischen auch selbst zubereiten.

In Freiburg hatten sie bis gestern immer noch im Hotel gewohnt. Deshalb freute er sich besonders auf den Abend und die erste Nacht mit ihr in seiner eigenen Wohnung.

„Hallo Spatz!“, rief er laut, während er sich rückwärts durch die Tür schob. Keine Antwort. Sie hielt wahrscheinlich die Küchentür geschlossen und konnte ihn deshalb nicht hören, dachte er. Das neben der Tür ein Paar Damen- und ein Paar Herrenschuhe standen, fiel ihm zwar auf, irritierte in jedoch nicht im Geringsten.

Mit dem freien Arm öffnete er die Küchentür. Elisabeth sah ihn erstaunt an, während er sie mit den Rosen an den Herd drängte.

„Einen Kuss!“, verlangte er.

Ein Stoß in die Rippen ließ ihn zusammenzucken.

„Wir haben Besuch!“, sagte sie nur.

Krüger fuhr herum. Sandra und ein junger Mann saßen am Küchentisch und grinsten ungeniert.

3. Kapitel

Am Freitagabend fuhren sie alle gemeinsam ins Elsass. Simon, Sandras Freund, hatte sich zuerst dagegen gewehrt, aber gegen die zwei Damen, hatte er keine Chance gehabt. Krüger, ebenfalls skeptisch, hatte dann seine Meinung schnell geändert. Er und Simon, verstanden sich auf Anhieb.

Simon studierte Archäologie, Krügers alten Traumberuf. Bald standen sie in einer äußerst interessanten Diskussion über Neandertaler im südlichen Europa, während sich die Grassels, ungestört über Mode und Frauenthemen unterhalten konnten.

Krüger erzählte Simon vom originalen Neandertal, das dieser bisher noch nicht besuchen konnte. Mit der Erforschung der dort gefundenen Knochen war Krüger an einem Fachseminar, schon einmal direkt in Berührung gekommen.

Gerade legte Krüger noch etwas Holzkohle auf den Gartengrill.

Simon erschien mit zwei Flaschen Bier. „Kannst du eins gebrauchen?“, fragte er. „Oder trinkst du lieber gleich Wein.“

Krüger streckte die Hand aus. „Kommt genau zur richtigen Zeit“, antwortete er. „Wie sieht’s in der Küche aus?“, fragte er nach. „Alles im Griff?“

Simon zuckte mit den Schultern. „Sie haben mich gleich weggeschickt, als ich helfen wollte.“

Krüger grinste. „Na dann prost, auf unsere Liebsten.“

Die Flaschen stießen zusammen. Simon brummte, „zum Wohl und danke für die Einladung.“

„Gern geschehen“, gab Krüger zurück.

„Wir stören euch wirklich nicht?“, fragte Simon nach. „Ganz ehrlich nicht“, antwortete Krüger.

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Am Samstagmorgen stand Krüger als Erster auf. Keineswegs geplant. Er setzte Kaffee auf und schmierte sich ein Brot. Ein heller, trockener Tag, stellte er mit einem Blick durchs Fenster fest. Die erste Möglichkeit, die Gegend zu Fuß zu erkunden. Mit Elisabeth am Arm.

Auf dem hügeligen Wald hinter dem Haus ließ sich eine markante Burg erkennen. Chateau de Kintzheim, wie er inzwischen herausgefunden hatte.

Elisabeth schlenderte schnuppernd in die Küche. „Morgen!“ Eine feste Umarmung mit Kuss folgte. „Du hast mir schon Kaffee gemacht“, stellte sie fest, während sie sich auch sein Brot schnappte.

„Nehmen sie Platz, gnädige Frau. Ich hoffe, es ist alles zu ihrer Zufriedenheit“, dienerte Krüger lachend.

„Machst du mir noch eins, bitte?“, gab sie kauend zurück.

Krüger seufzte vernehmlich. Trug den Kaffee auf, schnitt Brot in Scheiben, begann mit dem Schmieren. Sie sah interessiert zu.

„Gehen wir heute spazieren?“, fragte er beiläufig.

„Spazieren?“, wiederholte sie fragend. „Ja. Ganz einfach nur spazieren.“

Sie antwortete nicht gleich. Krüger warf ihr einen aufmunternden Blick zu.

„Ich wollte eigentlich mit Sandra in die Stadt“, antwortete sie verlegen.

„Kintzheim ist nur ein Dorf“, stellte Krüger trocken fest.

Sie nickte. „Wir wollen nach Schlettstadt oder Sélestat, wie es auf Französisch heißt.“

Krüger war doch ein wenig enttäuscht. Trotzdem lächelte er. Sie schien es zu bemerken. „Sei mir bitte nicht böse. Aber Sandra ist nicht so oft da. Wir möchten die Gelegenheit gern nutzen.“ Krüger hatte nicht überlegt. Natürlich hatte sie Recht. „Soweit habe ich nicht gedacht. Entschuldige, Spatz! Soll ich euch hinbringen?“

„Wenn du möchtest.“

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So kam es dazu, dass Krüger seinen Spaziergang mit Simon, anstelle von Elisabeth, unter die Füße nehmen musste.

Sie hatten sich schnell darauf geeinigt, dass die bewaldeten Hügel hinter dem Dorf, archäologisch als interessant, einzustufen seien.

Simon hatte eine kurze Pflanzschaufel aus dem Garten eingesteckt. Unter Felsvorsprüngen findet sich fast immer etwas, wenn man der Erste ist, der sucht, hatte er Krüger erklärt.

Sie besuchten erst die Burg, genossen kurz die weite Aussicht, bevor sie sich tiefer in den Wald bewegten. Für März war es bereits angenehm warm. Dazu der steile Anstieg. Beides trieb Krüger den Schweiß auf die Stirn.

Simon schien das nichts auszumachen. Zielstrebig steuerte er eine helle Fläche an, die durch den Wald schimmerte. „Perfekt“, stellt er fest. „Leicht überhängend, ideal als Rastplatz für die Nacht.“

Die Felswand, entpuppte sich eher als Felswändchen. Knapp drei Meter hoch, mit einer leichten Einbuchtung am Grund, wo sie aus dem Laub auftauchte.

Simon begann gleich damit, die trockenen Blätter präzise schichtweise abzutragen. Sein Vorgehen ließ den angehenden Fachmann schon deutlich erkennen. Unter dem Laub, der erste Fund, eine rostige Konservendose.

Krüger grinste. „Zwanzigstes Jahrhundert, würde ich sagen.“

Simon bestätigte, erstaunlich ernsthaft. Die nächste Schicht bestand vor allem, aus locker aufeinanderliegenden, kleinen Felsbrocken. Krüger begann, mitzuhelfen.

„Woher kommen die alle?“, fragte er schließlich. „Die können ja nicht alle von diesem kleinen Felsen abgefallen sein, oder?“

Simon zuckte mit den Schultern. „Weiß ich auch nicht so genau“, antwortete er.

Gemeinsam trugen sie die Brockenschicht ab. Simon holte die Stücke aus der Grube, Krüger schichtete sie am Rand auf. Sie hegten kaum noch Zweifel, dass hier etwas vergraben lag.

Einen halben Meter tiefer erschien eine dunkle Schicht aus schwarzen Nadeln und noch erkennbaren Fichtenzweigen. Die Zweige ließen sich problemlos entfernen. Jedoch die Nadeln verdeckten weiter die Sicht. Simon begann, sie mit der mitgebrachten Pflanzschaufel, auf die Seite zu schieben. Plötzlich blieb er hängen. Ein Stofffetzen? Die Struktur ließ darauf schließen. Senkrecht ragte er aus dem Nadelgewirr. „Da ist etwas!“, stellte Simon atemlos fest. Krüger begann vorsichtig am Stoff zu ziehen. Dunkle Stäbe erschienen. „Holz“, brummte Krüger.

„Eher Knochen“, widersprach Simon.

Krüger sah genauer hin. „Möglich“, brummte er schließlich. Er zog den Stofffetzen weiter nach oben. Eine Metallplatte erschien zwischen lose liegenden Rippen.

„Ein Soldat“, sagten sie gleichzeitig.

Die Platte hatte sich ziemlich stark verfärbt. Trotzdem deutlich erkennbar die ovale Form, mit der quer verlaufenden Bruchleiste. Eine Erkennungsmarke.

„Wehrmacht“, stellte Krüger knapp fest. „Ich kenne die Form. Ein Soldat, den wahrscheinlich seine Kameraden hier begraben haben.

Simon zuckte mit den Schultern. „Was machen wir?“, fragte er schließlich. „Einfach wieder zudecken?“

Krüger schüttelte den Kopf. „Wir müssen das melden.“

„Und wo?“

„Bei der örtlichen Polizei“, antwortete Krüger. „Sprichst du Französisch?“

„Nein!“

Krüger überlegte kurz, dann zog er sein Telefon aus der Tasche.

Michélle meldete sich sofort. „Hallo Chef.“

Er erklärte ihr die Situation und fragte, ob sie bereit sei, herzukommen. „Wir könnten uns beim Chateau de Kintzheim treffen“, schlug er vor. Als er damit begann, ihr den Weg zu beschreiben, unterbrach sie ihn. „Ich weiß, wo das liegt.“

„Sehr gut“, lobte Krüger. „Könnten Sie auf dem Weg, die Gendarmerie gleich mitnehmen?“

Michélle versprach, sich darum zu kümmern.

Krüger wandte sich an Simon. „Uns bleibt nur, zum Schloss zurückzugehen und dort zu warten.“

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Kommissar Guerin fühlte sich ziemlich genervt, dass er am Samstagmorgen angerufen wurde. Gerade hatte er sich im Bistro mit einer Zeitung hingesetzt. Kaffee und Croissants bestellt. Sein Unmut legte sich schnell, als er begriff, wer ihn störte. „Madame Michélle. Wie schön, Ihre Stimme zu hören. Was kann ich für Sie tun?“

Michélle bat ihn lediglich darum, einen Gendarmen zum Schloss in Kintzheim zu schicken. Jedoch Guerin ließ sich die Gelegenheit, sie zu treffen, nicht entgehen.

„Selbstverständlich komme ich selbst, Madame Michélle. Stellen Sie sich vor, bis ich den Gendarmen alles erklärt habe. Ich bringe auch gleich einen Pathologen mit. Bis wann können Sie eintreffen?“

„In etwa einer Stunde“, antwortete sie.

„Dann bis später, Madame. Ich freue mich.“

Michélle starrte ihr Telefon an. Der hatte ja richtig begeistert reagiert, dachte sie. Guerin befand sich in Hochstimmung. Endlich würde er die vielversprechende Stimme auch zu Gesicht bekommen. Er spürte, dass sie keine gewöhnliche Polizistin sein konnte. Außerdem blieb auch noch genug Zeit, um den Kaffee in Ruhe zu trinken.

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Michélle wartete auf dem großen Parkplatz, unterhalb des Schlosses auf Guerin. Sie stellte sich so hinter ihr Fahrzeug, neben das deutsche Kennzeichen, dass er sie gleich erkennen konnte.

Guerin rollte mit einem Streifenwagen im Schlepptau, auf den Platz. Die attraktive Blondine, die ihm interessiert beim Parken zusah, fiel ihm sofort auf. Hoffentlich ist sie das, dachte er.

Michélle ging ihm entgegen. Sie fühlte sich durch seine Umarmung mit drei Küsschen auf die Wangen, zwar überrumpelt. Andererseits war das in Frankreich, wie sie natürlich wusste, durchaus üblich. Zumindest im privaten Umgang.

„Kommissar Guerin“, stellte sie trocken fest.

Er strahlte sie an. „Madame Michélle, es ist mir eine große Freude, Sie hier begrüßen zu dürfen. Sie sind ja noch viel hübscher, als ich mir vorgestellt habe“, fügte er an.

Sie antwortete nicht darauf. „Gehen wir?“, fragte sie nur knapp.

Guerin bot ihr seinen Arm. „Bitte Madame!“

Um nicht respektlos zu erscheinen, hakte sie sich bei ihm ein.

Die zwei Gendarmen und der ältere Herr, die Guerin mitgebracht hatte, folgten in diskretem Abstand.

Diese Franzosen, ging Michélle durch den Kopf. Immer gleich mit vollem Einsatz. Einerseits ungewohnt, andererseits vermisste sie das zuweilen in Deutschland. Er sah dazu auch noch gut aus, wie sie sich eingestehen musste. Etwa fünf Jahre älter als sie konnte er sein, schätzte Michélle. Kein Bauch, markantes Kinn, außerdem roch er gut. Unwillkürlich zog es sie während des Aufstiegs, immer näher an ihn heran.

Michélle wünschte sich eigentlich schon seit langem einen Partner. Sie war inzwischen fast dreißig. Für eine eigene Familie wurde es langsam Zeit, sich zu entscheiden. Trotzdem hatte sie es bisher absolut ausgeschlossen, etwas mit einem Kollegen anzufangen. Andere Freundschaften hatte es gegeben, die jedoch stets daran scheiterten, dass sie als Polizistin arbeitete. Wenn sich einer damit abfinden konnte, dann erledigten die Dienstzeiten den Rest.

Im Schlosshof trafen sie auf Krüger und Simon. Michélle hatte keine Zeit mehr, ihren Gedanken nachzuhängen. Alle mussten einander vorgestellt werden. Michélle übersetzte. Ein paar Höflichkeiten wurden ausgetauscht, bevor sie sich auf den Weg in den Wald machten. Michélle blieb bei Krüger mit Guerin neben sich. Weiter an seinem Arm zu bleiben, so direkt neben ihrem Chef, fand sie dann doch eher peinlich. Sie glaubte, bemerkt zu haben, dass Krüger sie bereits eigenartig gemustert hatte, während sie von Guerin ins Schloss geleitet wurde.